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Der Untergang des Hauses Usher

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Son cœur est un luth suspendu;

Sitôt qu’on le touche il résonne.

Sein Herz ist eine schwebende Laute;

Berühre sie, und sie ertönt.

DE BÉRANGER55

Einen ganzen trüben, dunklen und stillen Herbsttag lang, als die Wolken drückend tief am Himmel hingen, war ich ganz für mich durch einen seltsam öden Landstrich geritten und befand mich in Sicht des düsteren Stammsitzes der Usher, als die Abendschatten länger wurden. Ich weiß nicht, wie es kam – aber beim ersten Blick auf das Gebäude überkam ein Gefühl unerträglicher Schwermut meinen Sinn. Ich sage unerträglich, denn dieses Gefühl wurde nicht durch den mindesten angenehmen, weil dann poetischen Schimmer gemildert, mit dem das Gemüt noch die unfreundlichsten Natureindrücke der Verlassenheit oder des Schauerlichen in sich aufzunehmen pflegt. Ich betrachtete die Szene vor mir – das Haus selbst mit dem anspruchslosen landschaftlichen Hintergrund einer Domäne – die kahlen Mauern – die leeren Fenster, die hohlen Augen glichen – ein paar dichte Schilfgruppen – einige wenige weißliche, abgestorbene Baumstämme – mit tiefster seelischer Bedrücktheit, die ich mit keiner anderen besser vergleichen kann, die es auf Erden gibt, als mit der des Nach-Traums eines Opiumsüchtigen – mit dem bitteren Sprung zurück ins Leben des Alltags – dem furchtbaren Zerreißen des Vorhangs. Eiseskälte, Widerwille, Beklommenheit krochen in mein Herz, meinen Sinn verdunkelte eine durch nichts abzuschwächende Düsterkeit, die kein Ansporn der Phantasie zu etwas Erhebenderem emporquälen konnte. Was war es – ich hielt an, um nachzudenken –, das mich beim Betrachten des Hauses Usher so entnervte? Es war ein ganz und gar unlösbares Rätsel; auch konnte ich nicht mit den schattenhaften Vorstellungen fertig werden, die auf mich eindrangen, während ich grübelte. Ich war gezwungen, einen unbefriedigenden Schluss zu ziehen: während es zweifellos ein Zusammentreffen von an sich ganz gewöhnlichen Naturdingen gibt, denen die Macht innewohnt, uns auf diese Weise zu beeindrucken, dringt unsere Analyse dieser Macht nicht so tief, dass wir darüber begründete Betrachtungen anstellen könnten. Es wäre durchaus möglich, sagte ich mir, dass ein verschiedenartiger Aufbau der Besonderheiten des Bildes, der Einzelheiten der Szenerie genügt hätten, den traurigen Eindruck einzuschränken oder ihn vielleicht sogar aufzuheben. Ich handelte nach dieser Idee, lenkte das Pferd an den Steilrand eines schwärzlichen, unheimlichen Teichs, der sich mit ungetrübter Oberfläche vor dem Haus breitete, und schaute – aber nur mit noch lebhafterem Schauder – auf die darin wiedergegebenen umgekehrten Bilder des grauen Schilfs, der geisterhaften Stämme und der leeren Höhlen der Fenster.

Trotzdem fasste ich den Vorsatz, in diesem Haus der Düsterkeit für einige Wochen Aufenthalt zu nehmen. Sein Besitzer, Roderick Usher, war in meiner Knabenzeit einer meiner munteren Spielkameraden gewesen, aber seit unserem letzten Zusammentreffen waren viele Jahre vergangen. In einem entfernten Landesteil hatte mich vor kurzem ein Brief erreicht – ein ungestüm dringlicher Brief von ihm, der keine andere Antwort als persönliches Erscheinen zuließ. Die Handschrift zeugte von nervöser Aufgeregtheit. Der Schreiber sprach von akuter körperlicher Krankheit – von geistigen Störungen, die ihn bedrückten – und von dem ernstlichen Verlangen, mich, seinen besten und wirklich einzigen Freund, wiederzusehen; es sei seine Absicht, mit Hilfe meines freundlichen Wesens einen Versuch zu unternehmen, eine gewisse Erleichterung seines krankhaften Zustandes zu erreichen. Es war die besondere Art, in der er dies und manches andere sagte, ein offenbares Herzensbedürfnis, das in seiner Bitte schwang – was mir gar keine Gelegenheit gab, noch zu zögern; so entsprach ich unverzüglich seiner Aufforderung, auch wenn ich sie trotz allem für etwas seltsam hielt.

Obwohl wir als Knaben eng verbunden gewesen waren, wusste ich doch eigentlich wenig von meinem Freund. Seine Zurückhaltung war immer etwas übertrieben gewesen und entsprach seiner Veranlagung. Ich wusste aber, dass seine sehr alte Familie von jeher für besondere Feinfühligkeit im Wesen bekannt war, die sich im Lauf der Zeiten in vielen Werken hoher Kunst manifestiert und sich neuestens auch in wiederholten großzügigen und doch unaufdringlichen Akten von Wohltätigkeit gezeigt hatte. Auch hatten sich die Usher leidenschaftlich der Musik gewidmet, wobei ihnen vielleicht knifflige theoretische Dinge wichtiger waren als die allgemein anerkannten und leicht zu erfassenden Schönheiten dieser Kunst. Ich hatte auch von der bemerkenswerten Tatsache erfahren, dass der zu allen Zeiten hochgeschätzte Stamm der Usher nie eine lebensfähige Seitenlinie hervorgebracht habe; mit anderen Worten, alle Mitglieder der Familie stammten mit wenigen und nur kurz dauernden Ausnahmen direkt voneinander ab. Dieser Mangel an Nebenlinien, überlegte ich, während ich die unberührte Erhaltung des Landsitzes neben die der Familie allgemein zugeschriebene Eigenart stellte und über den möglichen Einfluss nachdachte, den ersteres im Lauf der Jahrhunderte auf den Familiencharakter ausgeübt hatte – dieser Mangel und der daraus folgende unentwegte Übergang des Erbes zusammen mit dem Namen vom Vater auf den Sohn hatten wahrscheinlich dazu geführt, dass beides, die ursprüngliche Bezeichnung für das Anwesen und der eigentliche Familienname, im Bewusstsein der Leute in den altmodischen Begriff von zweierlei Bedeutung, ›Haus Usher‹ verschmolzen war, den sie für die Familie und das Herrenhaus verwendeten.

Ich habe bereits gesagt, dass das ganze Ergebnis meines etwas kindischen Experiments – einen Blick in den Teich zu tun – darin bestand, den ersten seltsamen Gesamteindruck zu vertiefen. Das Bewusstwerden der Zunahme meines Aberglaubens – warum sollte ich es nicht so bezeichnen? – diente zweifellos dazu, ihn noch schneller anwachsen zu lassen. Dies ist, wie ich seit langem weiß, das paradoxe Gesetz aller Gefühle, denen Furcht zugrunde liegt. Wohl deswegen entstand in mir, als ich vom Bild des Hauses im Wasser den Blick wieder zu ihm hob, eine merkwürdige Vorstellung – eine Vorstellung, die so lächerlich ist, dass ich sie nur erwähne, um die Macht der Eindrücke darzutun, die mich beschwerten. Ich hatte meiner Phantasie so viel freien Lauf gelassen, dass ich tatsächlich glaubte, um das ganze Haus und den Besitz überhaupt hänge eine auch der unmittelbaren Umgebung eigene, ganz besondere Atmosphäre – eine Atmosphäre, die mit der natürlichen nichts zu tun hatte, sondern aus den morschen Bäumen, den grauen Mauern und dem stillen Teich aufstieg – ein giftiger, geheimnisvoller Dunst, trüb, träg, bleifarben und eigentlich nur zu ahnen.

Ich schüttelte diese Vorstellung ab, die nur traumhaft sein konnte, und betrachtete das wahre Aussehen des Hauses genauer. Das Hauptmerkmal schien mir sein außerordentlich hohes Alter zu sein, denn die Zeiten hatten es gründlich verfärbt. Kleinpilze bedeckten die ganze Front und hingen in feinen, spinnwebartigen Strängen von den Dachrinnen. Dies alles war aber weit entfernt von irgendwelchem besonderen Verfall. An keiner Stelle war das Mauerwerk zusammengebrochen, und zwischen seinem soliden Zusammenhang und der krümeligen Beschaffenheit der einzelnen Steine bestand ein aufregender Widerspruch. Dies erinnerte mich an altes Holzwerk, das in irgendeinem vergessenen Gewölbe in langen Jahren modert und in breiten Flächen erhalten bleibt, weil kein Hauch frischer Luft es anrührt. Außer diesen Hinweisen auf ausgedehnte Verwitterung gab das Mauergefüge aber wenig Anzeichen von mangelnder Stabilität. Vielleicht hätte das Auge eines kritischen Beobachters einen kaum wahrnehmbaren Riss entdeckt, der vom Dach über die Vorderfront seinen Weg die ganze Mauer hinunter in einer Zickzacklinie machte, bis er sich in dem dunklen Wasser des Teichs verlor.

Nachdem ich diese Dinge beobachtet hatte, ritt ich über einen kurzen Weg vors Haus. Ein bereitstehender Stallknecht nahm mir das Pferd ab, ich betrat durch den gotischen Türbogen die Halle. Ein leise auftretender Diener führte mich von da schweigend durch eine Menge dunkler, verwinkelter Gänge zum Arbeitszimmer seines Herrn. Manches, was ich auf diesem Weg traf, trug dazu bei – wieso, weiß ich nicht –, die unbestimmten Gefühle zu verstärken, von denen ich bereits gesprochen habe. Die Dinge ringsumher, Deckenschnitzereien, dunkle Wandgobelins, ebenholzschwarze Fußböden und phantastische Rüstungstrophäen, die rasselten, als ich vorbeiging, waren mir seit meiner Kindheit so ähnlich bekannt; ich zögerte noch, mir zuzugeben, wie vertraut mir Derartiges war, weil ich mich wunderte, wie eigenartig die Vorstellungen waren, die ganz gewöhnliche Gegenstände in mir aufsteigen ließen. Auf einer der Treppen lernte ich den Hausarzt der Familie kennen. Sein Gesicht, fand ich, trage einen aus Schlauheit und Verlegenheit gemischten Ausdruck. Er sprach mich mit einer gewissen nervösen Unruhe an und ging weiter. Der Diener öffnete eine Tür und meldete mich seinem Herrn.

Das Zimmer, in dem ich mich befand, war sehr groß und hoch. Schmale Spitzbogen stellten die Fenster dar und lagen so weit über dem dunklen Eichenholzfußboden, dass man vom Zimmer aus nicht hinaufreichen konnte. Schwache Strahlen rötlichen Lichts fanden den Weg durch die vergitterten Scheiben und erhellten wenigstens die größeren Gegenstände im Raum hinreichend deutlich, aber das Auge bemühte sich vergeblich, in die entfernteren Winkel des Zimmers oder in die Vertiefungen der gewölbten, geschnitzten Decke vorzudringen. Dunkle Draperien hingen an den Wänden. Die Einrichtung war verschwenderisch und ungemütlich, antik und abgenützt. Viele Bücher und Musikinstrumente lagen im Zimmer verstreut, belebten das Bild aber nicht. Ich spürte, dass ich eine von Kummer geschwängerte Luft einatmete. Etwas wie ernste, tiefe und hoffnungslose Düsterheit hing über allem, durchdrang alles.

Bei meinem Eintreten erhob sich Usher von einem Sofa, auf dem er ausgestreckt gelegen hatte, und begrüßte mich mit lebhafter Wärme, die, wie ich zuerst dachte, viel von der übertriebenen Herzlichkeit – der gezwungenen Bemühung des blasierten Mannes von Welt – an sich habe. Ein Blick in sein Gesicht überzeugte mich aber von seiner vollkommenen Aufrichtigkeit. Wir setzten uns, und als er einige Augenblicke nichts sagte, betrachtete ich ihn mir einem Gefühl, bei dem sich Mitleid und Scheu die Waage hielten. In so verhältnismäßig kurzer Zeit hat sich noch kein Mensch so furchtbar verändert wie Roderick Usher! Nur mit Mühe kam ich so weit, das glanzlose Wesen vor mir mit dem Kameraden der frühen Knabenzeit in Übereinstimmung zu bringen. Allerdings hatte die Art seines Gesichts von jeher etwas Bemerkenswertes gehabt: die Leichenblässe der Haut, große, feuchte, unvergleichlich leuchtende Augen, etwas schmale und blutleere, aber ungemein schön geschwungene Lippen, eine nach jüdischer Form dezent gebogene Nase, jedoch mit bei Juden selten vorkommenden breiten Nüstern, das feingebildete Kinn, das keinen Vorsprung hatte und von Mangel an Charakterfestigkeit sprach, das spinnwebartig weiche, feine Haar. Diese Einzelheiten ergaben zusammen mit der ungewöhnlich breiten Stirnfläche bis zu den Schläfen ein Gesicht, das man nicht leicht vergaß. Nun war durch die bloße stärkere Ausprägung des vorherrschenden Charakters dieser Züge und in dem Ausdruck, den sie sonst vermittelt hatten, eine so große Veränderung vor sich gegangen, dass ich zweifelte, mit wem ich sprach. Die nun geisterhafte Blässe der Haut und vor allem der wundersame Glanz der Augen überraschten und erschreckten mich sogar. Das seidenweiche Haar hatte er ungehindert wachsen lassen, und da es wie ein natürliches, gazeartiges Gespinst das Gesicht eher umflutete als umgab, konnte ich das arabeskenhafte Gebilde nur mit Mühe mit der Vorstellung des schlicht Menschlichen in Einklang bringen.

An der Art, wie mein Freund sich gab, fiel mir sofort etwas Widersprüchliches – Zerfahrenes – auf; ich fand bald heraus, dass es sich aus dem ständigen schwachen und vergeblichen Bemühen herleitete, ein immerwährendes Zucken – eine außergewöhnliche nervöse Erregung – zu unterdrücken. Auf etwas dieser Art war ich gefasst gewesen, nicht weniger durch seinen Brief als in Erinnerung an gewisse knabenhafte Eigenheiten und durch Schlüsse, die ich von seiner besonderen körperlichen Bildung und seinem Temperament ableitete. Sein Gehabe war abwechselnd lebhaft und trotzig. Seine Stimme wechselte rasch von zittriger Unentschlossenheit (wenn die Lebensgeister in unsicherer Schwebe waren) zu jener Art energischer Knappheit – jener abrupten, gewichtigen und hohlklingenden Sprechweise – zu jenen bleiernen, ausbalancierten und sorgfältig modulierten gutturalen Äußerungen, die man bei dem unheilbaren Trinker oder dem süchtigen Opiumraucher in der Zeit der intensivsten Erregung beobachten kann.

Solcherart sprach er über den Zweck meines Besuchs, von seinem dringenden Wunsch, mich wiederzusehen, und von dem Trost, den er sich von mir erhoffe. Mit einer gewissen Ausführlichkeit ging er darauf ein, was seine Vorstellung von der Natur seiner Krankheit sei. Er leide, sagte er, an einem konstitutionellen und der Familie eigenen Übel und verzweifle längst, ein Heilmittel dagegen zu finden – es sei, fügte er sofort hinzu, ein rein nervöser Reizzustand, der zweifellos bald vorübergehen werde und sich in einer Unzahl unnatürlicher Empfindungen äußere. Er schilderte mir einige näher, die mich sehr interessierten und bestürzten, wenn auch vielleicht die Benennung dafür und die ganze Art seiner Erzählung viel zu dieser Wirkung beitrugen. Er litt heftig unter einer krankhaften Überschärfe der Sinne; nur die fadeste Nahrung war ihm verträglich; er konnte nur Kleidung aus bestimmten Stoffen tragen; die Düfte aller Blumen bedrückten ihn; seine Augen wurden sogar von einem schwachen Licht gequält, und es gab nur ganz besondere Klänge, die von Saiteninstrumenten ausgehen mussten, die ihm keinen Abscheu verursachten.

Ich fand heraus, dass er der Sklave einer anormalen Art von Furcht war. »Ich werde zugrunde gehen«, sagte er, »ich muss an dieser jammervollen Krankheit zugrunde gehen. So, so und auf keine andere Weise werde ich umkommen. Ich fürchte mich vor künftigen Ereignissen, aber nicht sie selbst, sondern ihre Folgen. Mich schaudert bei dem bloßen Gedanken vor jedem, auch dem alltäglichsten Vorfall, der diese unerträgliche Verwirrung der Seele noch verschlimmern könnte. Vor einer Gefahr schrecke ich nicht zurück, außer ihre einzige Wirkung ist – maßlose Angst. In meinem entnervten, jämmerlichen Zustand, ich fühle es, wird früher oder später die Zeit kommen, da ich im Kampf mit dem Hirngespinst FURCHT Verstand und Leben verliere.«

Nach und nach bildete ich mir aus abgerissenen, mehrsinnigen Andeutungen ein Bild eines anderen sonderbaren Zugs seines Geisteszustands. Gewisse abergläubische Einbildungen über das Haus, das er bewohnte und das er seit vielen Jahren nicht zu verlassen gewagt hatte, hätten ihn in ihren Bann gezogen; er sprach aber über diesen von ihm angenommenen übermächtigen Einfluss in so unbestimmten Ausdrücken, dass ich sie hier nicht wiedergeben kann. Es sei ein Einfluss, den gewisse Eigentümlichkeiten der Form und der Substanz seines Familiensitzes in langer Leidenszeit über seinen Geist gewonnen hätten: ein Einfluss, den das Materielle der grauen Mauern, Türmchen und des dunklen Teichs, auf den dies alles hinunterblicke, auf seine geistige Existenz zerrüttend ausübe.

Er räumte aber ein, wenn auch zögernd, dass viel von dem eigenartigen Trübsinn, der ihn bedrückte, auch auf einen natürlicheren und weitaus handgreiflicheren Ursprung zurückzuführen sei – auf die ernstliche und lang andauernde Erkrankung – auf das offenbar nahe bevorstehende Ende – einer zärtlich geliebten Schwester – seiner einzigen Gefährtin durch viele Jahre – seiner letzten Verwandten auf Erden. »Ihr Hinscheiden«, sagte er mit einer Bitterkeit, die ich nie vergessen werde, »würde mich, einen hoffnungslosen und schwachen Menschen, als den Letzten des alten Stamms der Usher zurücklassen.« Während er sprach, ging Lady Madeline (so hieß sie) im entfernten Hintergrund durch das Zimmer und verschwand, ohne mich bemerkt zu haben. Ich betrachtete sie mit Staunen und nicht ohne Grauen – ein Gefühl, über das ich mir jedoch keine Rechenschaft ablegen konnte. Eine Art Erstarrung überkam mich, als meine Augen ihren sich entfernenden Schritten folgten. Als sich schließlich eine Tür hinter ihr schloss, suchte mein Blick unwillkürlich und neugierig die Züge ihres Bruders – aber er hatte sein Gesicht in den Händen vergraben. Ich sah nur, dass die abgemagerten Finger noch blasser als bisher waren und leidenschaftliche Tränen zwischen ihnen hindurchtropften.

Die Krankheit von Lady Madeline hatte die Kunst der Ärzte lange Zeit genarrt. Chronische Apathie, allmähliches Dahinschwinden des Körpers, häufige, wenn auch vorübergehende Anfälle von teilweise epileptischer Art, so lautete die ungewöhnliche Diagnose. Bisher hatte sie der Macht der Krankheit tapfer widerstanden und war nicht bettlägerig geworden, aber gegen Abend des Tages meiner Ankunft im Hause erlag sie (wie mir ihr Bruder nachts in unbeschreiblicher Aufregung sagte) der niederwerfenden Macht ihrer Gegnerin. Und ich musste erfahren, dass der erste Blick, den ich auf sie getan hatte, wahrscheinlich auch der letzte gewesen war – und ich sie wenigstens als Lebende nicht mehr sehen würde.

Mehrere Tage lang wurde ihr Name weder von Usher noch von mir genannt; während dieser Zeit machte ich ernstliche Anstrengungen, die Melancholie meines Freunds zu lindern. Wir malten und lasen zusammen, oder ich hörte wie im Traum seinen wilden Improvisationen auf der ausdrucksvollen Gitarre zu. Je mehr und tiefer ich so bei unserer Intimität in die Hintergründe seines Geists vordringen konnte, umso bitterer war die Erkenntnis der Nutzlosigkeit aller Versuche, ein Gemüt aufzuheitern, von dem in einer nicht endenden Ausstrahlung Düsternis wie eine angeborene Eigenschaft auf die gesamte geistige und physische Welt überging.

Für immer werde ich die Erinnerung an die vielen feierlich stillen Stunden mit mir tragen, die ich mit dem Herrn des Hauses Usher zubrachte. Der Versuch jedoch wäre vergeblich, eine Vorstellung von der Art der Studien und Beschäftigungen vermitteln zu wollen, in die er mich einführte oder die er anregte. Eine überspitzte und reichlich krankhafte Subjektivität rückte alles in ein seltsames Licht. Seine langen, improvisierten Lieder der Klage werden immer in meinen Ohren klingen. Unter anderem liegt mir eine sonderbare Umkehrung und Ausweitung der wilden Melodie von Webers56 »Letzte Gedanken« schmerzlich im Gedächtnis. Von den Gemälden, über denen seine schillernde Phantasie brütete und die von Pinselstrich zu Pinselstrich unfassbarer wurden, wobei es mich umso mehr schauderte, weil ich nicht wusste, weswegen – von diesen Gemälden (so lebhaft ich sie vor mir sehe) mehr ableiten zu wollen als das bisschen, was in den Möglichkeiten des geschriebenen Wortes liegt, wäre nutzloses Bemühen. Durch äußerste Einfachheit, durch die sozusagen nackte Klarheit der Zeichnung fesselte er die Aufmerksamkeit des Betrachters und jagte ihm gleichzeitig Schauder ein. Wenn je ein sterblicher Mensch einen Gedanken malen konnte, dann Roderick Usher. Für mich wenigstens entströmte – in den Umständen, in denen ich mich befand – den reinen Abstraktionen, die dieser Schwermütige auf die Leinwand zu bannen vermochte, etwas intensiv, fast unerträglich Ehrfurchtgebietendes, das nicht entfernt mit dem zu vergleichen war, was ich je bei der Betrachtung der glühenden, aber doch wohl zu konkreten Träumereien Fuselis57 empfunden habe.

Eine der phantasmagorischen Schöpfungen meines Freundes, die nicht so streng abstrakt war, mag, wenn auch in schwachen Worten, hier abgeschattet werden. Auf einer kleinen Leinwand war das Innere eines unendlich langen rechtwinkligen Gewölbes oder Tunnels dargestellt, dessen niedere, glatte weiße Wände ohne Unterbrechung und ohne etwas darauf Gemaltes dahinliefen. Gewisse Einzelheiten des Bildes waren dazu angetan, den Eindruck zu vermitteln, dass diese Aushöhlung tief unter der Erdoberfläche liege. In keinem Teil dieser weiten Ausdehnung war etwas wie ein Auslass zu entdecken, noch fand sich eine Fackel oder eine sonstige künstliche Helligkeitsquelle, und doch war der Raum von intensivem Licht durchflutet, das das Ganze in einen geisterhaften und unangemessenen Glanz tauchte.

Ich habe bereits über die krankhafte Beschaffenheit der Gehörnerven Ushers gesprochen, die dem Leidenden jegliche Musik bis auf gewisse Saitenklänge unerträglich machte. Die enge Grenze, innerhalb derer er sich auf die Gitarre beschränkte, war es wohl, die die Phantastik seiner Darbietungen entstehen ließ, aber die glutvolle Beschwingtheit seiner Impromptus war dem nicht zuzuschreiben. Seine Stegreifkompositionen müssen in der Tonsetzung wie im Text dieser wilden Phantasien (denn er begleitete seinen Vortrag nicht selten mit frei erfundenen gereimten Versen) das Ergebnis jener starken geistigen Sammlung und Konzentration gewesen sein und sind es noch, die, wie schon angedeutet, nur in besonderen Augenblicken höchster künstlerischer Schöpferkraft zu beobachten sind. Der Wortlaut einer dieser Rhapsodien ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich war vielleicht umso stärker davon beeindruckt, während er sie darbot, weil ich in der unterschwelligen oder mystischen Strömung des eigentlichen Sinns zum ersten Mal wahrzunehmen glaubte, dass Usher sich des schwankenden Throns seines hochragenden Verstands voll bewusst war. Die Verse mit der Überschrift »Spuk im Palast« lauten ungefähr, wenn nicht genau, so:

1

In der Täler grünster Welle,

Guter Geister liebster Rast,

Hob sein Haupt in Himmelshelle

Einst ein strahlender Palast.

Seraph schattete mit schlanken

Schwingen nie ein stolzer Haus,

Und der König der Gedanken

War der Herr des stolzen Baus.

2

Und in goldenem Entfalten

Flogen Banner, kühn gehisst,

(Dies, es war in jener alten

Zeit, die längst erstorben ist.)

Sanfte Morgenlüfte neckten

Tändelnd sich vor Tau und Tag

Und beflügelten und weckten

Duft, der um die Wälle lag.

3

Wandrer, der von stillen Steigen

In erhellte Fenster schaute,

Sah der Geister gleitend Reigen

Bei Musik und Lied der Laute,

Die in freundlichem Umfangen

Schwebten um den Porphyrstein;

Und des Herrschers Blicke drangen

Glückhaft durch die lichten Reihn.

4

Perlen und Rubine glühten

An des Schlosses hohem Tor.

Draus wie Duft von schweren Blüten

Strömte leiser Stimmen Chor,

Stimmen, deren frohe Töne

Nur ein einzig Wünschen kennen:

Schönres Echo sein dem schönen

Geiste, den sie ihren Herrscher nennen.

5

Doch der dunkle Fürst der Sorgen.

Jäh stürzt er des Herrschers Macht.

(Klag, mein Herz! Kein neuer Morgen

Dem Verzweifelten mehr lacht.)

Um sein Reich, das ruhmeshehre,

Blüten einst und Glück geweiht,

Raunet düster die Erinnerungsmäre

Lange schon begrabner Zeit.

6

Wandrer, die aus jenem Tale

Roterglühende Fenster sehn,

Schauen Geister, seltsam düstre, fahle,

In wüstem Missakkord sich drehn.

Wildes, scheußliches Gedränge

Stürzet aus dem Tor, des lichter Glanz verdarb,

Gell Gelächter tönt statt holder Klänge –

Allen Lächelns Süße starb.

Ich erinnere mich gut, dass einige Anregungen aus der Ballade uns zu einer Gedankenkette führten, bei der eine Ansicht Ushers offenbar wurde, die ich nicht so sehr wegen ihrer Neuheit (denn andere mögen auch so gedacht haben)58 als wegen der Hartnäckigkeit erwähne, mit der er sie aufrechterhielt. Bei dieser Meinung ging es generell um das Empfindungsvermögen alles Pflanzlichen. In seiner verwirrten Phantasie hatte diese Idee aber einen kühneren Charakter angenommen, und sie griff bei ihm sogar, waren gewisse Bedingungen gegeben, ins Gebiet des Anorganischen über. Es fehlen mir die Worte, die volle Reichweite dieser Idee oder die ernsthafte Hingabe an seine Überzeugung darzulegen. Sein Glaube hing (worauf ich schon angespielt habe) mit den grauen Quadern des Hauses seiner Vorfahren zusammen. Die Bedingungen für ein Seelenleben der Materie seien, wie er sich einbildete, hier in der Art der Schichtung der Steine und in der Ordnung ihrer Zusammenfügung voll erfüllt – überdies auch durch die zahllosen Pilze, die sie überwuchert hatten, und durch die toten Bäume, die davorstanden, vor allem aber durch die unendlich lange Dauer des Nebeneinanders all dieser Dinge, die sich noch dazu im Wasser des Teichs verdoppelten. Der Beweis dafür – Beweis der Beseeltheit –, sagte er, sei (und da erschrak ich heftig über das Folgende) die allmähliche, aber doch sichere Verdichtung einer eigenen Atmosphäre über dem Wasser und den Mauern. Das Ergebnis, fügte er hinzu, sei in der stillen und doch hartnäckigen, schrecklichen Einwirkung erkennbar, die seit Jahrhunderten das Schicksal seiner Familie bestimmt und nun auch ihn zu dem gemacht habe, den ich vor mir sähe – der er sei. Eine solche Anschauung bedarf keines Kommentars, und ich will auch keinen geben.

Unsere Bücher – die Bücher meine ich, die seit Jahren einen kleinen Teil der geistigen Existenz des Kranken gebildet hatten – lagen, wie man vermuten kann, in der Linie des Phantastischen. Wir vertieften uns in Werke wie Vert-vert und Chartreuse von Gresset, den Belphegor Machiavellis, Swedenborgs Himmel und Hölle, in Nicholas Klims unterirdische Reise von Holberg, die Chiromantien von Robert Fludd, Jean d’Indaginé und De la Chambre, Tiecks Reise ins Blaue und den Sonnenstaat von Campanella.59 Eines seiner Lieblingsbücher war eine kleine Oktavausgabe des Directorium Inquisitorum des Dominikaners Eymeric de Gironne,60 und es gab bei Pomponius Mela61 über altafrikanische Satyrn und Buschgeister Stellen, über denen Usher stundenlang träumend sitzen konnte. Sein größtes Entzücken aber fand er in der Lektüre eines außerordentlich seltenen und merkwürdigen Gotisch-Quartbandes, einer von Hand geschriebenen Chronik einer vergessenen Kirche: Vigiliae Mortuorum secundum Chorum Ecclesiae Maguntinae.62

Unwillkürlich musste ich an die darin beschriebenen sonderbaren Riten und deren Einfluss auf den Melancholiker denken, als er mir eines Nachts ohne jegliche Vorbereitung erklärte, Lady Madeline sei nicht mehr und er beabsichtige, die Tote für vierzehn Tage (vor der endgültigen Beisetzung) in einem der zahlreichen Gewölbe innerhalb der Hauptmauern des Gebäudes aufzubahren. Über den realen Grund dieses immerhin sonderbaren Vorhabens zu disputieren, fühlte ich mich nicht befugt. Der Bruder war (wie er mir sagte) angesichts der ungewöhnlichen Art der Krankheit der Verstorbenen zu diesem Entschluss gekommen, außerdem aber auch wegen gewisser zudringlicher und neugieriger Fragen ihrer Ärzte; ferner sei die Familiengruft ziemlich abgelegen und ungeschützt. Ich will nicht leugnen, dass ich, wenn ich mir den unheimlichen Gesichtsausdruck der Person auf der Treppe am Tag meiner Ankunft ins Gedächtnis zurückrief, keine Lust hatte, eine Regelung zu kritisieren, die in meinen Augen schlimmstenfalls nichts als eine harmlose und keineswegs außergewöhnliche Vorsichtsmaßnahme war.

Auf seine Bitte hin half ich Usher bei der Durchführung der vorläufigen Beisetzung. Nachdem wir die Tote in den Sarg gelegt hatten, trugen wir ihn zu seiner Ruhestätte. Das Gewölbe, in dem wir ihn unterbrachten (es war so lange Zeit nicht gelüftet worden, dass in der erstickenden Luft unsere Fackeln halb verlöschten und uns wenig erkennen ließen), war klein und feucht; es gab keine Möglichkeit, Licht hereinzulassen, da es in großer Tiefe lag, und zwar unter dem Teil des Gebäudes, in dem ich mein Schlafzimmer hatte. Offenbar war es in fernen Feudalzeiten zu schlimmsten Zwecken als Verlies, später als Aufbewahrungsort für Pulver oder andere leicht brennbare Stoffe verwendet worden, weil ein Teil des Bodens und das ganze Innere des langen Bogengangs, durch den wir eingetreten waren, sorgfältig mit Kupferblech verkleidet waren. Die massive Eisentür war ähnlich geschützt. Ihr ungeheueres Gewicht verursachte bei jeder Bewegung ein ungewöhnlich scharfes Knirschen in den Angeln.

Nachdem wir unsere traurige Last an diesem Ort des Schreckens auf einen Schragen gestellt hatten, schoben wir den noch nicht verschraubten Deckel des Sargs ein Stück zur Seite und betrachteten das Gesicht der Verstorbenen. Eine frappierende Ähnlichkeit zwischen Bruder und Schwester erregte zuerst meine Aufmerksamkeit. Usher erriet wohl meine Gedanken und murmelte einige Worte, denen ich entnahm, dass die Verstorbene und er Zwillinge seien und dass zu allen Zeiten zwischen ihnen eine Seelengemeinschaft bestanden habe, die von einem Außenstehenden kaum hätte verstanden werden können. Aber nicht sehr lange ruhten unsere Blicke auf der Toten – denn wir konnten sie nicht ohne Scheu betrachten. Das Übel, von dem Madeline in der Reife der Jugend ins Totenbett gelegt worden war, hatte wie alle Krankheiten epileptischer Art den Hohn eines schwachen Rot auf Brust und Gesicht und jenes verdächtig andauernde Lächeln auf den Lippen zurückgelassen, das im Tod so schrecklich wirkt. Wir legten den Deckel wieder auf und schraubten ihn leicht an; nachdem wir die Eisentür gesichert hatten, kehrten wir schleppenden Gangs in die kaum weniger düsteren oberen Räume zurück.

Nun, da einige Tage bitteren Kummers verflossen waren, erfolgte ein merklicher Wandel in den Anzeichen der geistigen Verstörung meines Freundes. Sein sonstiges Benehmen war gewichen, er vernachlässigte seine gewohnten Beschäftigungen oder vergaß sie, er durchwanderte Zimmer um Zimmer mit hastigem, ungleichem und ziellosem Schritt. Die Blässe seines Gesichts hatte eine womöglich noch geisterhaftere Schattierung angenommen – und die Leuchtkraft seiner Augen war gänzlich erloschen. Ich hörte den gelegentlich heiseren Ton seiner Stimme nicht mehr, seine Äußerungen kamen in einem zittrigen Tremolo, wie in höchster Angst hervorgebracht. Es gab Zeiten, da ich dachte, sein unentwegt aufgeregtes Gemüt quäle sich mit irgendeinem ihn bedrückenden Geheimnis ab und er kämpfe vergeblich um den nötigen Mut, es auszusprechen. Dann wieder sah ich mich veranlasst, alles auf bloße, unerklärbare Wunderlichkeiten eines Wahns zu schieben, denn ich sah, wie er stundenlang in der Haltung angespannter Aufmerksamkeit ins Leere starrte, als horche er auf irgendeinen eingebildeten Klang. Kein Wunder, dass sein Zustand mich in Schrecken versetzte – und ansteckte. Ich spürte, wie seine phantastischen und doch beeindruckenden Wahnvorstellungen langsam, aber Grad um Grad in mich krochen.

In besonderem Maß geschah dies am siebten oder achten Tag, nachdem wir Lady Madeline in dem Verlies niedergelegt hatten, als ich spät schlafen ging und die ganze Macht solcher Empfindungen zu spüren bekam. Kein Schlaf kam meinem Lager nah – während Stunde um Stunde verrann. Ich bemühte mich angestrengt, mir die Nervosität auszureden, die Gewalt über mich hatte. Ich ließ nicht nach, mich glauben zu machen, dass viel, wenn nicht alles, was mich überfallen hatte, dem beunruhigenden Einfluss der düsteren Zimmereinrichtung anzulasten sei – den dunklen, zerschlissenen Vorhängen, die vom Atem eines aufkommenden Sturms bewegt wurden, an den Wänden rieben und unangenehm an den Bettverzierungen raschelten. Alle Mühe war vergeblich. Eine nicht zu unterdrückende Beklemmung durchdrang mich und lastete schließlich als ein durch nichts zu begründender Alp schwer auf meinem Herzen. Mit einem tiefen Atemzug schüttelte ich sie ab, nahm mich zusammen und richtete mich in den Kissen auf. Ich starrte angestrengt in das tiefe Dunkel des Zimmers und horchte – ohne zu wissen, warum, es sei denn, ein Instinkt veranlasste mich dazu – auf irgendwelche dumpfe, unbestimmte Geräusche, die in den Pausen des Sturmwinds in längeren Abständen an mein Ohr drangen; woher, wusste ich nicht. Von einem intensiven, unerklärbaren und doch nicht zu ertragenden Gefühl des Schreckens überwältigt, fuhr ich hastig in die Kleider (ich spürte, dass ich in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde) und versuchte mit aller Anstrengung, mich aus dem jämmerlichen Zustand aufzurütteln, in den ich geraten war, indem ich rasch im Zimmer hin und her ging.

Ich hatte es auf diese Weise ein paar Mal durchmessen, als ich auf einen leichten Schritt im nahen Treppenhaus aufmerksam wurde. Sofort erkannte ich ihn als den Ushers. Und schon klopfte es behutsam an meiner Tür, er trat ein, eine Lampe in der Hand. Sein Gesicht war wie immer von leichenhafter Blässe – aber in seinen Augen war etwas wie die Heiterkeit eines Wahnsinnigen – in seinem ganzen Benehmen unterdrückte Hysterie. Sein Wesen erschreckte mich, aber alles war der Einsamkeit vorzuziehen, die ich so lange ertragen hatte, und so war mir seine Gegenwart eine willkommene Erleichterung.

»Und du hast es nicht gesehen?«, fragte er abrupt, nachdem er einige Augenblicke umhergeschaut hatte. »Du hast es also nicht gesehen? Warte, du sollst es sehen.« Während er sprach, verdunkelte er sorgfältig die Lampe, lief zu einem der Flügelfenster und öffnete es dem Sturm.

Die ungestüme Wut des hereinfahrenden Windstoßes hob uns fast vom Boden. Es war eine stürmische und doch schaurigschöne Nacht, einzigartig in ihrem Rasen und ihrer Schönheit. Ein Wirbelwind hatte offenbar seine Kraft in unserer Nähe versammelt, denn er sprang häufig und ungestüm in alle möglichen Richtungen um, aber die ausnehmende Dichte der Wolken (sie hingen so niedrig, dass sie auf die Türmchen des Hauses zu drücken schienen) hinderte uns nicht wahrzunehmen, dass sie wie lebendige Wesen von allen Seiten gegeneinander anstürmten, ohne sich in die Ferne zu verziehen. Ich sage, dass sogar ihre ausnehmende Dichte uns nicht hinderte, es wahrzunehmen – und doch war kein Schimmer des Monds oder der Sterne zu sehen – noch auch zuckte ein Blitzstrahl aus ihnen. Aber die unteren Flächen der riesigen Massen wildbewegten kondensierten Dunstes wie auch alle irdischen Dinge in unserer unmittelbaren Umgebung glühten im unnatürlichen Licht einer schwachleuchtenden und deutlich sichtbaren gasartigen Ausdünstung, die um das Haus hing und es einhüllte.

»Du darfst – du sollst das nicht sehen!«, sagte ich erschauernd zu Usher, während ich ihn mit sanfter Gewalt vom Fenster weg zu einem Sessel zog. »Diese Erscheinung, die dich beunruhigt, ist nichts als ein elektrisches Phänomen und nichts Ungewöhnliches. Es kann auch sein, dass die Ursache des geisterhaften Leuchtens in den widerlichen Miasmen des Teichs zu suchen ist. Schließen wir das Fenster – die Luft ist kühl und kann dir gefährlich werden. Hier ist eine deiner Lieblingsgeschichten. Ich lese vor, du hörst zu, und so werden wir diese schreckliche Nacht gemeinsam herumbringen.«

Der alte Band, den ich in die Hand genommen hatte, war Mad Trist von Sir Launcelot Canning63, aber ich hatte ihn mehr in traurigem Scherz als im Ernst als ein Lieblingsbuch Ushers bezeichnet, denn tatsächlich findet sich in dem Buch bei seiner unbeholfenen und phantasielosen Weitschweifigkeit kaum etwas, das für den hohen, vergeistigten Idealismus meines Freundes von Interesse hätte sein können. Es war aber das einzige greifbare Buch, und ich hegte die leise Hoffnung, dass sich die Erregung, die den Hypochonder beherrschte, vielleicht gerade durch die extreme Verrücktheit der Erzählung lösen könnte, die ich vorlesen wollte (in der Geschichte der Geisteskrankheiten gibt es eine Menge ähnlicher Anomalien). Hätte ich aus der angespannten, lebendigen Anteilnahme, wie er der Erzählung folgte oder doch zu folgen schien, tatsächlich einen Schluss ziehen wollen, hätte ich mir zum Erfolg meines Plans gratulieren können.

Ich war an der wohlbekannten Stelle der Geschichte angekommen, wo Ethelred, der Held von Trist, nachdem er vergebens auf friedliche Weise versucht hat, in die Klause des Eremiten eingelassen zu werden, sich daranmacht, sich gewaltsam Eintritt zu verschaffen. Hier, man wird sich erinnern, läuft die Erzählung so:

»Und Ethelred, der von Natur ein tapferes Herz hatte und nun obendrein von der Kraft des Weins, den er getrunken hatte, mächtig in Fahrt war, trödelte nicht langer herum, mit dem Eremiten zu verhandeln, der, um die Wahrheit zu sagen, ein widerspenstiger und böswilliger Mensch war. Da er den Regen bereits auf der Schulter spürte und das Aufziehen eines Gewitters befürchtete, holte er mit seiner Keule aus und schaffte sich schnell mit wuchtigen Schlägen in den Planken der Tür Platz für seine gepanzerte Faust, rüttelte kräftig daran und zerbrach und spaltete und riss das ganze Gefüge mit solcher Vehemenz auseinander, dass das Krachen des trockenen und hohl tönenden Holzes den ganzen Wald weckte und daraus widerhallte.«

Am Ende dieses Satzes fuhr ich zusammen und hielt einen Augenblick ein, denn es schien mir (ich sagte mir aber sogleich, dass meine aufgeregte Phantasie mich getäuscht haben musste), als klinge mir aus einem entfernten Teil des Hauses undeutlich in die Ohren, was in genauer Art und Entsprechung das Echo (allerdings ein gedämpftes, dumpfes) eben dieses splitternden und krachenden Holzes war, das Sir Launcelot so plastisch beschreibt. Es war zweifellos lediglich die Gleichzeitigkeit des Geräusches, die mich aufmerksam gemacht hatte, denn bei dem Klappern der Schiebefenster und dem Begleitlärm des noch zunehmenden Sturms hatte das Geräusch bestimmt nichts an sich, das mich hätte aufhorchen lassen oder beunruhigen können. Ich las also weiter:

»Als nun der wackere Kämpfer Ethelred durch die Tür trat, wurde er wütend und wunderte sich, keine Spur des bösartigen Eremiten vorzufinden. An dessen Statt hockte ein Drache von schuppenartigem, erschreckendem Aussehen mit feuriger Zunge als Wächter vor einem goldenen Palast mit silbernem Boden, und an der Wand hing ein Schild aus schimmernder Bronze mit der eingegrabenen Aufschrift:

Wer hier eintritt, ist gewesen ein Held.

Wer den Drachen schlägt, gewinnet den Schild.

Und Ethelred hob die Keule und schlug auf den Kopf des Drachen, der vor ihn hinstürzte und seinen letzten stinkenden Atem verhauchte, wobei er so grauenhaft grell und durchdringend brüllte, dass Ethelred die Ohren mit den Händen gegen das entsetzliche Geschrei verschließen musste, dessen Art noch nie war gehört worden.«

Hier stockte ich wieder, und diesmal in höchster Verblüffung – denn kein Zweifel, was ich in diesem Augenblick tatsächlich hörte (auch wenn ich unmöglich hätte sagen können, aus welcher Richtung es kam), war ein gedämpftes, offenbar fernes, aber scharfes, lang gezogenes, höchst ungewöhnliches kreischendes oder knirschendes Geräusch – das genaue Gegenstück zu dem, was ich mir in meiner Phantasie als das unnatürliche Gebrüll des Drachen vorgestellt hatte, das der Romanschreiber schildert.

Beklommen, wie ich natürlich über das Eintreten dieser zweiten und höchst ungewöhnlichen Gleichzeitigkeit war, und Beute vielfacher widersprüchlicher Gefühle, bei denen Verwunderung und Grauen vorherrschten, bewahrte ich trotzdem so viel Geistesgegenwart, nicht durch irgendeine Bemerkung die nervöse Sensibilität meines Gefährten zu erregen. Ich war keineswegs sicher, ob er die Geräusche wahrgenommen hatte; allerdings war während der verflossenen Minuten in seiner Haltung eine auffallende Änderung vor sich gegangen. War er mir bisher gegenübergesessen, so hatte er allmählich den Sessel so gedreht, dass sein Gesicht der Zimmertür zugekehrt war. Dadurch konnte ich es nur teilweise sehen, bemerkte aber doch, dass seine Lippen sich bewegten, als murmle er unhörbar irgendetwas. Sein Kopf war auf die Brust gesunken – aber ich wusste, dass er nicht in Schlaf gefallen war, weil ich von der Seite einen Blick auf sein Profil tun konnte: das Auge war weit aufgerissen. Auch die Bewegung seines Körpers passte nicht dazu – denn er wiegte ihn langsam, aber stetig und gleichmäßig hin und her. Nachdem ich mir in aller Eile dieses Bild gemacht hatte, nahm ich den Erzählfaden Sir Launcelots wieder auf, der weiter berichtet:

»Und da der Recke der schrecklichen Wut des Drachen entkommen war, besann er sich auf den ehernen Schild und des diesem innewohnenden, nunmehr gebrochenen Zaubers, räumte den Kadaver beiseite und näherte sich über den silbernen Boden hinweg tapfer der Stelle, wo der Schild an der Wand hing, der wahrhaftig nicht erst auf Ethelreds Kommen wartete, sondern mit lautem und schauerlich dröhnendem Getöse vor ihm auf den silbernen Boden fiel.«

Kaum hatte ich die letzten Silben ausgesprochen, drang mir ein deutlicher, hohler, metallisch klingender, aber offenbar gedämpfter Widerhall in die Ohren – als sei in eben diesem Augenblick ein eherner Schild schwer auf einen Silberboden geprallt. Gänzlich außer mir sprang ich auf, aber das regelmäßige Hin- und Herschwanken von Ushers Oberkörper dauerte an. Ich stürzte zu dem Sessel, in dem er saß. Seine Augen blickten gerade vor sich hin, sein Gesicht war zu steinerner Starre gefroren. Als ich ihm die Hand auf die Schulter legte, erschauerte er am ganzen Körper, ein gequältes Lächeln spielte um seine Lippen. Ich sah, dass er in rasender Eile leise und undeutlich vor sich hin sprach, als sei er sich meiner Gegenwart nicht bewusst. Ich beugte mich nah zu ihm hin und verstand entsetzt die grässliche Bedeutung seines Gemurmels.

»Ich es nicht hören? – O ja, ich höre es, ich habe es gehört. Lange – lange – lange – viele Minuten, viele Stunden, viele Tage habe ich es gehört und wagte doch nicht – bedauere mich, den elenden Wicht, der ich bin! – Ich wagte es nicht – ich wagte nicht zu sprechen. Wir haben sie lebendig in den Sarg gelegt! Sagte ich nicht, dass meine Sinne scharf sind? Jetzt sage ich dir, dass ich ihre ersten schwachen Bewegungen in dem hohlen Sarg gehört habe. Ja, gehört – vor vielen, vielen Tagen schon – und doch wagte ich es nicht – wagte nicht zu sprechen! Und jetzt – heute Nacht – Ethelred – haha! – das Krachen der Tür des Einsiedlers, und das Todesröcheln des Drachen, und der Klang des Schilds! – sag lieber das Knirschen des Sargdeckels, und das Kreischen der Eisenangeln ihres Gefängnisses, und ihr Kampf mit dem kupfernen Bogengang des Gewölbes! Wohin soll ich fliehen? Wird sie nicht jeden Augenblick hier sein? Kommt sie nicht, um mir Übereilung vorzuwerfen? Höre ich nicht ihren Schritt auf der Treppe? Kann ich nicht das schwere, furchtbare Schlagen ihres Herzens hören? WAHNSINNIGER!« Er sprang heftig auf und schrillte seine Worte heraus, als wolle er in diesem Ausbruch die Seele aufgeben. »WAHNSINNIGER! ICH SAGE DIR, SIE STEHT JETZT VOR DER TÜR!«

Als hätte die übermenschliche Kraft der geschrienen Worte die Macht eines Zaubers – so öffnete die Tür mit den hohen altertümlichen Füllungen, auf die Usher deutete, in diesem Augenblick langsam die schweren, ebenholzdunklen Kiefer. Es war vielleicht das Werk eines gewaltigen Windstoßes – aber da stand die schlanke, in Weiß gehüllte Gestalt Lady Madeline Ushers unter der Tür. Blutflecken waren auf dem Leichentuch und Spuren verzweifelter Anstrengungen auf dem abgezehrten Körper. Einen Augenblick verharrte sie zitternd und schwankend auf der Schwelle, dann stürzte sie mit einem leisen, schmerzlichen Stöhnen nach innen auf ihren Bruder, der während ihres schweren, endgültigen Todeskampfs leblos mir ihr zu Boden sank, Opfer des Entsetzlichen, das er vorausgefühlt hatte.

Gehetzt floh ich aus dem Zimmer und diesem Haus. Der Sturm tobte noch in voller Wut, als ich mich auf dem alten Weg wiederfand. Mit einmal flutete ein Schimmer darüber hin. Ich drehte mich um, um zu sehen, wovon der ungewöhnliche Schein ausgehen mochte, denn hinter mir waren nur das mächtige Haus und seine Schatten. Das Leuchten kam von einem Teil des untergehenden blutroten Vollmonds, der hell durch den einst kaum wahrnehmbaren, bereits erwähnten Riss schien, der vom Dach des Hauses im Zickzack zum Fundament gelaufen war. Während ich darauf starrte, erweiterte er sich rasch. Wieder ein heftiger Windstoß, und das ganze Rund des Satelliten stand vor meinen Augen. Mir schwindelte der Kopf, als ich sah, dass die mächtigen Mauern auseinanderbarsten. Ein langes, lautes Getöse wie das Brausen von tausend Wasserfällen, und der tiefe dunkle Teich schloss sich düster über den Trümmern des HAUSES USHER.

1839 Übersetzung von Otto Weith

Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen

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