Читать книгу Weltoffen aus Tradition - Ed Husain - Страница 13

Kapitel 3 Was bedeutet Muslimsein heute?

Оглавление

„Geh in den Jemen“, instruierte der Prophet Muadh ibn Dschabal, einen seiner engsten Gefährten. „Ruf die Menschen dazu auf, nur an einen Gott zu glauben. Teil ihnen mit, dass wir für unsere Taten in dieser Welt zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn sie das akzeptieren, lade sie zum Gebet ein. Unterrichte sie darüber, dass die Armen unter ihnen ein Anrecht auf einen kleinen Prozentsatz an den Besitztümern der Reichen haben.“

Diese Worte halten die Kernelemente des Islam fest: an Gott und seinen Propheten Mohammed, den letzten in der Reihe der Propheten, zu glauben. Diese Tatsachen auszusprechen gilt als Schahada oder Glaubensbekenntnis. Solange eine Person sich ergeben daran hält, ist sie Muslim. Das ist, genau genommen, die Definition eines Muslims.

Über Jahrhunderte fanden diese Glaubensgrundsätze in einer vielfältigen und reichen islamischen Kultur ihren Ausdruck, getragen von Muslimen, die in diesem gemeinsamen und kosmopolitischen Glauben geeint waren. Der Historiker John Darwin aus Oxford fasst dies treffend zusammen:

Das kulturelle Leben des Islam (im und außerhalb des Osmanischen Reichs) war erstaunlich kosmopolitisch. Ein gebildeter Mensch konnte sein Glück vom Balkan bis nach Bengalen suchen. Der Historiker Abd al-Latif (1758–1806), der in Schustar am oberen Ende des Persischen Golfs geboren worden war, erwarb sein Wissen bei Gelehrten im Iran. Die Hoffnung auf eine bessere Stellung führte ihn jedoch nach Indien, wo sein Bruder bereits in Awadh als Arzt tätig war. Er wurde Vakil (Agent, Interessenvertreter) des Herrschers von Hyderabad bei der Regierung der Ostindien-Kompanie in Kalkutta. Seine Sicht der indischen Geschichte war islamisch und nicht ‚indisch‘. Den Mitgliedern der islamischen Intelligenz war die Vorstellung eines territorialen Patriotismus gegenüber einem osmanischen, iranischen oder Mogul-‚Vaterland‘ zutiefst fremd. Der Nationalstaat als einziger Fokus der Loyalität war für sie schlicht bedeutungslos. Im Osmanischen Reich bezogen die Muslime, so wie die Christen und Juden, ihre Identität aus ihrer Schrift und Religion, nicht aus ihrer Sprache oder Rasse.1

Diese Einstellungen haben sich verändert. Das Osmanische Reich, welches große Territorien über Jahrhunderte beherrschte, existiert nicht mehr. Und dennoch, auch wenn Muslime heute viel nationalistischer eingestellt sind als noch unter den Osmanen oder Moguln, so teilen sie doch weiterhin eine starke universelle, religiöse Identität. Wo aber leben Muslime auf der Welt? Und was bedeutet es genau, sich gemäß der viel zitierten ‚Fünf Säulen‘ des Glaubens an den Islam zu ‚halten‘ oder ihn zu ‚praktizieren‘?

Verbreitet wurde der Islam durch eine Kombination aus arabischen Händlern, die in ihrem Geschäftsgebaren die Moral ihres Glaubens einhielten (faire Preise, nicht betrügen, Zuverlässigkeit); arabischen Eroberern, die ihren Herrschaftsbereich ausbauten, um Angriffen vorzubeugen und Reichtümer zu erbeuten; teils den missionarischen Bestrebungen einiger Muslime; und am allermeisten durch die Ausstrahlung der mystischen Sufis und deren Überzeugungskraft. Oftmals war es ein Amalgam all dieser Bemühungen, das zum raschen Vordringen des Islam führte. Heutzutage wächst der Islam jedoch in erster Linie nicht aufgrund von Konversionen, sondern wegen der hohen Geburtenraten.

Die 1,7 Milliarden Muslime auf der Welt leben in sieben verschiedenen kulturellen und geografischen Räumen. Der erste davon ist der arabischsprachige vom Irak bis Mauretanien, Heimat von schätzungsweise 400 Millionen Muslimen. Er bildet den ältesten Seitenflügel im Haus des Islam. Der Prophet selbst lebte in Arabien und entsandte Boten in benachbarte Länder, um sie aufzufordern, Teil der muslimischen Gemeinschaft zu werden. Heute leben nur 20 Prozent der Muslime in diesem Gebiet. Die poetische Sprache des Koran hat sich mit den ersten Muslimen in all diesen Ländern ausgebreitet. Irak, Syrien, Nordafrika und Ägypten haben alle das Arabische übernommen. Ethnisch betrachtet sind diese Nationen daher nicht ursprünglich arabisch, nur sprachlich sind sie es; getroffen wird diese Unterscheidung jedoch selten. Das Herz des arabischen Nationalismus etwa schlug in den 1950ern und 1960ern in Kairo und Damaskus, nicht in Riad oder Doha. Perser und Türken fingen andererseits nicht an, Arabisch zu sprechen, obwohl sie den islamischen Glauben annahmen.2

Der persische Raum, bestehend aus dem heutigen Iran, Afghanistan und Tadschikistan, bildet den zweiten großen Bereich im Haus des Islam. Hier sprechen die 100 Millionen Einwohner Farsi, Dari oder Tadschikisch – verschiedene Dialekte derselben Sprache. Persische Muslime fühlen sich in der Regel dem Prophetengefährten Salman al-Farsi (gest. 656) eng verbunden, dem ersten persischen Konvertiten zum Islam. Bereits im Jahr 636 führten die Muslime Krieg mit den Persern, am bekanntesten wurde die Schlacht von Qadisiya (636–637). Um das Jahr 750, nachdem die Muslime bereits ein Jahrhundert Handel getrieben und Schutzsteuern von persischen Gemeinden erhoben hatten, war die persische Präsenz innerhalb des Islam stark genug geworden, um die umayyadischen Herrscher zu stürzen und durch eine neue Dynastie, die der Abbasiden, Nachfahren der Familie des Propheten, zu ersetzen.

Heute lebt ein Großteil aller Schiiten im Iran. Von seinen 80 Millionen Einwohnern gehört die große Mehrheit dieser Strömung des Islam an, in der besonderer Wert auf die Achtung des Hauses des Propheten gelegt wird. Mit Ausnahme des Iran sowie Irak, Libanon, Bahrain und Teilen Pakistans, Afghanistans und Aserbaidschans sind die meisten Muslime keine Schiiten.

Das subsaharische Afrika, Heimat von etwa 250 Millionen Muslimen, ist der dritte große Raum. Der Islam breitete sich im 7. Jahrhundert zuerst in Mali und dem Senegal aus. Mehrere Gefährten des Propheten Mohammed sind im Tschad beerdigt worden, was auf eine Präsenz des Islam dort im ersten Jahrhundert nach seiner Entstehung hindeutet. Im 11. Jahrhundert existierte in Westafrika das mächtige islamische Königreich Ghana. Araber und Perser trieben Handel, ließen sich in Kenia und Somalia an der Küste Ostafrikas nieder und brachten so den Islam in diese Gegend. Erst im 10. Jahrhundert erreichte der Islam Nigeria mit seinem vielfältigen Sprachgemisch. Für Afrikaner hat Bilal al-Habaschi, ein geschätzter Prophetengefährte und der erste afrikanische Konvertit zum Islam, besondere Bedeutung. Bilal war der erste Muezzin und rief vom Dach der Prophetenmoschee in Medina die Menschen zum Gebet.

Die vierte Sphäre stellt der indische Subkontinent dar. Muhammad ibn al-Qasim, General des Umayyaden-Kalifats (661–750), eroberte den Sindh im Jahr 710, aber erst die friedfertigen Sufis verhalfen mit ihrer Musik, ihrer von Wundern durchdrungenen Mystik und Meditation dem Islam seit dem zehnten Jahrhundert in ganz Indien zum Durchbruch. Heutzutage bilden Pakistan, Indien, Bangladesch, Birma, Nepal und Sri Lanka diesen Zweig mit der weltweit höchsten Dichte von ungefähr 400 Millionen Muslimen. Ab dem 16. Jahrhundert wurde der Islam in diesem Erdteil durch die Herrschaft der Moguln konsolidiert und kodifiziert.

Der fünfte Ballungsraum ist der turksprachige. Er umfasst circa 170 Millionen Muslime, die überwiegend eine Turksprache sprechen, aber auch Menschen mit anderem Hintergrund wie Aseri, Tschetschenen, chinesische Uiguren, Usbeken, Kirgisen und Turkmenen. Die Turkvölker eroberten Zentralasien im Jahr 1071 in der Schlacht von Manzikert (Malazgirt in der heutigen Türkei) von den Persern. Das bereitete dem muslimischen Seldschukenreich in Anatolien den Weg, was schließlich zur Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 führte. Der turksprachige Raum, sprich die Osmanen, beherrschte den gesamten Nahen Osten über sechs Jahrhunderte und dominierte die arabischsprachige Peripherie.

An sechster Stelle steht das malaiische Gebiet in Südostasien, bestehend aus Indonesien, Malaysia, Brunei sowie beachtlichen muslimischen Minderheiten in Thailand und auf den Philippinen. Über 200 Millionen Muslime leben hier. Der Islam drang relativ spät in diese Breiten vor und verbreitete sich schrittweise vom 13. bis ins 15. Jahrhundert. Handeltreibende Sufis aus Arabien, insbesondere die Nachfahren des Propheten aus dem Hadramaut-Tal im Jemen, bewegten in diesem Teil der Erde die ersten Muslime dazu, den Islam anzunehmen.

Die siebte und letzte Region, in der Muslime beheimatet sind, ist der Westen. Ungefähr 60 Millionen von ihnen leben dort beispielsweise in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten als Minderheiten und neue Immigranten, aber ebenso als alteingesessene Bevölkerungsmehrheiten in Ländern wie Albanien, dem Kosovo und Bosnien.

Aber was bedeutet es überhaupt, Muslim zu sein?

Um als ‚praktizierender oder frommer Muslim‘ zu gelten, sollte eine gläubige Person seinem oder ihrem Glauben entsprechend handeln. Was aber sollte ein Gläubiger praktizieren beziehungsweise woran soll er oder sie sich halten?

Der Prophet hat gelehrt, dass der Islam auf „fünf gebaut“ sei. Beruhend auf diesem Hadith oder Ausspruch des Propheten, lehren und bewahren Muslime die ‚fünf Säulen des Islam‘, Handlungen, die den Gläubigen von Indonesien bis Marokko ein Gefühl von Einheit und Gemeinsinn stiften. Muslime aus der Türkei oder Bosnien mögen weiß und europäisiert sein, aber sie werden sich durch diese allgegenwärtigen Rituale überall zu Hause fühlen, egal ob im schwarzen Sudan oder dem braunen Bangladesch. Jede der fünf Säulen wird im Koran erwähnt, wodurch diese Grundsätze von der breiten Mehrheit der Muslime anerkannt werden.

Das Aussprechen der Schahada und der Glaube an sie bilden die erste Säule. Die zweite besteht aus den fünf Gebeten, an die der Prophet sich hielt. Das erste, Fadschr, ist im Morgengrauen. Zuhr, das zweite, zur Mittagszeit. Das dritte, Asr, findet am späten Nachmittag statt, Magrib bei Anbruch der Dämmerung und ‘Ischa’, das fünfte und letzte Gebet, etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang. Diese täglichen Gebete bilden die Wegmarken im Tag eines Gläubigen. Sie verbinden den frommen Menschen mit dem Göttlichen und erinnern die Muslime daran, warum sie auf der Erde sind: um den Schöpfer anzubeten, aufrichtig mit anderen umzugehen und sich auf die Rückkehr zu Allah in der Stunde ihres Todes vorzubereiten.

Auf seinem Sterbebett erinnerte der Prophet die Muslime daran, ihre Gebete nicht zu vernachlässigen. Indem er sich an die Anwesenden wandte, mahnte er: „Al-salah, al-salah – Das Gebet, das Gebet.“

Die fünf täglichen Gebete sind in der gesamten islamischen Welt nach wie vor von zentraler Bedeutung. Der Gebetsruf (Adhan) erfüllt die Luft, wenn der Muezzin die Gläubigen zum Beten in die Moschee lädt. Der Prophet hat gelehrt, dass der göttliche Lohn für gemeinschaftlich verrichtete Gebete mehr wiegt, was wiederum den muslimischen Gemeinschaftssinn, die Dschama‘a, stärkt. Ein Gläubiger kann jedoch auch alleine beten, egal ob zu Hause oder in einem Flugzeug. Es herrscht jedoch Uneinigkeit darüber, wann genau die fünf täglichen Gebete zu verrichten sind einige Muslime beten zu fünf bestimmten Zeiten, während andere sie auf einen Zeitpunkt zusammenlegen. Als der Prophet die Idee des täglichen Gebets aufbrachte, war sie weder neu noch ungewohnt. Das Stehen, Verneigen und sich in Anbetung Niederwerfen war unter Juden und Christen normal und ist es in der katholischen und orthodoxen Frömmigkeit bis heute.

Gläubige wiederholen die Gebetsrituale ihr ganzes Leben lang. Als erstes, während sie beim Gebet stehen, sprechen sie auf Arabisch die erste Passage des Koran, die kurze und viel zitierte al-Fatiha, die Eröffnende:

Lob sei Gott,

Dem Herrn der Welten,

Dem Gnädigsten, Dem Barmherzigsten,

Herrscher am Tag des Gerichts,

Dich beten wir an,

Deine Hilfe ersuchen wir.

Zeige uns den geraden Weg,

den Weg derer, denen

Deine Gnade Du erwiesen hast,

deren Los nicht Zorn ist,

und die nicht fehlgehen.

Dann, indem sie sich verneigen, sprechen die Gläubigen: Ruhm Meinem Herrn, in Herrlichkeit.

Und schließlich beim sich Niederwerfen: Ruhm Meinem Herrn, in der Höhe.

Araber und Muslime im Osten tragen Kleidung, in der es sich bequem beten lässt, Gewänder, die nicht zu viel preisgeben, wenn man sich vornüber beugt und auf den Boden wirft. Den meisten Nicht-Gläubigen sind diese intimen Augenblicke des muslimischen Glaubens in der Moschee unbekannt. Vor dem Gebet waschen sich die Gottesdienstbesucher Hände, Gesicht und Arme. Sie wischen sich über ihren Kopf und reinigen ihre Füße mit Wasser.

Das Gebet und die Notwendigkeit der täglichen Waschungen führten zu fortschrittlichen Bewässerungstechnologien in der islamischen Kultur wie beispielsweise den Springbrunnen und Wasserbassins in den Innenhöfen der weltberühmten Moschee von Córdoba. Auch auf andere Weise war das regelmäßige Gebet gesellschaftlicher Mittelpunkt. Die großen Moscheen in Bagdad, Damaskus und Kairo wurden gen Mekka ausgerichtet, der Gebetsrichtung für Muslime. Marktplätze, Spitäler und Schulen wurden in der Folge um die Moscheen angesiedelt, da sich dort die Massen jeden Tag zum Gottesdienst versammelten. Handwerker und Kalligrafen wurden damit beauftragt, die Mauern der Moscheen mit Koranversen und Poesie zu verzieren. Kurzum, die islamische Kultur entwickelte sich um die fünf Gebete herum.

Almosen, die Zakat, an die Armen zu geben, lautet die dritte Säule des Islam. Von jedem Muslim wird erwartet, 2,5 Prozent des Einkommens an die Bedürftigen zu spenden. Mit diesem Geld sollen Schulen, Kranken- und Waisenhäuser, Herbergen und Moscheen finanziert werden. In der Vergangenheit landete das Geld manchmal im Staatshaushalt. Heutzutage verwalten einige muslimische Regierungen die Zakat, doch die meisten Muslime verteilen sie privat an diejenigen, die sie benötigen.

Die vierte Säule des Islam ist möglicherweise am schwierigsten durchzuhalten, was sie aber gleichzeitig so erfüllend macht. Für einen ganzen Monat im Mondkalender, den Ramadan, fasten gesunde Muslime von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.3 Während des Tages sind Trinken, Essen, Rauchen und Sex verboten, in den heißesten wie auch den kältesten Ländern lassen Muslime keinen einzigen Tropfen Wasser über ihre Lippen. Sobald die Sonne untergeht, herrscht eine besondere Feierlichkeit, da Familien und Gemeinden gemeinsam, so wie einst der Prophet Mohammed, das Fasten mit Datteln und Wasser brechen. Auf das reguläre Abendgebet folgt ein Festessen. Nach dem Nachtgebet gibt es ein zusätzliches längeres Gebet, den Tarawih, bei dem im Laufe des Monats der gesamte Koran rezitiert wird.

Die fünfte und abschließende Säule war einst die härteste Anforderung, ist aber jetzt, in einer durch Züge und Flugzeuge vernetzten Welt, relativ komfortabel zu bewerkstelligen: die Pilgerfahrt nach Mekka beziehungsweise Hadsch. Der Flughafen von Dschidda wirkt wie die meisten anderen Flughäfen, und die Autobahn nach Mekka ist mittlerweile asphaltiert, voller Autos, Straßenschilder und Werbetafeln. Über weite Teile der islamischen Geschichte kamen Pilger zu Fuß, zu Pferd oder auf dem Kamel in die Stadt in der Wüste Arabiens. Während ihrer monatelangen Reise rezitierten sie: „Hier sind wir, oh Herr, hier sind wir zu deinen Diensten –Labbaik, allahumma labbaik.“ Noch immer stimmen Muslime diesen Gesang an, worin die Verbundenheit mit dem Göttlichen mitschwingt, da sie mit diesen Worten Abrahams, Ismails und Mohammeds gedenken. Von Ägypten aus dauerte es damals in der Regel zwei Monate nach Mekka. Von Indien oder Afrika aus sogar vier. Für ihren Schutz während der beschwerlichen Reise und ihre sichere Heimkehr vertrauten die Gläubigen auf Gott.

Nach meinen Besuchen in Mekka wollte ich immer wieder dorthin zurückkehren. Noch immer ist es eine Handelsstadt, doch der beschauliche, vom Gebet erfüllte Bereich rund um die Kaaba flößt jedem Besucher Ehrfurcht ein.

Etwa 200 Meter von der Kaaba entfernt erklimmen die Muslime eine kleine Erhebung namens Safa, wo sich Tausende Pilger versammeln. Von Safa aus laufen sie nach Marwa, einem nahegelegenen Hügel. Im Gehen, manchmal rennend, gedenken sie Hagars Suche nach Wasser für den kleinen Ismail. Hagar war neben seiner Ehefrau Sarah Abrahams rechtmäßige Geliebte, aber Muslime nennen Hagar auch seine ‚Zweitfrau‘. Alle Muslime bekommen diese Geschichte, die zum Teil im Koran erwähnt wird, zum Teil vom Propheten überliefert wurde, von klein auf von ihren Eltern erzählt. Hagar rannte sieben Mal von Safa nach Marwa. Sie war verzweifelt und allein, aber sie vertraute auf Gott und auf ihre Liebe zu Abraham und Ismail. Diese Selbstaufopferung brachte ihr göttlichen Beistand. Als sie zurückkam, um nach Ismail zu sehen, war eine kleine Quelle neben dem Kind entsprungen: Der Zamzam-Brunnen steht noch heute in Mekka.

Über Jahrtausende haben Pilger Wasser aus diesem Brunnen getrunken und dabei Hagars Vertrauen in Gott gedacht sowie seiner Hilfe für diese reinherzige, Gott und Abraham liebende Frau in der Wüste. Muslime stammen von Ismail ab. Unsere jüdischen Cousins und Cousinen von Isaak. Wir teilen in Abraham denselben Stammvater, dem Gott in der Bibel „Nachkommen so zahlreich wie die Sterne im Himmel“ versprach.4

In Mekka, wohin Pilger aus der ganzen Welt strömten, konnte ein Gläubiger auf Heilige und Gelehrte treffen. Die Wärter des Zamzam-Brunnen schöpften das Wasser mit edlen Kannen, aus denen sie Generationen von Glaubensanhängern einschenkten. Barfuß überquerten die Pilger Safa und Marwa auf Wegen, die noch nicht wie heute mit Marmor gepflastert waren. Männer vollzogen die Hadsch-Rituale zu Ehren Abrahams, Hagars und des Propheten Mohammed in einem zweiteiligen, losen Baumwollgewand, Frauen in einfacher Kleidung. Im Anschluss an Mekka reisten sie nach Medina weiter, wo ihr geliebter Prophet die erste muslimische Gemeinschaft aufgebaut und seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Dort hatten sie Gelegenheit, am Grab des Propheten Gedichte zu rezitieren, die Gräber seiner Familie und seiner Gefährten zu besuchen, beseelt vom Gefühl einer die Jahrhunderte überdauernden Bindung durch die Religion. Danach machte sich jeder Pilger wieder allmählich auf den Heimweg nach Afrika, Indien oder Indonesien. Die modernen Muslime kommen sehr viel schneller nach Hause. Sie nehmen den Segen des Hadsch in sich auf und versuchen, die spirituelle Erbaulichkeit der fünften Säule des Islam bei der Rückkehr in ihr normales Leben zu bewahren. Wer die Pilgerreise unternommen hat, wird fortan mit dem Ehrentitel Hadschi angesprochen.

Die Frage, wer die Muslime beim Einhalten der fünf Säulen anführen soll, ruft bei vielen Muslimen Ängste und bei Nicht-Muslimen Verwirrung hervor. Muslime benötigen keine religiöse Führung, der Islam ist nicht wie die katholische Kirche und besitzt keinen vergleichbaren Klerus oder einen Papst. Der Prophet betonte immer wieder, dass er den Muslimen den Koran, seine Familie und sein eigenes Beispiel als Richtschnur vermacht habe. Das Überleben, beziehungsweise das Aufblühen des Islam über ein ganzes Jahrtausend, belegt anschaulich, dass der spirituelle Kern der Religion größtenteils stabil und intakt ist. Doch in weltlicher, materieller Hinsicht leiden Muslime an der Uneinigkeit und haben keine zentralisierte politische Führung mehr wie einst unter den Osmanen und Moguln. Einige Muslime sehnen sich nach einem Kalifat aufgrund von dessen Ruhm und Macht in der islamischen Vergangenheit. Der sogenannte ISIS verkörpert für die meisten Muslime jenen Glanz gerade nicht. Als der Prophet starb, wählten seine Gefährten mit Abu Bakr, dem engsten Vertrauten des Propheten und Vater seiner Lieblingsfrau Aischa, einen Kalifen beziehungsweise Anführer. Der Titel Kalif bedeutet Stellvertreter, Abu Bakr galt als der Vertreter des Propheten nach dessen Tod.

Diese erste Phase des Kalifentums nach dem Tod des Propheten hielt nur knapp dreißig Jahre, von 633 bis 661, an. Der Statthalter von Damaskus, Muʿawiya, verhalf einer neuen Ordnung zum Durchbruch, indem er das Kalifat nach der Ermordung des vierten Kalifen Imam Ali im Jahr 661 für sich beanspruchte. Von 661 bis 750 war es als das Kalifat der Umayyaden bekannt, mit Sitz in Damaskus, wobei der Islam sich weit über die arabische Wüste hinaus ausbreitete und sich unter der vollen Kontrolle Muʿawiyas befand. Im 9. Jahrhundert war das Umayyaden-Kalifat im Angesicht rivalisierender Kalifen bis auf eine Provinz in Spanien zerfallen, die in der Folge Schauplatz der ruhmreichen muslimischen Kultur Andalusiens wurde. Bald darauf übernahmen in den arabischen Ländern die Abbasiden (750–1258) von Bagdad aus die politische Führungsrolle im Islam. Dann überlappte sich die Herrschaft der Mameluken (1250–1517) mit Hauptsitz in Kairo zeitlich mit jener der Seldschuken (1077–1307) in Zentralasien und kurz darauf im Iran. Die Osmanen (1281–1924) beherrschten Arabien und Zentralasien und weiteten im 16. Jahrhundert ihren Herrschaftsbereich nach Nordafrika sowie Osteuropa aus. Parallel dazu herrschten die Safawiden (1501–1732) über die persischen Muslime und die Moguln (1526–1858) über die Muslime Indiens. Überall gab es Machtkämpfe, wurde Gefolgschaft verweigert und vor allem in den kleinen Sultanaten in Indien und Südostasien kam es zur Zersplitterung der Herrschaft. Das muslimische Subsahara-Afrika war hingegen in Fürstentümer aufgeteilt. Seit dem Propheten hat es selten einen einzelnen Herrscher über alle Muslime in der Welt gegeben. Rivalität und Konkurrenz bis hin zu Kriegen zwischen Kalifatsanwärtern waren die Normalität.

Es wird oft behauptet, der Islam sei ‚mit dem Schwert verbreitet‘ worden. Doch dieser Eindruck rührt womöglich eher von den heutigen Schlagzeilen als von historischen Fakten her. Der Prophet Mohammed kehrte im Jahr 629 siegreich von Medina nach Mekka zurück. Nach jahrelangem Morden, Folter und Boykott durch die mekkanische Elite wäre es nach damaliger Sitte sein gutes Recht gewesen, aus Rache ihre Häuser dem Erdboden gleich zu machen. Stattdessen ritt er auf einem Esel in Mekka ein, den Kopf demütig gesenkt, und vergab den Einwohnern der Stadt mit einer Generalamnestie. Die gleiche geistige Grundhaltung lebte unter seinen Anhängern fort. Der Historiker Peter Frankopan aus Oxford schreibt in seinem richtungsweisenden Werk Licht aus dem Osten:

In Wirklichkeit gingen die arabischen Eroberer allem Anschein nach keineswegs so grausam oder schockierend vor, wie die Kommentatoren behaupteten. In der ganzen Provinz Syria und in Palästina etwa gibt der archäologische Befund kaum Hinweise auf eine gewaltsame Eroberung. Damaskus, die wichtigste Stadt im Norden Syrias, kapitulierte rasch, nachdem sich der dort ansässige Bischof und der angreifende arabische Feldherr auf die Bedingungen geeinigt hatten. Der Kompromiss war so vernünftig wie pragmatisch: Im Gegenzug dafür, dass die Kirchen weiterhin geöffnet und unangetastet blieben und die christliche Bevölkerung nicht behelligt wurde, willigten die Bewohner ein, die Oberherrschaft der neuen Herren anzuerkennen. In der Praxis hieß das, dass die Steuern nicht länger an Konstantinopel und die kaiserlichen Stellvertreter gezahlt wurden, sondern an Repräsentanten des ‚Propheten, der Kalifen und der Gläubigen‘.5

Die Besatzung der umliegenden Länder durch die Araber war ebenso wenig wie ihr Führungsanspruch über die Muslime von Dauer. Nicht-Araber dominierten bald die islamische Welt. Die osmanischen Türken herrschten beispielsweise 600 Jahre lang bis ins frühe 20. Jahrhundert über die Sunniten. Nach dem Ende der abbasidischen Herrschaft im Jahr 1258 waren es die Turkvölker, die Inder und Perser, die den Verlauf der islamischen Geschichte bestimmten. Die Osmanen, Moguln und Safawiden waren keine Araber, doch ihr Einfluss und ihre Institutionen haben den Islam geprägt.

Obwohl heute 80 Prozent vom Haus des Islam nicht arabisch ist, bestimmen die Araber und die Konflikte in der arabischen Welt weltweit die geopolitische und religiöse Tagesordnung. Im Grunde durchläuft die islamische Welt eine erneute Arabisierung, angeführt vom Salafismus saudi-arabischer Prägung und dem internationalen Engagement der ägyptischen Muslimbrüder, wie wir noch sehen werden.

Es gab immer eine Vielzahl an Aspiranten für die Führungsrolle der Muslime, der Konkurrenzkampf setzte sehr früh in der Geschichte des Islam ein. Nur fünfzig Jahre nach dem Ableben des Propheten war der Frieden, für den er sich eingesetzt hatte, brüchig geworden. Blutvergießen und Zerstörung nahmen mit der Schlacht von Kerbela ihren Lauf.

Weltoffen aus Tradition

Подняться наверх