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In seiner karg bemessenen Freizeit stand Dr. Marford gewöhnlich in seinem Sprechzimmer hinter den roten Kalikovorhängen, die den unteren Teil der kahlen Fenster bedeckten. Er konnte gerade darüber hinwegschauen, und er liebte es, philosophische Betrachtungen über Tidal Basin, seine Bewohner und ihre Schicksale anzustellen.

Dr. Marford hatte seine Klinik in einem ziemlich verwahrlosten Häuserblock entrichten müssen, als er seine bescheidene Praxis eröffnete. Alle Leute in Tidal Basin wußten, daß der Doktor arm war und kein Geld hatte, denn er hatte die Fußböden und die Wände selbst gestrichen. Wahrscheinlich hatte er auch die Vorhänge genäht. Die Einrichtung stammte vom Caledonian Market, wo man alte Möbel zu billigen Preisen erstehen konnte.

In Tidal Basin hieß er der »arme Doktor«, später der »Baby-Doktor«, denn nach einem Jahr fing er an, Kinder kostenlos mit Höhensonne zu bestrahlen. Unbedingt mußte er reiche Gönner haben, denn nach einiger Zeit folgte die Eröffnung eines Erholungsheims an der See.

Sein Beruf füllte ihn vollkommen aus, und keinen Schilling des Geldes, das man ihm stiftete, verbrauchte er für sich persönlich. Sein Arbeitszimmer blieb so einfach und ärmlich wie früher, im Gegensatz zu all den Krankenzimmern, die mit den modernsten Einrichtungen versehen waren.

Er stand am Fenster, als Janice Harman vorüberkam, und ging hinaus, um ihr die Tür zu öffnen. Trotz seiner Liebe zur Wissenschaft und zu den Armen war er Mensch genug, seine schöne Krankenschwester zu bewundern. Manchmal saß er in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch und dachte stundenlang nur an sie. Aber er zeigte nicht, was in seinem Inneren vorging, als sie ihm schüchtern und zusammenhanglos von ihren Heiratsplänen erzählte.

»Oh«, sagte er nur nachdenklich, »das ist ja sehr schade ich meine für die Klinik. Was sagt denn aber Mr. Quigley dazu?«

Bisher hatte er eine merkwürdige Abneigung gegen den jungen Berichterstatter gehabt. Viel zu oft hatte Mike Janice in der Klinik besucht und abends abgeholt. Dr. Marford. war es auch nicht recht gewesen, daß Quigley so begeisterte und lobende Artikel über ihn und die Klinik verfaßt hatte, denn er liebte es nicht, in der Öffentlichkeit genannt zu werden.

»Mr. Quigley hat nicht das geringste Recht, etwas dagegen zu sagen«, erklärte sie trotzig. »Er ist ein sehr guter Freund oder vielmehr er war es.«

Es folgte eine peinliche Pause.

»Sie sind nicht mehr miteinander befreundet?« fragte Dr. Marford freundlich, der sich im Augenblick eigentümlich zu dem jungen Mann hingezogen fühlte.

»Das kann man eigentlich nicht sagen. Ich mag ihn gern er ist sehr nett, aber manchmal etwas herrisch und anmaßend. Neulich sorgte er wirklich sehr gut für mich, und ich habe ihm nicht einmal dafür gedankt. Es war an dem Abend im Howdah-Klub, als der schreckliche Mensch kam.«

Er sah sie fragend an.

»Welcher schreckliche Mensch?«

»Weißgesicht!«

»Ach ja, ich habe davon gelesen. Sergeant Elk hat es auch erwähnt. Man nimmt an, daß der Mann hier in der Gegend wohnt. Ich glaube, für diese Theorie ist Ihr Freund Mike verantwortlich. Handeln Sie auch wirklich klug?«

Die Frage kam überraschend.

»Meinen Sie meinten Entschluss, zu heiraten? Handelt ein junges Mädchen in dieser Beziehung überhaupt klug, Dr. Marford? Selbst wenn ich diesen Mahn seit Jahren jeden Tag gesehen hätte, würde ich ihn dann kennen? Die Männer zeigen sich den Frauen gegenüber nur von der besten Seite, solange sie nicht verheiratet sind. Solange man nicht mit ihnen zusammenwohnt, ist es unmöglich, sie wirklich kennenzulernen.«

Marford nickte, dann schwiegen sie beide eine Weile.

»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie verliere«, sagte er schließlich. »Sie waren eine sehr tüchtige Helferin.«

Sie kam nun zu einem schwierigen Punkt, denn sie wußte, wie empfindlich er in dieser Beziehung war.

»Ich möchte der Klinik eine kleine Stiftung machen. Etwa tausend Pfund ...«

Er hob die Hand, und sein Gesichtsausdruck zeigte, wie peinlich es ihm war, über solche Dinge zu sprechen.

»Nein, nein, davon will ich nichts hören. Sie haben mir früher schon einmal den Vorschlag gemacht. Aber es ist wirklich genug, daß Sie die lange Zeit hier umsonst gearbeitet haben. Das war ein gutes Werk und mehr wert als alles Geld.«

Sie wußte, daß er seine Meinung nie ändern würde. Aber wenn er ihre Stiftung zurückgehen ließ, wollte sie ihm am Tage ihrer Hochzeit das Geld anonym zukommen lassen.

Unerwartet streckte er seine schmale Hand aus:

»Ich hoffe, daß Sie glücklich werden«, sagte er.

Diese Worte waren zu gleicher Zeit Glückwunsch und Entlassung.

Sie überquerte die Straße bei der Endley Street. An der Ecke stand ein großer, hübscher Mann, dessen Haare an den Schläfen grau wurden. Janice erkannte Donald und war erstaunt, daß er sich ziemlich vertraut mit einer Dame unterhielt. Die Frau ging gleich darauf fort, und er kam lächelnd auf Janice zu.

»Eine entsetzliche Gegend, mein Liebling. Ich freue mich, daß du bald von hier fortkommst.«

»Mit wem hast du denn eben gesprochen?« fragte sie.

Er lachte und sah der schlanken Gestalt nach.

»Ach, meinst du die Dame? Es ist merkwürdig – sie hielt mich für ihren Bruder. Als sie ihren Irrtum bemerkte, kam sie in große Verlegenheit. Hast du gesehen, wie hübsch sie war?«

Janices Wagen war in einer nahen Garage untergebracht. Früher hatte sie ihn vor der Tür stehen lassen, aber Dr. Marford hatte ihr davon abgeraten. Und er hatte auch recht behalten, denn in einer Woche hatten die Eltern der Kinder, die sie im Krankenhaus pflegte, aus dem Auto gestohlen, was sie nur nehmen konnten.

Sie setzte sich ans Steuer, und er betrachtete sie wohlgefällig. Als sie an der Klinik vorbeifuhren, sah sie Dr. Marford am Fenster und winkte ihm zu.

»Wer ist das?« fragte er leichthin.

»Mein Chef.«

»Dr. Marford? Schade, daß ich ihn nicht genauer gesehen habe. Er ist wohl eine große Nummer hier in der Gegend?«

Sie lachte.

»Ach, man spricht eigentlich verhältnismäßig wenig über ihn in Tidal Basin. Aber er ist wirklich ein ungewöhnlich selbstloser Mensch. Jeden Schilling spart er sich ab, um seine Klinik in Gang zu halten.«

Während der Fahrt durch die City erzählte sie ihm dauernd von der Klinik und von den Verdiensten Dr. Marfords. Erst nach und nach gelang es ihm, die Unterhaltung wieder an sich zu reißen. Er sprach von Südafrika und seinen beiden Farmen. Die eine lag in der Wildnis von Rhodesien, die andere in der schönen Gegend von Paarl.

»Das Leben dort unten wird dir allerdings etwas einsam vorkommen, obwohl es natürlich gesellschaftlichen Verkehr gibt. Ich bin sehr bekannt –«

»Dort drüben ist jemand, der dich kennen muß«, sagte sie lachend.

Er wandte schnell den Kopf, konnte aber in der vorbeiflutenden Menge kein bekanntes Gesicht erkennen.

»Wo?«

»Dort – der dunkle Herr. Er steht bei dem Strumpfgeschäft.«

Er schaute hin und runzelte die Stirn.

»Ach ja, ich kenne ihn, wenn auch nicht besonders gut. Ich habe einmal ein Geschäft mit ihm gemacht, bei dem ich viel verdiente, und das hat er mir nicht vergeben.« Plötzlich änderte er das Thema. »Liebling, ich kann dich heute Abend leider nicht ins Theater mitnehmen. Bist du mir sehr böse?«

Ihm böse sein? Sie war zu glücklich dazu, und sie stand zu sehr unter dem Eindruck dieses ungewöhnlichen Abenteuers. Dieser hübsche, fremde Mann war aus dem Nichts in ihr Leben getreten, und sie war noch so wenig an ihn gewöhnt, daß sie nur scheu seinen Namen aussprach. In ihm erfüllten sich ihre kühnsten Träume, aber er stand gleichsam immer noch außerhalb des Bereichs der Wirklichkeit für sie.

Zehn Tage kannte sie ihn nun, aber diese kurze Zeit erschien ihr wie eine Ewigkeit. Während der Fahrt war sie ein paarmal nahe daran, ihm die Überraschung mitzuteilen, die sie für ihn plante. Er liebte sein Haus über alles, und zu gern hätte er das Nachbargrundstück neben seiner Farm in Paarl besessen. Für achttausend Pfund stand es zum Verkauf, und er hatte ihr begeistert davon erzählt, welche Vorteile es hätte, wenn er seinen Landbesitz vergrößern könnte.

Als sie durch Piccadilly Circus fuhren, sprach er gerade wieder davon.

»Du hast mich ehrgeizig gemacht, Liebling. Aber ich bin nur ein armer Farmer und habe nicht genügend Geld. Ich sehe schon, daß diese prachtvolle Farm für mich verlorengeht.«

Wieder kam sie in Versuchung, ihm ihr Geheimnis anzuvertrauen. Sie hatte einen Freund in Kapstadt, einen jungen Rechtsanwalt, den sie von Oxford her kannte. Diesen hatte sie am Morgen telegrafisch ersucht, die Farm zu kaufen.

Vor ihrer Wohnung in Bury Street trennte er sich von ihr.

»Ich bin wirklich zu traurig, daß ich die Farm nicht kaufen kann«, sagte er zum Abschied. »Wenn ich morgen nur viertausend Pfund telegrafisch überweisen könnte, wäre das Geschäft perfekt.«

Sie lächelte rätselhaft und träumte später in ihrem Zimmer von grünen Abhängen und hohen, sonnenbeschienenen Felsenbergen, wo kleine Affen Tag und Nacht in den Zweigen, der Bäume turnten.

Als sie abends um zehn ins Bett gehen wollte, erhielt sie ein Telegramm, das sie vollständig aus der Fassung brachte. Sie brauchte jemand, der ihr in diesem Augenblick raten und helfen konnte, und es war merkwürdig, daß sie zuerst an Mike Quigley dachte. Aber als sie mit zitternder Hand den Hörer vom Telefon nahm, um ihn anzurufen, erfuhr sie, daß er nicht in der Redaktion war. Hastig kleidete sie sich wieder an.

Der Teufel von Tidal Basin

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