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DIE JUNGE FRAU (Lukas 1, 26-38. 44-55)

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Ich bin in Nazareth aufgewachsen, oben in den Bergen Galiläas. Ich habe meine Kindheit in dieser Welt der kleinen Leute verbracht. Ich habe früh mithelfen müssen: Erst im Haus, dann auch draußen auf dem Feld. Und als ich zwölf oder dreizehn war, haben meine Eltern einen Ehevertrag für mich geschlossen mit einem jungen Mann aus unserm Ort.

Ich wurde nicht gefragt. Natürlich nicht. Das war nicht üblich. Mädchen waren eher so etwas wie eine Handelsware. Die Väter erledigten das für sie, und eine gute Heirat war ein gutes Geschäft. Wenn du Glück hattest, fand der Vater einen Mann, der dich später gut behandelte.

Nazareth, meine Heimatstadt, Galiläa, mein Heimatland: das war eine Männerwelt. Und auch Gott war ein Mann: wie ein Vater, oder wie ein König. Die Männer beteten zu ihm in den Synagogen, sie lasen aus den heiligen Schriften und erklärten sie - wir Frauen saßen abgetrennt im Hintergrund und hörten schweigend zu, wie sie sangen und beteten. Das war die Ordnung. Und ich hatte keinen Grund, an ihr zu zweifeln. War es nicht schon immer so gewesen?

Sicher: Es gab auch ein paar berühmte Frauen in der Geschichte meines Volkes - sogar Prophetinnen. Aber das war früher. Das war die große Ausnahme, die nur die Regel bestätigte. Mein Leben sah anders aus. Es war das Leben aller Frauen, ihr Alltag - und ich träumte nicht einmal davon, daß es anders sein könnte. Wie hätte das auch geschehen können, da oben in Nazareth, in den Bergen von Galiläa!

Aber dann geschah es doch, das besondere, das Wunderbare. Es ist nicht so einfach, es in Worte zu fassen, obwohl es bis tief in meinen Körper hineindrang, meine Seele umfaßte, mich veränderte - mich, die einfache junge Frau, fast noch ein Kind, ohne Bildung, ohne besondere Herkunft; einem Handwerker als Ehefrau versprochen - mich, Mirjam. Oder wie ihr sagt: Maria.

Wie soll ich euch davon erzählen? Als ER zu mir kam, während ich allein im Haus herumhantierte, als ER mich grüßte, da hatte ich nur einen Gedanken: Was für ein Gruß! Ja, vielleicht kann ich es daran erklären: Der da in unser Haus trat, mich mitten bei der Arbeit überraschte, war ein Mann! Nicht einmal ein Verwandter, sondern ein Fremder. Und - er grüßte mich!

Vielleicht versteht ihr nicht, was das für mich bedeutete - was das für eine Frau bedeutete, damals. Nein, ihr könnt es nicht verstehen. Aber mich hat es bewegt, beunruhigt, aufgeschreckt: Er grüßte mich - ein Mann grüßt eine Frau! Völlig undenkbar, ungehörig war das. Er kam zu mir herein, gegen alle Regeln von Sitte und Anstand. Es verwirrte, es bestürzte mich: Wie er mit mir sprach - mit der Frau, die ich doch war. Was für ein Gruß!

Und auf einmal durchzuckte es mich, dieses erregende, neue Gefühl einer ungeahnten Freiheit: Zum ersten Mal nahm mich einer ganz ernst, gestand mir meine Würde zu als Gesprächspartnerin, als Mensch, als Frau. Und da wußte ich es, plötzlich erkannte ich es, ein für allemal: Ich bin ICH!

Ich bin angeredet, gegrüßt, ernstgenommen, angenommen, auserwählt. Ja, ich darf mitwirken bei einem Geschehen, das diese Welt verändern soll - seine Anrede bestätigte es: Du, Mirjam, lebst in der Gnade, im Glanz Gottes. Du bist seine Tochter, wie die Männer seine Söhne sind, denn er ist mit dir.

Da mischte sich Erschrecken in den Stolz auf diese Freiheit: Der so zu mir sprach - er sprach ja als Bote des Schöpfers, des allmächtigen himmlischen Vaters, wie wir sagen. Da spürte ich es bis ins Innerste meines Wesens: Diese unendliche Kraft des Lebens war in mein eigenes kleines Leben hineingebrochen! Es war - ja, wie früher, als das kleine Mädchen Mirjam zum ersten Mal mit dem Feuer in Berührung kam: Es leuchtete, es wärmte, aber seine Nähe war unerträglich, verzehrte alles.

Und doch... es war ganz anders: Diese Nähe Gottes mit- ten in meinem Alltag, unerwartet hereingebrochen und alles überstrahlend - sie verbrannte mich nicht, verzehrte nicht. Sie machte nur unendlich glücklich.

Jetzt auf einmal wußte ich, was diese merkwürdige Wort bedeutete - "Gnade": Dem Grund des Lebens ganz nahe zu sein, in der Liebe ganz geborgen zu sein. Ich bin Ich! Ja! Aber nur, weil es dieses DU gibt, das mich anredet, grüßt, ernstnimmt, annimmt. Was für ein Gruß!

Ich wußte doch, wer ich war und blieb: Eine einfache junge Frau irgendwo auf dem Land, eine wie unzählige andere. Ich war nichts besonderes, hatte nichts gelernt außer dem, was eine Frau braucht, um Ehefrau und Mutter zu sein. Ich war wohl auch nicht besonders fromm - nein, das kann ich nicht sagen. Ich lebte in dem Glauben meiner Familie, meines Volkes. Das war selbstverständlich. Aber ich lebte eben im Alltäglichen - wie all die Leute in unserer kleinen Stadt. Und nun diese Botschaft: Gott ist bei dir! Gottes Gnade ist um dich her, sie umfängt und trägt dich.

Warum ausgerechnet eine Frau, die so gegrüßt und auserwählt wird? Gab es nicht genug Männer in Nazareth? Und warum gerade ich? Oder - konnte das jedem geschehen, Mann oder Frau, reich oder arm, angesehen oder niedrig - daß er plötzlich fühlt, erfährt, begreift: Du gehörst Gott, denn er ist dir ganz nahe?

Versteht ihr jetzt, warum ich so erschrak, als dieser Fremde zu mir kam und mich ansprach? Nein - er trug keine Flügel wie auf euren Bildern, er hatte kein strahlendes Gewand, keine überirdische Schönheit - er war ja nur ein Bote. Und doch erschrak ich bei seinen Worten bis in meine tiefste Seele hinein, erzitterte ich, erfuhr den Jubel einer neuentdeckten Freiheit, empfand das Glück dieser großen Geborgenheit, spürte diese wunderbare Freude, die nur in der Fülle des Lebens, in Gott erfahren werden kann - was für ein Gruß!

Und erst dann nahm ich wahr, was er mir ausrichtete: Ich sollte ein Kind zur Welt bringen. Was ich in diesem Augenblick - und vielleicht nur einen Augenblick lang - erlebte: die Nähe Gottes, unmittelbar, umfassend - Es sollte für immer und für alle wahr werden in diesem Kind, in meinem Kind. Jesus sollte es heißen, so sagte der Bote.

Wißt ihr, was dieser Name in der Sprache meines Volkes bedeutet? "Gott greift ein", "Gott hilft". All die anderen Ehrentitel, die er da noch nannte - sie umschrieben nur das eine, das in seinem Namen schon ganz da war: Gott ist mit den Menschen. er ist ihnen nahe.

Ich weiß nicht, wie das geschehen soll. Aber ich will tun, was meine Aufgabe dabei ist. Ja, rief ich, ja! Ich will! Ich will dasein für die Gnade; ich will leben und vielleicht auch leiden für die Nähe Gottes bei den Menschen. Ich will bereit sein zum Dienst, offen sein für Gottes Vorhaben; ich will mich ganz hineingeben in dieses eine: dem Kind den Weg zu bereiten für seine Aufgabe. Ich will teilhaben an seinem Werk, teilhaben an der Liebe.

Siehe, ich bin Gottes Magd, so wie er Knecht Gottes werden wird nach den Worten der Propheten. Auch er wird ja ein Mensch sein: Einfacher Herkunft, hier aus Nazareth. Er wird keine Macht besitzen außer der Kraft seines Wortes und seiner Liebe. Ist das das Geheimnis der Nähe Gottes - daß sie sich so menschlich, so alltäglich ereignet?

Und doch: Erschreckt ihr denn nicht mehr darüber, daß in diesem Menschenkind Jesus Gott selbst bei euch ist? Und freut ihr euch noch? Empfindet ihr denn nicht diese grenzenlose Geborgenheit - mitten im Alltagsgeschehen, mitten in den Dunkelheiten dieser Welt? Spürt ihr nicht das Neue, das Unerhörte, das schon begonnen hat?

Ja, ich will mitwirken! Ich will den Auftrag annehmen, dem Ruf des Boten folgen. Es soll geschehen, was er gesagt hat. Ich bin bereit.

So bin ich dann selbst zu einer Prophetin geworden. Für einen Augenblick lang sah ich das Ziel vor Augen - daß die Armen nicht länger leer ausgehen, daß die Hungrigen satt und die Unterdrückten befreit werden, daß die Barmherzigen die Welt mit Gottes Liebe erfüllen.Ja, das wollte ich euch eigentlich erzählen.


Unbekannte Bekenntnisse

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