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28. August
ОглавлениеMuß ich das schreiben? Ja, ich muß. Die Stimme, ich weiß. Aber diese Stimme, das bin ich – ich selbst. Selbstgespräche! Ich befehle mir zu schreiben. Doch warum kann ich mir nicht befehlen, nicht zu schreiben? Obwohl ich das doch manchmal möchte. Weil es nutzlos scheint. Weil ich nicht weiß, warum etwas geschieht – so geschieht. Aber weiß ich das jemals; weiß das überhaupt irgendwer?
Am Nachbartisch sitzt ein Ehepaar. Sie sind vierzig Jahre verheiratet. Mindestens. Woher ich das weiß? Ich weiß es nicht, ich sehe es. Sie sagen nichts, schweigend essen sie ihren Krustenbraten mit Beilage. Beim Essen soll man nicht reden, hat man mir eingeschärft. Auch sie werden es so gelernt haben. Aber sie haben auch vorher nicht gesprochen, als sie auf die bestellten Teller gewartet haben. Sie haben geschwiegen, ohne sich dabei anzuschauen, so wie es manchmal Verliebte tun. Für Verliebte ist allein der Anblick des anderen schon so erregend, daß er sie sprachlos macht.
Sie haben sich auch nicht umgeschaut wie Menschen, die Neues entdecken wollen, um nachher darüber zu reden. Sie haben vor sich hin geschaut, irgendwo auf den leeren Tisch. Vielleicht war dort ja ein Kaffeefleck, irgend etwas, das dem Auge einen Halt gewährte. Oder es gab gar nichts zu sehen, und sie wollten auch nichts sehen. Schon gar nicht den anderen; denn den kannten sie ja, in- und auswendig, würde man wohl sagen. Glauben sie jedenfalls. Warum also sollten sie sich anschauen? Und worüber sollten sie reden?
Dabei gäbe es so viel zu sagen, so viele Gedanken, die durch den Kopf gehen. Doch wenn man vierzig Jahre verheiratet ist, muß man sie verschweigen. Ich aber errate sie. „Ich könnte dich umbringen,“ denkt sie. Der Wunsch kam langsam, seit Jahren schon. Eigentlich grundlos, denn er hat ihr nichts getan. Oder war eben das der Grund? Nun ist er da, und bei solchen Augenblicken kommt er ihr in den Sinn. Einfach so, ohne Haß, ohne Verachtung, ohne Wut. Nur wegen der vierzig Jahre. Wegen so vieler verlorener Jahre. Irgendwann wird sie es tun, vielleicht nach weiteren zehn Jahren. Ich sehe es. Ich schreibe es auf, jetzt, hier, damit ich es später beweisen kann, wenn ich es in der Zeitung lese.
Aber es wird nicht in der Zeitung stehen. Jedenfalls nicht als Totschlag, sondern höchstens als schwarzgeränderte Mitteilung, daß jemand tiefe Trauer trägt um den geliebten und fürsorglichen Ehemann. Solche Taten bleiben unentdeckt, ungesühnt. Es war ja kein Gift im Spiel, kein Hammer und kein Küchenmesser. Es hat gereicht, daß sie ihm schweigend gegenüber saß. Weitere zehn Jahre. Das hat ihn getötet, langsam und qualvoll. Es hätte auch umgekehrt sein können. Denke ich jedenfalls. Hier gilt nicht Mann noch Frau, hier sind sie sich ganz einig in ihrem Denken. Es wird ein Wettstreit werden, wer in diesem Schweigen sich als der Stärkere erweist, wer im Blick auf den Kaffeefleck obsiegt.
Jetzt trinkt er. Er greift nach dem Glas, führt es zum Mund. Ohne sie anzusehen, ohne das Glas zu erheben auf irgendetwas. Das ist seine Waffe. Einfach nur trinken, weil er Durst hat. Oder weil der Braten zu trocken war. Nur darum. Nur er für sich. Weil es sie gar nicht gibt. Vielleicht wird er es sein, der ihr zuvorkommt, der als erster töten wird. Ich muß es notieren, es ist wichtig für später. Ich muß über das Schweigen reden, nur für mich. Und nur mit mir. Damit ich mich nicht mit meinem eigenen Schweigen umbringe. Ich schreibe gegen den Suizid – meinen Suizid. Denn zum Schweigen braucht es kein Gegenüber, es reicht der Spiegel. Wenn man nicht mehr hineinschaut, weil der Anblick nur noch quält. Auch solch wegblickendes Schweigen tötet. Darum muß ich es aufschreiben, jetzt, hier. Es könnte sonst zu spät sein.