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Kapitel 1 Was bedeutet eigentlich Islam?
Оглавление„Der Islam ist als Fremder erschienen“, sprach der Prophet Mohammed, der den Glauben im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel begründete. „Eines Tages“, sagte er voraus, „wird er wieder zu einem Fremden werden.“ Und in der Tat ist der Islam im Westen heutzutage ein vertrauter Fremder in unserer Mitte.
Wir benutzen das Wort ‚Religion‘, um den Islam zu beschreiben, doch der Islam ist keine Religion im Sinne dessen, was wir im Westen darunter verstehen. Die Definition von Religion im Oxford English Dictionary (OED) wirkt auf einen Glaubensanhänger des Islam kühl und befremdlich: „Ein Lebensumstand, der an religiöse Gelübde gebunden ist; der Zustand, einem religiösen Orden anzugehören.“ Das Leben nach dem Tod, der wichtigste und beständigste Aspekt des Glaubens mit Auswirkungen auf das alltägliche Verhalten eines Gläubigen, wird weder erwähnt, noch gibt es irgendeinen Bezug auf einen göttlichen Text oder Prophezeiungen. Weitere Definitionsvorschläge des OED sprechen vom Glauben an das „Übermenschliche“ – was im Westen Anklang finden mag, für einen Anhänger des Islam jedoch wenig Sinn ergibt. Für einen Muslim ist Gott nichts „Übermenschliches“, sondern ein unbegrenztes Wesen, eine Kraft, eine Einheit, welche der begrenzte menschliche Verstand nie vollständig erfassen kann. Doch die rationale Denkweise im Westen verschließt sich davor, ihr eigenes begrenztes Fassungsvermögen überhaupt in Betracht zu ziehen. Mit den Definitionen angefangen, scheint unser Verhältnis zum Islam spannungsgeladen, da wir darauf aus sind, ihm unsere Geschichte, unsere Weltsicht sowie unsere Erwartungen und Konzepte aufzuerlegen.
„Die Vorstellung von Religion als einer privaten und zugleich auf einem festen System beruhenden Praxis war dem klassischen Griechenland, Japan, Ägypten, Mesopotamien, dem Iran, China oder Indien vollkommen fremd“, schreibt die Historikerin Karen Armstrong.
Und auch die hebräische Bibel kennt keine abstrakte Vorstellung von Religion. Die talmudischen Rabbis hätten unmöglich mit einem einzelnen Wort oder auch nur einer Formulierung ausdrücken können, was sie unter Glauben verstehen. Die einzige Glaubenstradition, die zur westlichen Vorstellung von Religion als etwas Festgeschriebenem und zugleich Privatem passt, ist die protestantische Ausprägung des Christentums, und sie ist, wie alle Religion in diesem Sinne, ein Ergebnis der frühen Neuzeit.1
Was also ist der Islam?
Islam ist eine Lebenseinstellung, die auf drei Aspekten beruht: dem Gefühl und der Überzeugung, dass es den einen Gott gibt; dem Glauben an die Botschaft des Propheten Mohammed; sowie an die Erlösung im Jenseits. Muslime nennen diese Grundsätze tauhid für die Einzigkeit Gottes, risala für das Prophetentum und die Botschaft Mohammeds und achira für das Leben nach dem Tod beziehungsweise die Ewigkeit.
Für den frommen Muslim prägen diese Facetten des Islam den Alltag. Die Liebe zu Gott veranlasst Muslime dazu, dem Propheten Mohammed nachzueifern, der Gott am nächsten stand. Rituelle Pflichten, die manch einem mühsam erscheinen mögen, fallen denjenigen leicht, die sich dem Göttlichen in Liebe hingeben. Wenn eine aufrichtige Gläubige erwacht, dankt sie Gott dafür, ihr nach einer geruhsamen Nacht einen neuen Tag zu schenken. Den ganzen Tag über, indem sie steht, sich beugt, rezitiert, sich niederwirft und Gott preist, ahmt sie den Propheten Mohammed nach. In ihre Hausschuhe schlüpft sie zuerst mit dem rechten Fuß, so wie er es tat. Das Badezimmer betritt sie zuerst mit ihrem linken und putzt sich die Zähne von rechts nach links. Im Anschluss an ihre rituelle Waschung geht sie mit dem rechten Bein voran und richtet ihr Gesicht gen Mekka, um zu beten.
Von ihrem Frühstück, das halal ist, bis zur Wahl sittsamer Kleidung ist alles vom Islam beeinflusst, so wie es im Koran geschrieben steht und vom Propheten vorgelebt wurde. Durch jede Handlung erfährt und spürt sie die Freude des Glaubens und fühlt, wie ihre Seele einem inneren Frieden immer näher rückt. Ein materialistischer, skeptischer Geist kann sich solchen gottgeweihten Anschauungen nur schwerlich fügen. Das Wort Islam hat dieselbe Wurzel wie das arabische istislam, oder „sich unterwerfen“, was wiederum zu einer weiteren Ableitung führt: Salam, also Friede. Indem sie sich Gott unterwirft, findet die Seele letztlich Frieden.
Der Islam und seine Anhänger halten sich noch immer treu an das Arabische, die ewige Sprache des Koran und des Propheten Mohammed. Kaum ein Christ spricht oder betet heute auf Aramäisch, der Sprache Jesu, aber jeder einzelne der weltweit 1,7 Milliarden Muslime betet auf Arabisch.2 Die Gebetsrufe erschallen auf Arabisch von den Minaretten, in den Moscheen der muslimischen Gemeinden begegnen und grüßen sich die Gläubigen sogar mit salamu alaikum auf Arabisch, was „Friede sei mit euch“ bedeutet. Von Indonesien bis Bosnien ist die liturgische Sprache der Muslime vom Zahn der Zeit unberührt geblieben. Dass die Wurzeln der Muslime noch heute ins 7. Jahrhundert und auf die Arabische Halbinsel zurückreichen, ist ein Segen und gleichzeitiger Fluch, wie wir in späteren Kapiteln noch sehen werden.
Als ich von 2003 bis 2005 in Damaskus in Syrien lebte, war ich fasziniert, Redewendungen wie inscha’llah, was „so Gott will“ heißt, oder alhamdulillah für „Gepriesen sei Gott“ auch von syrischen Christen zu hören. Als Muslim geboren und groß geworden, hatte ich stets angenommen, dass diese weit verbreiteten arabischen Worte irgendwie uns gehörten. Doch dies war die Stadt, in der Paulus gepredigt hatte, ihre Mauern zeugten davon, wie er der Verfolgung entkam, und die biblische ‚Gerade Straße‘ in Damaskus war voller Werkstätten christlicher Kunsthandwerker. Dort war Allah gleich Gott. Und Gott gleich Allah.
Der Gott des Islam unterscheidet sich nicht von dem Gott, den Christen oder Juden anbeten. Allah ist bloß das arabische Wort für Gott. Im 7. Jahrhundert rief der Prophet Mohammed auf der Arabischen Halbinsel seine Landsleute in Mekka auf, dem vorherrschenden heidnischen Glauben abzuschwören und sich dem einen Gott von Adam, Noah, David, Jakob, Josef, Abraham, Sarah, Hagar, Isaak, Moses und Jesus zuzuwenden. Muslime erkennen die Propheten des Alten Testaments an und verehren sie. Sie glauben an Jesus als einen mächtigen Gesandten desselben Gottes. Warum aber braucht es den Islam, einen von Christentum und Judentum abweichenden Pfad, dann überhaupt?
Mohammed war Kaufmann in Mekka, wurde im Jahr 570 in den edlen Stamm der Quraisch hineingeboren, ihres Zeichens Schirmherren der antiken Wallfahrt, des jährlichen Hadsch. Sein Vater Abdallah starb sechs Monate vor Mohammeds Geburt. Seine Mutter Amina träumte während ihrer Schwangerschaft, dass sie ein Licht in sich trage, welches die Paläste Roms und Persiens erleuchten würde. Von ihrer Niederkunft berichteten ihre Dienerinnen etwas Außergewöhnliches: Ein Kind war geboren worden, das nicht wie andere wimmerte und schrie, sondern ruhig atmete. Widerwillig folgte Amina den Erwartungen ihres Stammes der Quraisch und gab ihr Kind in die Wüste, damit es fern des Trubels und Lärms von Mekka heranwachsen würde.
Die Quraisch schätzten die Wüste. Ihre Weite barg für nomadische Araber viele Geheimnisse. Neugeborene wurden oft zur Erziehung zu beduinischen Frauen in die öde Wildnis gegeben. Dort atmete man frische Luft und sprach ein reineres Arabisch. Im Wüstensand war man fern der schlechten Einflüsse von Mekka, wo die Pilger an der Kaaba, die 360 Götzen beherbergte, die poetische Sprache der mekkanischen Araber verdarben.
In dem Jahr als Mohammed geboren wurde, kam Halima, eine Amme vom ehrwürdigen Stamm der Banu Saad, spätnachts auf einer lahmen, gebrechlichen Kamelstute in Mekka an. Ihr Mann fragte herum, doch die wohlhabenderen Kinder waren bereits in die Obhut von Pflegeeltern gegeben worden. Sie waren zu spät, um noch ein Kind zu finden, dessen Familie für seine Betreuung in der Wüste aufkommen würde. Nur Mohammed war noch übrig geblieben.
Halimas Ehemann wollte die Suche schon vertagen, aber Halima gab nicht nach. „Der kleine Junge sieht gesegnet aus“, sagte sie, als sie Mohammed sah. „Lass uns ihn aufnehmen. Vielleicht wird Gott uns eines Tages segnen, weil wir gut zu ihm waren.“ Nicht alle Araber waren Heiden – viele, die mehrere Gottheiten anbeteten, glaubten ebenfalls an einen Hauptgott. Einige waren auch als hanîfen, das heißt Monotheisten, bekannt.
Auf ihrer Rückreise ins Lager der Banu Saad bemerkte Halima Veränderungen in ihrer Umgebung. „Habt ihr die plötzliche Genesung unserer Kamelstute bemerkt?“, fragte sie ihren Mann und ihre Reisegefährten, als sie in ihre Wüstenzelte zurückgekehrt waren. „Ist euch aufgefallen, dass sie schneller ging? Habt ihr auch gesehen, dass ihr Euter voller Milch ist?“
Halima fiel noch mehr an Mohammed auf. Wenn sie ihren eigenen Sohn zusammen mit dem neuen Baby stillte, so erzählte sie den anderen Frauen, trank Mohammed immer nur von einer Brust und überließ die andere Halimas Sohn.
Halima und ihre Familie schlossen dieses besondere Kind in ihr Herz. Die beiden Jungen spielten zusammen in der Wüste. Eines Tages kam Halimas Sohn zu seiner Mutter gerannt.
„Mutter, Mutter“, rief er. „Mein Quraisch-Bruder wird von zwei Fremden festgehalten! Komm schnell!“
Halima beeilte sich und fand den jungen Mohammed erschrocken, aber unaufgeregt. Die Jungen erzählten, wie zwei Männer in strahlend weißer Kleidung auf Mohammed zugekommen waren, ihn auf den Boden gelegt, sein Gewand hochgezogen und sein Herz mit heiligem Wasser und Eis gewaschen hätten. Obwohl Mohammed ruhig wirkte, machte sich Halima Sorgen. Sie hatte dem Jungen so viele außergewöhnliche Dinge zustoßen sehen, dass sie zu zweifeln begann, ob sie ihn noch weiterhin beschützen konnte. Nach reiflicher Überlegung brachte sie Mohammed nach Mekka zurück.
Fortan lebte Mohammed wieder bei seiner Mutter, die von seinem Großvater sowie Onkel unterstützt wurde.
Mohammed war noch keine zehn Jahre alt, als seine Mutter in al-Abwa, einem Dorf in der Nähe von Mekka, starb. Umm Aiman, die Helferin seiner Mutter, war bei deren Tod bei Mohammed. Jahre später erinnerte sie sich, wie der Junge immer wieder zum Grab der Mutter rannte und sich weigerte, nach Mekka zurückzukehren. Als Mohammed 57 Jahre später mit Tausenden seiner Anhänger die Hadsch-Pilgerfahrt unternahm, die mit seiner berühmt gewordenen Abschiedspredigt in Mekka endete, kehrte er zur letzten Ruhestätte seiner Mutter in al-Abwa zurück. Die inneren Verletzungen des Waisenjungen waren nicht verheilt. So sensibel, demütig und menschlich war der Mann, der die Massen zu dem einen Gott, Allah, führen würde.
Nachdem er schon in jungen Jahren herausstach, begleitete Mohammed seinen Onkel bald auf Geschäftsreisen nach Syrien. In Bosra, nahe Damaskus, wurde sein Onkel von einem christlichen Mönch vorgewarnt, dass dem Jungen eines Tages ein Unglück drohe. „Beschütze deinen Neffen“, mahnte er ihn, „denn er ist zu Großem bestimmt.“
Als Mohammed etwa zwanzig Jahre alt war, bat ihn Chadidscha, eine wohlhabende Mekkanerin, ihre Karawane nach Syrien zu führen und ihre Handelsgeschäfte abzuwickeln. Mit einem beachtlichen Gewinn kehrte der vertrauenswürdige Verwalter Mohammed nach Mekka zurück, wo sein wirtschaftlicher Scharfsinn bleibenden Eindruck auf Chadidschas Familie machte. Bald darauf verliebte sich die 40-jährige Witwe in ihren neuen Kaufmann und hielt durch ihre Verwandten um seine Hand an.
Mit dieser Heirat festigte Mohammed seinen Ruf als angesehener Herr von hohem sittlichen Charakter. Unter den Mekkanern war er als al-Amin oder der Vertrauenswürdige bekannt. Die Menschen gaben ihre Wertsachen in Chadidschas und Mohammeds Obhut. Er verwahrte deren Schuldbriefe und Geheimnisse. Wenn Streitigkeiten aufkamen, wandten sich die Leute für eine gerechte Schlichtung an Mohammed. Und dennoch sehnte er sich, je mehr er dem Trubel, der Verdorbenheit und dem Chaos der Stadt ausgesetzt war, nach Abgeschiedenheit. Lag darin ein Überbleibsel seiner Kindheit in der Wüste? Oder hatte er die christlichen Mönche beobachtet, wie sie Mekka für ihre spirituellen Exerzitien den Rücken kehrten?
Wenn er Zeit für sich benötigte, zog sich Mohammed in eine Höhle am Berg Hira, am Stadtrand von Mekka, zurück. Mit vierzig Jahren war der Vater dreier Kinder langen Phasen ausgesetzt, in denen er über die Zukunft der Menschheit, die Ungerechtigkeit in Mekka sowie die verbreitete Vielgötterei nachdachte. Mohammed erkannte darin Anzeichen von Undankbarkeit gegenüber dem Schöpfer – Allah. Der heidnische Glaube in Mekka bereitete ihm Sorgen. Obwohl Judentum und Christentum zu jener Zeit monotheistische Alternativen boten – und tatsächlich war Chadidschas Cousin Christ –, verspürte Mohammed den inneren Ruf nach etwas anderem.
Den Berg Hira habe ich erklommen und auch die Höhle betreten, in der Mohammed Trost fand. In der Tageshitze ist es ein steiler, vierzigminütiger Aufstieg über hartes Gestein. Die Spalte am höchsten Punkt des Berges ist schmal und bietet gerade genug Platz und Bewegungsfreiheit für eine Person. Die Stille, die Distanz zu den Menschenmassen sowie die langen Tage und Nächte, die er hier meditierend verbrachte, flößen tiefen Respekt ein. Vom Gipfel aus konnte ich das Zentrum von Mekka und die Kaaba, das Haus Gottes, erkennen. Auch der Prophet wird bei seinen Auf- und Abstiegen diese Orte erblickt haben.
In einer dieser zurückgezogenen Nächte sah Mohammed jemanden am Horizont auftauchen. Das Wesen, lichterfüllt in der Dunkelheit und erstaunlich gütig und majestätisch, befahl Mohammed zu „lesen“.
„Ich kann nicht lesen“, antwortete Mohammed ängstlich. Abermals forderte das Wesen ihn auf, zu lesen, woraufhin er sich weigerte. Dann kniete der Engel nieder, schloss Mohammed in die Arme und sprach: „Lies im Namen deines Herrn, der dich erschuf. Die Menschen aus geronnenem Blut erschuf.“3
Diese Worte, die Mohammed in gereimtem, erhabenen Arabisch wiederholte, waren die ersten im zentralen Text des Islam, dem Koran, den Muslime als eine Offenbarung Gottes betrachten.
„Wer seid Ihr?“, fragte Mohammed.
„Ich bin Gabriel. Du bist der letzte auserkorene Prophet Gottes. Geh und warne dein Volk. Lies, im Namen deines Herrn …“
Mohammed bebte vor Angst und brach in Schweiß aus. Fluchtartig verließ er die Höhle und lief zurück nach Mekka. Am Himmel sah er über sich den Engel Gabriel, gewaltig in seiner Pracht.
Damit war der Islam, die letzte der drei monotheistischen Religionen, geboren. Der Prophet Mohammed führte die abrahamitische Tradition fort, den einen Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs, Josefs, Moses’, Aarons, Jesus’ und anderer anzubeten. Er wollte die Mekkaner zum Monotheismus zurückführen. Er beanspruchte nie für sich, einen neuen Glauben begründet zu haben – stattdessen bestätigte und belebte er die Verehrung des einen Schöpfers aufs Neue.