Читать книгу Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen - Эдгар Аллан По, Marta Fihel - Страница 4

Ein Manuskript per Flaschenpost

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Qui n’a plus qu’un moment à vivre

N’a plus rien à dissimuler.

Wer nur noch einen Moment zu leben hat, hat nichts mehr zu verbergen.

QUINAULT, Atys1

Zu meinem Vaterland und meiner Familie habe ich wenig zu sagen. Ungerechtigkeiten und der Lauf der Zeit haben mich aus dem einen vertrieben und der anderen entfremdet. Ererbter Wohlstand gewährte mir eine Ausbildung von nicht gerade üblichem Format, und eine beschauliche Geisteshaltung ermöglichte es mir, die in frühen Studien sehr emsig gespeicherte Fülle von Kenntnissen methodisch zu ordnen. – Vor allem das Studium der deutschen Moralisten bereitete mir großes Vergnügen; nicht aus irgendeiner unbesonnenen Bewunderung deren beredter Verrücktheit heraus, sondern der Leichtigkeit wegen, mit der meine strengen Denkgewohnheiten es mir ermöglichten, die Falschheiten aufzudecken. Oft wurde mir die Trockenheit meines Geistes vorgeworfen; ein Mangel an Vorstellungskraft ist mir als Verbrechen angerechnet worden; und für den Pyrrhonismus2 meiner Betrachtungsweisen war ich allzeit berüchtigt. In der Tat befürchte ich, dass mein Verstand durch einen starken Hang zu den Naturwissenschaften von einem in dieser Zeit sehr üblichen Irrtum angesteckt wurde – ich meine die Angewohnheit, selbst die für einen derartigen Bezug am wenigsten geeigneten Vorkommnisse auf die Gesetze jener Wissenschaften zu beziehen. Im Großen und Ganzen könnte niemand weniger anfällig dagegen sein als ich, von dem ignes fatui3 des Aberglaubens aus den genau abgesteckten Grenzen der Wahrheit herausgeführt zu werden. Ich habe es für angebracht gehalten, so viel vorauszuschicken für den Fall, dass die unglaubliche Geschichte, die ich zu erzählen habe, eher für das Ausschweifen einer rohen Phantasie gehalten wird als für die verlässliche Erfahrung eines Geistes, der Träumereien und Hirngespinsten unzugänglich ist und sie für null und nichtig erklärt.

Nach vielen Jahren des Reisens in der Fremde schiffte ich mich im Jahr 18 . . zu einer Fahrt vom Hafen von Batavia4 auf der reichen, stark bevölkerten Insel Java zu dem Archipel der Sundainseln ein. Ich fuhr als Passagier – ohne weiteren Anlass als eine Art nervöser Unrast, die mich heimsuchte wie eine Furie.

Unser Fahrzeug war ein schönes Schiff von ungefähr vierhundert Tonnen, mit Kupfer verbolzt und in Bombay aus malabrischem Teakholz5 gefertigt. Es war mit Baumwolle und Öl von den Lakkadiven6 beladen. Wir hatten auch Kokosfaser, Jagremelasse, Büffelbutter, Kokosnüsse und einige Kisten Opium an Bord. Die Ladung war ungeschickt verstaut worden, folglich konnte das Fahrzeug leicht kentern.

Mit einem bloßen Hauch von Wind stachen wir in See und standen viele Tage lang vor der Ostküste Javas, ohne dass irgendein anderer Zwischenfall die Eintönigkeit unseres Kurses unterbrochen hätte als die gelegentliche Begegnung mit einigen der kleinen Zweimaster der Küstenschifffahrt des Archipels, zu dem wir unterwegs waren.

Als ich mich eines Abends über die Heckreling lehnte, gewahrte ich im Nordwesten eine sehr eigentümliche einzelne Wolke. Sie war sowohl ihrer Farbe wegen bemerkenswert als auch deshalb, weil sie die erste war, die wir seit unserer Abfahrt von Batavia gesehen hatten. Ich beobachtete sie aufmerksam bis zum Sonnenuntergang, als sie sich ganz plötzlich ost- und westwärts ausbreitete, den Horizont mit einem schmalen Dunststreifen umgürtete und aussah wie ein langer Strich flachen Strandes. Kurz darauf wurde meine Aufmerksamkeit von der dunkelroten Erscheinung des Mondes und der eigenartigen Beschaffenheit des Meeres gefesselt. Letztere war einer raschen Veränderung ausgesetzt, und das Wasser schien ungewöhnlich durchsichtig. Obwohl ich den Grund deutlich sehen konnte, zeigte mir doch das Lot, das ich warf, fünfzehn Faden7 Tiefe an. Die Luft wurde nun unerträglich heiß und war mit spiralförmigem Brodem geladen, ähnlich dem, der von erhitztem Eisen aufsteigt. Als die Nacht hereinbrach, erstarb jeglicher Lufthauch; eine vollkommenere Windstille ist unvorstellbar. Auf der Achterhütte brannte die Flamme einer Kerze ohne die geringste erkennbare Bewegung, und ein langes Haar, das ich zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, hing herab, ohne dass auch nur das leiseste Schwingen zu entdecken war. Da der Kapitän jedoch sagte, er könne kein Anzeichen von Gefahr wahrnehmen, und da wir unweigerlich gegen die Küste trieben, befahl er, die Segel zu reffen und den Anker zu werfen. Es wurde keine Wache aufgestellt, und die Mannschaft, die hauptsächlich aus Malaien bestand, streckte sich gemächlich auf dem Deck aus. Nichts Gutes ahnend, ging ich unter Deck. Tatsächlich war meine Angst vor einem Samum8 allem Anschein nach gerechtfertigt. Ich teilte dem Kapitän meine Befürchtungen mit; er aber schenkte meinen Worten keine Aufmerksamkeit und entfernte sich, ohne mich einer Antwort zu würdigen. Mein Unbehagen hinderte mich jedoch daran zu schlafen, und gegen Mitternacht ging ich auf Deck. – Als ich meinen Fuß auf die oberste Stufe der Kajütentreppe setzte, stutzte ich vor einem lauten, summenden Ton ähnlich jenem, den die schnellen Umdrehungen eines Mühlrades erzeugen, und bevor ich dessen Bedeutung noch ermitteln konnte, spürte ich, wie das Schiff bis ins Innerste erbebte. Im nächsten Augenblick wurde es von einer schäumenden Wildnis, die von vorn nach achtern über uns brauste und vom Vorder- bis zum Hintersteven über die gesamten Decks fegte, auf die Seite geschleudert.

Die außerordentliche Heftigkeit des Sturms erwies sich in großem Maß als die Rettung des Schiffs: Obwohl es ganz voll Wasser gelaufen war, erhob es sich doch, da die Masten über Bord gegangen waren, nach einer Minute beschwerlich aus dem Meer, taumelte eine Weile unter dem ungeheuren Druck des Unwetters und richtete sich schließlich auf.

Durch welches Wunder ich der Vernichtung entkommen war, ist unmöglich zu sagen. Betäubt von dem Wellenschlag, fand ich mich, als ich wieder zu mir kam, eingeklemmt zwischen Achtersteven und Ruder wieder. Unter großen Schwierigkeiten kam ich auf meine Füße zu stehen, schaute benommen umher und war anfangs von der Vorstellung ergriffen, wir befänden uns inmitten der Brecher einer Brandung; so schreckenerregend, jenseits der ungezügeltsten Einbildungskraft war der Strudel gebirgigen und schäumenden Ozeans, der uns umschlang. Nach einer Weile hörte ich die Stimme eines alten Schweden, der sich just in dem Moment, als wir den Hafen verließen, bei uns eingeschifft hatte. Ich schrie ihn aus Leibeskräften an, und er kam sogleich wankend nach achtern. Wir fanden bald heraus, dass wir die einzigen Überlebenden des Unglücks waren. Außer uns waren alle auf Deck über Bord gefegt worden – der Kapitän und die Maate müssen im Schlaf umgekommen sein, denn die Kabinen waren mit Wasser überschwemmt. Ohne Hilfe konnten wir nicht erwarten, viel für die Sicherheit des Schiffes zu tun, und unsere Bemühungen wurden zunächst von der Erwartung, augenblicklich unterzugehen, gelähmt. Unser Ankertau war auf den ersten Hauch des Orkans hin natürlich wie Bindfaden gebrochen, sonst wären wir unverzüglich versenkt worden. Wir lenzten mit entsetzlicher Geschwindigkeit vor der schweren See, und das Wasser schlug wahre Sturzwellen über uns. Die Spanten des Hinterschiffs waren ungemein ramponiert, und in fast jeder Hinsicht hatten wir beträchtlichen Schaden erlitten; aber zu unserer äußersten Freude entdeckten wir, dass die Pumpen unversehrt waren und unser Ballast sich kaum verlagert hatte. Der größte Ansturm des Unwetters war schon über uns hinweggezogen, und wir sahen keine große Gefahr in der Gewalt des Windes; vielmehr erwarteten wir sein völliges Abflauen mit Bestürzung; denn wir glaubten sicher, dass wir in der dadurch entstehenden gewaltigen Dünung unserer beschädigten Verfassung wegen unvermeidlich zugrunde gehen müssten. Doch diese sehr berechtigte Befürchtung schien sich keineswegs bald bewahrheiten zu wollen. Fünf ganze Tage und Nächte lang – während derer unsere einzige Nahrung in einer kleinen Menge Jagremelasse bestand, die wir uns unter großen Schwierigkeiten aus dem Vorderdeck besorgt hatten – flog der Kahn mit einem Tempo, das jeder Berechnung trotzte, vor rasch aufeinander folgenden Windböen dahin, die, ohne der anfänglichen Heftigkeit des Samums gleichzukommen, immer noch fürchterlicher waren als ein jegliches Unwetter, das ich zuvor erlebt hatte. Die ersten vier Tage lang lag unser Kurs mit geringfügigen Abweichungen bei Südost zu Süd, so dass wir entlang der Küste Neuhollands9 gefahren sein müssen. – Am fünften Tag wurde die Kälte extrem, obwohl der Wind sich auf einen Strich weiter nordwärts gedreht hatte. – Die Sonne ging mit einem kränklich gelben Schimmer auf und kletterte nur sehr wenige Grade über den Horizont – wobei sie kein maßgebliches Licht entsandte. – Es waren keine Wolken sichtbar, doch der Wind nahm zu und blies mit launenhafter, ungleichmäßiger Heftigkeit. Gegen Mittag, so genau wir die Zeit erraten konnten, wurde unsere Aufmerksamkeit wieder von dem Erscheinungsbild der Sonne gefesselt. Sie spendete kein Licht im eigentlichen Sinn, sondern ein trübes, Unheil verkündendes Glühen ohne Widerschein, als ob alle ihre Strahlen polarisiert seien. Gerade bevor sie in der geschwollenen See versank, ging das Feuer in ihrer Mitte plötzlich aus, als werde es von irgendeiner unberechenbaren Macht rasch gelöscht. Sie war nur noch ein matter, silberartiger Kranz, als sie in den unergründlichen Ozean hinabeilte.

Vergeblich warteten wir auf das Anbrechen des sechsten Tages – für mich ist dieser Tag noch nicht angebrochen – für den Schweden wird er nie anbrechen. Von dieser Zeit an waren wir in pechschwarze Dunkelheit gehüllt, so dass wir einen Gegenstand auf zwanzig Schritt Entfernung vom Schiff nicht hätten sehen können. Ewige Nacht umgab uns fortan, nicht einmal gelindert durch den phosphoreszierenden Glanz des Meeres, an den wir in den Tropen gewöhnt gewesen waren. Obwohl das Unwetter weiterhin mit unverminderter Gewalt wütete, beobachteten wir auch, dass das übliche Aufkommen von Gischt oder Schaum, die uns bisher begleitet hatten, nicht länger auszumachen war. Ringsumher war Entsetzen, undurchdringliche Düsterkeit und eine schwarze, verschmelzende Wüste aus Ebenholz. – Abergläubisches Grauen kroch nach und nach in das Gemüt des alten Schweden, und meine eigene Seele war in stilles Staunen gehüllt. Wir vernachlässigten jegliche Wartung des Schiffes, die wir für schlimmer als nutzlos hielten, machten uns so gut wie möglich am Stumpf des Besanmastes fest und schauten bitterlich in die Welt des Meeres hinaus. Wir hatten keinerlei Mittel, die Zeit zu berechnen, noch konnten wir unsere Lage irgendwie erraten. Doch waren wir uns sehr wohl bewusst, dass wir weiter südwärts vorgedrungen waren als je ein Seemann zuvor, und verspürten große Verwunderung darüber, nicht auf die üblichen Hindernisse aus Eis zu treffen. Unterdessen drohte jeder Augenblick, unser letzter zu sein, jede berghohe Welle beeilte sich, uns zu überwältigen. Die Dünung überragte alles, was ich für möglich erachtet hatte, und dass wir nicht augenblicklich begraben wurden, ist ein Wunder. Mein Gefährte sprach von der Leichtigkeit unserer Ladung und erinnerte mich an die ausgezeichneten Eigenschaften unseres Schiffes; aber ich konnte mir nicht helfen, die äußerste Hoffnungslosigkeit der Hoffnung selber zu verspüren, und bereitete mich düsteren Mutes auf jenen Tod vor, von dem ich dachte, dass ihn nichts länger als eine Stunde hinausschieben könne, da das Anschwellen der ungeheuren schwarzen Wogen mit jedem Knoten Weges, den das Schiff zurücklegte, entsetzlicher und grässlicher wurde. Mal rangen wir in einer Höhe jenseits der des Albatrosses nach Luft – mal wurde uns schwindlig von der Rasanz unserer Talfahrt in eine wässrige Hölle, wo die Luft stillstand und kein Ton den Schlummer des Kraken10 störte.

Wir befanden uns am tiefsten Punkt eines dieser Abgründe, als ein jäher Schrei meines Gefährten angsterfüllt über die Nacht hereinbrach. »Sieh da! Sieh!«, schrie er, kreischte er mir in die Ohren, »allmächtiger Gott! Sieh da! Sieh!« Als er sprach, gewahrte ich das gedämpfte, unheilvolle Leuchten eines roten Lichtscheins, der die Seitenwände der gewaltigen Kluft, in der wir lagen, hinabströmte und ein zuckendes Schimmern auf unser Deck warf. Ich wandte meine Augen nach oben; da bot sich mir ein Anblick, der mir das Blut in den Adern erstarren ließ. In entsetzlicher Höhe genau über uns und just auf der Kippe des jähen Gefälles schwebte ein riesenhaftes Schiff von vielleicht viertausend Tonnen. War es auch auf den Kamm einer Welle von mehr als hundertmal seiner eigenen Höhe emporgehoben, so übertraf seine offenbare Größe dennoch die eines jeden Schiffes der Ostindienlinie11, das es gibt. Sein gewaltiger Rumpf war von einem dumpfen Tiefschwarz, das durch keine der an Schiffen üblichen Schnitzereien aufgeheitert wurde. Eine einzige Reihe messingner Kanonen ragte aus den offenen Geschützluken hervor, und die polierten Oberflächen spiegelten das Feuer unzähliger Gefechtslaternen wider, welche in der Takelage hin und her schwangen. Was uns aber in erster Linie Schrecken und Staunen einflößte, war, dass das Schiff jener übernatürlichen See und jenem unbändigen Orkan mit vollen Segeln trotzte. Als wir es zum ersten Mal erspäht hatten, war allein sein Bug zu sehen, da es langsam aus dem düsteren, grauenvollen Schlund hinter sich emporstieg. Für die Dauer eines Augenblicks äußersten Entsetzens hielt es auf dem schwindeligen Grat inne, als sei es in die Betrachtung der eigenen Erhabenheit versunken, erbebte dann, wankte und – stürzte hinab.

Ich weiß nicht, welch plötzliche Selbstbeherrschung meinen Geist in diesem Moment überkam. Ich taumelte so weit nach achtern, wie ich konnte, und erwartete furchtlos den drohenden Untergang. Unser eigenes Gefährt ließ nun schließlich vom Kampf ab und versank mit der Nase im Meer. Die kolossale, niederfahrende Masse prallte folglich auf den Teil seines Gerippes, der sich schon unter Wasser befand, und das unvermeidliche Ergebnis davon war, dass ich mit unwiderstehlicher Gewalt in die Takelage des Fremden geschleudert wurde.

Als ich fiel, drehte das Schiff ab und ging über Stag; der darauf folgenden Verwirrung schrieb ich es zu, dass ich der Beachtung der Mannschaft entging. Ohne große Schwierigkeiten gelangte ich unbemerkt zu der Großluke, die halb offen stand, und fand bald eine Gelegenheit, mich im Laderaum zu verbergen. Warum ich das tat, kann ich kaum sagen. Ein unbestimmtes Gefühl der Scheu, das mich auf den ersten Anblick der Seeleute des Schiffes hin überkommen hatte, war vielleicht die Ursache für mein Verstecken. Ich war nicht gewillt, mich einem Menschenschlag anzuvertrauen, der dem flüchtigen Blick, den ich um mich geworfen hatte, so viele Anzeichen von rätselhafter Ungewöhnlichkeit, so viel Grund für Zweifel und Argwohn geboten hatte. Deshalb hielt ich es für angebracht, mir ein Versteck in dem Laderaum zu schaffen. Dies bewerkstelligte ich, indem ich einen kleinen Teil der Schotten derart verrückte, dass sich mir ein bequemer Zufluchtsort zwischen den gewaltigen Schiffsbalken bot.

Kaum hatte ich meine Arbeit vollendet, als mich Schritte im Laderaum nötigten, Gebrauch davon zu machen. Ein Mann passierte mein Versteck mit kraftlosem, unsicherem Gang. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, bekam aber Gelegenheit, seine allgemeine Erscheinung zu betrachten. Sie zeugte von hohem Alter und von Gebrechlichkeit. Seine Knie wankten unter der Last seiner Jahre, sein ganzes Gerippe bebte unter dieser Bürde. Mit leiser, gebrochener Stimme murmelte er einige Worte in einer Sprache vor sich hin, die ich nicht verstehen konnte, und durchstöberte in einer Ecke einen Stapel einzigartig anmutender Gerätschaften und morscher Seekarten. Sein Gebaren war eine wilde Mischung aus der Launenhaftigkeit der zweiten Kindheit und der Ehrfurcht erweckenden Würde eines Gottes. Schließlich ging er auf Deck, und ich sah ihn nicht wieder.

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Ein Gefühl, für das ich keinen Namen habe, hat von meiner Seele Besitz ergriffen – eine Empfindung, die keine Analyse gestattet, für die die Lehren vergangener Zeiten unzulänglich sind, und zu der, so fürchte ich, selbst die zukünftige Welt mir keinen Schlüssel bieten wird. Für eine Geisteshaltung wie die meine ist letztere Überlegung ein Übel. Niemals werde ich – niemals, das weiß ich – zufriedengestellt sein, was die Beschaffenheit meiner Eindrücke betrifft. Doch ist es nicht verwunderlich, dass diese Eindrücke unbestimmt sind, da ihr Ursprung in so gänzlich neuartigen Quellen liegt. Ein neuer Sinn – ein neues Sein wird meiner Seele hinzugefügt

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Es ist lange her, seit ich das Deck dieses schrecklichen Schiffes erstmals betrat, und nun, glaube ich, werden die Strahlen meines Schicksals in einem Brennpunkt gesammelt. Unbegreifliche Männer! Eingehüllt in Grübeleien einer Art, die ich nicht erahnen kann, übergehen sie mich sang- und klanglos. Es ist meinerseits völlig töricht, mich zu verbergen, denn die Leute sehen nicht. Gerade eben erst ging ich genau vor den Augen des Maats an diesem vorüber – vor kurzem noch wagte ich mich in die Privatkajüte des Kapitäns hinein und entnahm daraus die Materialien, mit denen ich schreibe und geschrieben habe. Ich werde dieses Tagebuch von Zeit zu Zeit fortsetzen. Es ist wahr, dass ich keine Gelegenheit finden mag, es der Welt zu übermitteln, aber ich werde nicht versäumen, den Versuch zu machen. Im letzten Augenblick werde ich die Aufzeichnungen in einer Flasche verschließen und diese ins Meer werfen.

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Ein Ereignis hat sich zugetragen, das mir neuen Anlass zu Überlegungen gab. Sind solche Dinge das Werk gesetzlosen Zufalls? Ich hatte mich auf Deck vorgewagt und mich, ohne irgendwelche Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, auf einen Haufen Tauwerk und alte Segel auf dem Boden der Jolle geworfen. Während ich über die Einzigartigkeit meines Schicksals nachsann, besudelte ich unbewusst den Rand eines sauber gefalteten Leesegels, das nahe mir auf einem Fass lag, mit einem Teerpinsel. Das Leesegel ist nun angeschlagen, und die gedankenlosen Pinselstriche vernetzen sich zu dem Wort ENTDECKUNG.

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Ich habe in letzter Zeit viele Betrachtungen über die Konstruktion des Fahrzeuges angestellt. Obwohl es gut bestückt ist, ist es, glaube ich, kein Kriegsschiff. Seine Takelage, seine Bauart und seine allgemeine Ausrüstung widerlegen alle eine derartige Vermutung. Was es nicht ist, kann ich mit Leichtigkeit feststellen – was es ist, so fürchte ich, ist unmöglich zu sagen. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber wenn ich das seltsame Modell und das einzigartige Spierengerüst betrachte, die gewaltige Größe und übermäßigen Leinwandflächen, den durchaus einfachen Bug und das veraltete Heck, durchfährt mich ab und zu blitzartig ein Gefühl von Vertrautheit, und immer sind solch undeutliche Schatten von Erinnerungen vermischt mit einem sonderlichen Gedenken alter, fremdländischer Chroniken und lang vergangener Zeiten.

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Ich habe mir die Balken des Schiffes angesehen. Es ist aus einem mir fremden Material gebaut. Das Holz hat eine seltsame Eigenschaft, die es mir untauglich für den Zweck erscheinen lässt, für den es verwandt wurde. Ich meine seine außerordentliche Porosität, unabhängig von dem wurmstichigen Zustand, der eine Folge der Fahrten in diese Gewässer ist, und abgesehen von der Fäulnis, die mit dem Alter einhergeht. Es mag vielleicht nach einer allzu gewagten Äußerung klingen, aber das Holz trüge jedes Merkmal spanischer Korkeiche, wäre diese durch irgendein unnatürliches Verfahren noch ausgedehnt worden.

Als ich obigen Satz gerade noch einmal las, erinnerte ich mich genau an einen sonderbaren Spruch eines alten, holländischen Seebären. »Es ist so sicher«, soll er gesagt haben, wenn irgendein Zweifel an seiner Glaubhaftigkeit gehegt wurde, »so sicher, wie es ein Meer gibt, auf dem die Schiffe selber an Umfang wachsen werden wie die lebenden Körper der Seeleute.«

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Vor ungefähr einer Stunde erdreistete ich mich, in eine Gruppe der Besatzung vorzustoßen. Sie zollten mir keinerlei Aufmerksamkeit, und obwohl ich genau in der Mitte aller stand, schien ihnen meine Anwesenheit überhaupt nicht bewusst zu sein. Wie der eine, den ich als ersten im Laderaum gesehen hatte, trugen alle die Anzeichen uralter Greisenhaftigkeit. Ihre Knie zitterten vor Gebrechlichkeit; ihre Schultern waren vor Altersschwäche tief gebeugt; ihre verschrumpelte Haut raschelte im Wind; ihre Stimmen waren leise, zittrig und gebrochen; ihre Augen schillerten von der jahrelang abgesonderten Flüssigkeit; und ihre grauen Haare flatterten schrecklich in dem Unwetter. Um sie herum, überall auf dem Deck verstreut, lagen mathematische Instrumente von wunderlichster und altmodischster Machart.

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Vor einer Weile erwähnte ich das Anschlagen eines Leesegels. Seit jener Zeit hat das Schiff, das dadurch genau vor den Wind geworfen wurde, seinen schrecklichen Kurs gen Süden beibehalten; jeden Fetzen Leinwand vom Flaggenknopf bis zu den unteren Fockspieren gehisst, schlingerte es alle Augenblicke mit den Raanocken des Bramsegels in die abscheulichste Wasserhölle, die sich ein Mensch nur vorstellen kann. Ich habe das Deck gerade verlassen, wo ich es unmöglich finde, festen Fuß zu fassen, wiewohl die Mannschaft wenig Unannehmlichkeiten zu verspüren scheint. Es kommt mir wie das Wunder aller Wunder vor, dass unser ungeheurer Brocken nicht sogleich und ein für alle Male verschlungen wird. Wir sind sicherlich dazu verdammt, immerfort vor den Pforten der Ewigkeit umherzukreuzen, ohne uns endgültig in die bodenlose Tiefe zu stürzen. Wogen, tausendmal ungeheuerlicher, als ich sie je gesehen habe, entgleiten wir mit der Leichtigkeit der pfeilschnellen Seemöwe; und die kolossalen Wassermassen bäumen sich über uns auf wie Dämonen der Tiefe, aber wie Dämonen, die auf einfache Drohungen beschränkt sind, denen Vernichtung verboten ist. Ich sehe mich veranlasst, dieses häufige Entkommen dem einzigen natürlichen Grund zuzuschreiben, mit dem sich solche Wirkung erklären lässt. – Ich muss annehmen, dass das Schiff unter dem Einfluss irgendeiner starken Strömung oder eines heftigen Soges steht.

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Ich habe dem Kapitän von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden, noch dazu in seiner eigenen Kajüte – aber wie ich es erwartet hatte, schenkte er mir keine Aufmerksamkeit. Obwohl es an seiner Erscheinung in den Augen eines zufälligen Betrachters nichts gibt, das ihn mehr oder weniger als Mensch auszeichnet, so mischte sich dennoch ein Gefühl ununterdrückbarer Ehrfurcht und Scheu unter die Verwunderung, mit der ich ihn betrachtete. Seine Größe entspricht fast der meinen, das heißt ein Meter dreiundsiebzig. Er ist von kräftiger, stämmiger Statur, weder plump noch das Gegenteil. Aber es ist die Einzigartigkeit des Ausdrucks, der sein Gesicht beherrscht – es ist die fesselnde, die wunderbare, schauerliche Augenscheinlichkeit des so hohen, so außerordentlichen Alters, die in meiner Seele eine Vorahnung – ein unaussprechliches Gefühl erregt. Seine Stirn ist zwar nicht sehr runzlig, scheint aber von Myriaden von Jahren geprägt zu sein. – Seine grauen Haare sind Zeugnisse der Vergangenheit, und seine noch graueren Augen sind Weissagungen der Zukunft. Überall auf dem Kajütenboden verstreut lagen seltsame Folianten mit eisernen Verschlüssen, brüchige wissenschaftliche Instrumente und überholte, längst vergessene Karten. Sein Kopf war auf seine Hände heruntergebeugt, und er war mit feurigem, doch unstetem Blick in ein Papier vertieft, das ich für ein Dekret hielt und das auf alle Fälle einen königlichen Namenszug trug. Wie der erste Seemann, den ich im Laderaum gesehen hatte, murmelte er leise und mürrisch einige Silben in einer fremden Sprache vor sich hin, und obwohl der Sprecher nahe bei meinem Ellbogen saß, schien seine Stimme mein Ohr aus einer Meile Entfernung zu erreichen.

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Das Schiff und alle darauf sind von dem Geist alter Zeiten durchdrungen. Die Mannschaft gleitet hin und her wie Gespenster begrabener Jahrhunderte; ihre Augen drücken Bitterkeit und Unbehagen aus, und wenn ihre Finger bei dem wilden Funkeln der Gefechtslaternen in meinen Weg geraten, fühle ich mich, wie ich mich nie zuvor gefühlt habe, obwohl ich mein Leben lang mit Altertümern Handel getrieben und die Schatten eingestürzter Säulen in Baalbek12, Tadmor13 und Persepolis14 eingesogen habe, bis gar das Innerste meiner Seele zu einer Ruine wurde.

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Wenn ich mich umsehe, schäme ich mich meiner früheren Befürchtungen. Erzitterte ich vor dem Sturm, der uns bisher begleitet hat, muss mich dann nicht ein Krieg zwischen Wind und Ozean entsetzen – um eine Vorstellung davon zu übermitteln, wofür die Wörter Tornado und Samum zu gemein und schwach sind? In der unmittelbaren Nachbarschaft des Schiffes ist alles von der Schwärze ewiger Nacht und ein Chaos schaumlosen Wassers; aber in der Entfernung ungefähr einer Seemeile kann man hin und wieder zu beiden Seiten verblüffende Wälle aus Eis sehen die sich in den trostlosen Himmel emportürmen und wie die Wände des Universums aussehen.

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Wie ich es mir gedacht hatte, ist das Schiff von einer Strömung ergriffen; falls diese Bezeichnung korrekterweise einer Flut gegeben werden kann, die unter weißem Eis heulend und kreischend mit der Geschwindigkeit eines jäh niederstürzenden Wasserfalls gen Süden braust.

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Ich bilde mir ein, dass es gänzlich unmöglich ist, sich einen Begriff von der Grauenhaftigkeit meiner Gefühle zu machen; doch überwiegt die Neugierde darauf, die Mysterien dieser abscheulichen Gegenden zu ergründen, sogar meine Verzweiflung und wird mich auch über die grässlichste Erscheinung des Todes hinwegtrösten. Es ist offensichtlich, dass wir irgendeiner aufregenden Erkenntnis entgegeneilen – irgendeinem Geheimnis, das niemand je teilen wird, das zu erfassen Vernichtung bedeutet. Vielleicht führt uns die Strömung zum Südpol selbst. Hier muss eingeräumt werden, dass eine scheinbar so wilde Annahme von aller Wahrscheinlichkeit begünstigt wird.

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Die Mannschaft geht mit unruhigem, zittrigem Schritt auf Deck auf und ab; auf ihren Gesichtern liegt jedoch eher ein Ausdruck gieriger Hoffnung als teilnahmsloser Verzweiflung.

Mittlerweile bläst der Wind immer noch von der Achterhütte her, und da eine Menge Segel prangen, wird das Schiff ab und zu wahrhaftig völlig aus dem Meer gehoben! Oh, Schrecken folgt auf Schrecken! – Das Eis öffnet sich plötzlich zur Rechten und zur Linken, und wir wirbeln schwindelerregend in ungeheuren, konzentrischen Kreisen rund um die Wand eines gigantischen Amphitheaters herum, deren oberer Rand sich in der Dunkelheit und der Entfernung verliert. Aber es wird mir wenig Zeit bleiben, über mein Schicksal nachzusinnen – die Kreise werden schnell kleiner – wir treiben wie toll in der Gewalt des Strudels – und inmitten des Tosens, Brausens und Donnerns von Meer und Sturm bebt das Schiff, o Gott! – und geht unter.

Anmerkung: »Ein Manuskript per Flaschenpost« wurde ursprünglich 1831 veröffentlicht, und erst viele Jahre später lernte ich die Karten von Mercator kennen, auf denen der Ozean dargestellt wird, als rausche er durch vier Mündungen in den Schlund des (Nord-)Pols, um von den Eingeweiden der Erde aufgesogen zu werden; den Pol selbst stellt ein schwarzer Felsen dar, der sich in ungeheure Höhen emportürmt.15

1833 Übersetzung von Erika Engelmann

Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen

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