Читать книгу Edgar Wallace - Gesammelte Werke - Edgar Wallace, Edgar Wallace - Страница 101
Оглавление8 Der Mann, der sein Vermögen verspielte
Am Samstagabend ist der Martaus-Klub stets von den elegantesten Leuten besucht, die das Wochenende in der Stadt verbringen. Es gibt dort schöne Tischlampen, deren helles Licht durch farbige Seidenschirme abgedämpft ist, blütenweißes Tischzeug, blitzendes Silber, schöne Gläser und exotische Blumen. Die einzelnen Tische stehen an den Wänden, so daß in der Mitte ein freier Platz bleibt, in dessen glattem Parkettboden sich die Kronleuchter spiegeln.
Junge und alte Leute können sich im Martaus-Klub sehr wohl fühlen – wenn sie das nötige Geld dazu haben. Aber es ist nicht die Höhe der Rechnungen, die der Oberkellner Louis ausschreibt, noch sind es die Preise für den Wein oder das ausgezeichnete Stachelbeerkompott, die jemand ruinieren können.
Mr. John Eder konnte mit Leichtigkeit die Rechnung bezahlen für alles, was er bei Martaus aß. und trank oder rauchte. Und der Klub war wirklich ebenso unschuldig wie amüsant. Niemals wurden in den Räumen Kartenspiele geduldet. Der Oberkellner Louis kannte jedes Gesicht und auch die Geschichte jedes einzelnen Gastes. Mit größter Genauigkeit konnte er angeben, wie hoch die Bankguthaben der Gäste waren, die hier verkehrten.
Mr. John Eder kannte er noch nicht, er war das neueste Mitglied, aber er schätzte ihn vorsichtig und sachkundig ein.
John Eder hatte mit einer fremden Dame getanzt, was bei Martaus nicht üblich war. Es galt dort als Regel, daß man seine eigene Tanzpartnerin mitbrachte.
Aber an dem Abend war Mr. Welby dort. John kannte ihn oberflächlich, obwohl er ihn jahrelang nicht gesehen hatte. Mr. Welby war ein Muster von Eleganz und offenbar eine bedeutende Persönlichkeit. Als er durch den Saal auf ihn zuschritt, fühlte sich John ihm gegenüber wie ein armer Verwandter aus der Provinz. John war acht Jahre in Südafrika gewesen und kam sich jetzt etwas fremd in dem großstädtischen Leben und Treiben vor. Aber Mr. Welby war liebenswürdig und freundlich und bestand darauf, ihm Maggie Vane vorzustellen, eine hübsche junge Dame in prachtvollem Abendkleid. Sie trug reichen Schmuck – ihre Perlenkette kostete allein zwanzigtausend Pfund. Ihre Erscheinung raubte John den Atem, und als sie vorschlug, noch zu Bingley zu gehen, dachte er nicht im Traum daran, zu widersprechen.
Sie gingen durch die Vorhalle, wo sich der Oberkellner Louis zu schaffen machte. Mit einer kleinen Entschuldigung trat er an John heran und bürstete ein Stäubchen von dem Kragen seines tadellos sitzenden Fracks. Dabei flüsterte er ihm mit leiser Stimme etwas zu, so daß es seine Begleiter nicht hören konnten.
»Gehen Sie nicht zu Bingley.«
John sah ihn verwundert an, denn das Benehmen des Mannes erschien ihm ungehörig.
Bis sechs Uhr morgens blieb er bei Bingley und ließ dort Schecks zurück in einer Höhe, die seine gesamten aus Afrika zurückgebrachten Ersparnisse ausmachten, ja noch etwas mehr. Er war nach England zurückgekommen und hatte von einem kleinen Gut auf dem Land geträumt, wo er etwas angeln und auf die Jagd gehen konnte. Auch ein Buch über die Jagd auf Hochwild in Afrika hatte er schreiben wollen. Und alle diese Träume waren zu Ende, als der Croupier mit einem faden Lächeln auf den Lippen mechanisch die Karte umwandte:
»Le Rouge gagnant et couleur!«
Er hatte nicht geahnt, daß Bingley eine Spielhölle war. Zu Anfang hatte das Lokal auch nicht diesen Eindruck gemacht. Erst als ihn dieses schöne Mädchen in die inneren Räume führte, wurde er nervös, denn er sah, daß hier trente et quarante mit hohen Einsätzen gespielt wurde. Er saß an ihrer Seite am Spieltisch, setzte in bescheidenen Grenzen und gewann. Das dauerte an, bis er waghalsiger wurde und seine Einsätze erhöhte.
Man war sehr entgegenkommend bei Bingley. Als er kein Geld mehr zu verspielen hatte, nahm man seine Schecks an, ja man hatte sogar Formulare vorrätig, die er nur auszufüllen brauchte.
John Eder kam zu seiner Wohnung in der Jermyn Street zurück, die unmittelbar über Georges und Leons Zimmer lag, und schrieb einen Brief an seinen Bruder nach Indien ...
Manfred hörte den Schuß und wachte auf. Er kam im Pyjama in das Wohnzimmer und fand Leon bereits dort, der zur Decke emporstarrte.
Manfred eilte auf das Treppenpodest hinaus und fand dort den Eigentümer der Pension, nur mit Hemd und Hose bekleidet. Auch er hatte den Schuß in seiner unteren Wohnung gehört.
»Ich dachte zuerst, es wäre bei Ihnen gewesen«, sagte er. »Dann müssen wir bei Mr. Eder nachsehen.«
Als sie zusammen die Treppe emporstiegen, erzählte er, daß Mr. Eder erst vor kurzer Zeit wieder nach England zurückgekommen sei.
Die Tür war verschlossen, aber der Hausherr hatte einen Schlüssel, mit dem er öffnen konnte. Im Wohnzimmer brannte das Licht noch, und ein Blick sagte Manfred alles, was vorgefallen war. Eine zusammengesunkene Gestalt lag quer über dem Tisch, das Blut tropfte aus einer Wunde in der Brust auf den Fußboden, wo es sich in einer großen Lache angesammelt hatte. Gonsalez untersuchte ihn sofort.
»Er ist nicht tot«, sagte er, »und ich glaube auch nicht, daß die Kugel ein wichtiges Organ getroffen hat.«
Der Mann hatte sich in die Brust geschossen, aber aus der Richtung des Schußkanals sah Gonsalez, daß die Verwundung nicht lebensgefährlich war. Er verband ihn in aller Eile, so gut es ging, und sie legten ihn vorsichtig auf das Sofa. Als diese ersten notwendigen Handreichungen geschehen waren, schaute sich Gonsalez um und entdeckte den Brief, der alles erklärte.
»Mr. Pinner«, wandte er sich an den Hauswirt, »es liegt doch sicher in Ihrem Interesse, daß von dieser Sache nichts bekannt wird? Sie hätten nur Unannehmlichkeiten davon, wenn herauskäme, daß jemand in Ihrer Pension Selbstmord verüben wollte.«
»Das ist das Schlimmste, was mir passieren könnte.«
»Dann werde ich diesen Brief in Verwahrung nehmen. Rufen Sie jetzt das Hospital an und sagen Sie, daß ein Unglücksfall vorliegt. Erwähnen Sie nichts von einem beabsichtigten Selbstmord. Erzählen Sie nur, daß der Herr vor kurzer Zeit aus Südafrika zurückkam und daß sich seine Pistole beim Auspacken durch eine Fahrlässigkeit entlud.«
Mr. Pinner nickte und verließ schnell den Raum.
Gonsalez ging zum Sofa, wo Eder lag. In diesem Augenblick schlug der junge Mann die Augen auf und schaute erregt von Manfred zu Gonsalez.
»Mein lieber Freund«, sagte Leon sanft, als er sich über den Verwundeten beugte, »es ist Ihnen ein Unglück passiert – verstehen Sie mich? Ihre Wunde ist nicht lebensgefährlich. Gleich wird der Krankenwagen kommen, um Sie abzuholen. Beruhigen Sie sich, ich werde Sie jeden Tag im Hospital besuchen.«
»Wer sind Sie denn?« fragte Mr. Eder mit leiser Stimme.
»Ich bin Ihr Nachbar«, erwiderte Leon lächelnd.
»Aber der Brief!« stieß Mr. Eder atemlos hervor.
Leon legte ihm begütigend die Hand auf die Stirn.
»Den habe ich in meiner Tasche. Sie bekommen ihn zurück, wenn Sie wieder gesund sind. Sie haben also verstanden, daß Ihnen ein Unglück passiert ist?«
John Eder nickte.
Eine Viertelstunde später fuhr der Krankenwagen vor, und Mr. Eder wurde fortgebracht.
Als die beiden Freunde wieder in ihrer eigenen Wohnung waren, öffnete Leon in aller Seelenruhe den Brief und las ihn.
»Nun?« fragte Manfred.
»Unser junger Freund kam von Südafrika mit siebentausend Pfund zurück, die er sich in acht Jahren durch harte Arbeit erspart hat. Die ganze Summe verlor er in weniger als acht Stunden in einer Spielhölle, die er nicht näher bezeichnet. Er ist nicht nur um seine ganzen Ersparnisse gekommen, sondern hat anscheinend noch Schecks geschrieben, um größere Spielschulden zu decken.«
Leon strich sein Kinn.
»Wir müssen in seinem Zimmer noch genauer Umschau halten. Hoffentlich hat Mr. Pinner nichts dagegen.«
Der Hauswirt war sehr zuvorkommend und gestattete gern, daß Leon die Wohnung Mr. Eders durchsuchte, bevor die Polizei auf der Bildfläche erschien. Leon fand denn auch bald das Scheckbuch, das in der inneren Brusttasche von Mr. Eders Frack steckte, und nahm es mit sich nach unten.
»Er hat keinen Namen auf die Scheckabschnitte geschrieben«, sagte er enttäuscht. »Es steht immer nur ›bar‹ darauf. Natürlich hat er alles derselben Person übergeben. Er hat ein Konto bei der Third National Bank of South Africa. Die Londoner Niederlassung dieser Bank ist in der Throgmorton Street.«
Er notierte sorgfältig die Nummern aller Schecks – es waren im ganzen zehn.
»Zuerst müssen wir ein Telegramm an die Bank schicken, um die Auszahlung dieser Schecks zu verhindern. Natürlich kann er verklagt werden, aber Spielschulden brauchen nach dem Gesetz nicht bezahlt zu werden. Und bevor man ihn wegen der Nichteinlösung der Schecks belangt, kann sich noch manches ereignen. Auf jeden Fall gewinnen wir dadurch Zeit.«
Am nächsten Nachmittag ereignete sich denn auch schon etwas. Leon hatte strikte Anweisung gegeben, daß jeder, der nach Mr. Eder fragte, an ihn gewiesen würde. Um drei Uhr erschien ein tadellos gekleideter junger. Mann an der Tür.
»Ist dies die Wohnung von Mr. Eder?«
»Nein, das gerade nicht«, entgegnete Gonsalez. »Hier wohne ich mit meinem Freund, aber wir sind bevollmächtigt, Mr. Eder zu vertreten.«
Der Besucher runzelte argwöhnisch die Stirn.
»Sie haben Vollmacht? Nun gut, dann können Sie mir ja einige Auskünfte geben. Warum sind denn die Schecks bei der Bank gesperrt worden? Mein Chef ist heute morgen zur Bank gegangen, um die Beträge abzuheben, und die Bank weigerte sich, sie auszuzahlen. Weiß Mr. Eder hierüber Bescheid?«
»Wer ist denn Ihr Chef?« fragte Leon liebenswürdig.
»Mr. Mortimer Birn.«
»Und seine Adresse?«
Der junge Mann nannte sie. Mr. Mortimer Birn besaß offensichtlich ein Inkassobüro und zog für eine Reihe von Leuten die Schecks ein, die sie nicht durch ihre Banken gehen lassen wollten. Der junge Mann behauptete mit Nachdruck, daß die Schecks das Eigentum mehrerer Personen seien.
»Ein sonderbarer Zufall, daß alle zehn Schecks an Mr. Birn gelangt sind«, meinte Leon lächelnd.
»Ich möchte lieber Mr. Eder persönlich sprechen«, sagte der Angestellte Mr. Birns unliebenswürdig.
»Sie können ihn nicht persönlich sprechen, er hat einen Unglücksfall gehabt. Aber ich werde Ihren Mr. Birn aufsuchen.«
Das kleine Büro Mr. Birns lag in der Glasshouse Street. Die Art des Geschäftes war weder unten am Eingang noch oben an der Bürotür näher angegeben. Aber Leon Gonsalez sah sofort, als er eintrat, daß er es mit einem Geldverleiher zu tun hatte.
In dem äußeren Raum befand sich niemand. Es war hier gerade Platz genug für einen kleinen Tisch und einen Stuhl. In Kopfhöhe war eine hölzerne Trennungswand eingezogen, um den wenig beneidenswerten Mann, der in diesem Raum arbeiten mußte; vor Zug und unmittelbarer Sicht zu schützen. Aus diesem kleinen Zimmer führte eine Tür in das Privatbüro Mr. Birns.
Leon lauschte, denn er hörte Stimmen.
»... hierherkommen, ohne telefonische Anmeldung, was? Sie kommt immer morgens, habe ich Ihnen das nicht schon hundertmal gesagt?« brüllte jemand.
»Sie kennt mich nicht«, sagte ein anderer unwirsch.
»Sie braucht nur Ihr Haar zu sehen ...«
In diesem Augenblick kam der junge Mann durch die Tür, dem Leon in der Jermyn Street aufgemacht hatte. Eine Sekunde lang sah Gonsalez zwei Herren in dem anderen Zimmer. Der eine war klein und untersetzt, der andere schlank und rothaarig. Der Angestellte machte sofort kehrt, und die laute Unterhaltung hörte plötzlich auf. Als Gonsalez in das Büro gebeten wurde, war nur der Geschäftsinhaber sichtbar.
Birn war der untersetzte, kahlköpfige Mann. Er war sehr liebenswürdig und erzählte Leon dieselbe Geschichte, die ihm der junge Mann vorgetragen hatte.
»Was wird nun Mr. Eder wegen dieser Schecks unternehmen?« fragte er schließlich.
»Ich glaube nicht, daß er sie einlösen wird«, entgegnete Leon höflich. »Sie wissen ja, daß es Spielschulden sind.«
»Es sind aber doch Schecks«, unterbrach ihn nun Mr. Birn. »Und ein Scheck ist ein Scheck, ob er nun für Spielschulden oder für einen Sack Kartoffeln in Zahlung gegeben wird.«
»Ist denn das auch nach dem Gesetz so? Und wenn es so ist – sind Sie doch so liebenswürdig und schreiben mir einen Brief dieses Inhalts. In dem Fall wird der Bezahlung nichts mehr im Weg stehen.«
»Ja, das will ich tun. Wenn Sie es wünschen, kann ich den Brief gleich schreiben.«
»Bitte.«
Aber Mr. Birn schrieb den Brief nicht.
Statt dessen sprach er von seinen Rechtsanwälten und beklagte sich heftig über die Charakterlosigkeit der jungen Leute, die nicht einmal mehr Ehrenschulden einlösen wollten. (Warum er sich damit zufriedengab, daß die Schecks Spielschulden deckten, erklärte er nicht genauer.) Schließlich beendete er die Unterredung etwas plötzlich. Leon hatte inzwischen darüber nachgedacht, wer wohl der dritte Mann gewesen sein mochte, den er vorher durch die Tür gesehen hatte. Vermutlich hatte er den Raum durch eine der drei Türen des kleinen Büros verlassen.
Leon ging die enge Treppe hinunter und trat auf die Straße. Als er auf dem Gehsteig stand, fuhr ein kleiner Wagen vor, aus dem eine junge Dame stieg. Sie sah ihn nicht an, sondern ging an ihm vorbei und stieg die Treppe empor. Sie war allein und hatte das luxuriöse Auto selbst gelenkt. Gonsalez interessierte sich für sie und wartete ungefähr zwanzig Minuten, bis sie wieder herauskam. Sie schien in gedrückter Stimmung zu sein.
Leon wurde neugierig und machte sich sofort auf den Weg zu dem Hospital, in dem Mr. Eder lag. Der junge Mann hatte sich schon so weit erholt, daß er sich mit Leon unterhalten konnte.
Schon seine ersten Worte verrieten seine Furcht und Bestürzung.
»Sagen Sie mir doch, was Sie mit dem Brief gemacht haben? Ich war so töricht –«
»Er ist vernichtet«, erwiderte Leon wahrheitsgetreu. »Nun müssen Sie mir aber verschiedenes erzählen, junger Freund. Wo war die Spielhölle, in der Sie Ihr Geld verloren haben?«
Es dauerte lange, bis er Mr. Eder überzeugt hatte, daß er keinen Vertrauensbruch damit beging, wenn er ihm die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende erzählte.
»Es war also eine Dame, die Sie dorthin gebracht hat«, sagte Leon nachdenklich.
»Sie war aber nicht daran beteiligt«, erwiderte John Eder schnell. »Sie war nur ein Besucher wie ich auch, und sie sagte mir, daß sie fünfhundert Pfund verloren hätte.«
»Selbstverständlich«, entgegnete Leon begütigend. »Ist sie blond? Hat sie tiefblaue Augen und fährt sie ihr eigenes Auto?«
Der junge Mann sah ihn erstaunt an.
»Ja, sie hat mich in ihrem Wagen hingebracht. Auch ist sie blond und hat blaue Augen. Sie ist wirklich eine der schönsten Frauen, die ich jemals gesehen habe. Sie brauchen sich ihretwegen keine Sorgen zu machen. Sie ist ein Opfer wie ich und ebenso betrogen worden, wenn überhaupt ein Betrug vorliegt.«
»Die Adresse war also Paul Street Nr. 196, Mayfair?«
»Die Straße stimmt sicher, hoffentlich auch die Nummer. Aber Sie werden doch nichts gegen die Leute unternehmen? Es war doch mein eigener Fehler. Sind Sie nicht einer der beiden Herren, die unter mir wohnen?«
Leon nickte.
»Vermutlich sind die Schecks bei der Bank präsentiert und nicht alle bezahlt worden.«
»Sie sind noch nicht vorgezeigt – oder jedenfalls noch nicht ausbezahlt worden, will ich lieber sagen. Und wenn Sie sich wirklich erschossen hätten, mein junger Freund, dann wären sie überhaupt nicht ausgezahlt worden, weil dann Ihre Bank verpflichtet gewesen wäre, automatisch alle Zahlungen aus Ihrem Konto einzustellen.«
Manfred mußte an diesem Abend allein speisen, denn Leon war von seinem Besuch noch nicht zurückgekehrt. Erst um acht Uhr brachte ein Bote einen Brief, in dem Leon bat, dem Überbringer seinen Gesellschaftsanzug und mehrere andere Gegenstände zu übergeben.
Manfred war zu sehr an Leons Art gewöhnt, um erstaunt zu sein. Er packte einen kleinen Handkoffer und händigte ihn dem Boten ein. Er selbst verbrachte den Abend mit Briefschreiben.
Um halb drei hörte er auf der Straße eine Schlägerei, und gleich darauf kam Leon herein. Er war gelassen und ruhig, obgleich er kurz vorher einen Zusammenstoß mit einem jungen Menschen gehabt hatte, der ihm vor dem Haus aufgelauert hatte.
Manfred sah, daß er nicht in Gesellschaftskleidung war, sondern den Anzug trug, in dem er am Morgen die Wohnung verlassen hatte.
»Hast du den Koffer bekommen?«
»Ja, es ist alles in Ordnung.«
Leon zog einen kurzen Stock aus Rhinozeroshaut aus der Tasche. Es war eine dieser gefürchteten Waffen, die man in Südafrika »sjambok« nennt, ungefähr eineinhalb Fuß lang. Manfred hatte sie ihm auf seine Bitte am Nachmittag mit den anderen Sachen geschickt. Er besah sich den Schläger im Licht.
»Es ist gut, ich habe ihm die Haut nicht aufgeschlagen. Ich war schon in Sorge.«
»Wer war es denn?«
Leon drehte das Licht aus, bevor er antwortete, zog die Gardinen zurück, öffnete das Fenster und schaute hinaus. Dann trat er wieder vom Fenster zurück, ließ die Vorhänge übereinanderfallen und schaltete das Licht wieder ein.
»Er ist fortgegangen, aber es wird wohl nicht das letzte Mal sein, daß wir von der Bande belästigt werden.«
Er trank ein Glas Wasser, setzte sich an den Tisch und lachte.
»Du weißt doch, daß Mr. Fare von Scotland Yard, der uns ab und zu besucht, unser Freund ist?«
»Ja, natürlich«, entgegnete Manfred lächelnd. »Warum sagst du das – hast du ihn getroffen?«
»Nein, andere Leute haben ihn gesehen und geglaubt, daß ich mit der Polizei in Verbindung stehe. Ich hatte Gelegenheit, Mr. Bingley aufzusuchen, und er und seine Spießgesellen sind davon überzeugt, daß ich ein Spitzel oder, mit anderen Worten, ein Detektiv bin. Man nimmt allgemein in diesen Kreisen an, daß ich von der Polizei beauftragt bin, Spielhöllen zu beobachten. Daher auch die Aufmerksamkeit, mit der man mir nachspürt. Auf meinem Rückweg nach der Jermyn Street hatte ich glücklicherweise vergessen, dem Chauffeur die Nummer zu sagen, und er fuhr an den Leuten vorbei, die auf mich warteten, bevor ich ihn anhalten konnte.«
Er erzählte Manfred von seinem Besuch im Hospital und von der Unterredung mit Mr. Birn.
»Birn und Bingley sind natürlich identisch. Er ist der Besitzer von drei, vielleicht sogar noch mehr Spielhöllen in London. Auf alle Fälle steht er mit seinem Geld hinter diesen Unternehmungen. Ich glaube nicht, daß er sich persönlich in einem dieser Lokale sehen läßt. Das Haus in Mayfair war selbstverständlich heute abend geschlossen, und ich habe mir auch keine Mühe gegeben, es aufzusuchen. Sie waren sehr besorgt, daß Mr. Eder die Polizei benachrichtigen könnte. Aber wie soll ich dir das elegante und schöne Haus in der Bayswater Road beschreiben, wo sich eine Menge reicher und eleganter Leute Abend für Abend versammeln und ihr Glück beim Bakkarat versuchen?«
»Wie bist du denn dahin gekommen?«
»Man hat mich mitgenommen. Ich speiste im Martaus-Klub zu Abend, erkannte Mr. Welby nach der Beschreibung sofort wieder und begrüßte ihn als einen alten Freund. Er ließ sich wirklich täuschen und glaubte, daß er mich schon früher getroffen hätte, bevor ich nach Argentinien ging, wo ich ein Vermögen erwarb. Natürlich setzte er sich an meinen Tisch und trank einige Liköre mit mir, dann stellte er mich einer sehr schönen jungen Dame vor, die ein ungewöhnlich luxuriöses Auto fährt.«
»Du bist nicht erkannt worden?«
Leon schüttelte den Kopf.
»Der Schnurrbart, den ich mir diesen Abend zugelegt habe, war zu geschickt angebracht«, sagte Leon stolz. »Ich habe mir auch viel Mühe gegeben und jedes Haar einzeln angesetzt. Mehr als zwei Stunden habe ich mit dieser Arbeit zugebracht. Auch du hättest mich wahrscheinlich nicht gleich wiedererkannt. Ich habe mit der schönen Miss Margaret getanzt und –« er zögerte.
»Du hast auch mit ihr geflirtet!«
Leon zuckte die Schultern.
»Mein lieber Manfred, es war notwendig«, erwiderte er feierlich. »Es war ein glücklicher Zufall, daß sich ein Diamantring in meiner Tasche befand, den ich von Südafrika mitgenommen hatte – in Wirklichkeit kaufte ich ihn heute nachmittag in der Regent Street für hundertzwanzig Pfund. Es war wirklich großartig, wie ihr der Ring paßte. Sie war vorher nicht gerade in der besten Stimmung, aber durch dieses geschickte Geschenk erhielt ich dann Zutritt zu der Spielhölle in der Bayswater Road. Sie brachte mich selbst in ihrem Auto dorthin. Und ich muß sagen, daß mein Besuch nicht ohne Gewinn war«, meinte er bescheiden und zog ein dickes Paket Banknoten aus der Tasche.
Manfred lachte leise.
Leon war der geschickteste Kartenkünstler Europas. Mit seinen langen, feinen Fingern könnte er mit der unglaublichsten Schnelligkeit Karten mischen. Seine Begabung hätte ihm ein Vermögen eingebracht, wenn er ein berufsmäßiger Falschspieler geworden wäre.
»Es wurde Bakkarat gespielt, und ein äußerst intelligenter Croupier holte die Karten aus einem kleinen Kasten hervor«, erklärte Leon. »Die benutzten Karten wurden in eine Schale geworfen. Der Stoß in dem Kasten war natürlich so sorgfältig gemischt, daß der Croupier die Reihenfolge genau kannte. Es war verhältnismäßig leicht, ein Dutzend Karten aus der Schale zu nehmen, aus dem Zimmer zu gehen und sie so zu ordnen, daß sie abwechselnd günstig und ungünstig für die Bank waren. Aber sie nun auf die Karten hinaufzupraktizieren, die der Croupier verteilte, das war ein Meisterstück, mein lieber George!«
Leon erzählte nicht, daß er die Aufmerksamkeit des Croupiers, der nur selten die Hand von den Karten nahm, und der ganzen Gesellschaft für einen Augenblick abgelenkt hatte, um dieses Kunststück auszuführen. Daß sein Vorhaben geglückt war, bewies das Paket Banknoten, das vor ihm auf dem Tisch lag.
Er legte seinen Rock ab und zog seine alte Samtjacke an. Dann ging er im Zimmer auf und ab und steckte die Hände in die Taschen.
»Margaret Vane«, sagte er leise. »Sie ist eine der wunderbarsten Frauen, die jemals gelebt haben, George. Schön, begabt – und doch, wenn sie wirklich das ist, als was sie heute abend auftrat, dann ist sie das verabscheuungswürdigste, gemeinste Wesen, das ...«
Er schüttelte traurig den Kopf.
»Spielt sie eine führende Rolle oder ist sie auch nur eine von den Betrogenen?«
Leon antwortete nicht gleich.
»Ich weiß es selbst nicht«, sagte er dann langsam. Er erzählte von seinem Erlebnis in dem Büro Mr. Birns, von dem Mann mit den roten Haaren und dem Streit der beiden.
»Ich zweifle keinen Augenblick, daß die Dame, von der er sprach, Margaret Vane war. Aber das allein würde meinen Glauben an ihre Schuld nicht erschüttert haben. Nachdem ich die Spielhölle in der Bayswater Road verließ, wollte ich erfahren, wo sie wohnte. Sie hatte alle Fragen darüber so schlau und geschickt umgangen, daß ich argwöhnisch wurde. Ich nahm ein Auto und wartete, bis sie herauskam. Als sie dann wegfuhr, folgte ich ihr. Sie hielt vor dem Haus Mr. Birns am Fitzroy Square. Dort wartete ein Mann auf sie, der ihren Wagen in Empfang nahm. Miss Vane ging direkt in das Haus und schloß die Tür selbst auf. Ich folgerte daraus, daß Mr. Birn und sie viel enger befreundet sind, als ich vorher dachte.
Ich entschloß mich, zu warten, und ließ den Wagen auf der anderen Seite des Platzes halten. Etwa eine Viertelstunde später kam sie wieder heraus, und zu meiner größten Überraschung hatte sie sich umgezogen. Ich bezahlte den Wagen und folgte ihr zu Fuß. Sie wohnt in der Gower Street.«
»Das ist wirklich sehr merkwürdig«, gab Manfred zu. »Da scheint irgend etwas nicht zu stimmen.«
»Das glaube ich auch. Ich werde morgen zur Gower Street gehen.«
Gonsalez brauchte nur wenig Schlaf. Am nächsten Morgen um zehn Uhr war er schon unterwegs.
Er brachte Manfred einen interessanten Bericht.
»Ihr wirklicher Name ist Elsie Chaucer, und sie wohnt mit ihrem Vater zusammen, der an beiden Beinen gelähmt ist. Sie haben eine kleine Wohnung, ein Dienstmädchen und eine Krankenschwester, die den Vater pflegt. Man weiß nicht viel von ihnen in der Nachbarschaft. Ich konnte nur so viel herausbekommen, daß es ihnen früher sehr gut ging. Der Vater beschäftigt sich den ganzen Tag mit Karten, er will ein neues System ausfindig machen. Das erklärt wahrscheinlich auch ihre Anmut. Sie empfangen niemals Besuch. Die Hausbesitzerin nimmt an, daß das junge Mädchen eine Schauspielerin ist. Es ist alles recht sonderbar«, sagte Leon nachdenklich. »Die Lösung finden wir natürlich bei Birn.«
»Wir werden die Sache schon aufklären, Leon.«
»Das denke ich auch. Seine Wohnung bietet keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.«
*
Mr. Birn war am Abend fast immer zu Hause. Er saß tief vergraben in einem weichen Sessel, rauchte eine lange, teure Zigarre und las die »London Gazette«.
Um Mitternacht kam seine Haushälterin, eine ältere Französin, ins Zimmer. Sie führte seinen Haushalt schon lange und hatte sich ihm durch ihre Verschwiegenheit unentbehrlich gemacht.
»Alles in Ordnung?« fragte Mr. Birn gleichgültig.
»Monsieur, ich wünschte, Sie würden einmal mit Charles sprechen.«
Charles war der Chauffeur Mr. Birns, und zwischen ihm und der Haushälterin bestand eine dauernde Fehde.
»Was hat er denn wieder angestellt?« Mr. Birn runzelte die Stirn.
»Jeden Abend kommt er in die Küche und erhält dort sein Abendessen. Er ist angewiesen, die Tür zu schließen, wenn er fortgeht. Aber als ich um elf Uhr die Tür verriegeln wollte, stand sie offen. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wäre sie offengeblieben, und man hätte uns vielleicht heute nacht umgebracht.«
»Ich werde morgen früh mit ihm sprechen«, brummte Mr. Birn. »Haben Sie die Tür zu Mademoiselles Zimmer aufgelassen?«
»Jawohl, der Schlüssel steckt.«
»Gute Nacht«.« Mr. Birn wandte sich wieder der Lektüre seiner Zeitung zu.
Um halb drei wurde die Haustür leise geöffnet, und Mr. Birn hörte leichte Schritte in der Eingangshalle. Er schaute auf die Uhr, steckte sich eine neue Zigarette an, erhob sich und ging mit steifen Schritten zu dem Geldschrank, der in die Wand eingelassen war. Er schloß ihn auf und nahm eine leere Stahlkassette heraus. Diese stellte er auf den Tisch, öffnete sie und setzte sich dann wieder in seinen Stuhl.
Gleich darauf klopfte es leicht.
»Kommen Sie herein«, sagte Mr. Birn.
Die junge Dame, die abwechselnd Vane und Chaucer hieß, trat in das Zimmer. Sie war sehr geschmackvoll gekleidet. In mancher Beziehung hob das schlichte Kostüm ihre ungewöhnliche Schönheit noch mehr. Mr. Birn betrachtete sie mit Genugtuung.
»Nehmen Sie Platz, Miss Chaucer.« Er streckte seine Hand nach dem kleinen Leinenbeutel aus, den sie in der Hand trug, öffnete ihn und nahm eine Perlenkette heraus. Er ließ sie durch die Finger gleiten und prüfte sie dann sehr genau.
»Ich habe kein Stück davon gestohlen«, sagte sie verächtlich.
»Das ist sehr leicht möglich, aber es sind schon die merkwürdigsten Dinge vorgekommen.«
Dann nahm er die Diamantnadel, die Ringe mit den großen Brillanten und die Smaragdarmbänder in die Hand und betrachtete alles genau und eingehend, bevor sie in den Beutel zurückwanderten, den er in die Stahlkassette legte.
Er sprach nicht, bis er den Kasten wieder in den Safe zurückgestellt hatte. »Nun, wie ist es heute gegangen?«
Sie zuckte die Schultern.
»Ich interessiere mich nicht für Glücksspiele«, sagte sie kurz.
Mr. Birn lachte.
»Sie sind wirklich töricht«, erwiderte er ganz offen.
»Ich wünschte, man könnte mir nicht mehr vorwerfen«, entgegnete Elsie Chaucer bitter. »Sie brauchen mich doch nicht mehr, Mr. Birn?«
»Setzen Sie sich doch«, befahl er. »Wem haben Sie heute abend Gesellschaft geleistet?«
Sie zögerte einen Augenblick.
»Dem Herrn, den Mr. Welby mir gestern abend vorstellte.«
»Ach so, dem Südamerikaner?« Mr. Birn machte ein langes Gesicht. »Von dem haben wir nicht viel Nutzen, das wissen Sie doch? Fast viertausend Pfund haben wir an ihn verloren!«
»Abzüglich des Diamantrings.«
»Sie meinen den Ring, den er Ihnen geschenkt hat? Nun ja, der ist vielleicht hundert Pfund wert, und ich will froh sein, wenn ich sechzig dafür bekomme«, sagte Mr. Birn achselzuckend. »Sie können ihn übrigens behalten, wenn Sie wollen.«
»Nein, danke«, erwiderte sie ruhig. »Ich brauche solche Geschenke nicht.«
»Kommen Sie einmal her«, sagte Mr. Birn plötzlich.
Widerstrebend erhob sie sich, ging um den Tisch herum und stand nun vor ihm.
Er stand auf und nahm ihre Hand in die seine.
»Elsie, ich habe Sie wirklich gern und bin immer Ihr guter Freund gewesen, wie Sie wissen. Wenn Sie mich nicht gehabt hätten, was wäre dann aus Ihrem Vater geworden? Man hätte ihn an den Galgen gehängt! Das wäre doch schrecklich gewesen, was?«
Sie antwortete nicht und löste nur behutsam ihre Hand aus der seinen.
»Sie hätten es wirklich nicht nötig, diese Schmuckstücke und diese schönen Kleider jeden Abend auszuziehen, wenn Sie vernünftig wären«, fuhr er fort, »und –«
»Glücklicherweise bin ich vernünftig, wenn Sie darunter einen klaren Verstand verstehen. Und jetzt möchte ich gehen, wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Birn. Ich bin sehr müde.«
Er ging wieder zu dem Geldschrank, schloß ihn umständlich auf und nahm ein längliches Paket heraus, das in braunes Papier eingeschlagen, sorgsam verschnürt und versiegelt war.
»Das ist eine Brillantenhalskette – sie ist achttausend Pfund wert. Ich werde sie morgen in meinem Safe auf der Bank deponieren – das heißt, wenn Sie –«
»Was meinen Sie?« fragte Elsie Chaucer ruhig.
»Wenn Sie die Kette gern haben wollen, trage ich sie nicht auf die Bank, sondern schenke sie Ihnen. Ich habe nun einmal eine Schwäche für schöne Frauen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ist es Ihnen noch nie aufgefallen, Mr. Birn, daß ich schon viele Halsketten hätte haben können, wenn ich gewollt hätte? Nein, ich danke Ihnen. Ich sehne mich nach dem Ende meines Dienstverhältnisses.«
»Und wenn ich Sie nun nicht freilasse?« sagte Mr. Birn ärgerlich, als er das Paket wieder in den Geldschrank zurücklegte und die Tür sorgfältig abschloß. »Nehmen Sie einmal an, ich brauchte Sie noch für weitere drei Jahre? Was meinen Sie denn dazu? Die Tat Ihres Vaters ist in keiner Weise verjährt, er kann jeden Augenblick verhaftet werden. Kein Mensch darf einen anderen umbringen, selbst wenn der andere ein einfacher Croupier ist. In England steht noch immer der Strang darauf.«
»Ich habe für den Fehltritt meines Vaters schwer genug bezahlt«, erwiderte sie leise. »Sie wissen ja gar nicht, wie ich dieses Leben hasse, Mr. Birn. Ich fühle mich elender als die verkommenste Frau auf der Welt. Ich muß mein Leben damit zubringen, Männer ihrem Ruin entgegenzulocken! Ich wünschte bei Gott, ich hätte niemals diesen Vertrag mit Ihnen gemacht. Manchmal ist mir schon der Gedanke gekommen, meinem Vater offen zu sagen, wieviel ich für seine Sicherheit zahlen muß, und ihn dann entscheiden zu lassen, ob mein Opfer das wert ist.«
Mr. Birn sah sie betroffen an.
»Sie werden keinen solchen Unsinn machen«, sagte er dann scharf. »Ich habe doch eben nur gescherzt, als ich davon sprach, daß Sie mir noch länger helfen sollten. Nun gehen Sie aber besser nach Hause, meine Liebe, und legen sich schlafen.«
Er begleitete sie die Treppe hinunter bis zur Haustür und schaute ihr noch nach, bis sie in der dunklen Straße verschwand. Dann schloß er die Tür fest zu und ging in sein Zimmer zurück. Er trank das halbe Glas Whisky, das er auf dem Tisch hatte stehen lassen, auf einen Zug aus, aber sein Gesicht verzog sich dabei.
»Das Zeug schmeckt aber sonderbar«, sagte er, ging zwei Schritte auf die Tür zu und fiel plötzlich bewußtlos nieder.
Während Mr. Birn Elsie Chaucer begleitet hatte, war ein Fremder in das Zimmer geschlüpft. Er trat jetzt hinter den Fenstervorhängen hervor, neigte sich über den Mann und öffnete ihm den Kragen. Dann ging er leise in den schwach erleuchteten Gang und winkte jemand. Manfred kam geräuschlos herein – er trug Gummiüberschuhe.
Er blickte auf Mr. Birn und dann auf die Überreste in dem Whiskyglas. »Du hast ihm wohl Buthylchlorid gegeben?«
»Ganz recht«, bestätigte Leon sachlich, »den ›Knockout-Tropfen‹, der in Verbrecherkreisen so beliebt ist.«
Er durchsuchte die Taschen Mr. Birns, nahm den Schlüsselbund heraus, öffnete den Safe und trug das versiegelte Paket zum Tisch. Dann sah er nachdenklich auf den Bewußtlosen.
»Er wird nur fünf Minuten unter der vollen Wirkung des Schlafmittels stehen, aber ich denke, das genügt!«
»Hast du dir eigentlich überlegt, welche Folgen derartige Dämmerzustände unter dem Einfluß von Buthyl haben können?« fragte Manfred. »Ich habe dich beobachtet, wie du das Hyocin mit Morphium gemischt hast, bevor wir fortgingen.«
»Ich habe die Quantitäten nicht genau gemischt«, erwiderte Gonsalez sorglos. »Und wenn er tatsächlich abkratzte, würde ich nicht darum weinen. Du mußt ihm nach einer halben Stunde noch eine Spritze geben, George, dann werde ich wieder hier sein.«
Er nahm einen kleinen, schwarzen Kasten aus der Tasche und öffnete ihn. Die Injektionsspritze war schon gefüllt. Sachkundig rollte er den Ärmel des Mannes zurück und machte die Injektion.
Mr. Birn wachte am nächsten Morgen mit fürchterlichen Kopfschmerzen auf.
Er konnte sich nicht darauf besinnen, wie er zu Bett gekommen war, aber offensichtlich hatte er sich selbst entkleidet, denn er hatte seinen violettseidenen Pyjama an. Er klingelte und erhob sich. Obgleich der ganze Raum sich um ihn zu drehen schien, konnte er sich doch auf den Füßen halten.
Seine Haushälterin trat ein.
»Was ist eigentlich gestern abend mit mir passiert?« fragte er.
Sie sah ihn verblüfft an.
»Nichts – als ich mich von Ihnen verabschiedete, saßen Sie in der Bibliothek im Sessel.«
»Dann ist es dieser ganz abscheuliche Whisky«, brummte er.
Ein kaltes Bad und eine Tasse Tee milderten die entsetzlichen Schmerzen, aber er war noch sehr schwach auf den Beinen, als er in die Bibliothek ging.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und ein furchtbarer Schrecken erfaßte ihn. Wenn man ihm ein Schlafmittel in den Whisky gegossen hatte! Er konnte sich zwar nicht vorstellen, wann das möglich gewesen wäre. Aber wenn jemand einen Einbruch verübt hatte ...!
Er öffnete den Geldschrank und atmete erleichtert auf.
Das Päckchen lag noch an seiner Stelle. Dann war es also doch dieser verdammte Whisky. Er frühstückte nicht, bestellte seinen Wagen und fuhr direkt zur Bank.
Als er später in sein Büro kam, fand er seinen jungen Angestellten in einem Zustand höchster Verwirrung und Aufregung
»Vorige Nacht müssen Einbrecher hier gewesen sein, Mr. Birn!«
»Einbrecher?« wiederholte Mr. Birn entsetzt. Aber dann lachte er. »Ach, die können ja doch nicht viel holen. Aber wie kommen Sie zu der Annahme?«
»Ich will darauf schwören, daß jemand hier war. Der Geldschrank stand offen, als ich heute morgen hierherkam, und eins der Geschäftsbücher war herausgenommen – es lag auf Ihrem Tisch.«
Birn lächelte verschmitzt.
»Nun, ich wünsche den Herren Einbrechern viel Glück.«
Trotzdem war er betroffen und sah alle seine Papiere sorgfältig durch, ob eines der wichtigen Dokumente fehlte. Alle Schuldscheine, die er besaß, befanden sich im Gewahrsam der Bank, in derselben großen Kassette, die nun auch das kostbare Halsband barg. Es war ihm zur Bezahlung einer Schuld übergeben worden.
Kurz vor Tischzeit kam der Clerk wieder in sein Büro.
»Der bewußte Herr ist wieder da«, sagte er flüsternd.
»Wen meinen Sie denn?« fragte Mr. Birn mürrisch.
»Sie wissen doch, der Herr von der Jermyn Street, der die Schecks von Mr. Eder gesperrt hat.«
»Lassen Sie ihn herein.«
»Nun, mein Herr«, begann er liebenswürdig, als Leon hereinkam, »haben Sie sich die Sache überlegt?«
»Ja – ich kann Sie doch wohl allein sprechen?«
Birn gab seinem Angestellten einen Wink, den Raum zu verlassen.
»Ich bin heute gekommen, um alle Schulden zu begleichen, zum Beispiel die Schuld eines Mr. Chaucer.«
Mr. Birn starrte ihn an.
»Wirklich, ein liebenswürdiger Herr, dieser Chaucer! Ich habe ihn heute morgen besucht. Vor einiger Zeit hat er einen solchen Nervenschock erlitten, daß ihm beide Beine gelähmt wurden. Er konnte infolgedessen seine Wohnung seit langer Zeit nicht mehr verlassen.«
»Sie erzählen mir da Zeug, das mich nicht im geringsten interessiert«, sagte Mr. Birn grob.
»Der arme Mensch steht unter dem Eindruck, daß er einen rothaarigen Croupier totgeschlagen hat, der in Ihren Diensten stand: Offenbar hat er gespielt und den Kopf verloren, als er sah, daß Ihr Croupier seine letzten Banknoten einstrich.«
»Mein Croupier!« entgegnete Mr. Birn mit meisterhaft geheuchelter Entrüstung. »Was meinen Sie denn eigentlich? Ich habe überhaupt keine solchen Angestellten.«
»Er schlug ihn mit einem Geldrechen über den Kopf. Am nächsten Morgen sind Sie zu Mr. Chaucer gegangen und haben ihm vorgelogen, daß Ihr Croupier tot sei. Damit versuchten Sie Geld von ihm zu erpressen. Sie erfuhren dann aber, daß er ruiniert war und nichts mehr zahlen konnte. Aber er hatte eine schöne Tochter, und Sie kamen auf die Idee, daß sie Ihnen bei Ihren Plänen behilflich sein könnte. So hatten Sie eine kleine Unterredung mit ihr, und sie willigte ein, in Ihre Dienste zu treten, um ihren Vater vor dem Ruin und dem Zuchthaus zu retten.«
»Sie erzählen mir hier ein hübsches Märchen«, sagte Birn, aber er war kreidebleich geworden, und seine Hand, mit der er die Zigarre aus dem Mund nahm, zitterte bedenklich.
»Um Ihren Plan zu fördern«, fuhr Gonsalez fort, »haben Sie dann noch eine Annonce unter den Todesanzeigen der ›Times‹ erscheinen lassen, und ebenso haben Sie einer kleinen Zeitung einen großaufgemachten Bericht über das Begräbnis von Mr. Jinkins eingesandt. Das haben Sie nur getan, um Mr. Chaucer und seine Tochter vollständig einzuschüchtern und in die Hand zu bekommen.«
»Sie faseln doch nur dummes Zeug«, murmelte Mr. Birn und versuchte zu lächeln.
»Ich habe heute morgen Mr. Chaucer davon überzeugen können, daß Mr. Jinkins lebt, sich der besten Gesundheit erfreut und jetzt in Brighton eine Spielhölle leitet. Das ist natürlich eine Filiale Ihrer vielen Unternehmungen. Nebenbei mochte ich Ihnen noch sagen, daß Sie Miss Elsie Chaucer nicht wiedersehen werden.«
Mr. Birn atmete schwer.
»Sie wissen ja verteufelt viel zu berichten«, begann er wütend, aber als er Leons Blick begegnete, wurde er plötzlich still.
»Birn«, sagte Gonsalez sanft, »ich werde Sie ruinieren – ich werde Ihnen den letzten Pfennig des Geldes abnehmen, das Sie den törichten Besuchern Ihrer Spielhöllen gestohlen haben.«
»Versuchen Sie das nur«, erwiderte Birn unsicher. »Es gibt noch ein Gesetz in diesem Lande! Gehen Sie doch hin und berauben Sie die Bank! Da werden Sie ja sehen, wo Sie hinkommen.« Er lachte hämisch. »Auf meiner Bank habe ich Werte von etwa zweihunderttausend Pfund – gehen Sie doch hin, mein schlauer Freund, und bitten Sie den Bankdirektor, Ihnen mein Depot auszuhändigen. Die Papiere liegen in Safe Nr. 65«, fügte er höhnisch hinzu. »Das ist die einzige Art, wie Sie mich ruinieren können.«
Leon erhob sich achselzuckend.
»Möglicherweise irre ich mich. Vielleicht können Sie sich nach alledem doch noch Ihrer unrechtmäßigen Verdienste erfreuen.«
»Darauf können Sie Ihren Kopf wetten.« Mr. Birn zündete seine Zigarre wieder an.
Aber an demselben Nachmittag erhielt der Spielhöllenbesitzer eine dringende Nachricht von seiner Bank, und die Unterredung, die er mit Leon Gonsalez am Vormittag gehabt hatte, fiel ihm wieder ein. Auf dem schnellsten Weg fuhr er zu der Bank.
»Ich weiß nicht, was mit Ihrem Safe los ist«, erklärte ihm der Geschäftsführer. »Einer meiner Clerks bemerkte einen sonderbaren Geruch in der Stahlkammer. Wir haben natürlich die Sache sofort untersucht und dabei entdeckt, daß aus dem Schlüsselloch Ihres Safes Rauchschwaden herauskamen.«
»Warum haben Sie ihn nicht sofort geöffnet?« schrie Birn entsetzt und suchte zitternd nach seinen Schlüsseln.
»Weil ich keinen Schlüssel habe. Das müssen Sie doch wissen.«
Mr. Birn öffnete den Safe hastig. Eine dicke, gelbe Rauchwolke kam daraus hervor, die ihn beinahe bewußtlos machte ... Von all seinen Bankpapieren und Schuldscheinen war nichts übriggeblieben als ein Häufchen stinkender, schwarzer Asche, eine flache Glasflasche und ein paar beschmutzte Brillanten ...
*
Der Detektiv, der auf telefonischen Anruf von Scotland Yard herbeigeeilt war, schüttelte den Kopf.
»Es sieht so aus, als ob Sie aus Versehen ein Paket hineingelegt haben, das eine scharf ätzende Säure enthielt. Unsere chemische Abteilung wird schon herausbekommen, welche Säure es war. Entweder ist sie herausgeflossen, oder das Päckchen wurde durch eine Explosion gesprengt.«
»Das kann nicht stimmen«, jammerte Mr. Birn. »Das einzige Päckchen, das dort lag, enthielt ein Brillantenhalsband.«
»Die Überbleibsel haben wir gefunden«, erwiderte der Beamte. »Sind Sie denn sicher, daß niemand an das Päckchen kommen und diese vernichtende Säure hineinschieben konnte? Auf diese Weise ließe sich die Sache leicht erklären. Ein flaches Fläschchen, wie wir es gefunden haben – der Verschluß aus einer Masse, die bald von der Säure zerfressen wurde –, mehr brauchen wir doch nicht. Hat vielleicht jemand das Päckchen vorher geöffnet und die Flasche hineingesteckt?«
»Das ist ganz unmöglich!« stöhnte Mr. Birn.
Er saß da, hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und weinte um sein verlorenes Vermögen.