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Kapitel 4 Das Schisma zwischen Sunniten und Schiiten
ОглавлениеDer Name ‚Kerbela‘ weckt bei jedem gebildeten Muslim Emotionen. Kerbela, heute eine Großstadt im Zentralirak, ist der Ort, wo die frühen Muslime im Richtungsstreit um die Zukunft des Kalifats gewaltsam aneinandergerieten. Der berühmte muslimische Dichter und Philosoph Allama (alias Muhammad) Iqbal (1877–1938) aus dem heutigen Pakistan schrieb: „Der Islam erwachte in Kerbela zum Leben“. An diesem Ort, wo im Jahr 680 n. Chr. eine Schlacht tobte – oder besser gesagt das Massaker an den männlichen Nachkommen des Propheten – klafft für die meisten Muslime eine schwelende Wunde. Schiiten und Sunniten interpretieren bestimmte Ereignisse der islamischen Geschichte komplett unterschiedlich. Sehen Schiiten Ali als vom Propheten designierten Nachfolger an, betrachten ihn Sunniten völlig anders.
Die Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten sind unmittelbare Folge davon, dass der Prophet keinen Nachfolger bestimmt hatte. Dieser Umstand alleine erzeugte unter den Muslimen eine tiefgreifende Spaltung. Doch wie hätte ein Ersatz auch benannt werden sollen? Nach ihm durfte es keinen Propheten mehr geben, Mohammed war der letzte von Gottes Gesandten in der monotheistischen Tradition Abrahams. Innerhalb nur eines Jahrhunderts nach seinem Ableben brachten Muslime, die dem Umayyaden-Kalifat die Treue hielten, in Kerbela gar den Enkel des Propheten, Imam Husain, mitsamt seinen 72 Reisegefährten um.1
Die Wurzeln dieser 1300 Jahre alten Spaltung reichen also bereits in die Zeit vor Kerbela. Die Uneinigkeit darüber, wer dem Propheten nachfolgen sollte, legte bald nach dessen Tod die Saat für die erbitterte Teilung. Während Ali, der Schwiegersohn und enge Freund des Propheten, mit den Bestattungsvorbereitungen beschäftigt war, traf sich Abu Bakr, Mohammeds Intimus und Schwiegervater, mit den Prophetengefährten, um zu bereden, wer die Muslime anführen sollte. In den folgenden drei Jahrzehnten, unter der Herrschaft von Abu Bakr als erstem Kalifen (632–634), gefolgt von Omar (634–644) und anschließend Uthman (644–656), reifte bei einer beständig wachsenden Zahl von Muslimen die Überzeugung, dass Ali das Kalifat zustünde. Als der Prophet starb, hatten viele noch die Ansicht vertreten, der zu jener Zeit 28-jährige Ali sei zu jung für die Führungsaufgabe. Andere dachten, er wäre für die schwarze Kunst der Politik zu fromm und mystisch veranlagt. Dennoch bestanden einige Muslime darauf, dass Ali und nicht Abu Bakr der rechtmäßige Nachfolger des Propheten wäre. Alis Anhänger waren als Schi‘at Ali beziehungsweise Parteigänger Alis bekannt. Denn das Wort Schia bedeutet auf Arabisch ‚Gemeinschaft‘ oder ‚Anhängerschaft‘. Nach Ali unterstützte die Schia dessen Söhne, die großen Imame Hasan und Husain, und schließlich deren Kinder.
Bis heute hält die Schia der Nachkommenschaft Alis die Treue, wohingegen Sunniten ihre Loyalität zum Propheten betonen. Ali war mit Fatima verheiratet, Mohammeds Lieblingstochter. Beide waren dem Propheten aufs Engste verbunden, ebenso wie ihre Kinder. Schiitische Muslime behaupten, den Propheten zu lieben heiße, dessen Familie zu lieben. Ihre Gegner erhoben allerdings den Anspruch, dass im Islam die Verdienste zählten und nicht die Abstammung.
Hierbei handelt es sich nicht um eine weltfremde theologische und historische Auseinandersetzung: Noch immer ist dieser ungelöste Streit für Muslime gegenwärtig. Lesley Hazletons einflussreiches Buch After the Prophet (dt.: Nach dem Propheten) gibt diesen Konflikt akkurat wieder – auf sie und meine eigenen Lehrer beziehe ich mich hier. In der ganzen islamischen Welt ist die Sunna-Schia-Problematik Triebfeder für Politik, Proteste und Konflikte, wie allein der Blick auf die vergangenen fünfzig Jahre beweist. Beispielsweise wurde die Revolution 1979 im Iran von der Symbolkraft der Schia angeheizt. Ajatollah Chomeini (1902–1989), die Hauptfigur des Widerstands der Massen gegen Schah Mohammad Reza Pahlavi (1919–1980), nannte den Monarchen Yazid, gab ihm also den Namen des Kalifen, der Imam Husain tötete. Während des Iran-Irak-Krieges der achtziger Jahre standen Kerbela und Husains Martyrium im Mittelpunkt der iranischen Propaganda. Die schiitische Geisteshaltung, sich für das Streben nach Gerechtigkeit selbst zu opfern, brachte den ersten muslimischen Selbstmordattentäter hervor, der im Jahr 1981 einen mit Sprengstoff beladenen Lastwagen in einen US-Stützpunkt in Beirut fuhr.2
Seit 1979 hat Saudi-Arabien die Gegnerschaft zum Schiismus Teherans zu einem zentralen Bestandteil seiner Außenpolitik erhoben. Der saudische Staat erblickte 1932 das Licht der Welt, bis über beide Ohren im von Staatsgründer Mohammed ibn Abd al-Aziz Al Saud vergossenen Blut versunken. Unter sunnitisch-salafistischen Einflüssen stehend, hatte er in den östlichen Provinzen der Arabischen Halbinsel schiitische Muslime umgebracht und saudische Streitkräfte zur Plünderung des Schreins von Imam Husain in Kerbela entsendet. Reformistische, sunnitische Hardliner, auch bekannt als Salafisten, betrachten Gräber als Zeichen von Polytheismus und die tatkräftige Zerstörung von Heiligtümern als Tugend. Bis jetzt sind 95 Prozent der ältesten Gebäude in Mekka, die über tausend Jahre Bestand hatten, abgerissen worden.3 Schiitische Muslime bilden die größte religiöse Minderheit in Saudi-Arabien, bislang ist es ihnen jedoch untersagt, sich in den Moscheen in Mekka und Medina zu versammeln.
Im Januar 2016 wurde in Saudi-Arabien der einflussreiche saudischschiitische Geistliche Scheich Nimr al-Nimr unter anderem wegen Vorwürfen enthauptet, er habe zur Autonomie einer der ölreichen, von der Schia dominierten Ostprovinzen aufgerufen. Der Iran und Saudi-Arabien brachen daraufhin die diplomatischen Beziehungen ab. Mehrere Verbündete Saudi-Arabiens zogen nach und stellten sich hinter das sunnitische Königreich und gegen die schiitische Republik.
Im Verlauf der letzten zehn Jahre sind in Pakistan in einer Woge konfessioneller Gewalt unschuldige Schiiten zum Ziel von Selbstmordanschlägen und anderen Angriffen geworden. Obwohl Pakistan von Muslimen mit einem schiitischen Hintergrund gegründet wurde – unter anderem von Muhammad Ali Jinnah, einem ismailitischen Schiiten – hat die anti-schiitische Rhetorik in den Medien, Moscheen und Schulen die von sunnitischen Extremisten ausgehende Gewalt genährt. Tausende Schiiten sind in den vergangenen Jahrzehnten getötet worden. Millionen schiitischer Pakistani leben heute in Angst.
In Teilen des Irak und Syriens schwelt ein Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten, begünstigt durch Länder und Organisationen auf der einen Seite, die sich selbst als schiitisch bezeichnen und Baschar al-Asad unterstützen, und regionalen sunnitischen Geldgebern auf der anderen, die die Rebellen fördern. Das Regime in Damaskus wird von Anhängern der alawitischen Schia angeführt, die ihren Namen von Ali ableitet. Der Iran, der Irak und die Hisbollah stellen zur Unterstützung der syrischen Regierung Geld und Kämpfer zur Verfügung. Darüber hinaus statten sie Tausende mit dem nötigen Rüstzeug für das Martyrium im Gefecht aus. Sie setzen sich außerdem für den Schutz von schiitischen Heiligtümern in Syrien ein.4
Im Gegensatz dazu unterstützen die sunnitischen Mächte Türkei, Saudi-Arabien, Katar sowie die extremsten der weltweit verbreiteten salafistisch-dschihadistischen Kampfgruppen jene Aufständischen in Syrien, die für sich den Vertretungsanspruch der sunnitischen Mehrheit vor Ort reklamieren. Nicht das Schisma zwischen Sunnis und Schia hat diesen Krieg entfacht, und dennoch hat er die Eigendynamik dieses klaffenden Gegensatzes angenommen. In dem Moment, als regionale Mächte sich in Syrien einmischten, traten automatisch Identität, Religion und Geschichte als Mitspieler auf den Plan.
Die Entmachtung von Saddam Hussein im Jahr 2003 im Irak, einem sunnitischen Diktator in einem Land mit schiitischer Mehrheit, führte dazu, dass sich der Iran der neuen schiitischen Regierung im Irak annäherte. Der Aufstieg von ISIS und sunnitischen al-Qaida-Extremisten innerhalb des Irak sowie deren Angriffe auf Heiligtümer und prominente Vertreter der Schia sind von einem Konfessionalismus getrieben, den nur die Wenigsten im Westen oder außerhalb der Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit wirklich nachvollziehen können.
Sunniten leben mehrheitlich in seliger Unwissenheit darüber, wie die Schia über jene Persönlichkeiten denkt, die sie in Ehren halten. Niemand verkörpert diese Spaltung besser als die jüngste Frau des Propheten, Aischa. Sie ist unter Sunniten aus mehreren Gründen ausnahmslos hoch geachtet. Sie war die Tochter Abu Bakrs, des besten Freunds des Propheten. Durch Aischa sind uns die intimen Gewohnheiten des Propheten als Ehemann und Geliebter überliefert. Generationen muslimischer Männer versuchten auf Grundlage der Berichte Aischas, dem Propheten nachzueifern. Mohammed liebte sie von ganzem Herzen, und aufgrund ihrer starken Persönlichkeit, ihres Witzes und ihrer Schönheit wurde sie seine Lieblingsfrau. In ihren Gemächern hauchte er, den Kopf in ihren Schoß gelegt, seinen letzten Atemzug aus. Unter Sunniten ist sie als Umm al-Mu’minîn, die Mutter der Gläubigen, bekannt.
Durch einen Koranvers kam Aischa zu diesem Beinamen, den sie keinesfalls leichtfertig erhielt. Aischa reiste häufig mit dem Propheten und begleitete ihn auf seinen Feldzügen. Eines Tages, während einer dieser Reisen, verließ sie die Karawane und folgte dem Ruf der Natur in die Wüste. Dann verlor Aischa ihr Fußkettchen – ein Geschenk Mohammeds – bei einem Busch und machte sich auf die Suche danach. Ohne zu bemerken, dass sie noch nicht wieder in die Kamelsänfte zurückgekehrt war, setzte der Tross die Heimreise nach Medina fort. Als Aischa nun auf die Rückkehr ihres Geleitzuges wartete, kam Safwan, ein junger Gefährte des Propheten, des Weges und nahm die Mutter der Gläubigen auf seinem Kamel mit zurück nach Medina. Daraufhin kursierten Gerüchte, wonach sie eine Affäre miteinander hätten. Das Getuschel in Medina betrübte den Propheten, der seine Lieblingsfrau daraufhin monatelang mied. Ali legte dem Propheten nahe, Aischa zu verstoßen und somit seinen Sorgen ein Ende zu bereiten. Sie vergab Ali diesen ungefragten Rat nie.
Bald darauf sprach Gott Aischa von jeglichem Fehltritt frei. Gabriel kam aus den höchsten Höhen herab und verkündete ihre Unschuld. Im Koran wird sie für mubarra’a erklärt, das heißt ‚untadelig‘. Für sunnitische Muslime ist ihr kein Unrecht anzulasten. Gott selbst war der höchste Garant für ihre Reinheit und treue Ergebenheit gegenüber dem Propheten. Ihre Liebe zu ihm und seine Zuneigung zu ihr – er kehrte zu seinem Schöpfer zurück, während er in ihrem Schoß lag – verleihen ihr in den Herzen und Gedanken sunnitischer Muslime einen unvergleichlichen Rang.
In der Folge bekämpfte Aischa Ali an der Spitze eines 10.000 Mann starken Heeres, mit dem sie Alis Ansprüche auf das Kalifat infrage stellte. Aus diesem Grund, sowie wegen ihrer generellen Ablehnung Ali gegenüber, hat die Schia sie und ihren Vater Abu Bakr seit jeher verflucht. Am Mausoleum des Propheten in Medina besuchen Muslime Aischas Gemach, in dem der Prophet verstarb und begraben wurde. Dort befinden sich neben seiner Ruhestätte die Gräber von Abu Bakr und Omar. Viele schiitische Muslime wenden sich mit Friedensgebeten an den Propheten und verdammen die anderen beiden.
Wo Sunniten Aischa verehren, wird von Schiiten eine ganz andere Geschichte erzählt. Für sie war Aischa darauf aus, das Kalifenamt und die Macht für ihren Vater Abu Bakr zu sichern. Um das zu erreichen, habe sie dem Propheten Gift eingeflößt und ihn getötet. Über Jahrtausende ist diese skandalöse Behauptung, die schwerwiegende Konflikte auslösen kann, in Büchern niedergeschrieben und von schiitischen Geistlichen weitergetragen worden. Die meisten Sunniten haben zu Gunsten der Koexistenz beider Gemeinschaften die Augen davor verschlossen, doch in Zeiten von Twitter und Informationsfreiheit wird dieser für Sunniten ruchlose Vorwurf von Führern der Schia wiederbelebt, die damit Aischa, ihren Vater Abu Bakr und andere als Mörder darstellen. „Der größte Schmerz ist der Verlust unseres Heiligen Propheten. Ebenso schmerzhaft ist die Tatsache, dass er umgebracht wurde, auch wenn wir nicht öffentlich darüber sprechen dürfen“, lautet ein Tweet eines bekannten schiitischen Gelehrten.5 Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein populistischer Sunni-Geistlicher derartige, für Sunniten zutiefst anstößige Überzeugungen der Schia aufgreift. Das Feuer kämpferischer Auseinandersetzungen zwischen Sunnis und Schia droht weiterhin um sich und sogar noch auf andere überzugreifen.
Was genau geschah in Kerbela? Warum bekämpfen sich Sunnis und Schia noch immer?
Die beiden Prophetenenkel Hasan und Husain waren in Mekka und Medina, den Heimstätten des Islam, sehr beliebt. Die zwei Söhne der frommen Prophetentochter Fatima und des tapferen Imam Ali wurden mit einem Jahr Abstand in den Jahren 625 und 626 geboren. Die Gefährten des Propheten trafen die fünf Anverwandten häufig zusammen an. Geschlossen wurden sie vom Propheten und den Gläubigen Ahl al-bait beziehungsweise ‚Leute des Hauses‘ genannt. Der Koran bezeichnet die Familie des Propheten als von Gott geläutert, was bedeutet, dass ihre Mitglieder weniger als andere zu Sünde und Fehlbarkeit neigten. Der Prophet bedeckte sie mit seinem Mantel, um gemeinsam mit ihnen zu beten. In der Moschee sprangen Hasan und Husain ihrem Großvater stets auf die Schultern, wenn dieser beim Gebet stand. Er küsste sie dann und schloss sie fest in die Arme, gerade so, als wüsste er, welches Unheil seinen Enkeln bevorstünde.
Im März 632 stand der Prophet vor einer riesigen Menschenmenge am Berg Arafat bei Mekka und hielt seine letzte Rede, die uns heute als seine Abschiedspredigt bekannt ist. „Leiht mir eure Ohren“, setzte er an, „ich weiß nicht, ob ich nach diesem Jahr überhaupt je wieder unter euch weilen werde.“ Er wandte sich an die Zehntausenden Gläubigen und warnte sie vor Rassismus mit den Worten, dass kein Araber einem Nicht-Araber überlegen sei. Frömmigkeit, nicht Hautfarbe, sei das Einzige, was einen Menschen vor einem anderen auszeichne, erklärte er der Menge. Im Islam beruht sozialer Aufstieg auf Treue und Hingabe zum Glauben. Der Prophet rief die Muslime dazu auf, Frauen gut zu behandeln, und erinnerte sie daran, dass die Frauen Rechte vor ihren Männern hätten. Er unterstrich in seiner Rede erneut, dass das Leben und der Besitz eines Gläubigen als heilig gelten und nicht durch Zwang oder Selbstjustiz verletzt werden dürfen, wie es zur Zeit der vorislamischen arabischen Stämme gängige Praxis gewesen war. Nach ihm, so rief er den Muslimen ins Gedächtnis, werde es keinen weiteren Propheten mehr geben. Und er fuhr fort, dass er den Muslimen als Orientierungshilfe zwei Prüfsteine hinterlasse: den Koran sowie die Ahl al-bait. Dann erhob er sein gesegnetes Antlitz gen Himmel und bat: „Allahumma hal balaght?“, was bedeutet: „Mein Herr, habe ich deine Botschaft überbracht?“ Herz, Gemüt und Seele des Propheten verbanden das Weltliche mit dem Göttlichen. Er war ein Medium, um das Übersinnliche zu übermitteln, und nicht dazu bestimmt, zu verfügen, wer die Muslime nach seinem Tod anführen sollte.
In der Predigt hatte der Prophet keinen Nachfolger benannt, denn niemand konnte sein Amt übernehmen. Doch der Schia ist die Geschichte anders in Erinnerung geblieben.
Auf seiner Rückreise nach Medina, im Anschluss an die letzte Pilgerfahrt, rastete Mohammed mit seinen Gefährten an einem Oasenteich namens Ghadir Chumm. Dort zeigte er auf Imam Ali und verwies auf ihn als Schutzherren all derjenigen, die der Prophet in seinem Leben beschützt hatte. „Wem immer ich ein Herr war, dem sei auch Ali der Herr“, sprach er. Legte der Prophet damit nun einen Nachfolger fest? Falls ja, warum tat er es vor einer kleinen Schar und nicht vor der riesigen Menge in Mekka? Er benutzte für ‚Herr‘ das Wort maula, das auf Arabisch ebenfalls ein Stammesoberhaupt, einen Freund oder Schutzherren bezeichnet.6
Noch im selben Jahr befiel den Propheten eine Grippe, was die muslimische Gemeinde in Sorge um sein Wohlergehen versetzte. An einem Tag verließ er das Zimmer seiner Frau Aischa, wo er sich ausruhte, und begab sich zu der Gebetsnische, von der aus er üblicherweise das Gebet anleitete. Abu Bakr, während jenes Abendgebets der Vorbeter, trat bereits einige Schritte zurück, als er den Propheten herannahen sah. Mohammed lächelte und bestand darauf, dass Abu Bakr als Vorbeter fortfahre. An diesem entscheidenden Punkt wollte der Prophet, dass Abu Bakr die Leitung übernahm. Sunniten erkennen darin, dass der Prophet somit Abu Bakr zu seinem Nachfolger erkor.
Ali war erst 28 Jahre alt, als der Prophet verstarb. Abu Bakr ein betagter, weiser und weithin respektierter 61-jähriger Mann. Alis Anhänger mögen sich übergangen gefühlt haben, aber Abu Bakr hielt sich nur zwei Jahre von 632 bis 634 als erster Kalif, ehe er eines natürlichen Todes starb. Nach ihm wurde Omar von einer Gruppe, die Abu Bakr zur Wahl seiner Nachfolge eingesetzt hatte, zum zweiten Kalifen gewählt. Omar herrschte über zehn Jahre, von 634–644, bis ihn ein persischer Diener ermordete, der über die muslimische Eroberung seiner Heimat in Zorn geraten war. Nach Omar herrschte der ältere, vornehme Uthman von 644 bis 656 für zwölf Jahre, bis auch ihn politische Widersacher töteten. Und dann, schlussendlich, wählte die Elite in Medina den großen Imam Ali zum Kalifen. Er herrschte von 656 bis 661. Ihn brachten die Charidschiten ums Leben, eine erste extremistische Splittergruppe innerhalb des Islam, die sich gegen Alis Schlichtungsversuche zwischen sich bekriegenden Verbänden stellte. Diese vier Kalifen gingen für die Muslime als Raschidun, oder die Rechtgeleiteten, in die Geschichte ein. Nach Ali ging man weithin davon aus, dass die Führungsrolle fortan den Ahl al-bait vorbehalten sei und Imam Hasan in der Folge anstelle seines Vaters regieren würde.
Doch der gerissene Statthalter von Damaskus Muʿawiya, der von Uthman eingesetzt worden war und gigantische Reichtümer und Armeen kontrollierte, machte Hasan seinen rechtmäßigen Platz streitig. Hasan wurde dazu gedrängt, alle Ansprüche auf das Kalifat fallen zu lassen. Um Blutvergießen und weitere Zwietracht zu vermeiden, nachdem bereits drei der ersten vier Kalifen des Islam umgebracht worden waren, stimmte Hasan einem in Gelehrsamkeit und Gebet zurückgezogenen Leben in Medina unter der Bedingung zu, dass nach dem Kalifen Muʿawiya die islamische Herrschaft an die Familie des Propheten zurückfiele. Sein Bruder, Imam Husain, sollte der sechste Kalif des Islam werden und von Medina, der Stadt des Propheten, aus herrschen.
Von seinem neuen, für Verschwendung berüchtigten Zuhause in Damaskus aus akzeptierte Kalif Muʿawiya die Bedingungen Hasans und schwor, Husain als künftigen Führer der Gläubigen anzuerkennen. Die muslimische Gemeinschaft vertraute darauf, dass Muʿawiya die Zügel an den allseits beliebten Husain übergeben würde, doch er behielt das islamische Reich zwanzig Jahre lang unter seiner Kontrolle. Während dieser Zeit baute sich Muʿawiyas Sohn Yazid einen korrupten und grausamen Ruf auf. Der eigentlich zurückhaltende syrische Historiker Ibn Kathir (gest. 1301) bezeugte das Gerede der Menschen im Umfeld des designierten Kalifen Yazid: Er war ständig betrunken. Er hielt sich gerne in Gesellschaft von Jünglingen auf – ein Euphemismus für Pädophilie. Er veranstaltete Bärenkämpfe. Er hielt sich mehrere Affen als Haustiere, verband ihnen die Augen und setzte sie auf Pferde, um mit anzusehen, welches Chaos sie anrichteten. Er trat nicht gerade wie ein Gläubiger im Sinne des Propheten auf.
Welche Art von Islam sollte das sein, fragten sich die Muslime.
Im Jahr 680 erkrankte Muʿawiya. Anstatt sein Wort zu halten, dass Imam Husain Kalif werden würde, sandte er Schreiben an seine Provinzgouverneure, in denen er ihnen befahl, seinem Sohn Yazid die Treue zu schwören. Diese folgten seinem Befehl. Im April 680 wurde Yazid von Damaskus aus zum Kalifen ausgerufen.
Die Nachricht erreichte Husain in Medina. Aus mehreren Städten im heutigen Irak sandten seine Anhänger ihm Satteltaschen voller Briefe, in denen sie ihm, und nicht Yazid, Treue gelobten. Was sollte Husain tun? Yazids Statthalter in Medina wurde angewiesen, Husain festzunehmen. Dieser scharte die Mitglieder seiner Familie um sich und begab sich nach Mekka, der Stadt seiner Vorfahren, um sich mit weiteren Verbündeten, Freunden und Unterstützern zusammenzutun. Aus dem Irak, nach Syrien das zweite Zentrum des Frühislam, trafen unaufhörlich Briefe und Gesandtschaften ein. In den irakischen Städten drängten große Teile des muslimischen Heeres auf Husains Kommen, um sie anzuführen. In Mekka erkannten seine Unterstützer Yazid nicht an, der jedoch mitteilen ließ: „Selbst wenn sich Husain an die Mauern der Kaaba kettet, ist er nicht sicher – wir werden ihn töten.“
Da er der heiligen Stadt, in der sein Großvater eine Generation zuvor verfolgt worden war, nicht noch mehr Krieg und Totschlag bringen wollte, verließ Husain im September 680 Mekka und machte sich auf den Weg in den Irak, von wo Tausende ihm geschrieben und ihre Unterstützung zugesichert hatten. „Eile zu uns, oh Husain“, flehten sie, „die Menschen erwarten dich und wir unterwerfen uns niemandem außer dir. Nimm deinen rechtmäßigen Platz als wahrer Erbe des Propheten ein, als sein Enkelkind, sein Fleisch und Blut durch Fatima, deine Mutter. Hole die Macht dorthin zurück, wo sie hingehört, in den Irak. Unter deinem Banner werden wir die Syrer davonjagen. Wir werden die Seele des Islam zurückerobern.“ Husain entsandte eine eigene Abordnung in den Irak, die ihm bestätigte, dass ein Heer von 12.000 Mann bereitstehe. Seit dem Mord an seinem Vater, dem Kalifen Ali, hatte er sich zwanzig Jahre lang in Geduld geübt.
Seit dem Tod seines Großvaters, des Propheten, bei dem er noch im Kindesalter war, hatte Husain sein ganzes Leben im Schatten der Kalifen verbracht. Jetzt, mit Mitte fünfzig, waren er und sein Geschlecht die Hüter und Bewahrer der Religion, die sein Großvater begründet hatte. In Begleitung seiner Familie verließ er nun Mekka. Die achtzehn Frauen und Kinder in seinem Gefolge waren seine und seines Bruders nächste Verwandten. Husains Instinkt riet ihm, dem Kalifen Yazid nicht zu vertrauen, und die Urenkel des Propheten nicht alleine zurückzulassen.
Als er Medina gen Mekka verließ und kurz darauf von Mekka in den Irak aufbrach, wiederholte Husain folgende Worte: „Ich möchte kein Unheil anrichten, noch dem Volke schaden, aber ich verlange Gerechtigkeit. Wir müssen das Rechte tun und dem Bösen ein Ende bereiten. Ich will, dass die Botschaft des Islam, für die mein Großvater einstand, weiterlebt.“ Das war Husain in Höchstform. Gleichzeitig kam darin die Idealvorstellung eines Islam zum Ausdruck, dem es allen Widrigkeiten zum Trotz um Gerechtigkeit und Freiheit von Tyrannei ging. Die nachfolgenden Tage sollten sich als voll von Entbehrung, Schmerz und Tränen erweisen. In der Dunkelheit der Nacht wandte sich Husain an seine 72 Reisegefährten und gestattete ihnen, jederzeit zu gehen. „Es ist Nacht und ihr könnt gehen, ohne dass ihr euch schämen müsstet, gesehen zu werden, wie ihr mich und meine Familie verlasst. Niemand soll es erfahren. Und ich vergebe euch. Bitte geht guten Gewissens.“
Seine Gefährten weigerten sich jedoch, ihn alleine zurückzulassen, und trotz der Gefahren, die vor ihm lagen, brach Husain entschlossen in den Irak auf. „Die Herzen der Iraker mögen mit dir sein“, warnte ihn ein Bote, der aus Kufa, der Hauptstadt zur Zeit des Kalifats seines Vaters Ali, zu Husain geritten kam, „doch ich fürchte, ihre Schwerter gehören Yazid. Ich bitte dich, bei Gott, nach Mekka zurückzukehren.“
In der Zwischenzeit hatte der Statthalter von Mekka in Sorge um Husains Leben Boten nach ihm gesandt, die ihn inständig zur Umkehr aufforderten und ihm „sicheres Geleit, Wohlwollen, Großzügigkeit und Schutz“ zusicherten. Husain war der Enkel des Propheten. Der Prophet Mohammed hatte seine Familie und seine Gefährten gelehrt, dass ein Prophet, der einmal sein Kriegszeug gerüstet hatte, niemals heimkehren würde. Er hatte bis zum Sieg in dieser Welt zu kämpfen oder zum Märtyrer in der nächsten zu werden. Husain antwortete: „Die beste Garantie für sicheres Geleit stammt von Gott. Ein Mann reist in der Dunkelheit, wobei sein Schicksal ihm entgegenreist.“
Auf ihrem Weg nach Kufa holten weitere Sendboten Husain und sein Gefolge ein. Angst breitete sich aus. Husain müsse zurückweichen, übermittelten ihm die Botschafter, und einen besseren Zeitpunkt für sein Vorhaben abwarten. Sein Vater, Imam Ali, hatte Verhandlungen zugestimmt. Sein älterer Bruder Hasan hatte sich für den Machtverzicht entschieden. Aber Husain war fest entschlossen, weder zu verhandeln, noch abzudanken. Er wollte den Islam mit seinem Blut erneuern. Sowohl für Sunniten als auch Schiiten bildet der Aufbruch Imam Husains in den Irak ein mustergültiges Beispiel für Mut, Selbstaufopferung und das Streben nach Gerechtigkeit.
Drei Wochen nachdem er Mekka verlassen hatte, stand Husain kurz vor Kufa. Aus dieser Stadt an den Ufern des Euphrats hatte er den Löwenanteil an Unterstützerbriefen erhalten. Unter Imam Ali war Kufa die Hauptstadt des islamischen Kalifats gewesen. Die Bewohner Kufas wollten, dass das Kalifat wieder an die Familie des Propheten überginge – und somit auch an sie selbst, da sie sich den Tyrannen aus Damaskus widersetzten. Ihr Treuegelübde galt dem Propheten sowie Imam Ali und der Dynastie, deren Bannerträger Husain nun war.
Am Ende des Tages, 30 Kilometer vor Kufa, schlugen Husain und sein Gefolge ihr Nachtlager auf. Sie zogen es vor, nicht bei Dunkelheit in die Stadt einzuziehen. Als sich dort die Kunde verbreitete, der Enkel des Propheten stehe kurz vor den Toren, entsandte der Yazid treu ergebene Statthalter einhundert Mann, um Husain und seine Gefährten zur Umkehr zu bewegen.
Der Krieger, der das Bataillon anführte, ging in die Annalen der islamischen Geschichte ein. Sein Name lautete Hurr al-Riyahi, wobei hurr ‚frei‘ bedeutet. Mit Befehlen des Statthalters von Kufa ausgestattet, schritt er auf Imam Husain zu. Sein Gang zeugte von Tapferkeit, allerdings drehte er sein Schild als Zeichen des Friedens herum. Entgegen den Anweisungen des Statthalters konnte sich Hurr nicht dazu durchringen, die Familie des Propheten festzunehmen. Mit seinen Soldaten im Rücken bat er Imam Husain, in Frieden nach Mekka abzuziehen oder andernfalls Yazid Treue zu geloben.
„Nein, bei Gott“, entgegnete Husain. Er stand erhobenen Hauptes in seinem Sattel und wandte sich an die Soldaten aus Kufa:
Niemals werde ich einem Tyrannen meine Hand reichen wie ein gedemütigter Mann, noch werde ich fliehen wie ein Sklave. Nicht, dass mein Name Yazid laute. Niemals werde ich Verachtung vor Würde hinnehmen. Ich habe hier zwei Satteltaschen voller Briefe an mich. Eure Boten haben mir euren Treueschwur überbracht. Wenn ihr diesen Schwur nun erfüllt, werdet ihr rechtens handeln. Mein Leben wird fortan mit eurem Leben, meine Familie mit euren Familien verbunden sein. Wenn ihr aber euren Bund mit mir aufkündigt, habt ihr euer Schicksal vertan und euer Los besiegelt, denn wer gegen sein Wort handelt, handelt gegen seine Seele.
Noch immer halten Muslime die bewegenden Worte Husains in Erinnerung. Schiiten lernen sie auswendig und tragen sie jedes Jahr vor, wenn sie der Katastrophe von Kerbela gedenken. Eindeutig auf Yazid und seinen Statthalter in Kufa gemünzt, brüllte Husain: „Das Gute in der Welt befindet sich auf dem Rückzug. Was einst gut war, schmeckt nun bitter. Erkennt ihr denn nicht, dass die Wahrheit nicht länger gepflegt wird? Dass der Verlogenheit nichts mehr entgegengesetzt wird? Wenn dem so ist, sehe ich in einem Leben unter solchen Unterdrückern nur Mühsal und im Tod ein erlösendes Martyrium.“
Für Imam Husain gab es nun kein Erbe mehr anzutreten, keine Gelübde, keine Waffen, weder Wohlstand noch Macht, geschweige denn eine organisierte Schar von Unterstützern hinter sich. Rein gar nichts. Yazid und die Umayyaden kontrollierten jeden Winkel der Gesellschaft. Husain blieb nur noch eine Waffe: sein eigener Tod. Für ihn bedeutete das Martyrium keinen Verlust. Es war eine bewusste Entscheidung, zum Schahid, einem Zeugen, zu werden, im Widerstand gegen den ungerechten Kalifen Yazid seinem Herrn im Tode gegenüberzutreten, zu seinem Vater, seiner Mutter und seinem Großvater zurückzukehren.
Hurr war nicht in der Lage gewesen, Husain festzunehmen, doch ebenso wenig konnte er ihm den Zuritt nach Kufa gewähren. Husain machte dem Krieger allerdings ein Zugeständnis, indem er sich von der Stadt abwandte, ohne aber nach Mekka umzukehren. Stattdessen marschierte er drei Tage lang nach Norden und führte seine kleine Karawane in der Wüstenhitze ins Niemandsland. In Sichtweite des kühlen blauen Wassers des Euphrats trieb er sie weiter an.
Die Neuigkeiten, dass Hurr die Familie des Propheten zwar von Kufa weggeleitete, sie aber nicht festgenommen hatte, erreichten bald den Statthalter von Kufa. Außer sich vor Wut entsandte dieser daraufhin eine viertausend Mann starke Streitmacht aus berittenen Einheiten und Bogenschützen, die von einer menschlichen Bestie angeführt wurde: Schimr. Die Truppe ging einem unmissverständlichen Auftrag nach: Husains Familie in der unerbittlichen Wüstenhitze festzusetzen und ihnen jeglichen Zugang zum Fluss zu verwehren. Letztlich würde der Durst Husain mit Sicherheit zur Kapitulation zwingen.
Der Ort dieser Belagerung sollte als Kerbela Bekanntheit erlangen, was wörtlich ‚Ort von Karr und Bala‘, also von ‚Prüfung und Drangsal‘, bedeutet. Die Stelle, an der Tausende Soldaten des korrupten Kalifats von Yazid Imam Husain und sein 72-köpfiges Gefolge in der unerbittlichen Sonne in einen Hinterhalt lockten, wurde zum Sinnbild für den Kampf der Wahrheit gegen die Verlogenheit.
In den nächsten sieben Tagen gab Husain Anlass für eine neue Geschichtsschreibung. Sein Leiden bildet das Herzstück für Aschura, das alljährliche Gedenken, bei dem die Schiiten Husains Schmerz und seinen Verlust mit Ta‘ziye, sogenannten Passionsspielen, betrauern. Die Qualen Husains werden zudem im heutigen Selbstbehauptungskampf der Muslime von Schiiten wie Nicht-Schiiten wach gehalten. Seine Taten und seine Haltung, seine Gelassenheit angesichts der Belagerung, sind Muslimen zu einem inspirierenden Vorbild geworden.
Husains Neffe Qasim, der Sohn Imam Hasans, der mit der Karawane zog, wusste, dass der Gruppe in Kerbela das Martyrium bevorstand. Bei sich trug er ein Schreiben, das sein Vater auf dem Totenbett verfasst hatte, mit dem Wortlaut: „Der Tag wird kommen, wenn der Islam durch das eigene Blut gerettet werden muss. Mein Bruder Husain wird dich brauchen. Sei an diesem Tage bei ihm und vertrete mich.“ Unter der Führung von Qasim ritten mehrere Mitglieder aus dem Hause des Propheten in die feindlichen Reihen und damit in den sicheren Tod. Die für Muslime schmerzvollste Erinnerung ist dabei jene an den sechs Monate alten Sohn von Husain, Ali al-Asghar, der in der sengenden Hitze qualvoll vom Durst geplagt wurde.
Imam Husain hielt das durstige, weinende Kind Schimr und den Wächtern Yazids entgegen und sprach: „Mit mir seid ihr im Krieg. Dieses Kind hat nichts Falsches getan.“ Bevor Husain seinen Satz beenden konnte, durchbohrte ein dreiköpfiger Pfeil den Hals des hilflosen Babys. Husain kehrte mit dem winzigen blutgetränkten Leichnam in sein Zelt zurück. Als das Weinen des Babys verstummte, hoben die Frauen zu klagen an. Es war der letzte Tag der Belagerung.
In jener Nacht richtete sich Imam Husain ein weiteres Mal an sein Gefolge. Vollkommen beherrscht sprach er: „Euch alle entbinde ich hiermit eures Treuegelübdes mir gegenüber. Ich erlege euch keine Pflichten auf. Geht nun im Schutz der Dunkelheit nach Hause. Nutzt die Nacht als Kamel, auf dem ihr davonreitet. Yazids Männer wollen allein mich. Sobald sie mich haben, werden sie aufhören, euch zu verfolgen. Ich bitte euch, kehrt um in eure Heimat und zu euren Familien.“
Doch niemand regte sich. Mit trockenem Mund und heiserer Stimme sprach einer von Husains Gefährten: „Wir werden mit dir kämpfen, bis unser Schicksal uns einholt.“ Andere schickten sich an, ihren Schwur zu erneuern, und bekräftigten, den Prophetenenkel niemals zurückzulassen. Sichtbar bewegt, die Fassung aber bewahrend, sprach Husain: „So bittet Gott um Vergebung. Unser letzter Tag wird der morgige sein.“ Dann rezitierte er einen allen Muslimen wohlbekannten Koranvers, der bei Todesfällen oder Schwierigkeiten vorgetragen wird: „Zu Gott gehören wir und zu Gott kehren wir zurück.“7
In jener Nacht legte Imam Husain ein weißes Baumwollgewand an – sein Leichenhemd. Er zerließ etwas Myrrhe und legte sie als Parfüm auf. Tränen rannen über die ausgetrockneten Gesichter der Prophetenfamilie in Anbetracht des bevorstehenden Endes.
Am Morgen verabschiedete sich Imam Husain von den Frauen in seiner Familie und stieg auf seinen weißen Hengst. Mit einer kleinen Schar an Kriegern setzte er den feindlichen Linien heftig zu. „Bei Gott, ich habe seinesgleichen vorher nicht gesehen und auch hinterher nicht mehr“, erinnerte sich später einer von Yazids Soldaten. „Das Fußvolk wich vor ihm zurück, wie Ziegen vor einem Wolf fliehen.“ Trotz seines Vordringens hielt die feindliche Streitmacht ihre Angriffe aufrecht. Als er schließlich zu Boden ging, steckte ein Pfeil in seiner Schulter und sein Körper war mit 33 Messer- und Schwertstichen übersät. Sein Pferd ritt alleine ins Lager zurück. Rein physisch war Imam Husain nicht länger am Leben, doch spirituell hält er das muslimische Bewusstsein seither gefangen.
Schimrs Männer gaben sich nicht damit zufrieden, ihn zu töten. Sie trennten Husain den Kopf ab und spießten ihn auf eine Lanze. Dann schickte Schimr die Prophetenfamilie mit den Frauen und Kindern als Gefangene, unverschleiert, unehrenhaft, nach Damaskus, damit sie sich dem Kalifen Yazid unterwarfen. Husains sprachgewandte Schwester Zainab führte die Karawane mit Husains einzigem überlebenden Sohn Zain al-Abidin im Arm nun an. In Anwesenheit Hunderter Zeugen verkündete sie am Hofe des Kalifen:
Oh Yazid, glaubst du, dass du tatsächlich den Himmel und die Erde vor uns versperrt hättest, sodass wir nun deine Gefangenen wären, nur weil wir in Reih und Glied vor dich gebracht worden sind? Und dass du nun die Kontrolle über uns behieltest? Jetzt bist du überheblich in deiner Freude, aber warte nur. Freue dich nicht zu früh.
Sodann rezitierte sie einen Koranvers, der Yazid daran erinnern sollte, was Tyrannen letzten Endes in dieser wie in der nächsten Welt zu verlieren haben. Und tatsächlich herrschte Yazid, nachdem seinetwegen so viel teures Blut vergossen worden war, nur für drei Jahre von 680 bis 683.
Der gewaltsame Tod des Prophetenenkels erschütterte die gesamte islamische Welt. In Mekka und Medina brachen Aufstände aus, die Yazid mit brutaler Härte niederschlagen ließ. Die Armee des Kalifen belagerte Mekka und nahm den heiligen Bezirk unter Katapultbeschuss, bis die Kaaba in Flammen aufging. Seine Streitkräfte griffen ebenso Medina an und vergewaltigten zahlreiche Frauen in der Stadt des Propheten. Derlei Grausamkeiten fügten Muslime innerhalb nur eines Jahrhunderts nach dem Ableben des Propheten in dessen eigener Stadt einander zu.
Während all dessen baute sich Zainab am Kalifenhof erhobenen Hauptes vor Yazid auf. Sie zieh ihn dafür, dass er seinem eigenen Weibsvolk das Tragen des Schleiers gewährte, während die Prophetentöchter barhäuptig und unehrenhaft vor Damaskus zur Schau gestellt worden waren. Zainab zog sich bis zu ihrem Tod im Jahr 682 an den Stadtrand von Damaskus zurück. Sie lebte mit einer Schar Gläubiger, Imam Ali und Husain treu ergeben, trug die Lektionen von Kerbela weiter und hielt die Erinnerung an das Geschehene wach.
Ihr Neffe, der große Imam Zain al-Abidin, wuchs heran und wurde, seinem Namen entsprechend, zum ‚Fürsten der Frommen‘. Er war auch als Imam al-Sadschad bekannt beziehungsweise als der Imam, ‚der sich dauernd zum Gebet niederwarf ‘. Von allen Muslimen, Sunniten wie Schiiten, war es seine legendäre Frömmigkeit, die Sufiorden und spirituellen Traditionslinien, die bis heute Bestand haben, den Weg bereitete. Muslime halten sich noch heute an seine Lehren. Er kehrte nach Medina zurück, wo er eine erlesene Schar von Muslimen unterrichtete und im Jahre 713 starb und beigesetzt wurde. Mehr als eintausend Jahre später, im Jahr 1925, wurde sein Heiligenschrein auf Anweisung salafistischer Geistlicher, welche die Verehrung der Prophetenfamilie für eine Art Polytheismus hielten, von der damaligen saudischen Obrigkeit zerstört. Die Auslöschung historischer Stätten durch die Saudis befeuerte die Spannungen mit Mainstream-Muslimen und vor allem der Schia. Die Feindseligkeit der Türkei und des Iran gegenüber dem saudischen Salafismus entspringt eben solchen vorsätzlichen Zerstörungen durch die Saudis.
Das überwältigende Grabmal Zainabs steht auch heute noch in Damaskus. Und in der Umayyaden-Moschee findet sich die Gebetsnische Zain al-Abidins in jener Ecke, in der Yazid das Haupt von Imam Husain vergraben ließ. Ein nicht abreißender Strom von Muslimen besucht diese Heiligtümer und gedenkt dabei Kerbela. Sowohl für Schiiten als auch Sunniten liegt Kerbela nicht 1300 Jahre zurück. Es fühlt sich an, als habe das Massaker zu unseren Lebzeiten stattgefunden, als sei es unser persönliches Versagen, dass niemand Imam Husain zu Hilfe kam. Diese Schuld liegt noch immer schwer auf dem Gewissen der Muslime. Die iranische Regierung hat Soldaten nach Syrien geschickt, um Gräber vor der Zerstörung durch gewalttätige Salafisten wie ISIS zu beschützen.
Dennoch, auch wenn sowohl Sunniten als auch Schiiten diese Schuld empfinden, manifestiert sie sich auf sehr unterschiedliche Weise. Nach Kerbela befragt, empfinden die meisten sunnitischen Muslime Bedauern, Reue und Kummer darüber, dass der geliebte Enkel des Propheten von anderen Gläubigen getötet wurde. Allerdings erfassen sie die Komplexität des Geschehenen nicht. Als Sunniten fürchten sie die fitna, die Zwietracht, was zur Verzerrung jener schmerzvollen Episode der Geschichte führt.
Für Schiiten ist es gerade umgekehrt. Sie klammern sich an jedes Detail von Kerbela. Im Leben, der Kleidung, den Farben und dem Bekenntnis der Schia spiegelt sich diese Katastrophe wider. Die Mehrheit der praktizierenden Schiiten trägt schwarze Kleidung. Frauen tragen schwarze Gewänder und Männer, die ihre Abstammung auf Ali zurückführen, tragen schwarze Turbane und Gewänder, um ihrer Trauer um den Tod Imam Husains Ausdruck zu verleihen. Dieser Trend zeigt sich bei Hasan Nasrallah von der Hisbollah, Muqtada al-Sadr im Irak und Chomeini im Iran ebenso wie bei Millionen von Frauen, die im Iran oder in Afghanistan einen Tschador tragen, mit dem sie Kinn, Stirn sowie ihren Körper in schwarzen Tuchstoff hüllen. Sunnitische Frauen tragen in der Regel eher ein separates Kopftuch zur Abaya, ihrem Überwurf.
Schiiten glauben daran, dass Zain al-Abidin, der Sohn Imam Husains, nach dem Tod seines Vaters zu ihrem Imam avancierte. So wurde das Imamat vom Vater auf den Sohn übertragen, bis der zwölfte Imam im Jahr 873 ins Verborgene beziehungsweise an einen spirituellen Geheimort entschwand. Daher sind die meisten schiitischen Muslime auch als Ithna Ashariya, als ‚Zwölfer‘ bekannt, weil sie von dem Glauben erfüllt sind, dass es inklusive Ali zwölf Imame gab. Sektiererische Glaubensgruppen wie zum Beispiel die Ismailiten oder Alawiten glauben an eine abweichende Zahl von Imamen. Während Sunniten davon überzeugt sind, dass nur der Prophet vor Fehlbarkeit gefeit war, glauben Schiiten, dass die Imame als Abkömmlinge des Propheten ebenfalls unfehlbar gewesen seien. Schiiten leben in der Erwartung des letzten Imams, der auch als Mahdi bezeichnet wird, eine mythische Figur, die am Ende der Zeit erscheinen und – gemeinsam mit Jesus – Frieden über eine Welt im Chaos bringen wird. Der frühere Präsident des Irans, Mahmud Ahmadinedschad, hielt in Kabinettssitzungen stets einen Stuhl für den Mahdi frei.
Die meisten Muslime glauben, dass der Prophet nur seine unmittelbare Familie als nächste Angehörige bezeichnete. In der Schia spendet man jedoch ein Fünftel des Einkommens an diejenigen, die als Nachfahren des Propheten und damit als religiöse Führer gelten. Auf diese Weise folgt man der koranischen Verfügung, ein Fünftel der Kriegsbeute beziehungsweise ein Fünftel des muslimischen Staatsschatzes solle an die Prophetenfamilie abgeführt werden. Eine Praxis, die als Chums, oder ‚ein Fünftel‘ bekannt ist. Heutzutage finanziert dieses uralte Verfahren Tausende schiitische Gelehrte in den heiligen Stätten von Qom im Iran, Nadschaf im Irak und in Syriens Hauptstadt Damaskus ebenso wie in kleineren muslimischen Gemeinden auf der ganzen Welt.
Wenn Schiiten beten, drücken sie ihre Stirn auf einen flachen Stein, der dem Erdboden von Kerbela entnommen wird. In ihren Gebeten und Ritualen tritt häufig das Gedenken an den Propheten und seine Familie in den Vordergrund. Beim Besuch von Gräbern und Heiligtümern im Nahen Osten trauern und weinen gläubige Anhänger der Schia für gewöhnlich und rezitieren traurige Verse, um an Kerbela zu erinnern. Sunniten gehen im Allgemeinen keinen derartigen Gepflogenheiten nach.
Unter arabischen Sunniten, insbesondere in Saudi-Arabien und am Golf, lautet die abwertende Bezeichnung für Schiiten Rawafid für ‚die Verweigerer‘. Der Name leitet sich von der Ablehnung der ersten drei Kalifen des Islam durch die Schia ab. Diese Verunglimpfung der Schia ist seit den 1790er Jahren, als salafistische Extremisten aus dem heutigen Saudi-Arabien Kerbela und andere von der Schia dominierte Städte überfielen, fester Bestandteil des modernen arabisch-islamischen Sprachgebrauchs. Al-Qaida, ISIS und andere gewalttätige salafistisch-dschihadistische Bewegungen verwenden eben dieses Wort, um das massenhafte Morden an Schiiten zu rechtfertigen.
Auch wenn die Gebräuche und Gebete der Schia auf Sunniten sonderbar wirken, so erscheinen im Gegenzug den Schiiten ihre sunnitischen Brüder tyrannisch, unüberlegt, illoyal, und – schlimmer noch – als Unterstützer von Mördern. Sunniten erkennen Abu Bakr, Omar und Uthman als ‚rechtgeleitete‘ Kalifen an, womit sie Imam Ali als Mohammeds rechtmäßigen Nachfolger zurückweisen. Unter Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit jener Epoche betrachten sie die Umayyaden-Dynastie, wenn auch mit Makel behaftet, als Kalifat und Teil einer legitimen historischen Abfolge.
Von Seiten der Schia herrscht viel Groll auf die sunnitische Mehrheit. Gegenüber den Schiiten verhielten sich die Sunniten, die die ganze islamische Geschichte hindurch sowohl zahlenmäßig als auch militärisch die stärkere Gruppe bildeten, jedoch weitestgehend tolerant. Wo diese Toleranz in der Vergangenheit in einigen wenigen Fällen fehlte, schufen Schiiten das Taqiya-Dogma, die legitime Verheimlichung ihres Glaubens, um Verfolgung zu entgehen.8 Den meisten Sunniten ist die Taqiya-Doktrin unbekannt, obwohl seit dem 11. September sunnitische Aktivisten in Amerika von anti-muslimischen Experten regelmäßig der Taqiya beschuldigt werden, mit deren Hilfe sie den Westen nämlich zum Islam konvertieren wollten (falscher Vorwurf und verkehrte Konfession). Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Außenstehende missverstehen, was drinnen im Haus des Islam vor sich geht. Die Rivalität des Iran und seiner Verbündeten mit Saudi-Arabien und dessen Golf-Alliierten wuchert bis in den Syrienkrieg. Dabei hat dieser Krieg zwischen Sunnis und Schia seinen Höhepunkt längst noch nicht erreicht.
Die Emotionen rund um Kerbela leben weiter. Eine mögliche Ausweitung des derzeitigen Konflikts zum Flächenbrand wäre weitaus schlimmer als alles, was wir im Irak, in Syrien, im Libanon, dem Jemen und Pakistan bisher zu sehen bekamen. Was vermag diese Jahrhunderte alte Wunde zu heilen? Falls irgendetwas das innermuslimische Blutvergießen aufhalten kann, dann ist es die Rückkehr zu einem tieferen, umfassenderen Verständnis der Scharia, das heißt des islamischen Lebenswegs, den die Mehrheit der Muslime, Sunniten wie Schiiten, für heilig erachtet.