Читать книгу Die Fastenkur und das Morgenfasten - Edward H. Dewey - Страница 7
II.
ОглавлениеEines Tages wurde ich zu einer der ärmsten Familien gerufen, wo ich es mit einem Fall von Typhus zu tun hatte, der für mich von großer Bedeutung werden sollte. Die Patientin war ein blasses, hoch aufgeschossenes, früh reif gewordenes Mädchen, das seit mehreren Monaten an Verdauungsstörungen und anderen Übeln gelitten hatte. Ich fand sie in einem derartig kranken Zustande, dass sie drei Wochen hindurch nicht einmal einen Schluck Wasser oder eine Dosis Medizin bei sich behalten konnte. Als sie endlich Wasser vertragen konnte, ließen sich alsbald allerlei Symptome der Besserung an ihr beobachten; der Geisteszustand wurde besser, die Gesichtsfarbe klärte sich, ja, die Patientin schien tatsächlich stärker zu werden. In Anbetracht der zuerst stark belegten Zunge und des fauligen Geruches im Munde war die Besserung geradezu auffallend.
Ich war darüber so erstaunt, dass ich sofort beschloss, es ruhig so fort gehen zu lassen und alles der Natur zu überlassen. Und so ging es denn weiter bis ungefähr zum 35. Tage, wo nicht der Sarg, sondern etwas zum Essen bestellt wurde, und damit war das Ende der Krankheit erreicht. Puls und Temperatur waren normal geworden und die Zunge war so rein wie die eines Säuglings.
Das war der schwerste, von Genesung begleitete Krankheitsfall, den ich bis dahin gehabt hatte, und doch war anscheinend die Abzehrung des Körpers nicht bedeutender als bei anderen längeren Krankheiten, in denen die Patienten mehr oder weniger Nahrung hatten zu sich nehmen können. Und hier bei dieser Typhuskranken war keine Nahrung, sondern nur Wasser für den Durst verabreicht worden und das Ende war — Hunger und vollständige Heilung.
Ein von Seiten der Natur so vollständiges Ignorieren alles Herkömmlichen in der ärztlichen Praxis war mir noch nicht vorgekommen. Wäre die Kranke imstande gewesen, sowohl Nahrung als Medizin zu sich zu nehmen, und hätte ich beides verboten, so hätte man im Falle eines tödlichen Ausganges mich dafür verantwortlich gemacht; es wäre eben ein Tod durch Verhungern gewesen. „Nähret, nähret eure Kranken, ob sie essen wollen oder nicht“, sagen alle Ärzte, sagen alle Bücher — „nähret sie, damit sie ihre Kräfte nicht verlieren, damit das Leben im Körper unterhalten werde.“ Und hier war die Natur so absurd, alle durch so langen Gebrauch geheiligten Vorschriften vollständig über den Haufen zu werfen und auf ihre eigene Weise die Lebenskräfte zu unterhalten, während sie die Krankheit heilte.
Ich konnte mich nun auf sehr viele Fälle besinnen, in welchen Patienten infolge starker Abneigung gegen Nahrung tagelang, ja Wochen hindurch so wenig Nahrung zu sich genommen hatten, dass man es vernünftigerweise nicht dieser zuschreiben konnte, dass das Leben erhalten worden war. Die Wirkung, welche diese Beobachtung auf mich ausübte, war so groß, dass ich anfing, dasselbe Verfahren bei anderen Patienten anzuwenden, und immer hatte ich dieselben Resultate zu verzeichnen. Der Körper zehrte selbstverständlich während der Zeit der Krankheit ab; aber dasselbe war ja der Fall bei denjenigen, die genährt wurden. Und die Arzneien ignorierte ich gänzlich. Freilich, etwas zum Einnehmen musste ich geben; man verlangte es nun einmal so; aber von Medizin war nichts darin vorhanden. Nur wenn es galt Schmerz zu lindern, machte ich Gebrauch von Arzneien, ebenso gelegentlich in den Fällen, wo ich es für ratsam hielt, das ganze Verdauungssystem von seinem fauligen Inhalt zu befreien. Fortab war die Heilung der Krankheit ganz und gar Sache der Natur.
Für mich waren die Beweise für die Nützlichkeit der Nahrungsvorenthaltung, solange Appetitlosigkeit vorwaltet, sowie für die absolute sichere Wirkung dieses Mittels zu überzeugend, als dass ich über mein ferneres Tun auch nur einen Augenblick im Unklaren hätte sein können. Im Allgemeinen konnte ich meine Praxis des Nichternährens durchführen, indem ich — hauptsächlich zur Beruhigung der stets besorgten guten Bekannten — verschiedene Fleischbrühen und andere Suppen gestattete, von denen keiner meiner Patienten soviel zu sich nahm, dass das Fasten dadurch hätte beeinträchtigt werden können. Bei chronischen Krankheiten, wo der Tod unvermeidlich war, wie Krebs, Schwindsucht usw. gestattete ich den Kranken, das zu genießen, was ihnen am wenigsten zuwider war. Milch habe ich meinen Patienten stets vorenthalten.
Diese ist in ganz Amerika dasjenige Mittel zur Erhaltung der Lebenskräfte, zu dem man greift, wenn keine andere Nahrung mehr genommen werden kann. Milch geht bei normaler Verdauung in die Form zähen Käses über; Käse sollte aber immer gründlich gekaut werden, bevor er hinuntergeschluckt wird.
Sir William Roberts aus England stellt in seinem eingehenden Werk über „Verdauung und Diät“ die Behauptung auf, dass gekäste Milch im Krankheitszustande nicht im Magen, sondern erst in dem Zwölffingerdarm verdaut würde; er gibt uns aber keinen Grund für seine Annahme an, dass der Zwölffingerdarm noch die Kraft zum Verdauen hat, wenn im Magen solche nicht mehr vorhanden ist. Mit diesen neuen Ansichten besuchte ich nunmehr die Kranken hauptsächlich als Zeuge der Naturkräfte in Krankheiten, ohne jedoch hinter das Geheimnis zu kommen, wie und wodurch die Lebenskräfte im Krankheitsfalle erhalten werden.
Was sich nun auch über meine Experimente sagen ließ, ob man sie dummdreist, tollkühn oder mutig nennen mochte, meine Überzeugung hielt stand, solange ich sie an meinen Gönnern versuchen konnte. Aber es kam die Zeit, wo mein Glaube auf die härteste Probe gestellt werden sollte.
Eine Epidemie von Diphtheritis brach in unserer Nachbarschaft aus, und nachdem vier Kinder in ebenso vielen Familien in unserer allernächsten Nähe dieser tückischen Krankheit zum Opfer gefallen waren, wurde auch eines meiner Kinder, ein Knabe von drei Jahren, davon ergriffen. Während seines ganzen kurzen Lebens hatte er mir nicht eine einzige trübe Stunde bereitet, und wenn es eine Sünde ist, aus den Kindern Abgötter zu machen, so war ich der größte aller Sünder.
Zwei meiner tüchtigsten und erfahrensten Kollegen kamen in dieser Stunde der Heimsuchung zu mir; Chinin und eine Eisenlösung schlugen sie vor — und die kleine Kehle war doch nicht mit Kupfer ausgeschlagen — außerdem so viel von gutem, starkem Alkohol als nur irgend möglich. Um das in den Magen hinunterzuschaffen, wäre es nötig gewesen, die kleinen Hände zu fesseln und die Kinnladen gewaltsam aufzusperren. Er hatte von mir nie anderes als Liebkosungen kennen gelernt, und nun sollte ich ihn damit martern, dass ich ihn mit Gewalt zu veranlassen suchte, dieses widerwärtige Zeug durch seinen blutenden Hals über wunde Flächen gleiten zu lassen, wobei sich der Körper unter der neuen Qual winden musste. Dies wäre keine vernünftige Behandlung für Geschwüre gewesen, und der Verlust an Kraft durch das Widerstreben, sowie die Gewebsverletzung der Kehle waren auch nicht gering zu achten, obgleich meine Kollegen das nicht in Betracht zu ziehen schienen.
Es traf sich, dass ich ausgehen musste und nicht so schnell zurückkehren konnte, als ich erwartet wurde. Da hatte die besorgte Mutter die Medizin nach den Rezepten der Ärzte anfertigen lassen und dem Kinde eine Dosis davon gegeben, hatte damit aber einen Anfall nervöser Aufregung heraufbeschworen, der erst in einer Stunde vorüberging. Nunmehr sah sie selbst ein, dass eine solche Behandlung für ein Pferd grausam gewesen wäre. Von da ab bekam mein kleiner Patient nichts weiter als Wasser für den Durst und eine schwache Arznei, um die ängstliche Mutter zufrieden zu stellen. Und so stand ich neben meinem leidenden Kinde mit der ganzen medizinischen Welt im Widerspruch, stark genug — und froh im Gefühl meiner Stärke — es gegen die barbarische Grausamkeit einer anerkannten Behandlungsweise zu schützen. Mein einziger Trost in dieser Zeit seiner größten Not war, dass ich ihm die größte Freundlichkeit zeigen konnte, und dass, wenn der Tod kommen musste, ich mir nicht vorzuwerfen brauchte, ihn unnötig gequält zu haben. Und die Natur, welche alles tat, was dem leidenden Körper wohltun konnte, trug den Sieg davon. Die ärztliche Wissenschaft ist seitdem zum Diphtherieserum vorgeschritten und hat mich fast allein gelassen auf meinem einsamen Wege, auf dem ich im Schauen und nicht im Glauben wandle. Dass ich aber damals, als es noch nicht dieses Spezialmittel gab, mit meiner Behandlungsweise meiner Zeit voraus war, kann mir wohl niemand abstreiten.
Die Todesfälle, die im Laufe der Jahre in meiner Praxis vorkamen, waren immer derart, dass keiner von den Augenzeugen mir je eine Andeutung machte, dass ich den Tod durch Verhungern veranlasst hätte, während die Genesungsfälle eine Reihe von fast mathematischen Beweisen dafür waren, dass beim Abnehmen der Krankheit die Kraft der Muskeln, sowie aller Sinne und Fähigkeiten zunehmen. Jeder Arzt, der eine ausgedehnte Praxis hat, muss Fälle gehabt haben, in welchen dieselben Vorgänge und Veränderungen zu verzeichnen waren, und in denen die Menge der eingenommenen Nahrung dieses allseitige Zunehmen der Kräfte in keiner Weise erklären konnte.
In dem Glauben, dass ich eine höchst wichtige physiologische Entdeckung gemacht hätte, eine Entdeckung, welche die bisherige diätetische Behandlung der Kranken vollständig umgestalten würde, gewannen meine Krankenbesuche ein ungewöhnliches Interesse für mich. Ich sah in jeder möglichen Veränderung nur neue Lebensäußerungen, betrachtete die physischen Veränderungen genau so, wie ich das Entfalten der schwellenden Knospen zu Blättern und Blüten beobachte, las in den Zügen des Gesichts die Veränderung in Seele und Geist und — staunte immer mehr über den Umfang unseres Arzneischatzes.
Aber noch immer fehlte mir der Schlüssel zu dem großen Geheimnis, wodurch eigentlich die Lebenskräfte in Zeiten des Krankseins erhalten werden, bis ich zufällig eine neue Ausgabe von Yeo's Physiologie an der Stelle aufschlug, wo sich folgende Tabelle über den prozentuellen Verlust der einzelnen Körperbestandteile beim Hungertode findet:
Fett | 97 % |
Muskeln | 30 % |
Leber | 56 % |
Milz | 63 % |
Blut | 17 % |
Nervenzentren | 0 % !! |
Und die Erleuchtung kam, als ob die Sonne plötzlich um Mitternacht im Zenit erschienen wäre. Ich sah auf einmal im menschlichen Körper einen großen Vorrat von vorverdautem Nahrungsmaterial und das Gehirn im Besitze der Kraft, dasselbe so zu absorbieren, dass damit sein Gewebsbestand bewahrt bleibt, auch wenn keine Nahrung genossen wird, oder wenn die Kraft, solche zu verdauen, fehlt. In dieser Fähigkeit des Gehirns, sich selbst zu ernähren, ist allein die Erklärung dafür zu suchen, dass dasselbe selbst dann klar funktioniert, wenn der Körper schon zum Skelett geworden ist.
Ich konnte jetzt zu meinen Kranken mit einer Formel treten, welche alle Geheimnisse der Erhaltung der Lebenskräfte und der Krankenheilung erklärte, und das war von praktischem Gewinn für mich. Wusste ich doch nun, dass es keinen Hungertod geben konnte, solange der Körper nicht den Skelettzustand erreicht hatte, dass also das Gehirn zum Erhalten seines Gewebsbestandes und zum normalen Funktionieren keiner Nahrung bedarf, wenn die Krankheit das Verlangen darnach zerstört hat. Könnte man sonst irgendwie erklären, wie noch in der Todesstunde, in den letzten Augenblicken des Lebens mit flüsternder Stimme Willensverfügungen gemacht werden können, welche von dem Gesetz als gültig anerkannt werden? Nun wusste ich, dass der Hungertod nicht eine Sache von Tagen, sondern von Wochen und Monaten, jedenfalls eines Zeitraumes ist, welcher die durchschnittliche Dauer der Genesung von akuten Krankheiten weit überschreitet.