Читать книгу Tales of Beatnik Glory, Band I-IV (Deutsche Edition) - Ed Sanders - Страница 46

LUMINOUS ANIMAL THEATRE

Оглавление

Sie hatte gleich drei auf einmal — ihren Dreifuß, wie sie sie bei sich nannte. Alle drei waren Claudia Pred verfallen, der Begründerin des Luminous Animal Theatre. Der Erste war ein Stückeschreiber, der Zweite ein Steuerprüfer und der Dritte ein Theaterkritiker. Und außerdem bestand da noch die vage Aussicht auf einen vierten Verehrer, einen stinkreichen New Yorker Börsenmakler und Verleger, der mit einem dicken Batzen Kohle an der neuesten Luminous-Animal-Produktion Newsreel ’84 beteiligt war.

Zahllose weitere Anbeter lagen ihr in sklavischer Unterwürfigkeit zu Füßen, sogar im letzten halben Jahr noch. Sie winselten im Schatten ihres Rocksaums und warteten ergeben auf Erwiderung ihrer Gefühle. Sparsam und praktisch, wie sie nun mal war, beschäftigte Claudia so viele von diesen jämmerlichen Waschlappen wie möglich als »Höllensklaven«, das heißt als Produktionsassistenten, Künstler, Bühnenschrubber, Pförtner oder Platzanweiser im ständig geschäftigen Luminous Animal Theatre.

Claudia Pred —

Sängerin und Schöpferin des Ausdruckstanzes

So lautete die flammende Schlagzeile ihrer ersten großen Story im Dance Magazine. Damals war sie grade erst zweiundzwanzig geworden und es dauerte noch fünf Jahre bis zu den Ereignissen, die in dieser Geschichte zur Gloria mundi wiedergegeben werden sollen. Die Schöpferin des Ausdruckstanzes — ja, genau das war sie, und in den frühen sechziger Jahren prägte sie der Tanzkunst ihrer Zeit einen entscheidenden Stempel auf.

1. Sie startete ihre Karriere schon ziemlich früh. Sofort nach Beendigung der High School schrieb sie sich an der New York School of Dance and Drama ein und studierte dort drei Jahre lang. Kurz vor dem Abschluss ihres Studiums gab sie schon regelmäßig einmal in der Woche Vorstellungen in einem Loft an der Zweiundzwanzigsten Straße. Und schon zu dieser Zeit, also ganz am Anfang ihrer Karriere, wachte die Village Voice mit halbjährlichen Besprechungen über die Entwicklung ihrer Kunst. Einer der Mitarbeiter der Village Voice war übrigens Fred McDarrah, der sich mit über einer Million peripatetischer Schnappschüsse einen Namen als Chronist der sechziger Jahre gemacht hatte. Sein Archiv mit Hochglanzabzügen von Claudia platzte schon aus allen Nähten, als sie erst vierundzwanzig war.

2. Sie war vom Tanzen besessen, und nur hier empfand sie die ständige Erneuerung der Ewigkeit. Ihre Ausdauer war sagenhaft, aber ihre Beine machten nicht mit. Soviel sie auch daran arbeitete, es sah nicht so aus, als ob sie jemals kräftiger werden würden. Allerdings fielen ihre Trainings auch nicht besonders intensiv aus, denn anschließend fühlte sie sich jedes Mal wie gerädert. Und warum sollte sie sich denn auch zu Tode schuften? Bloß weil da jemand stand und ihr befahl: »Tanz, Devadetta, tanz!«? Vor dem Publikum, wenn es wirklich drauf ankam, steckte sie jedoch voller Energie, Ausdruckskraft und neuen Einfällen. Sie war eine vollendete Schönheit, und wir wollen es ruhig gestehen — auch wir haben so manche Nacht im Luminous Animal Theatre gehockt und uns diesem Ritual aus Anmut, Kraft und Ausdruck hingegeben.

3. Ihre Haltung war streng, ihre Gesichtszüge unbeweglich und die Backenknochen ragten so weit vor, dass sie Schatten warfen, wenn sie im Scheinwerferlicht stand. Ihr Haar war eine wilde Lockenpracht, die ihr lang über den Rücken fiel. Gewöhnlich kämmte sie sie straff nach hinten, aber es konnte auch vorkommen, dass sie mit Zöpfen auftrat oder ihr Haar im Nacken zu einem hinreißenden kleinen Knoten aufgesteckt hatte. Wenn sie abends Vorstellung hatte, steckte sie sich eine glücksbringende Haarnadel in diesen Knoten, einen Messingring, der angeblich vor vielen Jahren Hermann Melville gehört hatte. Meistens ließ sie an der Stirn ein paar Locken offen, die sich dann über ihren Augen kräuselten — ein kleines Detail mit großer Wirkung. Es jagte den glasäugigen Tanzfreaks einen Schauer nach dem anderen über den Rücken, wenn sie mitansahen, wie ihr Haar im Verlauf einer Vorstellung langsam feucht wurde und sich auf ihrer Stirn glitzernde Schweißperlen bildeten.

4. Sie strahlte etwas aus. Wohlgemerkt, Leute, nicht etwa den trüben Schimmer des Elends, sondern das kalte Licht Appolonias. Strenge. Disziplin. In ihrer Nähe schmolz alles andere wie Erdnussbutterbrötchen in der Sonne. Aber diese kompromisslose Haltung brachte ihre Bewunderer und Verehrer nur noch mehr auf Touren, Männer wie Frauen mit den verschiedensten Erwartungen und Träumen. Sie förderte das nach Kräften. So konzentrierte sie beispielsweise einen beachtlichen Teil ihres ausgefallenen künstlerischen Geschmacks auf ihre Kostüme und eine individuelle Erscheinung. Alles an ihr hatte das gewisse Etwas. Gleichgültig, ob auf der Bühne, hinter der Bühne oder unter der Bühne, immer präsentierte sie bei ihren unglaublich geschmeidigen Bewegungen den Zuschauern Backenknochen, Gesicht, Hände oder ein Stück Fuß nur im eindrucksvollsten Blickwinkel.

5. Sie zog Menschen an wie ein Magnet. Und dazu verfügte sie über die wichtigste Eigenschaft eines geborenen Führers, nämlich die Fähigkeit, sich auch dem kleinsten Projekt mit Haut und Haaren verschreiben zu können. Ihre Anhänger dagegen waren ständig drauf aus, sich in ihr Privatleben einzumischen, und in ganz New England gab es kein College mehr, in dessen Theaterseminar nicht ein paar aufmüpfige Studenten, besonders gern weibliche, versuchten, Claudia Preds Leben in der New Yorker Theaterszene zu kopieren. Es erschien ihnen schier unglaublich, mit wie viel unterschiedlichen Projekten sie gleichzeitig fertig wurde.

6. Obwohl sie sich bemühte, nach außen hin stets einen etwas verwirrten Eindruck zu machen, war sie in Wahrheit extrem resolut und dominierend. Sie wandte hier nur die klassische Technik jedes guten Schauspieldirektors an, die schon mindestens so alt war wie Richard Sheridans Managerposten beim Drury Lane Theatre. Ihre scheinbare Unentschlossenheit war tatsächlich totaler Widerstand gegen die kleinste Andeutung eines Kompromisses, und da ihre Pläne von Anfang an so gut wie in die Tat umgesetzt waren, konnte sie sich ruhig eine Portion scheinbarer Unentschiedenheit leisten. Im Übrigen ist diese Art von stilvoller und ausgeprägter Unbestimmtheit, besonders wenn sie gleichzeitig auch noch beruhigend wirkt, von unschätzbarem Wert, wenn es darum geht, ganze Meuten von Bankangestellten und Gläubigern abzuwimmeln, die Blut geleckt haben.

7. Sie besaß im Allgemeinen eine stoische Gelassenheit. Es kam wirklich äußerst selten vor, dass sie zu schreien anfing. Vielleicht lag es daran, dass sie gar nicht erst auf die Idee kam, dass sie irgendwo falsch liegen könnte. Wahrscheinlich wäre sie sowieso nie in der Lage gewesen, unter einem anderen Banner als dem von Wahrheit, Gerechtigkeit und Sozialismus zu marschieren. Da war zum Beispiel ihre sprichwörtliche Freigebigkeit — es kam nicht selten vor, dass sie die Papierrechnungen für irgendwelche Politfreaks einfach mitbezahlte, die auf ihrem Matrizendrucker Protestflugblätter gedruckt hatten. Oder ihnen Material und Farbe für die Siebdruckmaschine umsonst überließ. Sie brachte da was in Gang, das sie gerne Gemeinde genannt hätte — nur war sie ihren Freunden ständig um Längen voraus. Das lag aber zum Teil auch an ihrer Gefühlskälte, die wie ein Fluch über vielen kreativen Menschen liegt.

8. Sie hatte eine Schwäche für Merkzettel. Für jedes Projekt legte sie Listen mit ein- bis zweihundert Stichpunkten an, und ihr Zettelkasten quoll davon über. Aktuelle Projekte oder solche, die noch mal überarbeitet werden mussten, lagen oben. Tief unter diesem dicken Stapel war Platz für die, die ohne Schwierigkeiten liefen oder sich noch im visionären, schattenhaften Stadium befanden.

9. Sie führte ein Tagebuch. Und hielt ihn darin genauestens fest — den Vormarsch der Moskitos auf Sitte und Moral. Sie ließ nichts aus, nicht die kleinste Erinnerung, und schonte getreu ihrer Devise von Schlamassel nichts und niemand. Ja wirklich, sie war ganz wild auf Schlamassel, jedenfalls solange keine Gewalt im Spiel war. Irgendetwas kämpfte mit lustig aufblitzenden Augen gegen jede Form von Konvention, aber ohne diesen langweiligen, immer wieder auftretenden religiösen Fanatismus, der viele tapfere Krieger in ähnlichen Positionen befällt, Pioniere des Neulandes, am dessen Strand sie die ersten menschlichen Spuren hinterlassen. In diesen Tagebüchern erfand sie eine eigene Sprache zur Beschreibung ihres komplexen Liebens und Lebens, die ihren zukünftigen Biografen noch schwer zu schaffen machen wird, wenn sie sich nicht vorher doch noch dazu aufrafft, ihre Hapax Legomena in gewöhnliches Englisch zu übertragen. Außerdem hatte ihre Schrift Ähnlichkeit mit jenen amphetaminischen Kalligrafien, über die man sich manchmal morgens um drei im Café Figaro den Kopf zerbrechen kann — kurz, Freunden und Feinden war es gleichermaßen unmöglich, sich heimlich ihre Aufzeichnungen unter den Nagel zu reißen und dabei ein paar billige Kicks abzustauben.

Jeder Filmemacher in ihrer Umgebung wurde ermuntert, ihre Produktionen aufzuzeichnen, und sie selbst schnitt auf Tonband soviel mit, wie sie finanziell verkraften konnte. Tausende von Standphotos aus Proben und von den Mitwirkenden wurden sorgfältig beschriftet und für die Nachwelt aufbewahrt. Die besten Künstler der Stadt entwarfen die Plakate für ihre Vorstellungen— ein vollständiger, signierter Satz davon würde heutzutage auf jeder Auktion mindestens zehntausend Dollar bringen.

10. Was Männer und moralische Prinzipien betraf, so legte sie sich in dieser Beziehung eine übertriebene Härte zu. Man wird sich erinnern: Es war 1961. Einerseits sanken ihr Männer reihenweise in kriecherischer Anbetung zu Füßen. Die anderen markierte den wilden Mann und versuchten pausenlos, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun hatte. Mit ihren ungebetenen und noch dazu lausigen Ratschlägen wurden sie ihr langsam wirklich lästig. Die meisten kamen ihr mit der Tour: »Hör zu, ich hab’s! Jetzt bin ich endlich dahinter gekommen, wie man den Handlungsverlauf in deinem Stück verbessern kann. Also pass auf, Folgendes ist erst mal überflüssig ...« Andere waren drauf aus, Verwirrung zu stiften, sie fertigzumachen oder zu beherrschen. Für solche Typen hatte sie ihre ganz speziellen Waffen: Spott, Verachtung und Festigkeit.

11. Sie war überall dafür bekannt, wie sie ihre Liebhaber quälte. Der Himmel mochte verhindern, dass sie einmal in Eros’ Armen versagten. Auf solche Ausrutscher reagierte sie unweigerlich mit leisen Pfiffen und Buhrufen. Andererseits liebte sie die unterschiedlichen Nuancen einer Versöhnung über alles, sodass man ihr die zeitweiligen Anfälle von Grausamkeit meist schnell wieder verzieh. Wenn sie mit einem Liebhaber Schluss machte, fühlte sie sich grundsätzlich als diejenige, der Unrecht geschehen war. In Wirklichkeit war es aber häufig so, dass der andere ihr massenhaft Vorwürfe unter die Nase hätte reiben können.

12. Gelegentlich merkte sie, dass sie sich in eine ihrer »Höllenschwestern« verliebt hatte. (So nannte sie ihre Tanzfreundinnen.) Sie genoss diese Zweimonatsphasen voller Zärtlichkeit, die solche Affären mit sich brachten. Danach fühlte sie sich jedes Mal enorm gestärkt und widmete sich mit neuem Eifer ihrem Theater. Hier und da entdeckte einer ihrer früheren Liebhaber ihr Photo im Tanz- oder Theaterteil einer Zeitschrift und schüttelte traurig den Kopf, wie jemand, der gerade aus einem Traum erwacht. Zzzz, er macht die Augen auf und entdeckt das Gesicht des Radios neben seinem Bett — ja, er sieht ein wirkliches Gesicht! —, das sich nun langsam in ein Radio, mit Knöpfen, Tasten und Skalen, verwandelt.

13. Trotz ihrer archivarischen Neigungen hatte Claudia eine Schwäche, die sie mit der Zeit immer mehr verabscheute: abzuhauen. Alle Brücken abzubrechen. Traurige Menschen zurückzulassen, die sie nicht mehr verstanden. Und es dauerte nicht lange, bis sie anfing, einen Schuldkomplex für gewisse Dinge zu entwickeln, die ihr aus der Hand geglitten waren. Ein paar Fälle, die schon etwas weiter zurücklagen und zu Beginn ihrer Karriere passiert waren, wurde sie einfach nicht los. Sie fand keine Ruhe mehr vor dieser Schuld — jederzeit konnte sie sich wie ein LSD-Flashback auf sie stürzen. Manchmal füllten sich mitten in einer Vorstellung ihre Augen mit Tränen — was ihre Freunde immer für ganz besonders große Kunst hielten. Und nach einem ganzen Jahrzehnt in der Bohème war die Last von Gewissensbissen wegen schiefgegangener Projekte, bitterer Affären und ruinierter Freundschaften manchmal kaum noch zu ertragen. Ein Poet gab seine Dichtung auf, und mit einunddreißig Jahren fielen ihm in der Amphetamin-Todesfalle die ersten Fußnägel und Zähne aus — sie machte sich dafür verantwortlich. Ein anderer stürzte sich zu Tode — sie war schuld. Und eine Dritte, die sie abgewiesen hatte, verließ das Theater, für das sie als konkurrenzlose Designerin gearbeitet hatte, und setzte nie wieder einen Fuß hinein.

14. Sie hatte einen abergläubischen Hang zur Magie. Unzählige schreckliche Nächte hatte sie sich mit dem Studium der alten Schinken von A. E. Waite und Dion Fortune um die Ohren geschlagen. Sie besaß einen Glasschrank mit okkulten Werken aus dem Keller von Weiser’s Bookshop, aus dessen Nähe sie selbst ihre engsten Freunde strengstens verbannte. Sie ahnte wohl, dass die Vereinigten Staaten in nicht allzu langer Zukunft mit einem fürchterlichen »Wasserstoff-Jukebox«-Krachen die Luft gehen würden. Sie und noch ein paar andere waren auserwählt, den Totentanz durch die Ruinenstädte aufzuführen und ihre liebsten Gemälde und Artefakte aus den zertrümmerten Museen zu retten.

Außerdem interessierte sie sich vage für Astrologie, deren Bedeutung für sie sich jedoch auf eine zodiakalische Analyse ihrer Karriere beschränkte. Anders ausgedrückt, sie war davon überzeugt, dass alle Sterne nur eine Botschaft verkündeten, und zwar, dass Claudia Pred in einem wirbelnden Regenbogen quer durch ein grasgrünes Theater tanzen würde, durch ein Publikum von einer Million Augenpaaren, dem es vor lauter Staunen glatt die Sprache verschlagen hätte.

15. Ein breites Spektrum von Kritikern war von ihr gefesselt — sie war für viele interessant mit ihren politischen Aktionen einerseits, dem Tanz, dem Theater, dem Gesang oder ihren Kostümen andererseits. Dasselbe Kunstwerk konnte bis zum Himmel gelobt und gleichzeitig völlig verrissen werden, was sie übrigens beides gelassen akzeptierte. Nur wenn sie Spott oder Verachtung hinnehmen musste, bekam sie rasende Tobsuchtsanfälle. Es gab Kritiker, die gerne über ihre politischen Statements, die sie in ihren Tänzen vom Stapel ließ, herzogen und sie verspotteten. Sie beschimpften sie als »politisch naiv« und damit offensichtlich als Sozi oder, was noch schlimmer war, sie zählten sie mitten in all dem Gerede vom Kalten Krieg zu den sogenannten Kommunistenschweinen, was in einer Tanz- und Theaterszene, die zum größten Teil von Kriegsdollarspekulanten finanziert wurde, absolut verpönt und peinlich war.

Die New York Post zeigte mit dem Finger auf sie und diagnostizierte ihr einen »Jeanne-d’Arc-Komplex«, eine Beleidigung, die einen Wutanfall auslöste. Aber es dauerte nicht lange und sie hatte eine äußerst nützliche Regel ein für allemal kapiert: Hör auf damit, Rezensionen zu lesen, gleichgültig, woher sie kommen. Vor missgünstigen Kritikern darfst du nie die Beherrschung verlieren. Und obgleich sie sich strikt daran hielt, errichtete sie irgendwo in ihrem Hinterkopf einen kleinen Glaubenstempel, auf dessen Portal die Übertragung eines gewissen Satzes von Voltaire eingemeißelt war: »Der letzte Kritiker, erwürgt von den Gedärmen des letzten Theatermäzens.«

Die Kritiker, die sie mit ihrer Kunst faszinierte, blieben ihr für alle Ewigkeiten treu. Begriffe wie »Genie« und »proteische Energie« oder auch »nie da gewesene Schönheit« schienen wie von selbst aus ihren Schreibmaschinen herauszusprudeln.

Eine peinliche Situation ergab sich immer dann, wenn bestimmte Rezensenten auf die Idee kamen, ihre Macht auszunutzen. Meistens wichen sie nicht mehr von ihrer Seite, hörten ihr verständnisvoll zu, versuchten zuerst, sie unter den Tisch zu trinken, und dann, sie aufs Kreuz zu legen, und torkelten schließlich total erledigt zu ihrem Taxi oder der nächsten U-Bahn-Station zurück. Sie hatte ein paar auffallende und charakteristische Körpermerkmale, die manche Kritiker am liebsten manuell analysierten. Am berühmtesten war wohl ihr Arsch, der als mindestens so sagenhaft galt wie der von Claudette Colbert und von ihren Fans unter den Zeitungsschreibern auch mit der größten Hingabe diskutiert wurde. Die meisten Kritiker konnten einfach der Versuchung nicht widerstehen, mitten in einem Interview mit zittrigen Händen dieses lebendige Abbild der Aphrodite zu betatschen.

Genug dieser Schwärmereien, o kratzender Rapidograph der Nacht — wir müssen in unserer Geschichte fortfahren, obwohl wir gerne verweilen und noch so manches Kapitel der Beschreibung der erstaunlichen Claudia Pred widmen würden, der Sängerin und Schöpferin des Ausdruckstanzes.


Seit dem Tag, wo sie angefangen hatte, Tanzdramen zu produzieren, träumte Claudia davon, einen Dramatiker / Komponisten zu finden, der ihr eine dramatische Tanzoper schreiben würde, bei der man vielleicht sogar ein kleines Jazzensemble einsetzen könnte. Und sie würde das Ganze dann im Luminous Animal Theatre aufführen — mit sich selbst in der Hauptrolle, versteht sich. Eine Weile glaubte sie schon, dieses Genie in Roy Shields von der Dritten Straße Ost entdeckt zu haben. Shields war in der ganzen Cedar-Bar/White-Horse/Stanley/Bowery-Kneipenszene nur als Dirty Roy bekannt, erstens, weil er in einem unglaublich vergammelten und dreckigen Apartment hauste, und zweitens wegen einiger Indiskretionen bezüglich der Läusefarmen, die er in seinen Achselhöhlen angelegt hatte. Die Viecher breiteten sich aus wie die Fliegen, besonders, wenn er auf die Idee kam, beispielsweise auf eine Jukebox zu klettern und dort seine Jitterbug-Technik zum Besten zu geben. Claudia klärte dieses Problem, sobald ihre Beziehung intimere Formen annahm, indem sie ihn unter den wüstesten Beschimpfungen ins Badezimmer verbannte. Später wuchs sich das dann allmählich zu einem pawlowschen Reflex bei ihm aus: Jedes Mal, wenn sie anfing zu schreien, verkroch er sich automatisch in die Dusche.

Im Grunde hatte er gar nichts gegen ihren Sauberkeitstick — ein Teil von Dirty Roy wünschte sich nämlich nichts sehnlicher, als sich eines Tages in Tuxedo-Roy zu verwandeln, obwohl er einem garantiert ins Gesicht gesprungen wäre, wenn man ihm das 1961 prophezeit hätte. Wir sind natürlich auch heute nicht sicher vor seiner Rache, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ihn seine hochfliegenden Pläne ein paar Jahre dazu zwangen, sich ständig in einer neuen Rolle zu präsentieren: Erst war er der Skandal-Roy, dann der Leise Roy, schließlich verwandelte er sich in Stromlinien-Roy und endete als Tuxedo-Roy. Als Tuxedo-Roy — und damit eindeutig als einer von denen, die er früher verabscheut hatte, ein Scheißliberaler nämlich, der ohne mit der Wimper zu zucken, mal hier, mal da einen Scheck für eine gute Sache lockermacht, — als Tuxedo-Roy also kapierte er schnellstens, wie man das macht, wenn man den Sommer in Richland, den Winter in Villaland und den Herbst auf der Shubert Alley verbringen will.

Aber vielleicht sind wir ein bisschen unfair mit unserem guten Roy Shields, denn zu Beginn unserer Story war er immerhin noch der bedeutendste Schreiber der gesamten Off-Broadway-Bühne. Und zum Komponieren hatte er wenigstens so viel Talent, dass er immer noch mit Leichtigkeit ein paar Melodien und Soli für das Jazzquintett hinkriegte, das bei einigen seiner Stücke mitmachte.

Roy Shields bildete sich ein, er sei der größte Stückeschreiber seit George Bernard Shaw. (Ein paar Jahre später, als die LSD-Ära ausbrach, schluckte er oben in Millbrook ein paar Trips und war hinterher fest davon überzeugt, dass er in Wirklichkeit sogar George Bernard Shaw höchstpersönlich war, da er sich aber mittlerweile zu einem cleveren Geschäftsmann gemausert hatte, behielt er diese erstaunliche reinkarnatische Erkenntnis für sich.) Im Grunde hielt er sich sogar für größer als Shaw. Mit Aischylos kam man ihm schon näher. War es etwa falsch zu behaupten, dass man nur bei Aischylos diese eigentlich vergleichbare Fähigkeit wiederentdeckt, nämlich eine Kombination aus Tanz, Musik, schönen Versen, Drama und sozialen Konflikten zu schaffen, die sich wie bei ihm unter immer härter werdenden Bedingungen entwickelt?

»Sie werden vor Reue beben! Aber nicht nur das! Sie werden in Tränen ausbrechen, wenn sie im Jahr 2200 n. Chr. meine Folianten entdecken«, erzählte er Claudia, »und sie werden es nicht fassen können, dass meine Generation mich so schäbig behandelt hat, dass meine Zeitgenossen ein so grausames Vergnügen daran gefunden haben, auf meinem Gesicht Flamenco zu tanzen.«

Shields hatte eine Schwäche für die gefährlichen Kicks der Rebellion. So geilte er sich mächtig daran auf, als er eines Tages las, wie Aischylos gewisse Geheimnisse aus den Mysterien von Eleusis in einigen seiner Stücke verarbeitet hatte, in der Iphigenie oder in den Bogenschützen zum Beispiel, und die Athener Bevölkerung deswegen seinen Tod gefordert hatte. Für Roy kamen als Äquivalent für die Mysterien selbstverständlich nur Staatsgeheimnisse infrage. Oh, wie sehnte er den Tag herbei, an dem ihm irgendwer ein paar saftige Vorabinformationen über irgendeinen faulen Regierungsdreh verschaffte! Zum Beispiel so was wie die CIA-Invasion auf Kuba! Er würde es augenblicklich auf die Bühne bringen und es der verblüfften westlichen Zivilisation noch vor Beginn des eigentlichen Coups vor die Füße knallen.

Wie Shaw verfasste auch Shields umfassende, und ich meine umfassende Einleitungen zu seinen Stücken, die am Ende fast genauso lang waren wie der eigentliche Text. Er veröffentlichte seine Werke in seinem eigenen Verlag, den Triumph Publications. Laut manchen Antiquariatskatalogen bringen sie heutzutage eine hübsche Summe und er ärgert sich vermutlich schwarz, damals so viele Kisten mit unverkauften Exemplaren einfach im Luminous Animal Theatre stehen gelassen zu haben. Zu jener Zeit war er wirklich ein lausiger Geschäftsmann — so bildete er sich beispielsweise ein, dass man Büchersendungen bloß eine Rechnung beilegen müsste, damit die Buchhändler auch pünktlich zahlten.

Speziell für Claudia hatte Roy ein langes satirisches Durcheinander verfasst, das er Newsreel ’84 nannte. Das Stück basiert auf George Orwells 1984, Franz Kafkas Der Prozess und einer beachtlichen Reihe von Büchern, die vom Koreakrieg beeinflusst und alle im Verlauf der fünfziger Jahre erschienen waren. Zum ersten Mal prangerten in ihnen Schriftsteller Gehirnwäsche als Werkzeug der Politik an. Das Stück spielte am 4. April 1984 und bestand aus szenisch dargestellten Zeitungsartikeln, die an diesem Tag in der New York Times erschienen waren. Die Hauptattraktion an diesem Werk waren seine politischen Schauprozesse, die als albtraumartige Tanzrituale dargestellt wurden.

Roy verzichtete auf Orwells Vision von einem permanenten Krieg und ersetzte sie durch eine andere Form von Aggression, die die gesamte Zivilisation der Welt ergriffen hat. In der Gesellschaft von Newsreel ’84 musste jeder Bürger Mitglied einer exklusiven und feindseligen Sekte werden. Aller Gehorsam richtete sich wie bei einer Pyramide auf die Spitze der Sekte. Freundschaftlicher Umgang zwischen Mitgliedern verschiedener Sekten war verboten. Komplizierte Gesetze und Erlasse gestatteten nur den Führern dieser Sekten, miteinander zu kommunizieren. Benehmen und Sprache der Bürger erinnerten in ihrer Gleichförmigkeit an das Verhalten von Zombies. Claudia spielte eine tanzende Nonne (Tanz war nicht erlaubt) aus einem Neo-Zombie-Kult, die sich heimlich in einen einsfünfundneunzig großen neokatholischen schwarzen Priester verknallt. Ein Dichter, der in der ganzen Kneipenszene als Big Brown berühmt war, spielte den Priester. Die Produktion dieses Stückes bereitete ihnen einiges Kopfzerbrechen. Claudia hatte das dunkle Gefühl, dass sie mit diesen Texten schnellstens im Schlamassel landen würde. Und zwar hauptsächlich wegen der mehrfachen Flaggenverbrennungen und den Aktszenen, bei denen teilweise sogar Paare verschiedener Hautfarbe auftreten sollten (und es waren genau diese Szenen, die dann auch wie Stoßwellen in das kleine Büro des Staatsanwalts platzten und die Doppelmoral jener Zeit von 1961 gründlich entlarvten). Außerdem hielt sie eigentlich gar nicht so viel von dem Stück, besonders wenn sie es an der Qualität von, na sagen wir, Roys geliebtem Aischylos maß. Roy wiederum regte sich maßlos auf, als von ihm verlangt wurde, einige Stellen umzuschreiben, damit das Stück mehr Tanzszenen bekam und nebenbei Claudias Rolle auch mehr Gewicht.

Insgeheim war Claudia der Meinung, dass das Stück mit, nun ja, überspitzten (langweiligen war das Wort, das sie eigentlich meinte) politischen Analysen überladen war. Sie hatte einfach kein Vertrauen zu solchen Mätzchen wie einem ständigen Chor, der eine Viertelstunde lang singen sollte, noch dazu, wenn der Text nichts weiter war als eine umständliche sozialistische Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen einer Ära, die noch in weiter Ferne lag. Der Clou des Ganzen war, dass der komplette Text des Chores in Trochäen verfasst war und sein Gesang von einem Jazzensemble begleitet werden sollte. Diese tanz- und handlungsarmen Partien in Newsreel ’84 waren genau das, was laut Claudia mit einem Kontrapunkt von Schnarchen aus der Richtung der Rampenlichter enden würde. Aber dann hatte Roy sie ausgetrickst. Sie hatte ihm versprechen müssen, dass alle Chorpassagen unangetastet blieben, wenn er dafür ihre Rolle ausbauen würde.

Trotzdem strahlte das Stück plötzlich eine gewaltige Energie aus, die sie nun mit ihrer Stimme und ihrem außergewöhnlichen Tanz noch vergrößerte. Was das Singen anging, nun, sie verfügte über die Oktave von Grundtönen, die Broadway- (und Off-Broadway-) 12, mit denen sie sogar allerhand auf die Beine stellen konnte. Sie schaffte beispielsweise verschiedene Stilrichtungen, von traurig-sanfter Wehmut über aufgewühlten Schmerz bis zu kreischendem Zorn, wenn es darauf ankam. Bei einer so begabten Tänzerin wie ihr war das wirklich ein glatter Glücksfall. Ein paar Jahre später hätte sie ohne Schwierigkeiten bei jedem x-beliebigen Folk-Label unterkommen können, aber da hockte sie wahrscheinlich gerade in einer dieser mit Redwood verkleideten Backsteinvillen von Santa Monica, klimperte auf ihrer Gitarre herum und regte sich über die Ungerechtigkeit in der Welt auf.

In Roys Stück gab es eine Szene, in der es vor lauter Ketchup nur so triefte, und in der ein Typ namens Lord High Chopper auftrat. Er hatte sich so geschminkt, dass er auf der Bühne fast genauso aussah wie der derzeit amtierende Bürgermeister von New York City. Dieses Detail wurde in den Klatschspalten natürlich mehrfach erwähnt, nachdem das Ensemble die ersten öffentlichen Proben hinter sich hatte. Und sie berichteten weiter, der demokratische Parteivorsitzende des Bezirks New York sei außer sich über diese üble »Beleidigung unseres schwer beschäftigten Bürgermeisters, der sich für seine Gemeinde aufopfert.«

Dieser Parteioffizielle hetzte ihnen auch prompt einen Überraschungstrupp von Feuerwehrinspektoren, Ordnungsamtsinspektoren, Gesundheitsamtsinspektoren und Steuerinspektoren auf den Hals, die nur zwei Wochen vor der Premiere das Theater stürmten, und zwar ausgerechnet während der letzten Vorbereitungen, wo sie sowieso schon alle Hände voll zu tun hatten.

Claudia konnte nichts machen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als gewisse Stellen zu streichen. Sie hatte schon zu viel in die Produktion investiert und die Schauspieler brauchten ihre Gehälter. Trotzdem wollte sie um alles in der Welt vermeiden, dass man ihr nachsagte, sich vom Geplärre politischer Lohnschreiber einschüchtern zu lassen und klein beizugeben. Also arbeitete sie mit ihren Leuten bis zum Umfallen, hielt jede Menge zusätzlicher Proben ab und veränderte dabei fast unmerklich die einzelnen Vignetten, bis das Stück geradezu unheimlich flüssig und einheitlich wirkte.

Als sich eine warme Hand unter ihr Nachthemd schob, wachte sie auf. Bei der ersten Berührung schreckte sie zusammen, rollte sich dann auf die Seite und spreizte die Beine, als wollte sie ihn zu intimeren Zärtlichkeiten ermuntern. Sah ganz so aus, als hätte sie gegen einen morgendlichen Clinch nichts einzuwenden, aber wer weiß das schon im voraus? Sie umarmten sich und pressten sich aneinander, aber mit dem üblichen shawschen Eros hatte das hier nun wirklich nichts mehr zu tun. Nachthemd und Pyjama landeten irgendwo am Fußende zwischen den zerwühlten Decken. Eigentlich waren sie beide scharf auf ein geiles Match unter der Dusche, also standen sie auf und zogen sich ins Badezimmer zurück, wo Claudia ihm unter dem sprühenden Wasserfall einen abkaute. Dann kniete er sich in den heißen Dampf und brachte sie mit seinen rasenden Zungenspielchen auf Touren — allerdings hörte er damit dann doch mindestens zwei entscheidende Minuten zu früh auf, aber sie beschimpfte ihn nur in Gedanken; schade, dass es ausgerechnet einem Schulmeister wie Roy Shields an soviel Sinn für Erotik mangelte.

Deshalb gaben auch die vibes, wie man so schön sagt, oder die Vektoren, irgendwie nicht mehr her als ein Paradies pro tempore.

Während Claudia jetzt tanzend ein Frühstück für zwei vorbereitete, drehte sich ihre Konversation bald nur noch um schlechte Kunst und den goldenen Käfig oder, wie Blake sagt, die seidenen Netze, mit denen die Liebe auch die hochfliegendsten Seelen in die Falle lockt.

Eigentlich fand er ja, er hätte das Gespräch so unauffällig auf sein Stück gebracht, dass es völlig absichtslos wirkte. Er ging kurz auf die »Spannung« in der ersten Prozessszene des dritten Aktes ein und kritisierte dann ihr »explosives Gewirbel« — das heißt, ihre Art zu tanzen —, und das war eine Terminologie, die sie augenblicklich auf die Palme brachte.

Dieser eine Satz löste eine Auseinandersetzung aus, die geradezu kindisch war und mit einem endgültigen Bruch ihrer Beziehung endete. »Bist du etwa tatsächlich der Meinung, dass man aus diesem Wirrwarr an undefinierbaren Einzelheiten überhaupt was rausholen kann?«, fragte sie.

Und so ging es immer weiter. Sie schrie ihn an, bei ihm bestände Kunst bloß darin, weitschweifig zwischen den beiden Polen langweilig! langweilig! langweilig! und didaktisch! didaktisch! didaktisch! zu schwanken.

Zum Finale ihrer Auseinandersetzung verbannte sie Dirty Roy aus ihrer Wohnung und feuerte ihm auch noch seinen lächerlichen Koffer voller Manuskripte und Pissflecken hinterher, sozusagen als Auftakt für seine Rückkehr in das Apartment an der Dritten Straße Ost.

»Langweilig!«, schrie sie ihm nach, als er die mit Linoleum ausgelegte Treppe hinunterstürzte.

»Und du bist nichts weiter als ein Haufen Scheiße!«, schrie er zurück und ballerte seine Faust voll in den nächsten Briefkasten.


»Mein Gott, er hat ja ein Halstuch um!«, dachte sie. Und nicht nur das! Mr. Twerthel, der Steuerprüfer, hatte sich auch eine neue Frisur zugelegt. Um seine beginnende Kahlheit wenigstens notdürftig zu verbergen, trug er neuerdings sein Haar nach vorn gekämmt, so ähnlich wie Julius Cäsar. Und außerdem trug er heute zur Abwechslung mal nicht seinen üblichen verlotterten Dreireiher mit den ausgepolsterten Schultern, sondern ein White-Horse-Tavern-Tweedjackett mit passenden schwarzen Hosen dazu und — bei allem, was heilig ist! — ein Paar mexikanische Sandalen mit Gummisohlen.

Mr. Twerthel war über einen kleinen Papierkorb aus Drahtgeflecht gebeugt, in den Claudia auf Mr. Twerthels Drängen hin seit Kurzem alle Quittungen, Scheckbelege, Telefonrechnungen und dergleichen stopfte. Der Korb lief schon beinah über, und Twerthel war damit beschäftigt, die Geschäftsunterlagen Stück für Stück rauszufischen und sie fein säuberlich in sein Kassenjournal einzutragen. »Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee, Al?«, fragte sie und beugte sich dabei so weit zu ihm hinunter, dass eine ihrer vollen Brüste in der ukrainischen Bluse wie zufällig seine Schultern streifte. Einen Moment lang waren alle Steuerdaten in seinem Kopf wie ausgelöscht, und ein warmes, seltenes Glücksgefühl durchströmte ihn.

Mr. Twerthel war vor ungefähr einem halben Jahr mit ihrem Fall betraut worden. Er bekam den Auftrag, den Einzug längst fälliger Steuergelder für Claudias Angestellte in die Wege zu leiten und ihre Buchhaltung zu überprüfen. Nach ein paar Besuchen bei Claudia hatte sich der Steuereintreiber so intensiv in ihre Journale gestürzt, dass es mittlerweile ganz so aussah, als stände gar nicht sie beim Finanzamt in der Kreide, sondern ganz im Gegenteil, als hätten sie und das Theater Aussicht auf eine fette Rückzahlung. »Wenn das jemals rauskommt, sitz ich ganz schön in der Tinte«, war einer von Twerthels Lieblingssätzen.

Ansonsten war er jedoch ein Muster an Pflichteifrigkeit. Er war davon überzeugt, dass er hier sein Scherflein zur Rettung der Zivilisation beitrug, und gleichzeitig konnte er sich in der Nähe seiner verehrten Dame in Steuerschwierigkeiten aufhalten. Sie hatte ihre eigene Meinung zum Thema Finanzen. »Ich denke ja gar nicht dran, je in meinem Leben Steuern zu zahlen.« Wenn er nur daran dachte, brach dem Beamten schon vor lauter Nervosität der Schweiß aus.

Schon nach kurzer Zeit hatte Twerthel die gesamte Buchhaltung des Theaters übernommen und war nun gezwungen, sich die merkwürdigsten Entschuldigungen einfallen zu lassen, um seine häufigen Besuche hier zu vertuschen. Neuerdings hatte er auch immer eine zweite Kleidergarnitur im Auto liegen. Im Luminous Animal Theatre trug er sein Bronxville-Beat-Outfit und deponierte seinen Dreireiher und die Krawatte solange auf dem Rücksitz.

Claudia sparte mindestens zehn Stunden pro Woche, seit sie sich nicht länger damit rumschlagen musste, Steuern auszurechnen, Journale zu führen und Ausgaben zu verzeichnen. Twerthel sorgte für alles. Seit Neuestem versuchte er sich sogar im Verseschmieden und bewahrte eine sauber getippte Serie von Liebesgedichten in Plastikhüllen in seinem ledergebundenen Kassenjournal auf. Eines Tages würde er sie Claudia zeigen. Hoffte er.


Sie hatte ihn schon öfters bemerkt, er konnte nicht viel älter als siebzehn oder achtzehn sein. Eines Tages, als sie zur Probe ins Theater kam, lief er ihr über den Weg. Er war ungefähr so groß wie sie, was ihr aber am meisten auffiel, waren seine dichten schwarzen Augenbrauen und das schöne Gesicht. Was für ein Gesicht! Unter einem Arm trug er einen Basketball, und in der Hand hielt er eine ziemlich zerfledderte Hardcover-Ausgabe von Nijinskis Tagebüchern.

So harmlos fing es an. Er fragte, ob er bei den Proben zuschauen dürfte. Sie überlegte einen Moment und war nahe dran, von ihrem Prinzip abzuweichen. Normalerweise durfte grundsätzlich niemand vor der Premiere zuschauen. Schließlich sagte sie, Nein, nicht vor der Eröffnung, aber er solle doch ruhig später noch mal wiederkommen, in ein paar Tagen vielleicht. Als sie in das dunkle Luminous Animal Theatre hineinging, fiel ihr plötzlich noch etwas ein, aber als sie sich umdrehte, hörte sie, wie er seinen Ball schon einen halben Block entfernt vor sich hin dribbelte.

Nach der Probe ging sie die Bowery hinunter, um im Ping Ching Restaurant in Chinatown zu essen. Als sie an einem kleinen Park vorbeikam, bemerkte sie den Burschen wieder. Er trainierte gerade, mit seinem Ball den Korb zu treffen. Als er einem abgeprallten Ball hinterherlief, rief sie ihn. Er kam angelaufen und trieb dabei den Ball mit komplizierten kleinen Stößen vor sich her.

»Kannst du einen Job gebrauchen?«, fragte sie.

»Als was?«

»Wir brauchen jemand, der die Leute reinlässt und ihnen ihre Plätze zeigt und nach den Vorstellungen beim Saubermachen hilft, fegen, die Stühle wieder gerade rücken und so weiter. In zehn Tagen ist Premiere, und wir haben alle Hände voll zu tun.«

Dann erzählte sie ihm, dass sie ihm leider nur fünfundzwanzig Dollar die Woche geben könnte, bei sechs Arbeitsnächten, mehr könnte sich das Theater nicht leisten, aber andererseits würde er natürlich jede Menge lernen, könnte bei den Proben zuschauen und bei den Requisiten helfen. Plötzlich fiel ihr noch was ein. »Gehst du eigentlich noch zur Schule?«

»Nein. Keine Schule«, schwindelte er.

»Und wie heißt du?« — »Paolo.« — »Ich bin Claudia« — sie gab ihm die Hand. »Kannst du gleich heut Abend anfangen?« Ja, ja, er drehte sich um und traf vom äußersten Ende des Spielfeldes genau in den Korb — ja ja.

Claudia beschloss, eine Woche Vorschauen zu zeigen und dafür zu sorgen, dass die Schreibtische der lokalen Pressevertreter mit Pressemeldungen überschwemmt würden. Höchstpersönlich rief sie auch den Parteivorsitzenden der Demokraten an, der sich so über die Rolle des Bürgermeisters als Lord High Chopper ereifert hatte. Dem Bürgermeister und dem Staatsanwalt schickte sie offizielle Einladungen zur Premiere.

Die erste Vorschau von Newsreel ’84 lief vor einem halb leeren Haus, aber an den folgenden Abenden kamen immer mehr Leute. Und die Reaktion, stehender Applaus am Ende des zweiten Abends, ließ wenigstens über Roy so etwas wie den berühmten Hoffnungsschimmer aufgehen. Claudia blieb nach wie vor skeptisch, was die Chancen des Stücks betraf. Für ihren Geschmack sah das Ganze immer noch wie eine hastig zusammengeschusterte Rhapsodie aus. Ein viel zu grobes Gewebe.

»Diese Produktion wirkt immer noch viel zu sprunghaft, viel zu abrupt; mich erinnert sie immer an einen alten Dokumentarstreifen aus dem Zweiten Weltkrieg ...«

»Das ist deine Schuld, Cl-... (beinah hätte er Clotho gesagt) ... Claudia!« fauchte Roy bissig zurück. »Du musstest ja unbedingt alle drei Parzen auf einmal spielen in dieser verdammten Produktion. Wenn du nicht die ganzen Änderungen durchgesetzt hättest ...«

»Die Kritiker hauen uns in die Pfanne, egal, wie viele bei den Vorschauen aufkreuzen«. Und bei dieser Meinung blieb sie auch, obwohl sie so was natürlich niemals laut sagen durfte. Hüte dich davor, deinen Leuten oder — Gott bewahre! — deinem Mäzen jemals was von Reinfall vorzuschwatzen! Diese Regel war ihr in Fleisch und Blut übergegangen.


Es war zwei Uhr morgens, die Nacht nach der ersten Vorschau. Claudia war allein im Theater bis auf Paolo, den sie drüben zwischen den Stuhlreihen mit seinem Besen herumhantieren hörte. Sie saß in ihrem Büro und hörte sich auf dem Tonband ein Werk an, das ihr vom Celestial Freakbeam Orchestra zur Produktion angeboten worden war. Das Celestial Freakbeam Orchestra war ein Ensemble aus der Lower East Side, das von der Total Assault Cantina aus operierte.

Es war ein irres Stück, die Instrumentation hatte Joshua Gortz besorgt, und die Texte stammten von Sam Thomas, dem Herausgeber des Gedichtblattes The Shriek of Revolution. Sie hatten ihr Werk Ghost Dance genannt. Die einzigen Darsteller waren zwei junge Tänzer / Sänger, die als Personifikationen von Hiroshima und Nagasaki auftraten. Die Bühne hatte die Form eines Pilzes und war von oben bis unten mit durchsichtiger Gaze und Lametta verkleidet. Claudia war von Musik und Text so begeistert, dass sie es unbedingt sofort über die größere Bühnenanlage hören musste.

Geräuschlos glitt sie über die kleine Treppe und auf die Bühne. Plötzlich sah sie im hinteren Teil des Zuschauerraums jemanden springen. Im Halbdunkel erkannte sie Paolo; offensichtlich war er beim Fegen auf die Idee gekommen, das umgekehrte T des großen Hausmeisterbesens als Stütze für seine himmelsstürmenden Sprünge auszuprobieren. Wie ein Schlittschuhläufer, der mit einem Gartenstuhl über einen gefrorenen See gleitet und sich dabei vorstellt, er sei sein Partner, mit dem er da trainiert.

Vor ein paar Tagen hatte sie ihn mit seinem Basketball aufgezogen, den er jeden Tag mit ins Theater brachte. Er war ziemlich böse geworden und forderte sie auf, mit ihm auf das Spielfeld an der Bowery zu gehen. Ein paar Tage lang hatte sie sich gedrückt, aber dann ging sie doch mal mit ihm hin und sah ihm zu, als er den Ball ein paar Mal geschickt in den Korb warf — kein Kunststück für jemand von einssiebenundneunzig. Er schaffte den Korb sogar aus einer halben oder ganzen Drehung heraus — und dabei waren ihr zum ersten Mal seine Beine aufgefallen und seine vollkommene Brust, die in einem rasanten Schwung von der Spitze seines muskulösen Bauches aus bis zu den Brustwarzen verlief und sich dann langsam wieder zurückwölbte bis zu den weit auseinanderstehenden hageren Schultern. Sie erfuhr; dass er seit zwei Jahren regelmäßig ins Luminous Animal kam; aha, deshalb war er ihr auch gleich so bekannt vorgekommen. In all den Jahren beim Theater hatte sie eigentlich nie so richtig mitgekriegt, was für Leute zu ihren Vorstellungen kamen. Sie mischte sich nämlich grundsätzlich nie unters Publikum, weder vor noch nach der Show. Sie hatte einen Gang bauen lassen, der von ihrem Büro hinter der Bühne zum Kassenschalter führte, sodass sie ein Auge aufs Geld haben konnte, ohne sich um die Gesichter im Foyer kümmern zu müssen. Paolo, das kriegte sie schnell raus, hatte eine fixe Idee, und das war der Tanz. Es war ein unwiderstehlicher Drang in ihm. Sein Vater hatte Tanz studiert oder irgendwas mit einer Tanzgruppe zu tun gehabt, ehe er in Korea draufging. Und Paolo war so gefühlsbetont, so heftig, wie sie es noch nie erlebt hatte. Alles, was er anfasste, packte er gleich so, dass seine Fingerknöchel sich weiß verfärbten; so hockte er manchmal am Washington Square und las Nijinsky, mit beiden Händen den verblichenen Einband umklammernd.

Claudia ging hinüber zur Schalttafel und tauchte die Bühne in helles Licht. Die Sprünge hörten auf. Sie schob das Band mit dem Celestial Freakbeam Orchestra in das Wollensak-Tonbandgerät und schloss es an die beiden großen Lautsprecher an, die sie bei Newsreel ’84 benutzten. »Paolo, kommst du mal bitte?«, fragte sie ihn und, als er mit einem Satz auf die Bühne gesprungen war, »Hast du Lust, dir ein neues Band anzuhören?« — Er setzte sich auf eine Richterbank und las ein paar Seiten aus dem Text. Sie bemerkte, wie seine Beine leicht im Takt der Musik zuckten und dann ...

»Komm, lass es uns erforschen«, sagte sie nur und hantierte am Lichtschalter, bis das Bühnenlicht zu einem weichen, orangefarbenen Oval zusammengeschmolzen war, umgeben von Dunkelheit. Sie ging in die Mitte des Ovals und wartete, dass Paolo zu ihr kam. Er war nicht ganz sicher, was sie meinte. »Hast du Lust«, sie streckte die Arme nach ihm aus, »mit mir«, halbe Drehung, »zu tanzen«?

Im selben Moment stand er schon neben ihr im orangefarbenen Licht. »Kannst du mich heben?«, fragte sie und schlang einen Arm um seinen Hals. Mit überraschender Kraft hob er sie hoch und schwang sie über seinen Kopf. Sie wirbelten durch die Dunkelheit und dann im Licht. Aus unzähligen Stunden, die er am Bühnenrand verbracht und sie beobachtet hatte, kannte er ihren Stil bis ins kleinste Detail und passte sich jetzt ihrem Tanz instinktiv an.

Die ganze Zeit trug sie goldene Slipper an den Füßen, eine der Kleinigkeiten, die sich unglaublich tief in die Erinnerung einprägen. Jahre später, als er schon längst zum Lektor bei Random House avanciert war, konnte es passieren, dass Paolo bei einem seiner Haschischöl-Wochenenden die Augen schloss und in einen langen Tagtraum versank, in dem er plötzlich die schlangengleichen Bewegungen von Claudias goldenen Slippern vor sich sah.

Ihr Leben lang würde Claudia ihr Finale bereuen, als sie Paolo ohne Schutz zurückgelassen hatte und mit dem Luminous Animal Theatre und Newsreel ’84 ihre erste Europatournee machte. Er ließ Nijinskis Tagebücher sausen und hoffte, bei den Princeton Five Karriere machen zu können, bis sich rausstellte, dass er damit auf dem falschen Dampfer saß. Eine Zeitlang aber kam es beiden so vor, als schlürften sie den reinsten Göttertrank. In ihrer ersten Nacht tanzten sie bis um vier Uhr morgens, ohne Pause, und erreichten mit dieser tragischen Musik von Hiroshima und Nagasaki ironischerweise einen Zustand von Ekstase.

Sie war verblüfft. Er erkannte jede Bewegung, die sie andeutete, auf Anhieb wieder und konnte sie in jeder erdenklichen Reihenfolge wiederholen. Und er akzeptierte ihre Führung. Das Celestial Freakbeam Orchestra jaulte weiter.

An dem Tag, an dem sie ihm beim Basketballtraining zugeschaut hatte, war ihre Entscheidung gefallen, und nun verschwendete sie keine Minute. Drei Tage später, das heißt, in der Nacht nach ihrem ersten Tanz ähnelte es schon einem eleganten Touch-Football-Spiel. Paolos Haut glitzerte vor Schweiß, der sich mit ihrem vermischte, er sah aus, als habe er sich für ein Photo in einem Muskelmagazin eingeölt. Die Haut glitzerte unter den kurzen Turnhosen und dem St.-Agnes-Boys-Club-T-Shirt, das Claudia ihm bald auszog. Sie selbst hatte noch das halbe Nonnenkostüm aus der Newsreel ’84-Vorstellung an. Aber darin wurde es ihr jetzt wirklich zu heiß, meinte sie, streifte es ab und tanzte in einem dunkelroten Trikot weiter.

Auch heute Nacht stammte die Musik wieder vom Celestial Freakbeam Orchestra-Band, aber diesmal wollte Claudia durch ihre Interpretation den häufig monotonen Rhythmen etwas mehr Zusammenhang geben. Ihre Hände streichelten seinen Brustkasten. Er legte seine Arme um sie und so bewegten sie sich eng umschlungen mehrere Minuten lang über die Bühne.

Nach einer Weile hauchte sie: »Zieh sie aus«, und brachte dabei ihren Mund ganz nah an sein Ohr. Er zog seine Hose aus und sank in die Knie, um seine Erektion halbwegs zu verstecken. Aber schon glitt sie auf ihn zu, das Trikot flog auf die Seite und landete halb in dem ovalen Lichtkreis, und ihre Knie waren die Spitzen eines einmaligen V, als sie sich jetzt mit untergeschlagenen Füßen auf seine Knie senkte, und dann langsam immer höher rutschte, höher hinauf auf den Muskeln seiner Oberschenkel, und dann war er plötzlich in ihr drin.

Sie legte seine Hände unter ihre Schenkel und schlang die Arme um seinen Hals. »Steh auf«, flüsterte sie leise.

Er kam langsam auf die Füße und stand schwankend in dieser ungewohnten Position aus dem erotischen Ballett. »Mach die Musik lauter«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Er trug sie hinüber zur Anlage, noch immer in ihr versunken, und sie beugte sich runter und drehte die Lautstärke auf.

»Tanz!« lautete der nächste gehauchte Befehl. Ein paar Minuten lang waren sie jetzt ganz still, bis die Musik plötzlich anschwoll und Claudia, mit ausgestreckten Beinen auf seinem Rücken, anfing, wie wild zu stoßen und Paolo Schwierigkeiten hatte, nicht aus ihr heraus zu flutschen. Dann raste ihm das Herz, er konnte seine Augen nicht länger offenhalten, er sank auf die Knie und zurück in ihre ursprüngliche Position, während Claudia immer noch auf der Spitze balancierte.

Sie fühlte, dass er jetzt gleich kommen würde, glitt von ihm herunter, beugte sich herab und umschloss mit ihrer sanften kühlen Handfläche seine Eier. Mit der anderen Hand forderte sie ihn gleichzeitig auf, wieder aufzustehen.

Als sie jetzt weitertanzten, schenkte sie seinem Schwanz nur gerade soviel Aufmerksamkeit, dass er nicht schlappmachte.

Und dann folgte etwas, was es in der Geschichte des amerikanischen Tanzes vermutlich noch nie gegeben hatte: Sie sprang und stützte sich dabei wie bei einem Sprungpferd von seinen Schultern ab, klappte ihren Körper zusammen und spreizte die Beine. Paolo kriegte irgendwie mit, dass er sich jetzt auf was gefasst machen musste, tänzelte ein paar kleine Schritte zurück und stützte sich mit einem Fuß nach hinten ab. Aber mit einer Bewegung, die ihre unglaubliche Kraft und Beherrschung verriet, ließ sich Claudia nun an ihm herunter, langsam, ganz langsam, ohne den Ablauf ihrer Bewegung auch nur im geringsten zu unterbrechen, presste ihren Körper gegen seinen, und der verängstigte Schwanz, der vermutlich schon damit gerechnet hatte, zu Brei zerquetscht zu werden, glitt wieder zurück ins Warme. Ein paar keineswegs tänzerische Schauer schüttelten Paolo, und er hatte das Gefühl, als würde er jeden Moment ohnmächtig zusammenbrechen, als er sich unter sie rollte und dann wieder auf sie drauf und alles um sich herum vergaß.

Aber das Celestial Freakbeam Orchestra-Band war noch nicht mal halb durchgelaufen. Nach ein paar Sekunden stand Claudia auf und tanzte weiter. Es war wunderschön. Sein Samen, oder Aphros, oder Schaum tropfte an ihren Beinen herunter und fiel in dickflüssigen, schönen Klumpen auf den Boden. Bald schimmerten ihre Beine vom Schleim. Und sie brachte Paolo wieder auf Touren.

Sie hob ihn auf und schob ihn gegen die rückwärtige Wand der Bühne, aus dem ovalen Licht heraus ins Dunkle. Hier glitt ihre rote Zunge blitzschnell über die Spitze seines Schwanzes, der augenblicklich wieder hart wurde und nach oben schnellte. Dann ließ sie ihn die kühle erregende Mauer hinunterrutschen. Und so ging es immer weiter.

In den nächsten paar Nächten probierten sie unzählige Variationen des Tanz-Sex aus, einschließlich eines Pas-de-deux-Oralverkehrs auf Rollschuhen und verschiedener Huldigungen auf dem rosa Altar, während der Gegenstand dieser Verehrung in entsprechend modifizierter vierter Position stand, nicht zu vergessen ein paar Engagements auf der Garderobencouch.


Als die ersten paar Tage vorbei waren und sie sich — wie auch die Leidenschaft Eros’ — allmählich wieder beruhigten, fingen sie an, ernsthaft mit dem Celestial Freakbeam-Band zu arbeiten. In ihr wuchs eine Idee. Es konnte passieren, dass sie stundenlang über ihrem Notizbuch saß und hastig hinein schrieb. Wenn es klappen sollte, musste sie ihn zum Singen überreden. Er hatte eine ziemlich heisere Stimme, fand sie, aber dafür besaß er das allerwichtigste Talent, das ein Sänger überhaupt haben kann, das aber auf der Bühne (und auch im Schallplattenstudio) wirklich sehr, sehr selten ist: Er konnte einen beliebigen Ton treffen und er konnte ihn halten! Nachdem sie das herausgefunden hatte, ging es eigentlich nur noch darum, seine Stimme in eine wohlklingende Kontraktion/Konstriktion/Konstruktion des Kehlkopfes zu verwandeln.

Es schien tatsächlich Liebe zu sein, oder wie immer man so was sonst nennen will — sie selbst hatte dieses Wort schon lange aus ihrem intimen Wortschatz gestrichen. Sie ertappte sich dabei, wie sie ständig an ihn dachte, was ein verwirrendes Durcheinander von Schüchternheit, Zärtlichkeit und Leidenschaft in ihr entfachte. Sie war zerstreut und nahm es wegen ihrer offensichtlichen Müdigkeit auch mit den Proben für Newsreel ’84 nicht mehr so genau. Sie tanzten jede Nacht bis zum frühen Morgen. Die Truppe war ihr dankbar und die Folge davon war, dass sie entspannter spielten und die ganze Vorstellung lockerer und leichter wirkte als vorher.

Paolo war ein Heißsporn, und das machte ihr ein wenig Sorgen. Vielleicht würde er sich sogar zu Eifersuchtsszenen hinreißen lassen, um seine Gefühle abzureagieren? Aber sie konnte den Gedanken eines Dreifußes einfach nicht mehr loswerden. Ihr Dreifuß: mit dem hitzigen Tanzgenie Paolo, dem anarchistischen Hegelianer und Autor Roy und dem Krösus des Off-Broadway-Theaters als Stützen — und sie selbst, Claudia, kaute die heiligen Lorbeerblätter, trank aus der Quelle Cassotis, deren Wasser in ihr Luminous Animal Theatre gelenkt wurde, nahm Platz auf dem schwankenden Sitz des Dreifußes, hoch über dem delphischen Spalt, aus dem die berauschenden Schwaden »mephitischer« Drogendämpfe aufstiegen. Diesmal lösten sie jedoch nicht die Zunge einer Seherin, sondern ihre Glieder für die einzige Tätigkeit, die ihr bestimmt war, den Gottestanz zu tanzen. Und irgendetwas in ihr sagte ihr, mit Paolo zusammen könne sie all das schaffen. Sein Kraftfeld, die Wellen seiner Aura stimmten mit ihren eigenen überein. Sie konnte seine schwellende Aura förmlich fühlen: Gottestanz, Gottestanz.

Roy war alles andere als begeistert von ihren Plänen. Seit sie ihn in seine Bude zurückgeschickt hatte, und das war jetzt schon über eine Woche her, war er nicht eine Sekunde mit Claudia allein gewesen. Wenn ihn die Eifersucht quälte, redete er sich ein, dass es ihm einzig und allein auf die ars gratia cursus honorum (sui) ankam, mit anderen Worten, in der Jagd nach dem weißen Hirsch des Ruhmes den ersten Platz einzunehmen.

Allerdings irritierte es ihn ganz gewaltig, als er in ihrem Notizbuch mehrere vollbeschriebene Seiten entdeckte, die offenbar mit einer neuen Produktion zu tun hatten, in der sie und ... wer? Er stutzte, als er auf die Abkürzung P. stieß. Paolo etwa? Ach was, absurd! Und das Celestial Freakbeam Orchestra, ha! Eine Bande von eingebildeten Arschlöchern, wenn er überhaupt was davon verstand!

Nach einem gründlichen Verhör bezüglich ihres neuen Projekts fauchte Roy sie an: »Ich nehme an, dass du deine Show« — das Wort Show drückte seine ganze Verachtung aus — »Sextanz mit Cybele nennen wirst?« Das war am Vormittag, nachdem Roy, blöd wie er nun mal war, völlig besoffen ins Luminous Animal getorkelt kam, es musste so um drei Uhr morgens gewesen sein, und in seinem Tran fluchend und schimpfend gegen die Tür getreten und gehämmert hatte. Er war voll wie eine Haubitze. Claudia ließ sich nicht stören, schob das Sicherheitsschloss vor die Tür und ließ das Celestial Freakbeam Orchestra weiterspielen.

»Wag ja nicht, dich mit mir anzulegen, du viertklassiger Mr. Brecht!«


Endlich brach der Tag an, an dem Newsreel ’84 Premiere hatte. Roy war vor lauter Angst kurz vorm Abschnappen. Der Wassertank auf seinem Klo füllte und entleerte sich mit einer solchen Häufigkeit, dass die Nachbarn sich beschwerten. Claudia dagegen war eine Premiere noch nie so gleichgültig gewesen. Sie hatte sogar verschlafen, während sie normalerweise an einem solchen Tag aus dem Bett sprang wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. Sie hatte noch allerhand zu erledigen: Mindestens fünfzig Telefongespräche warteten auf sie, dann musste sie die letzten hysterischen Anfälle von Genius und Kunst überstehen, und die Generalprobe stand auch noch auf dem Programm. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Stöße von vollgekritzelten Merkzetteln.

Dann brach die Espressomaschine im Foyer zusammen. Die Pasteten wurden nicht rechtzeitig geliefert. Paolo hatte vergessen, die Toiletten zu schrubben. Irgendwer hatte ihr einen Kaugummi in den Telefonhörer geklebt. Mehrere Scheinwerfer am Eingang mussten ausgewechselt werden. Die Kartenschnorrer entwickelten sich zu einer Landplage. Wildfremde Typen, die irgendwann mit irgendwem zusammen auf der Highschool waren, die auch nur im entferntesten was mit der Produktion zu tun hatten, riefen sie an und verlangten Freikarten.

Es gehörte zu Claudias Prinzipien, dass vor einer Premiere das ganze Haus einer gründlichen Säuberungsaktion unterzogen wurde. Ein Grundsatz, an den sie sich aus unerfindlichen Gründen gewöhnt hatte, vielleicht entsprach es ihrer mystischen Natur, eine prärituelle Purifikation sozusagen. Deshalb fand auch an diesem Tag eine Reinigungszeremonie statt, die einem Ziggurat kurz vor Anbruch der Dämmerung noch alle Ehre gemacht hätte.

Das Luminous Animal Theatre war in einem höhlenartigen, feuchten Gebäude aus Ziegelsteinen untergebracht, das vorher als Garage benutzt worden war. Es lag auf der Bowery, Ecke Dritte Straße, vom Cooper Union gleich den Hügel hinunter. Gott nee, was war das für ein Schweinestall gewesen, als sie das Haus übernahm! Zwei Wochen lang hatte ein Team mit ihren fleißigsten Höllensklaven sich damit abgerackert, den ganzen Müll und Dreck wegzuschaffen, und dann hatten sie noch mal zwei Wochen lang damit zu tun gehabt, das Dach zu teeren und das Gebäude zu streichen, außen blau und innen schwarz.

Ein Großteil des Geldes, das sie damals hatte auftreiben können, war für eine erstklassige Bühne draufgegangen, die so ziemlich alles aushalten konnte und sich circa fünfundzwanzig Meter über die ganze hintere Wand der Garage erstreckte. Daneben lagen ein paar Sperrholzgarderoben für die Schauspieler und das Foyer. Ein großer leerer Raum wurde mit Hilfe von schwarzen Leinenvorhängen zur künstlerischen Abteilung umfunktioniert. Es beherbergte das Luminous-Animal-Archiv, Tischlerbänke, Schränke voller Kulissen und Kostüme, einen alten A.B. Dick-Matrizendrucker und die abgeschraubten Einzelteile der Siebdruckanlage. Sogar eine kleine Dunkelkammer hatte hier noch Platz gefunden.

Für das Publikum stand ein Sammelsurium von alten Wohnzimmerstühlen ohne Lehnen, vergammelten Sofas, Sitzkissen und anderen Funden vom Sperrmüll zur Verfügung. Draußen über dem Eingang prangte die drei Meter große Reproduktion eines paläolithischen Gemäldes aus der Höhle von Trois-Frères in den Pyrenäen. Es stellte eine menschliche Figur mit einem Rentierkopf dar, die Claudia zum Symbol für das Luminous Animal erhoben hatte. Abbé Breuil, der als Erster eine Zeichnung dieser Figur veröffentlicht hatte, nannte sie »Der Zauberer«. Darüber konnte Claudia nur die Nase rümpfen. Ihrer Ansicht nach stellte das Wesen einen Hirschtänzer dar und war damit die erste Verkörperung von dramatischer Kunst, das heißt von einem Gottestanz überhaupt.


Dieses Wahrzeichen des Luminous Animal wurde von einer enormen Zahl von Scheinwerfern beleuchtet, die einer von Claudias Freunden eines schönen Tages aus einem Militärlager in Brooklyn hatte mitgehen lassen.

Ausgerechnet diesen hektischen Tag musste sich der Vermieter für seine faulen Tricks aussuchen! Der eigentliche Vermieter war in der ganzen Nachbarschaft nur als Louie der Falsche bekannt. (Mittlerweile hat sich das natürlich geändert — jetzt ist er Soho-Lou, respektabler Kunsthändler und Spekulant in Sachen peruanische Pülverchen.) Kurz, nachdem Claudia den Mietvertrag unterschrieben hatte, kriegte Louie Schwierigkeiten und musste für eine Weile auf Tauchstation gehen; seitdem verhandelte sie mit seinem Bruder Tony.

Zuerst bestand ihr Telefonat aus unverbindlichem Geplauder. »Tja«, meinte Tony, »sieht ja ganz so aus, als kriegten Sie für Ihre neue Show ziemlich viel Zulauf ...«

»Ach, das wird sich erst heute Abend rausstellen«, antwortete sie. »Gut möglich, dass die Kritiken die Schickeria diesmal abhalten. Oder sie schreiben gar nichts, was noch schlimmer wäre!«

»Tja wissen Sie, ich hab mich da neulich mit meiner Frau drüber unterhalten. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass für uns als Eigentümer des Gebäudes doch eigentlich ein kleiner Prozentsatz vom Umsatz rausspringen müsste, zusätzlich zur Miete, versteht sich!«

»Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst!« Mitten im Satz kippte ihre Stimme in einen schrillen Misston um.

»Na ja, ich hab eben die Zeitung gelesen. Das Stück wird wohl einigen Wirbel machen ... und ich könnte eventuell Ärger kriegen, bei all dem Hin und Her. Es, äh, es könnte meinen Geschäften schaden, Sie verstehen mich?«

Claudia war außer sich. »Jetzt passen Sie mal gut auf, Tony! Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich bei ihren Wucherspielchen mitmache. Wir haben einen fairen Mietpreis vereinbart, und ich habe auch noch dreitausend Dollar aus dem Fenster geworfen, um dieses heruntergekommene, stinkige Drecknest wieder auf Vordermann zu bringen! Ihre miesen Pläne können Sie sich aus dem Kopf schlagen, tut mir leid!« — »Nun, dann drücken wir’s doch mal ein bisschen anders aus, Süße: Louie ist wieder da. Und er will seine Garage zurück. Er will wieder ins Gebrauchtwagengeschäft einsteigen!«

»Lackiergeschäft meinen Sie wohl!«, unterbrach sie ihn verächtlich. »Damit können Sie mir doch nicht drohen!«

»So? Na, an wen wollen Sie sich denn wenden, an den Bürgermeister etwa?« Er lachte hämisch. »Wenn ihrem Taj Mahal da drüben irgendwas passiert, ist das jedenfalls nicht meine Schuld. Hoffentlich sind Sie auch gut versichert!«

Als sie den Hörer auf die Gabel knallte, zitterte sie vor Wut. Aber zum Glück brachte das Geschnatter ringsum sie schnell wieder zur Besinnung. Als sie zur Bühne gerufen wurde, um die Reparatur am Thron von Lord High Chopper zu beaufsichtigen, war Tony der Gangster im Nu vergessen.


Normalerweise blieb Claudia am Abend vor der Premiere im Theater, doch diesmal wich sie von ihrer Gewohnheit ab und verabredete sich mit Ron Lawler zum Essen. Lawler war ihr wichtigster Mäzen und ein elegantes Uptown-Restaurant genau der richtige Rahmen, um eine heikle Angelegenheit zur Sprache zu bringen. Sie hatte sich vorgenommen, ihn zur Finanzierung ihrer neuen Produktion zu überreden, noch ehe das Schicksal von Newsreel ’84 besiegelt war.

Und das war keine leichte Sache. Lawler, Börsenspekulant und nebenberuflich als Direktor eines florierenden Verlages tätig, glaubte strikt an das Elfte Gebot: Du sollst, oh Ronald, nie vergessen, Gewinn aus deinen Investitionen herauszuholen! Bisher war dieser Glaube auch noch nie erschüttert worden, obwohl er sich mit dem Theater nur eingelassen hatte, um ein paar gut aussehende Weiber aufzureißen. Das heißt, er hatte sich auf Off-Broadway-Schauspielerinnen spezialisiert, so wie andere Gangster Tingeltangelschönheiten oder Schnulzensängerinnen zu finanzieren pflegten. Aber auf das Geld passte er auf wie ein Luchs. Er war skrupellos, gerissen und geil — allerdings nur in seiner Fantasie, denn nicht mal die tägliche Ration an Wodka-Cocktails mit einer halben Tasse Vitamin E konnten seinen Schwengel noch zum Schwingen bringen. Insgeheim bildete er sich auch noch ein, eine durchaus positive, wenn nicht revolutionäre Rolle im amerikanischen Theater zu spielen. Er hielte sich für einen »göttlichen Liberalen«, ganz im Sinne der englischen Tradition des Neunzehnten Jahrhunderts. Dabei war er Schatzmeister bei mehreren Kulturfonds und drückte sich auf diese Tour davor, in die eigene Tasche greifen zu müssen.

Lawlers augenblicklicher Nachteil war, dass er sich verliebt hatte, und was noch schlimmer war, dass diese Liebe sich zu einer fixen Idee auswuchs. Zu einer Art winselnden Besessenheit, also einer Art von adoratio, mit der Claudia spielend fertig wurde.

Sie hätte dem armen Lawler mit seinen traurigen Hundeaugen spöttisch grinsend die Tür vor der Nase zuschlagen können. Aber irgendwie schien sie sich was aus ihm zu machen. Es waren nicht bloß seine Schecks — es war trotz seiner Schecks. Obwohl sie sich weder zu einer leidenschaftlichen Nacht noch zu einer sonnenbeschienenen Carezza auf seiner Yacht hatte hinreißen lassen, schienen sie ganz gut miteinander klarzukommen. Er verlangte nichts von ihr und würde, so glaubte sie, trotz seiner Schwäche für sie nie auf die Schnapsidee verfallen, sein Familienleben aufs Spiel zu setzen — er hatte nämlich Frau und Kinder.

Zwei Fragen brannten Lawler während des Essens auf der Seele: Erstens, wie stehen die Chancen, dass Newsreel ’84 ein finanzieller Erfolg wird, und zweitens, wann sie sich einmal ungestört treffen könnten.

Es war zwar gefährlich, ein paar Minuten vor der Premiere von der Möglichkeit eines Riesenreinfalls zu sprechen, ganz besonders, wenn man einen misstrauischen Financier vor sich hatte, aber genau das tat Claudia. Sie setzte jetzt alles auf eine Karte und hoffte inständig, dass seine Gefühle für sie, gekoppelt mit ihrer Überredungskunst, seine Fantasie beflügeln würde. Sie schilderte ihm den strahlenden Erfolg, den eine Produktion mit ihr und Paolo haben müsste. »Mit wem?« hakte er nach. Sie tat ihr Bestes, um Paolos außergewöhnliches Talent zu beschreiben. Sie sprach von der Kraft in seinen Beinen, aber das hatte in etwa dieselbe Wirkung, als wenn sie in einer alten Groucho-Marx-Fernsehshow auf das richtige Codewort gekommen wäre. Genauso hektisch fuchtelte Lawler jetzt mit seinen Händen vor ihrer Nase herum, denn das war das einzige Mittel, sie über dem Tisch zu behalten.

»Er ist der beste Tänzer, mit dem ich je gearbeitet habe«, schloss sie ihren langen Monolog von Lobeshymnen. Und fragte plötzlich: »Haben Sie vielleicht schon mal vom Celestial Freakbeam Orchestra gehört?« Hatte er nicht, aber er versuchte mit einer vagen Kopfbewegung — selbstverständlich! — anzudeuten; glaubte sie etwa, er lebte hinterm Mond?

Sie redete in einem fort. »Sie haben ein wundervolles, äh, Moralstück geschrieben und uns angeboten. Sie nennen es Ghost Dance. Es wäre einfach himmlisch! Die Bühne ist ganz mit Gaze verkleidet und sieht aus wie ein Pilz. Und dann erscheinen die Schatten von Hiroshima und Nagasaki ...«

Lawler zuckte zusammen und fiel ihr ins Wort, um endlich das Thema zu wechseln. Seine Vorfahren hatten ihre Millionen im Lebertrangeschäft gemacht und ihn darauf trainiert, niemals sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Die reinste Bazookarakete! Er versuchte, das Gespräch auf seine beiden Hauptanliegen zurückzubringen: den finanziellen Erfolg von Newsreel ’84 und eine Verabredung mit Claudia.

Sie spielte mit. »Ich bin sicher, dass Newsreel ’84 überaus erfolgreich sein kann. Aber es sieht ganz so aus, als wäre es seiner Zeit zu weit voraus. Die Kritiker sind sowieso viel zu beschränkt, um das zu kapieren. Und dann hat es ’ne ganze Menge von diesen langweiligen Chorpartien ... Natürlich steht bis jetzt noch gar nichts fest, und die Vorschauen sind ja nicht schlecht angekommen. Aber wenn es durchfällt ...«

Ron zuckte schon wieder zusammen. Aber Claudia scherte sich nicht die Bohne um solche Reaktionen und blieb ungerührt. Sie ließ ihr überzeugendstes Gerede vom Stapel, brachte den aufregendsten Augenaufschlag zustande und zeigte sich von ihrer sanftesten Seite. Sie ging sogar so weit, ihn mit einer sanften Berührung ihres Knies unter dem Tisch völlig aus der Fassung zu bringen.

»Wenn es durchhält, fange ich jedenfalls sofort mit der Produktion von Ghost Dance an. Die Kosten werden enorm schrumpfen, weil Paolo und ich die einzigen Darsteller sind. Der größte Kostenfaktor wird wahrscheinlich das Celestial Freakbeam Orchestra sein. Das sind mindestens fünfzehn Mann, und manche müssten wahrscheinlich ihre anderen Jobs für die Dauer der Produktion sausen lassen. Erinnern Sie sich an sie, wir haben sie doch neulich bei diesem Dichterbenefiz in der Total Assault Cantina gesehen.«

Lawler nickte, klar erinnerte er sich.

»Und deshalb zähle ich auf Sie, Ron« — sie griff nach seiner Hand. »Außerdem sollten wir das Ganze vielleicht auch filmen, wenn es finanziell möglich ist. Das böte den Geldgebern wieder eine zusätzliche Einnahmequelle ...«

Ron versuchte wirklich hart zu bleiben und sich nicht festzulegen, aber vergeblich: plötzlich ertappte er sich dabei, wie er wieder mit beiden Händen in der Luft herumfuchtelte und dabei zustimmend mit dem Kopf nickte. Doch dann wandte er seine ganze Aufmerksamkeit Frage Nummer Zwei zu: »Sie scheinen wirklich nie Zeit für andere Dinge zu haben. Warum fliegen wir nicht zusammen irgendwohin ... wohin Sie wollen, jedes Wochenende, das Ihnen passt. Oder«, babbelte er weiter, »wir fahren mit dem Boot raus. Ich hab es unten in Florida liegen.«

Ja, sie schien wirklich nicht abgeneigt, er erkannte es an ihrem Lächeln! Der Börsenspekulant fühlte sich schon fast am Ziel seiner Träume. Kurz bevor sie aufbrachen, küsste sie ihn sogar! »Wir werden schon eine Gelegenheit finden, großes Ehrenwort! Vielleicht können wir sogar ein paar Wochenenden miteinander verbringen ... aber das hängt natürlich davon ab, wie lange Newsreel läuft.«


Arthur Mynah, seines Zeichens stellvertretender Staatsanwalt und früherer Klassenkamerad von John Mitchell, wartete derweil geduldig im Foyer des Theaters und rülpste nur ab und zu nervös vor sich hin. Mr. Mynahs Anzug spannte sich um seinen Bauch und hatte im Lauf der Zeit den schmierigen Farbton von verschimmelter Erbsensuppe angenommen. Seinen schwabbeligen Fettwanst verdankte er seinen täglichen Visiten in den rauchgeschwängerten Frittenbuden rings um das Verwaltungsgericht. Er war ein ideales Testobjekt für die Hemden der Arrow-Hemdenfabrikanten. Der stellvertretende Staatsanwalt versuchte gerade, sein Jackett zuzuknöpfen, eine krunkelige Missgeburt aus lauter Falten, deren Anblick ihn eigentlich schnellstens zu seinem Schneider auf der Delancey Street hätte jagen sollen. Aber das ging nicht, die fünf Jahre waren noch nicht um, und so war es noch zu früh, sich einen neuen Anzug zu leisten. Mynah hatte den Auftrag, sich auf mögliche Anklagepunkte vorzubereiten, die aus Newsreel ’84 erwachsen könnten. Da stand als Erstes die unverschämte Verspottung seiner Gnaden des Oberbürgermeisters. Außerdem konnte man diese Burschen mit ihrem verbrecherischen lasziven (laschiven sagte Mynah) Verhalten in dem wollüstigen Tanz der weißen Nonne Claudia mit dem farbigen Priester zu Fall bringen. Das Gerücht von diesem Tanz hatte außer Mynah noch ganze Meuten von Staatsanwälten auf den Plan gebracht, die alle scharf darauf waren, mal aus nächster Nähe mitzuerleben, was da eigentlich abging. Und dann war ja da noch die Sache mit den angesteckten Flaggen. Sie gehörten zu einer Szene, in der die sich bekämpfenden Sekten in öffentlichen Zeremonien gegenseitig ihre Flaggen verbrannten. Bei denen auf der Bühne schien es sich doch tatsächlich um die der größten Weltmächte zu handeln, einschließlich England, Frankreich, der UdSSR und der USA. Eine russische Flagge verbrennen war eine Heldentat. Aber wehe, einer legte die Finger an eine amerikanische Fahne — dann war die Kacke am Dampfen.

Während des gesamten Stückes verfolgte Staatsanwalt Mynah die Vorgänge auf der Bühne mit glasigen Augen. Das Theater platzte aus allen Nähten. Jedes wackelige Sofa, selbst die mieseste Obstkiste war besetzt. Mehrere Male unterbrach frenetischer Beifall den Ablauf des Stückes. Ganz zu schweigen von all den Zuschauern, denen glatt die Luft wegblieb, als die Flaggen tatsächlich in Flammen aufgingen und Claudia mit dem Priester ihre geilen Tänzchen vollführte.

Sobald der Vorhang fiel, setzte sich unser stellvertretender Staatsanwalt in Bewegung, raste wie ein Schiedsrichter hinter die Bühne, zauberte einen kleinen Besen aus seiner Gesäßtasche und fegte die verkohlten Flaggenreste in eine Papiertüte. »Wenn sich rausstellen sollte, dass das hier eine amtlich anerkannte amerikanische Fahne war, könnt ihr euch auf was gefasst machen!«, meinte er hämisch und überreichte dabei Claudia seine Karte. Die stand da und wartete darauf, dass der Vorgang für ihre letzte Verbeugung hochging.

Roy stoppte auf seiner Armbanduhr, wie das Publikum vier Minuten und sechsunddreißig Sekunden trampelte und applaudierte. Die Kritiker waren aus dem Häuschen. Als Claudia Roy in den Kulissen entdeckte, rannte sie auf ihn zu und fiel ihm um den Hals: »Meine Güte, es wird ein Hit!«

»Hab ich doch gleich gesagt — ich hab’s doch gesagt!« Roy hüpfte begeistert von einem Bein auf das andere und schwenkte seine Champagnerflasche auf und ab. Er trug einen Smoking und eine gepunktete Fliege. Roy war immer noch nebenberuflich als Hausmeister in seinem Apartment tätig, und als er heute Abend die Wohnung verließ, hatte er noch schnell seine Arbeitshandschuhe übergestreift und die Mülltonnen aus dem Keller auf den Bürgersteig gerollt. Dann hatte er die Handschuhe gedankenverloren in die Smokingtaschen gestopft, und als er jetzt den Champagner entkorkte, merkte er, wie die blöden Dinger aus den Taschen hervorlugten, und brachte sie schnell außer Sichtweite. »Diesmal haben wir’s gepackt! Wir sind die Größten!« schrie er.

Claudia bahnte sich derweil einen Weg durch die Menge in ihre Garderobe, wo sie erschöpft zusammenbrach. Dann zerrte sie plötzlich ihre Aufzeichnungen aus der Schreibtischschublade und platzierte alle Merkzettel für Newsreel ’84 ganz nach oben. »Tanz, Aischylos, tanz!«, sang sie fröhlich. Da klopfte es.

Es war der bedeutendste Theaterkritiker der westlichen Hemisphäre — ein notorischer Weiberheld, Alkoholiker, Kokser, Abschreiber und nebenbei der Autor zahlloser unter einem Pseudonym erschienener Ace-Book-Thriller. Obendrein war er manisch-depressiv. Aber eine einzige starke Zeile von ihm mit drei happigen Adjektiven drin war mehr wert als hundert Riesen!

»Miss Pred? Mein Name ist Milton Clark. Sind wir uns nicht bei der Stanislav-Premiere schon einmal begegnet? Also, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich Ihre Vorstellung in diesem reizenden Theater bezaubert hat. Ich wollte fragen, ob Sie vielleicht ein paar Minuten erübrigen können ... für ein Interview über das Luminous Animal Theatre und die Produktion. Leider muss ich es ganz rasch abliefern. Aber ich habe meine Schreibmaschine dabei, das heißt, sie steht oben im Plaza. Außerdem ist bei Bertolucci eine kleine Privatnische für uns reserviert, wo wir ganz ungestört reden können. Wenn Sie mir also die Freude machen und mich zu einem späten Abendessen begleiten würden ...? Dann könnte ich ...«

»Aber selbstverständlich!« strahlte Claudia. »Ich muss nur schnell unter die Dusche. Und dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung kommt!«


Paolo stand nicht weit vom Eingang mitten in einer Schar von Freunden, als sie aus der Garderobe kam. Sie mischte sich unter sie, um sie zu begrüßen. Er starrte auf ihren Mantel. »Tanzen wir heut Abend nicht?«, fragte er nach einer Weile.

»Nein, Liebling, heute nicht.« Sie umarmte ihn. »Du hast ja die Schlüssel. Warte hier auf mich. In ein paar Stunden bin ich wieder da.«

Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rauschte aus dem Foyer. Der Kritiker legte ihr den Arm um die Schultern. Paolo schlenderte zurück und ballerte einen ihrer goldenen Slipper gegen die Garderobentür.

Als alle weg waren und er den staubigen Fußboden gefegt hatte, schaltete er die Bühnenbeleuchtung ein. Wütend stampfte er auf und ab und dribbelte dabei seinen Basketball vor sich her. Plötzlich schleuderte er ihn mit aller Macht in das Durcheinander von Stühlen. Er tanzte, allein, machte seine Sprünge und wirbelte über die Bühne. Schließlich schmiss er seine Turnschuhe in die nächste Ecke. Dann sein Hemd und die Jeans. Flog herum. Seine Beine schienen sehr lang und dünn — bis auf die Oberschenkel, das waren die reinsten Muskelpakete. Schwarze Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht. Er trainierte Rückstöße, sprang nach imaginären Schüssen und wälzte sich über die Bühne, bis Rücken und Arsch voller grauer Schmutzstriemen waren.

Dann ging er in Claudias Garderobe und wartete.

Tales of Beatnik Glory, Band I-IV (Deutsche Edition)

Подняться наверх