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›Wer war die Frau in Mr. Merrivans Arbeitszimmer? Der Hausmeister des Verstorbenen hörte deutlich eine weibliche Stimme. Mr. Merrivan hatte an diesem Abend keinen Besuch. Der Hausmeister gibt an, daß er niemanden hereingelassen habe. Eine halbe Stunde nachdem Mr. Merrivan ihm sagte, er könne zu Bett gehen, kam er die Treppe noch einmal herunter und hörte Stimmen im Arbeitszimmer. Wer war dieser geheimnisvolle Besuch? Aller Wahrscheinlichkeit nach kann diese Frau Aufschluß geben über das doppelte Verbrechen, für das man infolge seiner seltsamen Begleitumstände keine Parallele finden kann.‹

Andy las den Artikel gelassen durch. Andere Blätter brachten ähnliche Berichte. Die Reporter hatten sich an den Hausmeister gewandt, das war unvermeidlich, da er den Mann schließlich nicht hinter Schloß und Riegel halten konnte. Offensichtlich war seine Warnung erfolglos gewesen.

Der erste Berichterstatter, den er am nächsten Morgen traf, brachte wieder die Angelegenheit mit der Frau zur Sprache. Er hielt sie für äußerst wichtig.

»Wahrscheinlich könnte sie uns verschiedenes mitteilen, aber den Mord selbst kann sie sicher nicht aufklären. Man hat gesehen, daß sie um elf Uhr das Haus verließ – der Mord wurde aber erst später begangen.«

»Wer sah sie denn das Haus verlassen?«

»Das ist ein kleines Geheimnis«, sagte Andy lächelnd, »das ich im Augenblick noch nicht preisgeben kann. Aber im Ernst, ich würde der Frau nicht zu viel Bedeutung beimessen. Vielleicht war es eine Dame aus der Nachbarschaft, die natürlich vor dem Gedanken, in der Presse erwähnt zu werden, zurückschreckt.«

Dem zweiten Berichterstatter gegenüber war Andy schon bedeutend ausführlicher.

»Merkwürdigerweise war ich es selbst, der sie das Haus verlassen sah. Ich saß an meinem offenen Fenster. Es war eine schöne, warme Nacht und beinahe so hell, als ob der Mond schiene. Ich beobachtete, wie sie über den Rasen ging. Sie kam unter meinem Fenster vorbei und ging, soviel ich sehen konnte, die Hauptstraße entlang.«

Andrew Macleod war sich selbst ein Rätsel. Er verfolgte ein schwieriges Ziel, Er wollte Stella ganz aus diesem Fall heraushalten und den Mörder vor Gericht bringen. Die Leichtigkeit, mit der er log, setzte ihn in Erstaunen, denn er war sonst sehr wahrheitsliebend. Nie hätte er eine Vermutung als Tatsache hingestellt, um die Verurteilung eines Gefangenen zu erzwingen, der seiner Meinung nach schuldig war. Und jetzt log er schamlos.

Jedesmal, wenn ihm ein neuer Berichterstatter gemeldet wurde, erwartete er einen Mann mit einem hartgeschnittenen Gesicht, der schwieriger zu behandeln sein würde als alle anderen. Glücklicherweise war dieser Mr. Downer noch nicht erschienen.

»Wäre das nicht ein Fall für Downer?« fragte Andy einen der Journalisten.

»Er ist gerade in Urlaub. Und ich bin recht froh darüber, denn ich arbeite nicht gern mit ihm zusammen.«

Andy lächelte. Auch er war erleichtert, daß Downer sich noch nicht eingefunden hatte. Er hatte eben auf das Telegramm von Scotland Yard, ob man ihm Hilfe senden sollte, geantwortet. Sicher war ein großer Teil der Lösung des Mordfalles in London zu: finden. Die Nachforschungen dort überließ er gerne den Beamten von Scotland Yard, und so drahtete er zurück, daß er mit der Hilfe, die er an Ort und Stelle vorgefunden habe, auskommen werde. Aber dann erschien ein inoffizieller und unerwarteter Helfer in Beverley Green, als Andy gerade den letzten Zeitungsreporter abgefertigt hatte. Es war elf Uhr vormittags.

Ein großer, hagerer Mann in Sportanzug und Golfschuhen betrat das Gästehaus. Der Hausmeister machte ein langes Gesicht, als er ihn sah.

»Guten Morgen, Johnston. Ist Macleod oben?«

»Der Herr Doktor ist in seinem Wohnzimmer«, erwiderte der Hausmeister langsam. »Ich bin sehr überrascht, Sie wiederzusehen, Herr Professor.«

›Vieraugen-Scottie‹ nahm seine goldgeränderte Brille ab und putzte sie mit einem Taschentuch.

»Die ganze Sache war ein Irrtum, die Polizei hat sich entsetzlich blamiert. Aber ich nehme ihnen das nicht übel. Derartige Fehler können der höchstentwickelten Polizei unterlaufen. Nein, man kann den Beamten keinen Vorwurf machen, selbst wenn man persönlich noch so unangenehme Erfahrungen machen muß. Es ist besser, daß ein Dutzend unschuldiger Bürger auf kurze Zeit verhaftet wird, als daß ein Verbrecher entkommt.«

»Jawohl, Sir«, erwiderte Johnston verwirrt und nahm sofort wieder seine frühere ehrerbietige Haltung an. »Sie möchten Doktor Macleod sprechen?« Er zögerte einen Augenblick. »Welchen Namen darf ich nennen?«

»Natürlich Bellingham – Professor Bellingham –«

»Welcher Professor will mich sprechen?« rief Andy von oben.

»Bellingham – der Herr, der früher hier wohnte.«

»Teufel noch mal«, sagte Andy verblüfft. »Führen Sie ihn herauf.«

Scottie trat seelenruhig ein, entließ Johnston durch ein Kopfnicken und schloß die Tür.

»Welchem Wunder verdanke ich denn die Ehre Ihres Besuchs, Scottie?«

»Der gründlichen Arbeit unserer wunderbaren Justiz.« Scottie nahm unaufgefordert Platz. »Ich nehme das aber nicht übel, Macleod.«

Andy mußte lachen.

»Sie sind mit Ihrem Alibi also tatsächlich durchgekommen?«

Scottie nickte.

»Der Richter sagte, daß er mich nicht verurteilen könne und daß anscheinend eine Verwechslung vorliege. Solche Dinge sind schon manchmal vorgekommen und werden immer wieder passieren. Unter uns – ich spielte an dem bewußten Abend mit Felix Lawson, dem bekannten Lebensmittelhändler –«

»Sie meinen den Hehler?« fragte Andy. »Ich weiß genau, daß er schon einmal verurteilt wurde.«

»Wärmen Sie doch alte Skandalgeschichten nicht wieder auf. Die Hauptsache ist, daß ich wieder hier bin.«

Andy drehte sich plötzlich zu seinem Besucher herum und sah ihn groß an.

»Welchen Namen haben Sie denn dem Hausmeister angegeben?«

»Bellingham – Professor Bellingham. Es ist natürlich ein Deckname. Und was ist schon ein Professor? Jemand, der sein Fach beherrscht. Und ich beherrsche doch die Geologie wirklich vollkommen, vor allem die Versteinerungen. Devonische Formationen sind mein Fachgebiet.«

»Wir wollen uns nicht über die Frage Ihrer Vorbildung streiten«, meinte Andy gutgelaunt. »Warum sind Sie eigentlich wiedergekommen? Sie sind mit knapper Not der Verurteilung entgangen, was meiner Meinung nach nur durch die größten Meineide möglich war –«

Scottie zog seinen Stuhl näher heran und beugte sich zu Andy.

»Ich erzählte Ihnen doch schon einmal etwas über diesen Ort«, sagte er düster. »Ich wußte, daß sich hier ein schweres Unglück ereignen würde – und das ist doch nun auch wirklich eingetroffen.«

Andy nickte. Er hatte häufig an Scotties Prophezeiung gedacht.

»Und nun möchte ich Ihnen noch mehr mitteilen«, fuhr Scottie fort. »Streng vertraulich, natürlich.«

»Wissen Sie denn etwas, was den Mord aufklären könnte?«

»Nein, ich weiß nichts, aber ich vermute manches. Ich kam her, weil der Ort nicht an der großen Hauptverkehrsstraße liegt und weil mir der Aufenthalt hier vielversprechend erschien. Es wohnen hier viele reiche Leute, denen man eine Menge Gold und Silber abnehmen könnte. Die Frau des Architekten Sheppard trägt Perlen, die fast so groß wie kleine Taubeneier sind. Ihr Mann ist natürlich ein Gauner. Aber das nur nebenbei. Ich sage Ihnen, hier ist Beute zu finden – aber nur für einen Eingeweihten. Natürlich habe ich den ganzen Ort vom Klubhaus bis zu Sheppards Garage genau untersucht. Nur ein Einbruch in Mr. Nelsons Haus wäre zwecklos. Aber wahrscheinlich wissen Sie das ebensogut wie ich. Ich will damit allerdings nicht behaupten, daß es keinen Schatz enthielte –«

»Kommen Sie doch zur Sache«, sagte Andy kurz, aber es tat ihm gleich leid, denn Scottie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er erwähnte jedoch Nelsons Haus und den Schatz, den es vielleicht barg, nicht mehr.

»Ich habe mich auch eingehend auf Mr. Merrivans Grundstück umgesehen. Er ist der einzige, der sich genügend gegen Einbrecher und Diebe gesichert hat. An jedem seiner Fenster befindet sich eine elektrische Alarmklingel. Nur an dem einen Fenster an der Rückseite des Arbeitszimmers fehlt sie. Es hat einen Patentriegel an einer Ecke, man kann es unmöglich von außen öffnen. Außerdem besitzt er einen Revolver, den er in einem kleinen Schrank hinter seinem Schreibtisch aufbewahrt. Die Tür dazu sieht genauso aus wie die übrigen Paneelbretter der Wand.«

»Die habe ich nicht entdeckt«, sagte Andy interessiert. »Wie öffnet man sie denn?«

Scottie schüttelte den Kopf.

»Ich bin nie selbst in dem Zimmer gewesen, ich habe es nur von außen gesehen. Ich will Ihnen noch etwas anderes erzählen, Macleod. Das hintere Fenster hat deshalb keine elektrische Alarmklingel, weil der alte Merrivan gewöhnlich durch dieses Fenster nachts seine Wohnung verließ. Unter dem Fenster steht außen eine breite Steinbank. Haben Sie die gesehen?«

»Wohin ging er nachts?«

»Das weiß ich nicht, ich habe ihn nur einmal beobachtet. Aber er stieg so schnell und gewandt aus dem Fenster, daß er diesen Weg zweifellos schon häufig benützt hat. Er ging dann durch den Obstgarten, der Himmel mag wissen, wohin. Ich bin ihm niemals gefolgt – das wäre zu indiskret gewesen. Er war ebenso zu seinen Abenteuern berechtigt wie jeder andere auch.«

»Wann haben Sie ihn aus dem Fenster steigen sehen?«

»In der Nacht, bevor Sie mich festnahmen. Es war ungefähr halb zwölf. Ich sah ihn nicht zurückkommen, aber ich beobachtete einen Mann, der ihm nachging. Ich habe ihn natürlich nicht so genau gesehen, daß ich sagen könnte, wer es war, oder daß ich ihn unter zwanzig anderen herausfinden könnte. Auf jeden Fall bin ich ihm nicht nachgegangen, weil mich sein Haus mehr interessierte. Ich vermutete schon, daß er in irgendwelche Schwierigkeiten geraten würde. Nun, haben Sie meine Mitteilungen interessiert?«

»Natürlich. Haben Sie nicht noch eine Vorstellung von der Größe des Mannes, der Mr. Merrivan folgte?«

»Er war klein«, erwiderte Scottie, der selbst über ein Meter achtzig maß.

»Etwa eins fünfundfünfzig?«

»Das könnte stimmen. Aber vielleicht war er noch kleiner. Ich möchte fast sagen, daß er Ihnen kaum bis zur Schulter reichen würde. Aber das ist sehr schwer zu beurteilen, besonders nachts. Ich bemerkte den Mann schon, bevor Merrivan herauskam. Die Stämme im Garten sind mit weißem Kalk bestrichen, und ich sah, wie er an einem Baum vorbeiging. Das beunruhigte mich ein wenig. Ich war natürlich nur auf meine eigene Sicherheit bedacht und schlich ihm deshalb nicht nach. Dann erschien Merrivan und nahm den Weg, den ich Ihnen schon beschrieben habe. Er war verschwunden, bevor der andere Mann, der ihn im Obstgarten beobachtete, sich rührte. Dann sah ich ihn wieder im Mondschein auftauchen. Ich hatte den Eindruck, daß er ihm nicht zum erstenmal nachspürte – vielleicht hatte er auch einen, guten Grund dafür.«

»Ihre Aussagen lassen den Fall in einem ganz anderen Licht erscheinen«, meinte Andy nachdenklich. »Und wenn ich die Wahrheit sagen soll, Scottie, so war ich selbst bemüht, einen solchen Gesichtspunkt zu finden. Das gibt uns wenigstens einen Anhalt. Haben Sie denn nie etwas von einer Skandalgeschichte im Ort gehört?«

»Ich kümmere mich nicht um solche Dinge. Ich habe mich nur am nächsten Morgen im Golfklub unter den Damen umgesehen, aber ich konnte keine entdecken, die einen Mann von Geschmack und Urteilskraft irgendwie hätte begeistern können.«

Andy überlegte eine Weile.

»Ich weiß nicht recht, was ich mit Ihnen machen soll, Scottie. Sie könnten mir von großem Nutzen sein, aber natürlich können Sie hier nicht Ihre alte gesellschaftliche Rolle weiterspielen. Immerhin bin ich froh, Sie wiederzusehen, obwohl es gegen das Gerechtigkeitsgefühl geht, daß Sie frei herumlaufen. Aber was soll ich nun mit Ihnen anfangen? Vielleicht nehmen die Nelsons Sie in ihrem Hause auf – ich weiß allerdings nicht, wie Mr. Nelson darüber denkt.«

Er fügte noch hinzu, daß die Tochter sicher nichts dagegen einzuwenden habe, woraus Scottie sogleich folgerte, daß Andy zum mindesten Stellas Bekanntschaft gemacht haben mußte.

»Warten Sie hier einen Augenblick, während ich hinübergehe und lesen Sie meine Korrespondenz nicht, wenn Sie es vermeiden können.«

Scottie war empört und protestierte. Aber Andy lachte nur.

Stella, die glücklich war, wieder zwei tüchtige Dienstboten zu haben, arbeitete draußen im Garten, als Andy durch das Tor trat. Sie zog die Handschuhe aus und begrüßte ihn.

»Stella, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Eben ist ein alter Freund von mir angekommen, den ich nicht gut im Gästehaus unterbringen kann. Aber seine Hilfe und sein Beistand wären mir sehr erwünscht.«

»Warum kann er denn nicht im Gästehaus wohnen?« fragte sie erstaunt.

»Nein, das geht wirklich nicht. Es ist nämlich Scottie – Sie erinnern sich doch noch an ihn?«

»Der Professor? Ich dachte, der säße im Gefängnis.«

»Es lag ein Justizirrtum vor«, erklärte Andy ruhig. »Er wurde freigesprochen. Könnten Sie ihn nicht in Ihrem Haus aufnehmen? Ich weiß, daß ich eine ungewöhnliche Bitte ausspreche, denn Scottie ist zweifellos ein Verbrecher. Aber ich verspreche Ihnen, daß er Sie nicht enttäuschen oder Ihnen gar das Silber stehlen wird. Vor allem aber müßten wir Ihrem Vater eine glaubhafte Erklärung geben.«

Sie überlegte.

»Wenn mein Vater wirklich davon überzeugt werden könnte, daß es ein Justizirrtum war – ich meine, daß er nur irrtümlich verhaftet wurde – und daß es dem Professor infolgedessen peinlich ist –«

»Ja, so könnten wir es ihm beibringen«, erwiderte Andy und ging ins Haus, um Mr. Kenneth Nelson zu fragen.

Er fand ihn im Atelier an der Arbeit. Er malte gerade mit besonderer Sorgfalt Pygmalions linkes Auge. Mit großem Interesse hörte er die Geschichte von Sconies Rückkehr.

»Ich verstehe vollkommen«, sagte er dann. »Dieser arme Mann möchte natürlich jetzt nicht mehr all den Leuten begegnen, und wenn er, wie Sie sagen, seine Studien über die geologischen Formationen von Beverley zu Ende bringen will, werde ich ihn mit Freuden bei mir aufnehmen.«

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