Читать книгу Sally - Magierin wider Willen - Edgar Sigmanek - Страница 5

In der Höhle

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Plötzlich hatte Sally eine Idee. “Ich werde den Kristall benutzen”, sagte sie und holte ihn hervor. “Bitte sei vorsichtig”, erinnerte Ziofotta.

“Mach dir keine Sorgen, ich habe lange geübt und weiß, wann ich mich wieder lösen muss.”

Mit diesen Worten schloss sie ihre Hand um den Kristall und konzentrierte sich auf seine Kraft. Sie schloss die Augen und der Kristall begann zu pulsieren. Dann befand sich ihr geistiges Auge wieder über der kleinen Gruppe. Sie konzentrierte sich darauf, zwischen den Spalt in die Höhle einzudringen. Sally erwartete Dunkelheit, aber die sie umgebende Aura erleuchtete die nähere Umgebung. In der Höhle war es still, nur hier und da bemerkte sie das Krabbeln kleiner Käfer. Sonst konnte sie nichts weiter feststellen. Es schien keine Gefahr von ihr auszugehen. Sally kehrte in Gedanken zurück und öffnete ihre Augen.

“Es ist alles in Ordnung, dort drinnen sind nur ein paar Käfer, sonst nichts. Wir sollten aber ein bisschen Holz sammeln, damit wir drinnen ein Feuer machen können. Es dürfte sonst ziemlich dunkel werden.”

Schnell waren ein paar Äste gesammelt, dann gingen sie gemeinsam in die Höhle. Jetzt, wo sie nicht als Geist unterwegs war, umgab sie nicht mehr die leuchtende Aura und es war stockdunkel in der Höhle. Sally kramte die Holzstäbe der Feuerpflanze hervor und begann die Stäbe aneinander zu reiben. Sofort leuchteten sie hellrot auf und verströmten Wärme. Sally hielt sie zwischen die Äste, die schnell Feuer fingen und die Höhle flackernd erhellten. Die Schatten, die ihre Körper an die Wände warfen, riefen unangenehme Erinnerungen in ihr wach.

“Lass deine Gedanken nicht abgleiten, sonst nehmen die Schatten Gestalt an und erlangen Macht über dich”, warnte Schnurz. “Du musst dagegen ankämpfen, dann verschwinden sie auch wieder.”

Aufgerüttelt durch die Warnung von Schnurz versuchte Sally an etwas anderes zu denken. Sie stellte sich vor, über eine Wiese bei hellem Sonnenschein zu gehen. Und wirklich verblassten sie langsam und übrig blieben die normalen Schatten ihrer Körper.

“Du hast wirklich Talent”, bemerkte Schnurz. “Willst du immer noch behaupten, dass du keine große Magierin bist? Bisher hat es noch niemand so schnell geschafft, den Schatten zu trotzen.”

“Ich weiß selber nicht, was mit mir los ist”, antwortete Sally. “Ich denke einfach an etwas und plötzlich wird es Wirklichkeit. So etwas habe ich bisher noch nicht erlebt.”

Als sie sich in der nun schon etwas heller erleuchteten Höhle umsahen, entdeckten sie eine kleine Nische, in die sie sich zurückzogen. Von dort hatten sie den Eingang gut im Blickfeld und das Feuer strahlte auch hier noch eine wohlige Wärme aus. Dann holte Sally das Essen hervor. Als sie die Schachtel öffnete, roch es in der ganzen Höhle nach Salami und frischem Brot. Sie breitete ihr Tuch aus und zerbröselte etwas Brot für Schurz. Dann schnitt sie noch etwas von der Salami ab und legte es dazu. Schnurz musste sehr hungrig sein, denn sofort stopfte er sich den Mund voll mit dem köstlichen Brot, so dass er wie ein kleiner Hamster aussah und man seine kleinen Wangenknochen beim kauen sehen konnte. Die Salami rührte er erst nicht an, sondern schnupperte neugierig daran.

“Greif ruhig zu, oder denkst du vielleicht, ich will dich vergiften?”, fragte Sally mit leichtem Spott in der Stimme.

Schnurz wollte sich keine Blöße geben und antwortete: “Ich genieße nur das Aroma dieser Köstlichkeit, bevor sie in den Tiefen meines Magens verschwindet.” Sally musste laut loslachen und als Ziofotta in das Gelächter einstimmte konnte auch Schnurz nicht mehr an sich halten. Er prustete laut los und hätte sich fast noch an den Brotkrumen verschluckt, die er noch im Maul hatte.

Es war ein befreiendes Lachen nach all den Strapazen, das ihnen neue Kraft gab und ihre Zuversicht stärkte. Schließlich aßen sie mit großem Appetit weiter, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob in ihrer Nähe irgendwelche Gefahren lauern könnten.

Als sie schließlich zu Ende gegessen hatten, wollte Sally auf altbekannte Weise die Reste des Essens entsorgen und sah sich hilflos um.

“Am besten, du schüttest die Krümel in das Feuer, dort werden sie verbrennen. Ich möchte nicht in der Höhle sein, wenn die Kungus kommen, um ihre Arbeit zu verrichten. In dieser Enge könnten sie uns aus Versehen für Abfall halten. Unsere Reise hätte dann ein vorzeitiges Ende”, sagte Schnurz und man merkte es ihm an, dass er es Ernst meinte.

Sally schüttete gehorsam den Rest ihrer Mahlzeit ins Feuer, wo es knisternd in Flammen aufging. Dann gesellte sie sich zurück zu ihren Kameraden.

“Wisst ihr, was ich komisch finde?”, fragte Sally. “Die Höhle ist recht überschaubar und wir haben keinen weiteren Weg gefunden. Normalerweise müssten wir schon längst durch den Rauch unseres Feuers erstickt sein. Oder habt ihr eine Öffnung in der Decke entdeckt?”

“Ja, wirklich, jetzt wo du es sagst, das hätte mir auch schon auffallen müssen. Wir sollten versuchen herauszufinden, wo der Rauch bleibt, damit wir über Nacht keine unangenehme Überraschung erleben”, antwortete Schnurz und trippelte los, den Kopf schräg nach oben gerichtet, um herauszufinden, wohin der Rauch abzog.

Die Decke der Höhle war ziemlich hoch, doch sie entdeckten wenige Meter über sich den Rauch des Feuers wie Nebelschwaden. Erst bei genauerem hinsehen konnte man eine gewisse Richtung in den Bewegungen des Rauches erkennen. Mit erhobenem Kopf liefen auch Sally und Ziofotta los, um zu erkunden, wo er blieb.

“Passt bloß auf, dass ihr nicht aus Versehen auf mich tretet”, rief Schnurz den Beiden zu. Berechtigterweise, denn Sally hatte gerade ihren Fuß nur wenige Zentimeter neben ihm abgesetzt.

“Entschuldige bitte”, sagte sie mit betretenem Gesicht. Dann teilte sich der Rauch an der Decke und strömte in zwei Richtungen. Sally wandte sich nach rechts und Ziofotta nach links. Er strebte jetzt dicht unter der Decke der Wand zu und verschwand durch einen engen Schlitz.

Da war also des Rätsels Lösung dachte Sally. Hier schien es eine Verbindung nach oben zu geben, durch die der Rauch entweichen konnte. Sally rollte einen nahe gelegenen Stein an die Wand und kletterte darauf um mit ihrer Hand die Stärke des Luftzuges zu testen. Sie streckte ihre Hand aus und schob sie in den Spalt hinein. Es war ein ziemlich starker Luftzug, sonst wäre es wohl auch kaum möglich gewesen, dass der durch das Feuer entstehende Rauch komplett durch diesen engen Spalt entweichen konnte. Als Sally ihre Hand wieder zurückziehen wollte, musste sie gegen einen immer größer werdenden Widerstand ankämpfen. So leicht sie auch ihre Hand hineinstecken konnte, umso schwerer fiel es ihr, sie wieder heraus zu ziehen. Je mehr sie sich anstrengte, ihre Hand freizubekommen, umso mehr verstärkte sich der Widerstand und hielt ihre Hand im Spalt. Schweißperlen bildeten sich auf Sallys Stirn.

“Ziofotta, schnell, hilf mir! Ich bekomme meine Hand nicht mehr frei”, rief Sally zurück in die Höhle.

Erschrocken kam Ziofotta und wenige Augenblicke später auch Schurz angelaufen, um schreckensbleich stehen zu bleiben.

“Was hast du getan???” Schnurz seine Stimme überschlug sich fast. “Wie konntest du nur deine Hand in die Unterwelt ausstrecken. Wie sollen wir dir nur helfen?”, jammerte Schnurz. “Man kann dich aber auch keine Sekunde aus den Augen lassen!”, schimpfte er, nachdem er seine Fassung allmählich wieder gewonnen hatte.

“Also gut, bleib ganz ruhig und kämpfe nicht dagegen an”, riet er. “Umso mehr du dagegen ankämpfst, umso stärker wird die Kraft, die an dir zerrt, bis sie dich schließlich auf die andere Seite zieht. Mit Gewalt kommen wir nicht weiter.” “Aber so macht doch was!”, rief Sally völlig hilflos. Es ist so kalt, ich spüre schon kaum noch meine Finger. Wie ist das nur möglich, hier in der Höhle ist es doch gar nicht so kalt.”

“Das ist der Atem des Herrschers über die Unterwelt. Wen er einmal in seinen Fängen hat, lässt er so schnell nicht wieder los”, erwiderte Schnurz nachdenklich.

Mittlerweile war Sallys Hand schon bis zum Ellenbogen in dem Spalt verschwunden. Die Kälte breitete sich immer weiter aus. Schon spürte sie ihre ganze Hand nicht mehr.

“So beeilt euch doch, ich halte das nicht mehr länger aus!”, rief Sally verzweifelt. Ziofotta griff nach Sallys freier Hand und begann daran zu ziehen und zu zerren.

“Wir müssen sie zurückziehen”, presste sie zwischen den Zähnen hervor, machte damit aber alles nur noch schlimmer. Der Zug verstärkte sich um einiges und zog Sally noch dichter an die Wand heran.

“Nicht!”, rief Schnurz und begann an Ziofottas Hosenbein zu zerren.

Ziofotta aber hörte nicht auf Schnurz. “Wir müssen etwas tun, siehst du denn nicht, dass sie immer weiter hineingezogen wird?”

Sally war nun schon bis zum Oberarm im Spalt verschwunden. Nicht mehr lange und ihre Schulter würde an die Wand gepresst werden. Mit Grauen stellte sie sich vor, wie ihr Schultergelenk langsam gestreckt werden würde, wie ihre Bänder mit einem lauten Knall und ihre Sehnen und Nervenstränge mit einem großen Schmerz reißen würden. Wahrscheinlich würde sie in diesem Moment ohnmächtig werden, aber es würde der Moment kommen, wo sie wieder aufwachen und den Schmerz mit aller Kraft spüren würde und der Schock, wenn sie nach ihrem Arm sah und nur zerfetzte Fleischfetzen sehen würde.

Die Gedanken schienen auch dieses Mal in die Wirklichkeit umgesetzt zu werden, denn mit einem Ruck wurde sie bis zur Schulter an den Fels gezogen. Der Schmerz begann, es knackte schon leicht im Gelenk.

Tastend griff sie in ihre Tasche und holte den Kristall hervor. Sally war eine Idee gekommen. Sie umklammerte den Stein und schloss die Augen. Das Glimmen wurde zu einem Pulsieren und schließlich zu einem hellen Leuchten. Der Schmerz in der Schulter war mittlerweile unerträglich geworden, aber Sally unterdrückte ihn. Mit größter Konzentration lenkte sie all ihre Gedanken auf den Kristall, auf seine Schönheit und Reinheit und auf sein Feuer, das in ihm wohnte.

Er war mittlerweile gleißend hell geworden. In Gedanken zwang sie das Licht, sich millionenfach an den Seiten des Kristalls zu spiegeln, ohne ihn zu verlassen. Er wurde daraufhin immer dunkler, bis er nur noch glomm. Dann, mit letzter Willensanstrengung, ließ sie das Licht mit all seiner gebündelten Energie durch die dem Fels zugewandten Seite entweichen und richtete es damit genau gegen den Fels, der sie gefangen hielt. Die so angestaute Energie entwich wie ein Kugelblitz und traf mit aller Wucht auf den Fels.

Mit schmerzverzerrten Gesichtern schlossen Ziofotta und Schnurz die Augen und wandten sich von der Wand ab. Sally, die die Augen noch immer geschlossen hielt, konnte förmlich die Kraft spüren, mit der die Kristallenergie auf den Fels traf. Mit einem lauten Knall zerbarst die Wand, an der Sally stand und fiel in sich zusammen.

Durch das Wegfallen des Zuges stürzte Sally nach hinten, was ihr Glück war, denn sonst wäre sie von den Steinen wahrscheinlich erschlagen worden. Vor lauter Staub konnte man kaum was erkennen. Ein Erdstoß erschütterte die Höhle und vom Eingang her war ein Grollen zu hören.

“Oh nein!”, rief Schnurz. “Der Eingang! Schnell, sonst sind wir hier gefangen.” Aber es war bereits zu spät. Dort, wo vor wenigen Minuten noch der Eingang war, versperrte ihnen nun eine meterdicke Steinschicht den Weg nach außen. “Das war’s dann ja wohl.” Seufzend ließ Schnurz den Kopf hängen. “Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Rest meines Lebens in einer kleinen Steinhöhle verbringen würde.”

Sally, die noch ganz benommen war, kam erst ganz langsam wieder zu sich. Ängstlich tastete sie nach der Hand, die in dem Spalt gesteckt hatte. Sie traute sich gar nicht, die Augen zu öffnen. Zu grausam kam ihr der Anblick einer zerfetzten Schulter vor. Dann spürte sie einen Widerstand und erkannte darin ihren Arm. Aber sie hatte kein Gefühl in ihm. Sally spürte in ihm nichts als Kälte. Schon dachte sie, den ‚abgerissenen’ Arm ertastet zu haben und öffnete nun doch die Augen, um sich vom Schlimmsten zu überzeugen. Zunächst konnte sie nichts sehen, da einem der Staub die Sicht nahm, aber dann erkannte sie den Umriss ihres Armes. Erleichtert atmete sie auf, ihr war nichts geschehen. Dann kam ihr aber voll zu Bewusstsein, dass sie kein Gefühl mehr im Arm hatte. Leblos hing er an ihrer Seite herunter. Erst jetzt sah sie den jammernden Schnurz und realisierte erst ganz langsam, dass sie in der Höhle gefangen waren.

Hilflos sah sie sich nach Ziofotta um und entdeckte sie leblos auf der anderen Seite der Höhle. Sally stand auf und ging zu ihr hinüber.

“Ziofotta! Wach auf, bitte! Es ist vorbei!”

Doch sie rührte sich nicht. Sally begann nun etwas energischer zu schütteln. “So wach doch auf!”, rief sie. “Du kannst uns doch nicht alleine hier zurücklassen! Wir brauchen dich doch”.

Dann vernahm sie ein leises Stöhnen. Ziofotta kam zu sich.

“Was ist passiert? Was war das. Warum ?”

Verwirrt blickte sie sich um.

“Gott sei Dank du bist am Leben!”, rief sie plötzlich aus und fiel Sally um den Hals. Sie wollte die Umarmung erwidern, konnte aber nur einen Arm bewegen. Ziofotta bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte und blickte auf den leblos da hängenden Arm.

“Hast du Schmerzen?”, fragte sie und tastete vorsichtig nach ihm.

“Das nicht, aber ich spüre nichts als Kälte in meinem Arm und kann ihn auch nicht mehr bewegen. Er fühlt sich an, wie ein Fremdkörper. Es ist ein Gefühl, wie wenn der Arm eingeschlafen ist, wenn du während des Schlafes lange Zeit auf ihm gelegen hast, nur schlimmer, denn die Kälte in ihm scheint sich immer mehr in meinem Körper auszubreiten.”

Ein eisiger Schauer lief Sally bei diesen Worten über den Rücken.

“Das muss noch immer der Atem des Herrschers der Unterwelt sein. Wir müssen schnell etwas unternehmen, bevor er ganz von dir Besitz ergreift.” Ziofotta blickte bei diesen Worten besorgt drein und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass es nicht gerade gut um Sally stand. Nun kam auch Schnurz angelaufen.

“Ziofotta hat recht”, sagte er mit trauriger Stimme. “Wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, wird dass Böse Besitz von dir ergreifen und du wirst für immer verloren sein.”

Sally hörte zwar die Worte, aber wollte die Bedeutung dessen einfach nicht wahrhaben. Gerade noch war sie nur knapp dem Tode entronnen, um nun festzustellen, dass sie einem viel schlimmeren Ende entgegen ging.

“Aber es muss doch ein Gegenmittel geben!”

Ein Kloß schnürte ihr den Hals zu und sie konnte nur noch mühsam die Tränen unterdrücken.

“Es gibt ein Gegenmittel, aber es ist bisher noch keinem Sterblichen geglückt, es von den Bergtryaden zu bekommen.”

Die letzten Worte hatte Schnurz nur noch geflüstert, so als erwarte er jeden Moment von einer unsichtbaren Hand ergriffen zu werden.

“Aber dann müssen wir sofort versuchen, diese Tyraden zu finden!”

Sally wollte schon voller Ungeduld losrennen, wurde aber gerade noch von Ziofotta zurückgehalten.

“Sie heißen Tryaden und du kannst nicht einfach losstürmen, um sie zu suchen. Wer sie sucht, hat sie noch nie gefunden, aber der, der sie fürchtet, wird von ihnen gefunden. Außerdem hast du Schnurz scheinbar nicht richtig zugehört. Es hat noch nie jemanden gegeben, der etwas von den Bergtryaden bekommen hat. Wer ihnen begegnet ist, ist nie wieder zurückgekommen.”

“Aber ich habe doch gar keine andere Wahl!”

Sally war nun wirklich den Tränen nahe. “Ihr habt doch selbst gesagt, dass sie meine einzige Hoffnung sind. Ihr könnt ja hier bleiben, ich jedoch werde versuchen, die Bergtryaden zu finden.”

Mit diesen Worten drehte sie sich um und stürmte los in die Dunkelheit. Schnurz und Ziofotta wollten noch etwas erwidern, aber schon war sie verschwunden.

Sally hatte rein instinktiv gehandelt. Sie konnte sich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, dem Bösen zu verfallen. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander und als sie schließlich stehen blieb und sich umsah, hatte sie sich schon weit von ihren Freunden entfernt. Ein mattes Dämmerlicht umgab Sally, dessen Herkunft unerklärlich war und es herrschte eine unheimliche Stille. Sie konnte förmlich ihr Herz schlagen hören. So sehr sich Sally auch anstrengte, vernahm sie kein anderes Geräusch, als ihren eigenen Atem. Panik machte sich in ihr breit. Urplötzlich wurde ihr bewusst, dass sie alleine war.

“Schnurz! Ziofotta!”

Dumpf hallte ihr Ruf durch den Gang, durch den sie gelaufen war, doch es kam keine Antwort. Es war, als ob jeder Laut von etwas unsichtbarem verschluckt wurde. Sally rief noch einmal, bekam aber auch jetzt keine Antwort. Zögernd ging sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Sich selbst zur Ruhe zwingend versuchte sie sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, ob sie auf ihrem Weg an irgendwelchen Abzweigen vorbei gekommen war, konnte sich aber an keinen erinnern. Dann beschleunigte sie ihre Schritte. Als sie um die nächste Ecke bog, blieb sie abrupt stehen. Der Gang teilte sich hier in drei Richtungen. Alle sahen sie gleich aus. Kalter Schweiß stieg ihr auf die Stirn. “Das kann doch nicht sein!”

Sally überlegte einen kurzen Moment und trat dann in den mittleren Gang hinein, drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der sie gekommen war. Das Dämmerlicht machte es allerdings unmöglich, Einzelheiten zu erkennen. Von hier aus schien der vor ihr liegende Gang in gerader Linie weiterzugehen. Sie machte den gleichen Test mit dem zweiten und dritten Gang, immer mit dem gleichen Ergebnis. Es war ihr unmöglich, den Gang zu bestimmen, aus dem sie ursprünglich gekommen war. Niedergeschlagen kniete sie sich nieder, um sich auszuruhen und eine Entscheidung zu treffen. Vielleicht war es ja einfach besser, hier zu warten, bis Schnurz und Ziofotta kamen, um sie zu suchen. Aber was, wenn es noch mehr solcher Abzweige schon viel früher gab? Wie sollten sie sie dann finden? Auf einmal hörte sie Stimmen, ganz leise nur und in scheinbar weiter Entfernung, aber sie waren da. Ihr erster Impuls war aufzustehen und laut zu rufen, doch dann bemerkte sie, wie die Stimmen lauter wurden und es nicht nur zwei sondern noch mehr waren. Die Stimmen kamen aus der Richtung, aus der sie gerade gekommen war. Es konnten also gar nicht Schnurz und Ziofotta sein. Waren das etwa schon die Bergtryaden?

Sie sprang auf, um in die Richtung zu stürmen, aus der die Stimmen kamen, besann sich aber dann doch noch eines besseren. Was, wenn es stimmte, was ihr Schnurz und Ziofotta über die Bergtryaden erzählt hatten? Sie sollte erst einmal versuchen, etwas über die herannahenden Personen herauszufinden. Ihre Finger tasteten nach dem Kristall, um sich mit seiner Hilfe den Bergtryaden körperlos zu nähern. Er fühlte sich warm an und ein schwaches Licht pulsierte tief in seinem Innern. Sally schloss ihre Augen und begann sich darauf zu konzentrieren, ihren Körper zu verlassen, um mit ihrem Geist den Herannahenden entgegen zu gehen. Der Kristall wurde immer wärmer in ihrer Hand und begann zu pulsieren. Ruhe breitete sich in Sally aus. Sie versuchte, wie schon die Male zuvor, ihren Geist vom Körper zu trennen, aber es gelang ihr nicht. Stattdessen vernahm sie die Stimmen jetzt deutlich in ihrem Kopf. Es schienen drei weibliche Personen zu sein, die sich zwanglos unterhielten.

“ versucht, dieses Mädchen zu sich zu ziehen, um Besitz von ihr zu ergreifen. Allerdings scheint er langsam alt zu werden, denn plötzlich stürzte die Wand ein und hätte das Mädchen fast erschlagen. Dabei schien sich seine Energie gegen ihn selbst gerichtet zu haben, denn urplötzlich war er verschwunden.”

“Wir sollten versuchen, das Mädchen zu finden. Sie könnte für etwas Abwechslung sorgen. Schon lange hat uns niemand mehr besucht.”

Eigentlich sollte Sally zu Tode erschrocken sein sollen, aber sie fühlte nichts als Neugier.

“Wenn ihr so gut Bescheid über alles wisst, könnt ihr mir ja vielleicht auch helfen, den Fluch des Bösen von mir zu nehmen!”

Sally war über ihre eigenen Worte erschrocken. Sie hatte in Gedanken zu den Bergtryaden gesprochen und augenscheinlich hatten diese sie auch verstanden, denn es wurde plötzlich wieder ganz still.

“Wer bist du?”, hörte sie eine der Drei fragen.

“Das gleiche könnte ich euch fragen!”

Ihre Worte klangen hart und herausfordernd. Sally wunderte sich über sich selbst.

“Wir sind die Wächter zum Reich der Bergtryaden und wachen darüber, dass niemand unbefugt unser Reich betritt.”

“Und ich bin Sally, die Magierin aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, auf dem Weg, die böse Saldera zu bezwingen.”

“Dann warst du es, die den Herrscher über die Unterwelt in seine Schranken verwiesen hat?!”

Sally konnte das Staunen aus den Worten heraushören.

“Natürlich war ich es!”, antwortete sie, ihre kleine Chance erkennend. “Ich habe mich auf den Weg gemacht, euch um einen kleinen Gefallen zu bitten. Wie ihr wisst, hinterlässt der Herrscher der Unterwelt seine Spuren an jedem, den er jemals berührt hat. Ich konnte ihn zwar zurückweisen, aber trotzdem hat er es geschafft, ein Teil des Bösen auf mich zu übertragen. Ich möchte euch bitten, mich von diesem Übel zu befreien, damit ich meine Aufgabe vollenden kann.”

Es herrschte kurzzeitig Stille. Dann antworteten die Bergtryaden:

”Das können wir nicht selbst entscheiden. Wie du sicherlich weißt, ist es noch niemandem gelungen, der jemals in unserem Reich war, es wieder lebend zu verlassen.”

Enttäuschung machte sich in Sally breit.

“Es ist aber bisher auch noch nie eine Magierin in unser Reich gekommen. Wir werden dich mitnehmen, damit du dein Anliegen unserer Königin vortragen kannst. Sie wird dann entscheiden, ob sie dir helfen wird.”

Ein schwacher Hoffnungsschimmer keimte in Sally auf. Vielleicht hatte sie ja doch noch eine Chance. Sie öffnete die Augen und hätte fast vor Schreck aufgeschrieen, als sie direkt vor sich die drei Bergtryaden sah.

Sie blickte in gütige weiße Gesichter mit blonden Haaren. Die schlanken Gestalten waren in weiße Gewänder gekleidet, die wie alles hier, ein mattes Leuchten ausstrahlten.

“Folge uns!”

Sally hörte zwar die Stimme in ihrem Innern, konnte jedoch nicht ausmachen, welche der drei Gestalten zu ihr sprach. Als sie sich umwandten und losgingen, folgte Sally ihnen gehorsam.

Sie gingen in die Richtung, aus der Sally gerade gekommen war, zweigten dann jedoch mehrfach scheinbar wahllos nach links oder rechts ab und kamen an eine Wendeltreppe, die in die Tiefe führte. Die Stufen waren aus dem Fels gemeißelt, aber so gleichmäßig, dass es ihr leicht fiel, auf ihnen den Bergtryaden zu folgen. Längst schon hatte sie es aufgegeben, die Stufen zu zählen. Sie mussten sich schon weit unter der Erde befinden.

Dann hörte sie ein Wimmern und Schreien, allerdings aus scheinbar weiter Ferne. Je tiefer sie jedoch die Treppe hinab stiegen, um so lauter wurden die Stimmen. Als sie an einer Öffnung vorbei kamen, bemerkte Sally dahinter ein rotes Flackern. Sally blieb stehen und näherte sich der Öffnung. Sie erblickte eine große Höhle, in der zahllose Feuer brannten. Als Sally näher hinsah, bemerkte sie Gestalten, die über den Feuern angekettet waren. Ihr Herz schien stehen zu bleiben. Sie konnte quasi spüren, wie die “Menschen?” dort große Qualen litten. Eine große Wut machte sich in ihr breit. Automatisch ging ihre Hand zum Kristall und umschloss ihn. Er begann zu glühen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, wie schon an der Wand, welche die Höhle von dieser Welt trennte. Doch plötzlich hörte sie die Bergtryaden.

“Tu es nicht, wir würden alle vernichtet werden!”

Erschrocken lockerte sie den Griff um den Kristall und wandte ihren Blick ab von diesem grauenvollen Bild. Die Bergtryaden waren stehen geblieben und starrten Sally aus großen Augen an.

“Du bist ihm einmal entkommen, ein zweites Mal wird es aber nicht geben.” Sie hörte die Worte wie in Trance und drehte sich wieder zu der Öffnung um, konnte aber nur noch die kahle, matt schimmernde Wand entdecken.

Verstört fragte sie die Bergtryaden:

”Was war das? Da war doch gerade noch eine Öffnung, und diese grauenvollen Feuer, und die angeketteten Menschen ”

“Du hast durch deine Anwesenheit für kurze Zeit ein Fenster zum Reich der Unterwelt geöffnet. Wenn der Herrscher über die Unterwelt dies mitbekommt, bist du in großer Gefahr. Es ist bisher noch niemandem gelungen, ihm zu entrinnen, geschweige denn, in sein Reich einzudringen ohne dass er es wollte.”

“Dann lasst uns so schnell wie möglich zu eurer Königin gehen, damit ich diesen Ort wieder verlassen kann!” sagte Sally mit gesenkter Stimme. Jeden Moment glaubte sie, ein Ungeheuer um die Ecke biegen zu sehen, dass sie mit riesigen Klauen greifen und fortschleppen würde.

Vorsichtig machten sie sich dann auch wieder auf den Weg. Schließlich erreichten sie das Ende der Treppe, das in einen langen matt schimmernden Gang endete. In weiter Ferne glaubte sie Stimmen zu hören, Stimmen, die sich langsam zu einem Gesang vereinten. Als sie schließlich um eine Ecke bogen, lag die Höhle der Bergtryaden vor ihnen. Staunend riss Sally ihren Mund auf. “Das also ist euer Reich!”

Von allen Seiten schimmerte es bunt, riesige Stalaktiten hingen von der Decke herab und berührten den Boden. Bei näherem Hinsehen bemerkte Sally, dass in die Stalaktiten eine Treppe eingearbeitet war, die in luftiger Höhe auf einem Podest endete. Sie erkannte jetzt auch eine Tür und Fenster, aus denen einige neugierige Bergtryaden heraus schauten. Da sie sich weit oberhalb des Bodens der Höhle befanden, konnte Sally sie fast ganz überblicken. Gebannt schaute sie dem Treiben dort unten zu und bemerkte dabei nicht, wie sich ihr eine riesige Fledermaus näherte. Wären nicht ihre beiden Begleiterinnen gewesen, die dem Angreifer Einhalt geboten, es wäre um Sally geschehen gewesen. Erschrocken taumelte sie zurück.

“Du scheinst nicht gerade an deinem Leben zu hängen”, sagte eine der Bergtryaden, “Warum sonst stellst du dich als lebendes Futter für unsere Wächter zur Verfügung.”

Sally hatte sich noch immer nicht wieder ganz in der Gewalt, sah aber jetzt, dass der Wächter immer noch in einiger Entfernung von ihnen kreiste und sie genau beobachtete. Es war eine ca. zwei Meter große Fledermaus, die behäbig mit den Flügeln schlug. Sally konnte deren Schlag bereits hören. In einiger Entfernung, in Nähe der Decke sah sie nun auch weitere dieser Wächter kreisen, wahrscheinlich weitere Zugänge bewachend.

“Entschuldigt bitte, aber ich habe mich in eurer Obhut einfach sicher gefühlt”, brachte Sally mit leicht zitternder Stimme hervor.

“Nein, wir müssen uns entschuldigen, wir hätten dich warnen müssen. Aber es kommt auch nicht alle Tage vor, dass wir Besuch bekommen. Aber nun lasst uns hinuntergehen, unsere Königin erwartet uns bereits.”

Sally ersparte es sich zu fragen, woher man von ihrer Ankunft wusste, sie hatte schon so viel Merkwürdiges erlebt, dass sie dies schon als normal ansah.

Langsam stiegen sie die Stufen hinab. Links und rechts der Treppe kamen Sally die kuriosesten Dinge zu Gesicht. Da tummelten sich maulwurfsgroße Geschöpfe auf einem abgesteckten Teil des Bodens und waren unablässig damit beschäftigt, die Erde aufzuwühlen und hinter sich zu schmeißen. Auf einem anderen Teil wuchsen die sonderbarsten Pflanzen, mit grün leuchtenden Blättern und tomatenförmigem Stiel. Dazwischen schlängelte sich ein kleines Rinnsaal, welches scheinbar dazu diente, die Pflanzen ständig mit Wasser zu versorgen. Auf einem anderen abgesteckten Teil waren ein paar Bergtryaden damit beschäftigt, die Früchte anzuschneiden, um den austretenden Saft mit einem kleinen Gefäß aufzufangen. Wo immer man aber auch vorbeikam, überall begegnete man ihnen freundlich.

Schließlich erreichten sie den Boden der Höhle und begaben sich auf direktem Wege, vorbei an Stalagmiten, zur Mitte der Ansiedlung, wo sich der größte von ihnen erhob. Je näher sie ihm kamen, umso mehr Einzelheiten konnte Sally nun auch an ihm ausmachen. Es war ein wunderschönes Exemplar, in allen Farben des Regenbogens leuchtend und mit unzähligen Mustern und Bildern verziert.

Es waren aber nicht einfach nur Bilder, diese Bilder schienen eine Geschichte zu erzählen. Wenn man sie ansah, schien man in eine andere Welt abzutauchen, selbst zu erleben, was sie einem erzählen wollten. Schließlich erreichten sie die Tür, an der sie schon von einer weiteren Bergtryade erwartet wurden.

“Wo bleibt ihr denn nur? Unsere Königin wartet schon ganz ungeduldig auf euren Bericht!”

Sie ergriff Sallys Hand und zerrte sie hinter sich in den Stalagmiten. Ganz überrascht ließ sie sich mitziehen, blickte sich aber hilfesuchend zu ihren zwei Begleiterinnen um, die nun in geringem Abstand folgten. Als sich Sally wieder umdrehte, blieb sie vor Staunen so plötzlich stehen, dass ihre Hand der Führerin entglitt und diese ins Stolpern geriet.

An den Wänden rings um waren in leuchtenden Farben die verschiedensten Geschichten dargestellt. Da fand sie die großen Fledermäuse in Luftkämpfe mit anderen kleineren Kreaturen verstrickt, Bergtryaden, die mit Lanzen auf gehörnte Ungeheuer losgingen, aber auch die kleinen maulwurfsähnlichen Tiere, wie sie auf den Feldern rumwuselten und das Unterste zu Oberst umkehrten.

Je länger sie ein Bild anschaute, umso mehr Details konnte sie darin erkennen. Schließlich wurde sie aus ihren Betrachtungen durch eine helle wohlklingende Stimme gerissen.

“Wenn du dort noch lange stehen bleibst, wirst du eines der nächsten Wandbilder werden, dann kann selbst ich dich nicht mehr vom Fluch des Herrschers der Unterwelt befreien.”

Erschrocken drehte sich Sally um und blickte direkt in die Augen der Königin der Bergtryaden.

“Oh, Entschuldigung ich meine, Eure Majestät ich ähm ”

“Es ist ja noch schlimmer, als man mir berichtet hat”, sagte die Königin. “Man hat mich ja schon vorgewarnt, dass du ein wenig stotterst, aber das übertrifft dann doch meine Erwartungen.”

Zorn über sich selbst stieg in Sally hoch und trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht, aber sie konnte sich gerade noch einmal bremsen, nicht sofort wieder unüberlegt loszustottern.

“Ihr wisst bereits, was passiert ist?”, fragte nun Sally ihrerseits und versuchte eine Verbeugung, die etwas unbeholfen aussah.

“Oh, bitte nicht solche Förmlichkeiten, ich bin Belonia. Die Elfen haben mir von dir berichtet und von dem, was du vorhast. Aber wie konntest du nur so vom Weg abkommen. Man sagte mir, dass du auf direktem Weg zu Saldera seist, um gegen sie zu kämpfen, stattdessen aber legst du dich mit dem Herrscher der Unterwelt an.”

“Es stimmt, wir waren auf direktem Weg zu Saldera und suchten Unterschlupf in einer Höhle, um die Nacht dort zu verbringen. Leider hat uns meine Neugierde dann in diese schlimme Lage gebracht.”

Stück für Stück erzählte Sally nun was ihr und ihren Kameraden widerfahren war. Alle hörten gebannt zu und unterbrachen sie nicht ein einziges Mal. Dann, als sie geendet hatte, erhob sich Belonia und wandte sich an ihre Begleiterinnen.

“Schnell, sucht die Gefährten von Sally, damit ihnen nichts geschieht und bringt sie unversehrt hierher, ich werde mich in der Zwischenzeit um Sally kümmern und versuchen, sie von diesem Bann zu befreien.”

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehten sich ihre Begleiterinnen um und verließen den Stalagmitenpalast, um Schnurz und Ziofotta zu suchen.

Dann wandte sie sich zu Sally um und sagte:

“Komm Sally, folge mir. Wir haben nicht sehr viel Zeit, um dich von diesem Bann zu befreien. Ich hoffe, dass es noch nicht zu spät ist.”

Sie verschwand nebenan und Sally folgte ihr gehorsam. Sie fand sich in einem Raum wieder, der schlicht eingerichtet war. Keine Verzierungen an der Wand, keine Bilder, Tische oder Stühle. Nur auf dem Boden, in der Mitte des Raumes, waren sonderbare Zeichen zu sehen, die in einem großen Kreis angeordnet waren.

“Lege dich in diesen Kreis und schließe die Augen.” sagte Belonia zu Sally. “Denke an etwas schönes, was dir Freude macht.”

Sally tat, wie ihr geheißen. Als sie auf dem Boden lag, begann Belonia leise zu singen, in fremdartigen rhythmischen Tonfolgen, immer lauter werdend. Ihre Worte nahmen beschwörenden Charakter an. Sally spürte, wie eine Wärme vom Erdboden ausging und sich in ihrem Körper auszubreiten begann. Sie spürte auch, wie sich diese Wärme in ihrem betroffenen Arm auszubreiten versuchte. In kleinen Schüben drang die wohlige Wärme immer weiter vor, doch plötzlich kam sie zum Stillstand, verharrte einige Augenblicke und wurde dann durch die innere Kälte wieder zurückgedrängt.

Sofort verblassten die Gedanken, denen sich Sally hingegeben hatte. Sie spielte in ihrem Garten, schaukelte dort auf der Schaukel, die ihr Vater eigenhändig für sie gebaut hatte und beobachtete, wie eine Katze vergeblich versuchte, einen Vogel zu fangen, der sich in der Nähe auf einem Ast niedergelassen hatte und einen wunderschönen Gesang startete.

Als sie die Augen öffnete, blickte sie in das traurige Gesicht Belonias. Tränen rannen aus ihren Augen und sie erblickte eine Spur von Hoffnungslosigkeit. “Es ist zu spät, seine Macht ist schon zu groß über dich geworden. Meine Kraft reicht nicht aus, ihn aus dir zu vertreiben. Ich fürchte, er wird schon bald über dich gebieten.”

Bei den letzten Worten war es Belonia unmöglich, Sally länger anzuschauen. Sie hatte ihr Möglichstes versucht, war bis an die Grenzen ihrer Kraft gegangen, musste dann aber doch aufgeben, um nicht selbst verzehrt zu werden.

Trotz machte sich nun in Sally breit.

“Ich bin nicht bereit, mich diesem Herrscher der Unterwelt kampflos zu ergeben. Schon einmal habe ich es geschafft, ihm zu entkommen.”

Eine Idee keimte in Sally auf.

“Bitte Belonia, versuch es noch einmal, ich werde versuchen, dich diesmal zu unterstützen, vielleicht schaffen wir es gemeinsam.”

Fragend blickte Belonia sie an, nickte dann aber traurig und setzte erneut zu singen an. Sally aber streckte ihre noch gesunde Hand zum Kristall aus und umschloss ihn fest. Schon spürte sie seine Wärme. Sie konzentrierte sich fest auf den Kristall, im Unterbewusstsein immer dem Rhythmus Belonias folgend. Sally merkte, wie sich die Wärme nun viel schneller auszubreiten begann. Schon spürte sie den halben Arm wieder. Das Flackern war bereits zu einem intensiven Leuchten geworden. Die Kälte wurde immer mehr zurückgedrängt. Schließlich war es soweit, mit einem letzten Aufbäumen schoss die Wärme bis in ihre Fingerspitzen und ein kühler Luftzug entwich aus dem Zimmer.

Völlig erschöpft öffnete Sally die Augen und bemerkte, wie Belonia zusammenbrach. Ein Schrei des Entsetzens rief die Bergtryade zu Hilfe, die sie im Palast in Empfang genommen hatte. Schnell eilte diese zur Königin und beugte sich über sie.

“Was ist mit ihr?”, fragte besorgt Sally. “Ist ihr etwas passiert?”.

Sanft strich sie ihr das Haar aus dem Gesicht und wandte sich Sally zu: “Keine Angst, Belonia ist sehr stark. Sie lebt noch und wird bald wieder zu sich kommen.”

Vorsichtig nahmen die beiden die Bewustlose auf und trugen sie in einen Nebenraum, wo sie sie auf eine Art Couch legten. Die Bergtryade eilte aus dem Zimmer, um kurz darauf mit einem Gefäß zurückzukehren, in dem sich eine dunkle Flüssigkeit befand. Behutsam öffnete sie Belonias Mund und ließ ein wenig der Flüssigkeit hineinlaufen. Kaum benetzte die Flüssigkeit ihren Mund, ließ sie ein leises Stöhnen vernehmen. Nachdem sie dann den ersten kleinen Schluck getrunken hatte, öffnete sie ganz langsam die Augen.

“Es tut mir leid, ich habe versagt”, kam es traurig über ihre Lippen.

“Aber nein!”, stieß nun freudig Sally hervor. “Sieh nur, ich kann wieder meine Finger bewegen und die Kälte ist auch vollkommen verschwunden. Du hast mich geheilt!”

Sally beugte sich zu ihr hinab und umarmte sie.

“Wenn du mich noch länger so drückst, werde ich die Erste sein, die du besiegt hast”, scherzte sie.

Verschämt löste sich Sally und trat einen Schritt zurück.

“Entschuldige bitte, aber meine Freude war so groß, dass ich nicht anders konnte.”

“Ist schon gut, ich freu mich ja genauso für dich. Aber wie hast du das nur gemacht? Ich spürte auf einmal das Hundertfache meiner Kraft in dir aufsteigen und dann wurde ich ohnmächtig.”

“Das muss der Kristall gewesen sein, den mir die Elfen gegeben haben. Ich habe ihn fest umschlossen und an nichts anderes gedacht, als diese Kälte aus mir zu vertreiben.”

“Was ja auch wunderbar geklappt hat”, antwortete Belonia. “Aber dann hättest du ja meine Hilfe gar nicht gebraucht, du bist mächtiger als ich.”

“Aber nein!”, beeilte sich Sally zu sagen. “Ich hätte doch gar nicht gewusst, wie ich den Zauber bannen sollte. Das mit dem Kristall war reiner Zufall. Warum er so stark auf mich reagiert weiß ich auch nicht. Das ist auch schon den Elfen aufgefallen.”

“Das kann nur bedeuten, dass du wirklich die Auserwählte bist. Du musst lernen, deine Fähigkeiten zu erkennen und diese gezielt zu nutzen. Dann haben wir eine Chance, gegen Saldera zu gewinnen. Aber nun lass uns erst mal etwas Essen gehen, du musst ja schon ganz ausgehungert sein und ich brauche auch dringend eine Stärkung. Ich hoffe, dass man deine Gefährten schon in Kürze zu uns bringen wird. Ihnen wird selbstverständlich die gleiche Gastfreundschaft, wie auch dir gewährt.”

Mit diesen Worten entfernte sich Belonia in Richtung einer Wendeltreppe und winkte, ihr zu folgen. Gehorsam schloss sie sich ihr an.

Die Treppe war mit einem Teppich ausgelegt, so dass das Gehen keine Geräusche machte und man auch nicht Gefahr lief, auszurutschen. Sally konnte sich an einem Geländer festhalten und entlang der gesamten Treppe waren weitere Szenen in Form von Bildern auf der Wand verewigt. Alle wirkten so plastisch, als wären sie lebendig.

Oben angekommen traten sie in einen großen Raum, in dessen Mitte ein großer Tisch mit vierzehn Stühlen stand. Der Tisch war mit einer Vielzahl von Speisen gedeckt.

“Dies ist der Raum, in dem ich zusammen mit den Elfen Versammlungen abhalte, wo wir Schlachtpläne schmieden oder auch uns einfach nur einmal jährlich zum Erfahrungsaustausch treffen.”

Sally ging langsam um den Tisch herum, jeden Stuhl an der Lehne ehrfurchtsvoll berührend, und blieb schließlich am Stuhl stehen, der dem Fenster am nächsten stand. Als sie hinausblickte, konnte sie die ganze Stadt überblicken.

Sie sah in weiter Ferne die Fledermäuse kreisen und die Bergtryaden auf den Feldern arbeiten. Sie sah auch noch weitere Eingänge, die dem glichen, aus dem sie in die Stadt hinunter gekommen war. Dann bemerkte sie an einem Eingang ein bisschen Trubel. Beim näheren Hinsehen dachte sie, die Gestalt Ziofottas auszumachen.

“Du hast gute Augen”, sagte da hinter ihr Belonia. “Es sind deine Gefährten, sie werden gerade zu uns geleitet. Lass uns schon einmal Platz nehmen, sie werden gleich bei uns sein.”

Belonia deutete auf einen der Stühle und nahm selbst an einer der Stirnseiten des ovalen Tisches Platz.

“Erzähl mir doch bitte mehr von dem Ort, von dem du kommst”, bat Belonia. “Man hat mir berichtet, du seiest durch blanke Willenskraft zu uns gekommen. Du musst große Zauberkräfte in dir tragen, wenn du dies vermagst.”

Sally wurde etwas unwohl zumute, fasste sich dann aber schnell und begann zu berichten:

”Es stimmt, dass ich von einer anderen Welt komme und ja, es stimmt auch, dass ich eigentlich nicht weiß, wie ich zu euch gekommen bin. Ich lag auf meinem Bett und habe geträumt und dann ist es einfach passiert, ich erwachte auf der Wiese, wo ich Elmona kennen gelernt habe.”

“Kennen gelernt ist gut”, bemerkte Belonia, “du hast ihr immerhin das Leben gerettet!”

“Aber das ist doch unabsichtlich geschehen, wenn ich auch zugeben muss, dass ich es in dem Moment sowieso versucht hätte, in dem ich erkannt hätte, dass es sich nicht um ein Insekt handelt, um das sich die Vögel streiten.”

“Vielleicht ist es ja diese Unbedarftheit, die dir letztendlich zum Sieg über Saldera verhelfen wird. Es haben schon viele vor dir versucht, aber alle sind bisher gescheitert und wurden versklavt, haben dadurch die Macht Salderas immer mehr gestärkt.”

Plötzlich hörte Sally Schritte aus der Richtung der Treppe und als sie sich umdrehte, erkannte sie Schnurz und Ziofotta, die ängstlich ihre Köpfe um die Ecke steckten. Nun konnte sie keine Macht der Welt mehr auf ihrem Stuhl halten. Sie sprang auf und stürmte ihren Freunden entgegen. Fast hätte sie Ziofotta umgerannt, so groß war ihre Freude, sie unbeschadet wiederzusehen. Sie umarmte sie herzlich und beugte sich anschließend liebevoll zu Schnurz herunter.

“Ich dachte schon, du würdest mich zu Tode trampeln.”

Schnurz brachte nur mühsam die Worte hervor und wenn man genau hinsah konnte man bemerken, das eine kleine Träne aus seinem Auge quoll. Sally aber überhörte den Unterton und nahm Schnurz liebevoll in die Hände, um ihn an ihrer Wange zu liebkosen.

“Wenn du so weitermachst, werde ich erstickt sein, bevor du uns auch nur annähernd erzählen kannst, wie du es geschafft hast, die Bergtryaden auf deine Seite zu bringen.”

Schnurz versuchte seine Gefühle zu überspielen, aber Sally bemerkte wie nah es auch ihm ging, dass ihr Irrweg durch die Stollen der Unterwelt zu einem glücklichen Ende geführt hatte.

“Wollt ihr dort den ganzen Tag herumstehen oder stellst du mir vielleicht deine Gefährten vor?”, fragte Belonia mit einem verschmitzten Lächeln.

“Entschuldige bitte, ich war so überglücklich, meine Freunde wieder zu sehen, dass ich ganz vergaß, sie dir vorzustellen.”

Sally machte ihre Freunde mit Belonia bekannt und alle setzten sich an den Tisch, Schnurz natürlich direkt neben Sallys Teller, darauf wartend, die besten Happen von ihr zu bekommen. Belonia duldete dieses Verhalten, kannte sie doch die Beschützer der Elfen sehr gut.

Nachdem Sally ihren Freunden berichtet hatte, was ihr geschehen war, ergriff Belonia das Wort.

“Liebe Sally, wie du sicherlich gehört hast, ist es bisher noch niemanden gelungen, wieder aus unserem Reich zurückzukehren.”

Alle hielten bei diesen Worten den Atem an.

“Nun, ich muss dir sagen, dass dies nicht ganz der Wahrheit entspricht. Wir treffen uns regelmäßig geheim mit den Elfen und haben das Abkommen getroffen, dass sie verbreiten sollen, dass es bisher noch niemandem gelungen ist, das Reich der Bergtryaden zu verlassen. Wir haben früher häufig aus allen Teilen des Landes Besuch bekommen und trieben regen Handel. Dann tauchte Saldera auf und schloss ein Packt mit dem Herrscher der Unterwelt. Wir wissen nicht, was sie ihm versprach, aber als Gegenleistung nahm er diejenigen, die uns besuchen wollten gefangen und versklavte sie. Die Seele der Gefangenen aber schenkte er Saldera. Du hast ja selbst einige von ihnen leiden sehen, als man dich zu uns gebracht hatte. Obwohl man bemerkte, dass nicht mehr alle Besucher wieder zurückkamen, schickte man immer wieder neue Händler zu uns.

Daraufhin beschlossen wir einen kleinen Trick anzuwenden. Wir ließen durch die Elfen verbreiten, dass wir Bergtryaden selbst die Leute, die zu uns kommen gefangen halten und sie nicht wieder gehen lassen. Waren die Leute vorher bereit, jedes Risiko auf sich zu nehmen, uns zu besuchen, vermieden sie es von nun an, dachten sie doch, sie wären hier nicht mehr willkommen.

So sehr es uns auch schmerzte, wir mussten einfach zu diesem Mittel greifen. Seitdem leben wir hier in Abgeschiedenheit, ohne das es jemals wieder jemand versucht hat, uns zu besuchen. Ihr müsst mir versprechen, dass, solange Saldera nicht besiegt ist, diese Legende aufrechterhalten bleibt. Es wäre der sichere Tod für viele gutmütige Leute, die es nur gut mit uns meinten und uns helfen wollten.

Aber lasst uns nun über unser weiteres Vorgehen beratschlagen. Ich war ziemlich überrascht, über was für eine Macht du zusammen mit dem Kristall gebietest. Als wir den Kristall in alten Geheimfächern entdeckten, wusste niemand etwas mit ihm anzufangen. Jahrzehntelang diente er nur als Tischschmuck, bis Montanella, du bist ihr bestimmt vorgestellt worden, Fähigkeiten entdeckte, die bisher niemand bemerkt hatte. Viele Elfen versuchten immer wieder, dem Kristall weitere Geheimnisse zu entlocken, aber niemandem ist es bisher gelungen. Dir ist es als Erste gelungen, solche Energien freizusetzen und damit selbst dem Herrscher der Unterwelt zu trotzen.”

“Aber ich weiß doch noch nicht einmal genau, wie ich das gemacht habe”, versuchte Sally zu widersprechen.

“Es kommt nicht nur darauf an, dass man weiß, wie man den Kristall einsetzen muss, entscheidend ist, dass du die Kraft besitzt, seine Energien freizusetzen und diese Kraft besitzt du augenscheinlich.”

Alle hatten gebannt Belonia zugehört, man hätte eine Stecknadel herunterfallen gehört, so ruhig war es nach den letzten Worten geworden.

“Man hat dir bestimmt von der alten Legende erzählt, die besagt, dass eine große Magierin reinen Herzens kommen und uns vom Bann der bösen Saldera befreien wird. Ich glaube fest daran, dass du diese Magierin bist.

Denke immer daran, man kann den Zauber des Kristalls nicht erzwingen. Nur wenn der Wunsch aus freiem Herzen mit dem Ziel Gutes zu tun kommt, wird der Zauber freigesetzt und du wirst unbesiegbar sein. Aber begehe nicht den Fehler, den Saldera begangen hat.

Wenn es auch den Anschein hat, dass du unbesiegbar bist, zu schnell könnte das Böse Macht über dich erlangen und sich deine Macht zu eigens machen und dann sind wir alle verloren. Versuche niemals, den Kristall gegen Unschuldige zu gebrauchen, es würde dein Verderben sein.”

“Dann sollten wir so schnell wie möglich versuchen, wieder auf unseren Weg zurückzukehren”, warf Sally ein. “Durch den Herrscher der Unterwelt haben wir eine Menge Zeit verloren. Kannst du uns den Weg nach draußen zeigen?”

Hoffnungsvoll blickten Sally und ihre Gefährten Belonia an.

“Das ist nicht so einfach”, antwortete Belonia. Wir dürfen uns nicht in die Angelegenheiten des Herrschers der Unterwelt einmischen, dafür lässt er uns in Ruhe. Dein Glück war, dass du mit Hilfe des Kristalls den Weg zu uns gefunden hast, aber wir werden einen Weg finden, euch den Weg nach draußen zu zeigen.”

Mit diesen Worten endete der offizielle Teil und es begann ein reger Austausch von Informationen. Insbesondere Sally musste immer wieder von ihrer eigenen Welt erzählen, die so fremdartig und unbegreiflich für alle anderen Anwesenden war, dass sie sich selber manchmal wie eine Magierin vorkam. Dabei waren Sachen wie Telefonieren oder Elektrizität noch die am einfachsten zu erklärenden Dinge, die trotzdem niemand verstand. Nichtsdestotrotz war es ein unterhaltsamer Abend, den alle genossen.

Zu fortgeschrittener Stunde brachte man Sally und ihre Freunde in vorbereitete Quartiere, die sich selbstverständlich auch in Stalagmiten befanden.

Nachdem sich Sally gewaschen und ein eigens für sie bereitgelegtes Nachtgewand angezogen hatte, legte sie sich ins Bett und war von einem auf den anderen Moment eingeschlafen. Sie fühlte sich so sicher in der Obhut der Bergtryaden, dass sie mit keinem Gedanken an irgendeine Gefahr dachte.

Schon kurz nachdem sie eingeschlafen war, begann sie zu träumen. Sie saß auf einem riesigen Drachen, der immer wieder Feuer spie, um angreifende schwarze Geier zu vernichten. Aber für jeden besiegten Geier kamen zwei neue hinzu. Der Kampf schien aussichtslos. Schon war sie von hunderten von Geiern umringt und es wurden immer mehr. Sie konnte den Himmel nicht mehr erkennen und es breitete sich Schwärze rund um sie aus. Dann erschien ihr das Gesicht Salderas zu einer grässlichen Grimasse verzogen. Sie rief ihr irgendetwas zu, was Sally nicht verstehen konnte. Verzweifelt versuchte sie ihren Kristall zu ergreifen, dieser entglitt ihr aber, als der Drache eine enge Kurve flog und sie sich hastig festhalten musste.

Sofort stürzten sich einige Geier auf den Kristall. Einer von ihnen packte ihn mit dem Schnabel und brachte ihn direkt zu Saldera, die schon gierig beide Hände nach ihm ausstreckte. Vergeblich versuchte der Drache, sich einen Weg durch die Angreifer zu bahnen. Dann wurde sie von der Seite von einem doppelt so großen Tier attackiert und verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte vom Drachen, hinab in die Tiefe, hinein in einen riesigen Ozean. Sally rang nach Luft, hatte aber ganz schnell den Mund voller Wasser und musste husten.

Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass plötzlich Ziofotta vor ihr stand und eine Schüssel in der Hand hielt, aus der Wasser tropfte. Dann bemerkte sie, dass sie und ihr Bett pitschnass waren und sie immer wieder von einem Hustenreiz gequält wurde.

“Was ist los? Warum bin ich nass und warum stehst du an meinem Bett?”, fragte Sally immer noch nach Luft ringend.

“Entschuldige bitte”, antwortete Ziofotta, “aber anscheinend wurdest du von schweren Alpträumen heimgesucht. Ich habe fast eine halbe Stunde lang versucht, dich zu beruhigen oder dich aufzuwecken, aber es hat nicht funktioniert. Dann habe ich voller Verzweiflung die Schüssel mit Wasser über dich gegossen. Zum Glück bist du dann aufgewacht.”

“Ich habe gegen Saldera gekämpft. Sie hatte große Geier auf mich gehetzt und ich habe versucht, mich auf einem riesigen Drachen fliegend gegen sie zu verteidigen.”

Erschrocken griff sie nach ihrem Kristall. Ziofotta bemerkte die heftige Reaktion von Sally. “Was hast du?”

Hastig durchstöberte Sally ihre Sachen und atmete schließlich erleichtert auf. “Gott sei dank, er ist noch da!”

“Wer ist noch da?”, fragte nun Ziofotta beunruhigt.

“Na der Kristall, ich habe geträumt, Saldera hat ihn mir abgenommen.”

Wenngleich es hier, unter der Erde keine Sonne gab, schien es durch das Fenster hell herein. Irgendwie schien sich die Helligkeit den Tageszeiten außerhalb der Höhle anzupassen. Die Nacht musste vorbei sein und so beschloss Sally sich fertig zu machen, um mit den anderen zu frühstücken.

Schnurz wartete bereits mit knurrendem Magen am Essenstisch.

Nachdem sie gefrühstückt hatten, erschien Belonia und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Es war alles sehr geheimnisvoll.

Sie verließen zusammen mit Belonia das Zimmer und folgten ihr die Treppe weiter nach oben. Sie befanden sich jetzt schon fast in Höhe der Höhlendecke, als sie das Ende des Stalagmiten erreichten. Oben angekommen fanden sie sich auf einer Plattform wieder, die wie bei einem Burgturm, von einer Steinmauer umgeben war. In regelmäßigen Abständen war diese unterbrochen, so als befänden sich Schießscharten in ihr. Von hier oben hatten sie einen faszinierenden Blick über die gesamte Höhle. In weiter Ferne sah Sally auch wieder die Wächter fliegen.

“Hab keine Angst”, sagte Belonia. “Ich habe Befehl gegeben, dir nichts zu tun. Sie werden dich und deine Freunde wie eine von uns behandeln. Aber nun komm einmal her, ich möchte dir etwas zeigen.”

Belonia ging zur Mitte des Stalagmiten, wo sich ein reich verzierter Brunnen befand. “Dies ist der Brunnen der Weisheit. Es heißt, wer aus ihm trinkt, kann durch Wände hindurch sehen und die Zukunft voraussagen. Wunden werden geheilt und die Kräfte kehren zurück. Die Alterung wird gestoppt und man bleibt jung.”

Ehrfurchtsvoll näherten sich Sally und ihre Gefährten dem Brunnen.

“Aber das hieße ja, wenn ihr das Wasser dieses Brunnens an alle verteilt, gibt es keine Kranken mehr, alle sind glücklich, weil sie ewig jung sind und die Ungewissheit darüber, was die Zukunft so bringen wird, ist nicht mehr vorhanden.”

Ganz aufgeregt hatte Sally die Worte gesprochen, doch Belonia nickte nur traurig bei diesen Worten.

“Im Grunde hast du Recht, nur kann das Ganze auch ein Fluch sein.”

Ernst schaute Belonia Sally ins Gesicht. “Stell dir vor, du kannst jederzeit durch Wände hindurch sehen und alle deine Freunde und auch Feinde können dies ebenfalls. Jederzeit wüsste jeder über jeden Bescheid. Du würdest dich immer und überall beobachtet fühlen. Dann die Krankheiten, der natürliche Kreislauf des Lebens wäre unterbrochen. Wenn niemand mehr krank wird, alle jung bleiben und keiner mehr stirbt, dürften auch keine Kinder mehr geboren werden, weil dann irgendwann kein Platz mehr für alle da wäre. Unser Land wäre überbevölkert und es wäre nicht mehr genug zu essen da. Außerdem, stell dir nur mal vor, du wüsstest schon heute, dass dein bester Freund in ein paar Tagen bei einem Unfall ums Leben kommt. Du würdest alles versuchen, ihm das Leben zu retten, aber letztendlich doch mit ansehen müssen, wie er stirbt, vielleicht sogar erst durch dein Eingreifen.

Glaube mir, von diesem Brunnen zu trinken, ist eine große Bürde, die es zu tragen wohl überlegt sein will.”

Alle hatten stillschweigend Belonias Ausführungen verfolgt.

“Warum hast du uns das alles erzählt, wenn es so eine Bürde ist?”, fragte Sally und blickte wie hypnotisiert in den Brunnen. Das Wasser auf der Oberfläche kräuselte sich leicht und aus dem Gesicht Sallys, das sich eben noch darin gespiegelt hatte, wurde eine Ebene, auf der viele Menschen zu sehen waren. In der Ferne waren schwarze Punkte am Himmel zu sehen, die schnell größer wurden und je näher sie kamen, wurden immer mehr Einzelheiten erkennbar. Erschrocken stellte sie fest, dass es sich bei den Punkten am Himmel um die Geier handelte, von denen sie schon geträumt hatte. Dann verschwamm das Bild und wie schon am frühen Morgen, wurde Sally von Ziofotta durchgeschüttelt. Fassungslos wurde sie von ihren Gefährten und Belonia angestarrt.

“Ich ich ich hatte wieder diesen Traum von den Geiern, den ich schon heute Nacht hatte”, brachte Sally stotternd zum Ausdruck. Habt ihr es denn nicht auch gesehen?

“Was sollen wir gesehen haben?”, fragte Belonia und sah dabei in den Brunnen.

“Die Geier und die Menschen und..” Sally konnte einfach nicht weitersprechen.

“Du scheinst eine Vision gehabt zu haben”, sagte Belonia. “Das was ich dir über den Brunnen gesagt habe, ist alles Bestandteil aus alten Überlieferungen. Ich selbst bin die Einzige, die bisher aus diesem Brunnen getrunken hat um dieses Wissen zu bewahren und an künftige Generationen weiterzugeben, aber selbst mir haben sich noch nicht alle Geheimnisse des Brunnens eröffnet. Zwar bin ich, seit die alte Königin das Wissen an mich weitergegeben und ihrem Leben dann selbst ein Ende gegeben hat nicht weiter gealtert und auch noch nicht wieder krank gewesen, aber die Gabe, die Zukunft vorherzusehen oder durch Wände zu schauen, war mir bisher noch nicht gegeben.”

Vor Staunen waren Sally und ihren Gefährten die Münder offen geblieben. “Augenscheinlich brauchst du das Wasser des Brunnens gar nicht, um Dinge vorherzusehen oder durch Wände hindurch zu schauen”, sagte nun Ziofotta. “Denke nur an das, was du uns berichtet hast, als du einen Blick in die Unterwelt werfen konntest und die gequälten Menschen gesehen hast.”

“Das stimmt”, bestätigte nun auch Belonia. “Wahrscheinlich besitzt du die Gabe bereits. Aber trotzdem solltest du von diesem Brunnen trinken.”

“Aber ich weiß nicht, ob ich so eine Bürde tragen könnte”, antwortete Sally. Was wenn alle meine Freunde und Bekannten, meine Eltern um mich herum sterben, während ich weiterlebe? Ich glaube ich würde daran verzweifeln.”

“Hab keine Angst deswegen”, sagte Belonia. “Der Zauber wirkt immer nur für ein Jahr. Dann muss man erneut aus dieser Quelle trinken. Es kann euch aber helfen, dem Einfluss des Herrschers der Unterwelt zu wiederstehen und den Weg hier heraus zu finden. Selbst wenn die Gabe, die Zukunft vorauszusehen deinen Freunden nicht gegeben sein sollte, so werden auch sie durch den Zauber des Wassers dem Einfluss seiner Macht standhalten können.”

Belonia holte eine reich verzierte Schöpfkelle hervor, murmelte ein paar unverständliche Worte in einer ihr unbekannten Sprache und schöpfte dann Wasser aus der Quelle um es Sally zu trinken zu geben.

Einem ersten Impuls folgend wich sie einen Schritt zurück, stieß dann aber gegen Ziofotta, die sie wieder in Richtung des Brunnens schob.

“Hab keine Angst, du wirst lernen, mit den Eindrücken umzugehen, so wie du es auch gelernt hast, den Kristall zu benutzen.” Behutsam führte sie die Schöpfkelle an Sallys Mund, die diesen gehorsam öffnete und einen Schluck des kristallklaren Wassers trank. Das Wasser war eiskalt und eine kleine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Hals aus. Im Magen angekommen spürte sie zunächst eine aufsteigende Kälte, die aber schnell in eine bekannte wohlige Wärme umschlug. Es war die Art von Wärme, wie sie sie schon vom Kristall her kannte. Dann begann die Erde unter ihr zu verschwimmen und sie konnte erst schemenhaft, dann immer deutlicher den darunter liegenden Raum erkennen.

Scheinbar schwebte sie in der Luft. Ein leiser Schrei des Entsetzens entwich ihrem Mund, sie fasste sich aber schnell wieder, kannte sie doch schon eine ähnliche Erfahrung vom Kristall her. So konzentrierte sie sich darauf, wieder die gewohnte Umgebung zu sehen und fand sich schnell bei ihren Freunden wieder. Alle blickten sie aus fragenden Augen an.

Sally - Magierin wider Willen

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