Читать книгу Emotiondancer - E.F. v. Hainwald - Страница 6
ОглавлениеAls die Tür hinter Kaja ins Schloss klickte, hatte sie das Gefühl, dass sich die Emotionsdämmung ihrer Wohnkuppel wie ein schützender Umhang um ihr Herz legte. Vorwärtstaumelnd rang sie noch immer nach Atem. Ihr Sichtfeld war am Rand verschwommen und pulsierte im Takt ihres Blutes. Ihr schmerzten alle Organe, als hätte man sie verprügelt.
Nachdem der Anfall vorüber gewesen war, hatte Kaja die Flucht ergriffen. Die sie umgebenden Menschen waren ebenso überlastet gewesen wie sie. Doch sie wollte ihre verzerrten Gesichter nicht sehen – sie wusste nur zu gut, was sie jedes Mal anrichtete. Außerdem hatten die negativen Emotionen noch immer wie giftiger Nebel in der Luft gehangen. Kaja hatte das Leid der anderen spüren können. Es hatte sich tief in ihre Magengrube gebohrt. Die kalte Ehrlichkeit des Cybernets war unumstößlich.
Ihr Fuchs Sioux kam herangetapst. Er schnupperte an ihrem Bein, hob den Kopf und fiepte leise. Ein zaghaftes Gefühl der Sorge strich durch Kajas Wahrnehmung. Sie rang sich zu einem Lächeln durch und tätschelte dem Tier den Kopf. Kaja stolperte zum Sofa und warf auf dem Weg ihren Rucksack in die Ecke. Sie ließ sich in die weichen Polster fallen und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
Lichtblitze zuckten durch die Dunkelheit hinter ihren Lidern und das Rauschen ihres Blutes in den Ohren vermischte sich mit einem unangenehmen Klingeln. Der Atem wollte nur schwer in ihre Lunge strömen.
Die Emotionsdämmung schloss die anderen Menschen aus. Bisher hatte sie immer das Glück gehabt, dass diese Anfälle innerhalb der Wohneinheit gekommen waren. Die Dörfler wussten nichts von ihrer Situation, kannten sie nur als eigenbrötlerische Terraformerin, die ihre Beine nicht leiden konnte. Dadurch war ihr Leben fast normal abgelaufen – schon seit einigen Jahren.
Kaja hatte sich in trügerischer Sicherheit gewogen.
»Ich muss weg«, keuchte sie zwischen ihren Händen, während ihr der eigene, warme Atem entgegenwehte.
Der Anfall war viel zu auffällig, um als kleine Depression abgetan zu werden, dachte sie weiter und vergrub frustriert die Finger in ihrem Haar.
Kurzentschlossen sprang Kaja auf. Sie stürmte zu dem Rucksack, drehte ihn um und schüttete den gesamten Inhalt aus. Dann wirbelte sie hektisch durch ihre Wohnung, zerrte Schubladen auf, wühlte in Schränken und stapelte Kleidung sowie kleine Geräte auf einen bunten Haufen. Unter Sioux’ neugierigen Augen begann sie ihn weiter auszusortieren.
Nur das Nötigste landete in ihrem alten Rucksack: Wechselkleidung, Not-Reparaturwerkzeug für ihre so ungeliebten, kybernetischen Prothesen, dazu ein einfaches Diagnosegerät und eine identitätslose Bezahlkarte, die sie auf dem Schwarzmarkt ein kleines Vermögen gekostet hatte. Schließlich griff sie zu ihrem schmalen Notiz-Tablet. Kaja hielt inne und starrte die weiß-glänzende Oberfläche an. Mit einem gezielten Tippen an dessen Seite erwachte das Gerät zum Leben. Mit dem Zeigefinger scrollte sie durch endlosen Text.
»Kalte Fakten ohne Leben«, flüsterte sie resigniert.
Nichts der geschriebenen Worte konnte ihr Herz bewegen. Die festgehaltenen Erinnerungen besaßen keinen emotionalen Anker in Kajas Geist und waren damit nur leere Hülsen. Sie hatte gehofft, mit der Niederschrift ihrer Erlebnisse dem Verlust entgegenwirken zu können, doch nun waren sie nur ein weiterer Beweis der unumstößlichen Wahrheit.
Sie seufzte laut, schaltete das Tablet wieder aus und steckte es in den Rucksack. Es zurückzulassen würde bedeuten, auch das Wissen zu verlieren. Schließlich streckte sie ihre Hand aus, wie sie es schon heute Morgen getan hatte, und aktivierte das Hologramm ihres Fingerreifs mit einem Fingerstreich. Das Bild erschien über ihrer Handfläche.
Kaja starrte es an. Ihre Augen weiteten sich.
»Nein«, keuchte sie erschrocken auf.
Die am Morgen noch so geliebte Projektion, war für sie nun ein Abbild von Fremden. Sie wusste, dass dies ihre Eltern sein mussten, dennoch gab es keinerlei Gefühl in Kajas Innerem. Ein fremder Mann und eine unbekannte Frau lächelten sie an. Die einzige Person, welche ihr eine Emotion entlockte, war das kleine Mädchen – sie selbst.
Doch dessen freundliches Gesicht erzeugte nur Niedergeschlagenheit und Abscheu. Kaja hasste sich in diesem Moment einfach nur noch.
Sie sackte in sich zusammen. Ihre Hand fiel leblos an ihrer Seite hinab. Das Hologramm erlosch. Sie würde so gern weinen, doch für welchen Verlust sollte sie noch Tränen vergießen? Zwei Menschen, die ihr wichtig sein sollten, waren schlicht verschwunden und hinterließen nichts als eine alles verschlingende Leere in ihrem Herzen.
»Ich habe doch alles versucht«, murmelte sie, erschüttert vor sich hinstarrend. »Ich habe so viele neue Erfahrungen gemacht und mich extra auf die Gefühle konzentriert. Warum?«
Wut stieg in ihr auf. Sie schlug sich, so fest sie konnte, gegen ihre Brust, wodurch sie heftig husten musste.
»Warum?!«, brüllte sie das auf dem Rucksack liegende Notiz-Tablet an, als wäre darin die Antwort verborgen.
Kaja hatte viele neue Erfahrungen gesucht, Emotionen durchlebt und versucht diese zu bewahren. Doch so zufällig die Anfälle sie auch heimsuchten, so unwillkürlich entrissen sie ihr Erinnerungen.
Mit jedem Schock zerbrach etwas in ihrem Selbst, verlor ein Andenken seinen emotionalen Anker. Ohne diese Kopplung waren es nur unwichtige Informationen für ihren Geist – und das menschliche Gehirn löschte unnötigen Ballast.
Nachdem Kaja auf diese Weise jegliche Verbindung zu einer etwaigen Heimat oder Freunden verloren hatte – Freunde … hatte sie je welche gehabt? Sie wusste es nicht mehr –, waren die Gefühle für ihre Familie ein unendlich wertvoller Schatz gewesen. Doch auch dieser war nun trüb und wertlos geworden.
»Wann werde ich mein eigenes Aussehen vergessen?«, flüsterte Kaja.
Bei diesem Gedanken verrauchte die Wut und verwandelte sich in einen paradoxen, inneren Schmerz. Sobald sie aus ihrem Spiegelbild eine fremde Person anblickte, hätte sich Kaja völlig verloren. Würde sie diesen Menschen mögen, oder das neue Gesicht hässlich finden?
Kälte kroch ihre Adern hinauf. Kajas Körper begann plötzlich zu zittern. Der drohende Verlust ihres Selbst lähmte ihre Gedanken. Tränen fingen an ihre Wangen hinabzulaufen, obwohl es keine Emotion gab, die sie hätte verursachen können.
Doch bevor sie der mentale Zusammenbruch völlig vereinnahmen konnte, holte sie die Türklingel zurück. Kaja sprang auf. Mit abgesenktem Oberkörper, wie ein Tier in Erwartung eines Angriffs, starrte sie die blanke Metallfläche ihrer Tür an.
Ein erneutes Klingeln.
»Sie haben Besuch«, trällerte das Haussystem. »Es wurde eine Nachricht aufgesprochen.«
Kaja blinzelte ein paar Mal.
»Wiedergeben.« Ein Wort, das sie alle Überwindung kostete.
»Hallo, Kaja«, spielte das System eine tiefe Männerstimme ab. »Bitte öffne die Tür. Wir müssen über das eben Geschehene sprechen.«
Ihre Finger zuckten. Schweiß lief ihre Schläfen hinab.
Sie sind schon hier. Ich habe zu lange herumgebummelt, schoss es ihr durch den Kopf. Verdammt.
»System«, ächzte sie.
»Online.«
Die stets zuvorkommende, zugleich kalte Stimme, begann Kaja unwillkürlich zu nerven.
»Nachricht: Einen kleinen Moment, bitte«, wies sie gereizt an.
»Übertrage.«
Kaja zwang sich, ihren Körper aufzurichten. Sie atmete ein paar Mal tief durch, ballte ihre Hände zu Fäusten und lockerte sie wieder. Schließlich zappelte sie ein wenig herum, damit ihre verkrampften Muskeln wieder weich wurden.
Okay, okay. Ich schaffe das. Nur eine kurze Zeit ganz normal wirken. Die Emotionen unter der Übertragungsgrenze lassen. Zwischendurch an etwas Schönes denken, ermahnte sie sich in Gedanken und warf einen Blick auf Sioux, der besorgt dreinblickend neben ihr saß. Guter Gedanke. Lieber Hausfuchs. Niedlich. Flauschig.
»System«, krächzte Kaja und räusperte sich. »Öffne die Tür.«
Mehrere Personen traten daraufhin in ihre Wohnung. Der dunkelhaarige Mann an der Front war leicht einzuordnen, denn er trug eine Polizeiuniform. Es folgten die Ärztin aus der Klinik sowie der Verwalter dieser Siedlung. Kaja kannte ihn von den digitalen Konferenzen über ihre Arbeitseinsätze. Dort hatte er mit stets locker sitzendem Hemd umgänglich gewirkt, doch dieses Mal war er auffallend gut gekleidet – als müsste er eine offizielle Bekanntmachung regeln.
Die Artillerie, dachte Kaja und spürte, wie ihr Magen einen Salto machte. Schnell schaute sie zu Sioux. Niedlich, flauschig, liebevoll. Panik und Zuneigung hielten sich gerade noch so die Waage.
»Wie kann ich helfen?«, fragte sie mit leicht wankender Stimme.
»Keine Sorge, Kaja. Wir sind hier, um zu helfen«, versuchte die Ärztin sie zu beschwichtigen. »Ich hatte dich bei der Reparatur wiederholt gewarnt.«
Kaja zog verwundert die Augenbrauen nach oben.
»Der Anfall vorhin im Dorf. Nach der Reparatur der Beinprothesen ohne Nervensensoren ist die Möglichkeit einer Cyberpsychose sehr hoch«, antwortete der Verwalter.
»Wir können nicht das Risiko eingehen, dass sich so etwas wiederholt«, warf der Polizist ein, während er seinen Blick demonstrativ durch ihre Wohnung schweifen ließ. »Wir haben kein persönliches Problem mit dir. Vermutlich ist das nicht das erste Mal, oder? Warum sonst diese starke Emotionsdämmung in deiner Wohnkuppel?«
Treffer. So viel dazu, dass niemand etwas geahnt hat. Die haben blitzschnell nachgeforscht, dachte Kaja zunehmend frustriert, hielt jedoch plötzlich inne.
»Sie denken, das war eine Cyberpsychose?«, fragte sie ein wenig überrascht.
»Dieser Schluss liegt nahe«, entgegnete die Ärztin nickend. »Es gab keinerlei Probleme bei der Reparatur. Du warst emotional stabil. Für einen solch plötzlichen Gefühlsausbruch, der ganze Menschengruppen erfassen konnte, gibt es keinen anderen Grund.«
Konnte es tatsächlich so einfach sein, fragte sich Kaja in Gedanken.
Sie hatte nie wirklich darüber nachgedacht, sondern angenommen, mit diesem Problem geboren worden zu sein. Doch wenn man berücksichtigte, dass sie nicht mehr wusste, warum sie die kybernetischen Beine hatte, war das gut möglich.
»Cyberpsychose«, wiederholte Kaja leise und versuchte diese Möglichkeit gedanklich anzunehmen.
»Wir sind jedoch nicht ausreichend medizinisch ausgestattet, dich dahingehend genauer zu untersuchen«, fuhr die Ärztin weiter fort, während sie wie eine Lehrerin den Zeigefinger hob und auf Kajas Brust richtete. »Vor allem, wenn das schon einige Jahre unbemerkt in dir kocht.«
»Du hättest längst mit uns darüber sprechen sollen«, stellte der Verwalter fest und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Auf jeden Fall können wir dich in diesem Zustand nicht weiter beschäftigen.«
»Dabei hat mein Zustand doch das Arbeitsverhältnis stark begünstigt«, platzte es aus Kaja hinaus.
Sie bereute die Worte sofort und biss sich auf die Zunge, als ihr Vorgesetzter missbilligend mit dem Kiefer malte.
Doch auf einmal nickte er zustimmend.
»Das ist richtig«, gab er unvermittelt zu, was Kajas Mund vor Erstaunen kurz offenstehen ließ. »Deswegen habe ich als Wiedergutmachung einen Vorschlag zu unterbreiten.«
»Wir werden dich nicht davonjagen, aber du verstehst sicher, dass etwas passieren muss«, ergänzte der Polizist mit gutmütigem Gesichtsausdruck. »Eine leichte Schizophrenie kann das Cybernet durch das Teilen von Emotionen abfangen. Das eben war allerdings so heftig, dass deine Mitmenschen Schaden erlitten haben.«
Tatsächlich fühlte Kaja eine Mischung aus Sorge und Wohlwollen von ihnen ausgehen. Das Gefühl kribbelte unter ihrer Kopfhaut und strich freundlich an ihren Haarwurzeln entlang. Sie ging zu ihrem Sofa und setzte sich. Dann wies sie mit der Hand neben sich und auf ein paar Hocker.
»Was ist das für ein Vorschlag?«, bohrte sie nach, während sich die anderen ebenfalls niederließen.
»Ich habe in Abstimmung mit den Klinikakten eine Empfehlung geschrieben«, begann die Ärztin neben ihr und begann plötzlich nervös am Stoff ihrer Hose zu zupfen. »Der mentale Schaden muss analysiert werden. Neben besseren Prothesen sollte es auch eine Korrektur im emotionalen Bereich geben.«
»Was für eine Korrektur?« Kaja horchte alarmiert auf.
»Nun, das ist nicht mein Fachgebiet …«, erwiderte sie und warf einen hilfesuchenden Blick zu dem Polizisten auf dem Hocker gegenüber, gepaart mit einem flauen Gefühl im unteren Bauch, das auch Kaja erreichte.
»Eine Erinnerungskonstruktion.« Die Worte des Polizisten waren wie ein Faustschlag in Kajas Gesicht.
»Was …?« Sie schüttelte ungläubig ihren Kopf. »Abgesehen davon, dass so etwas nur in einer der Großstädte möglich ist und bei Weitem mehr kostet, als ich es mir leisten kann, denke ich nicht…«
»Du erhältst vom NWF eine zeitlich begrenzte Besucher-ID. Außerdem trägt der Konzern die Kosten für die Voruntersuchung und, falls notwendig, auch die einer Korrektur«, unterbrach sie der Verwalter mit ernster Stimme. »Natürlich werden wir das schriftlich zu deinem Schutz festhalten. Ich hoffe, dadurch können wir dich ein wenig dafür entschädigen, dass du das durchmachen musstest.«
Kaja glotzte ihn an wie ein Schaf.
Der Kerl denkt, ich würde die NWF verklagen, weil sie wissentlich mein Handicap ausgenutzt haben, erkannte sie und konnte sich ein Grinsen gerade noch so verkneifen. Deswegen pudern sie mir plötzlich den Hintern mit Geld und wollen sich schriftlich absichern.
»Dein Gefühl der Freude heißt, wir haben eine Vereinbarung?«, hakte er nach.
Eigentlich hatte Kaja wenig Lust, sich von einem Erinnerungskonstrukteur durchleuchten zu lassen. Das freudige Gefühl hatte mit Genugtuung zu tun, nicht mit einer Zusage. Dennoch wusste sie, dass sie hier nicht mehr bleiben konnte. Sie war schon an vielen Orten gewesen. Über kurz oder lang hatte sie stets flüchten müssen, weil die Anfälle andere gefährdeten.
»Abgesehen davon bist du ein Sicherheitsrisiko«, schob der Polizist hinterher. »Das Geschehen wurde automatisch protokolliert. Das Gesundheitssystem hilft auch Menschen mit weniger Geld, wenn ihr Zustand zu risikobehaftet für die Allgemeinheit ist.«
Obwohl seine Worte freundlich geklungen hatten und damit eher wie ein cleverer Hinweis zu verstehen waren, fühlte sie sich unter Druck gesetzt. Kaja konnte nicht unterscheiden, ob das ihr eigenes Gefühl war, oder der Drang des Beamten.
»Du solltest diese Chance nutzen«, sprach die Ärztin und legte Kaja eine Hand auf den Oberschenkel.
Normalerweise würde die Wärme dieser Berührung eine beruhigende Empfindung der Nähe erzeugen, doch ihre Beine waren nun einmal aus gefühllosem Stahl. Daher erzeugte es nur eine noch größere Befremdlichkeit in ihr.
»Ich … werde darüber nachdenken«, lenkte Kaja zögerlich ein.
»Wir können dich nicht dazu zwingen, du kannst in diesem Zustand jedoch nicht hierbleiben.« Der Polizist schaute ihr offen in die Augen. »Die Leute haben jetzt Angst vor dir. Du bist unberechenbar geworden.«
Kaja nickte nur.
Nachdem die Besucher wieder gegangen waren, blickte sie weiter stumm auf den Boden vor sich. Sioux sprang auf das Sofa und legte sich neben sie, doch sie nahm es kaum wahr. Nach einer Weile blickte sie hoch zur Decken-Holografie.
Der vollkommene, falsche Himmel wurde von den warmen Strahlen der Abendsonne zerrissen.
Sie streckte langsam ihren Arm aus, öffnete die Hand und ließ die Projektion des Ringes erscheinen. Das Bild der zwei Fremden, die neben der kindlichen Kaja standen, war durch das helle Licht beinahe durchsichtig.
Vielleicht ist das meine Chance. Vielleicht die Einzige, dachte sie und fasste ihren Entschluss.
Kräftiger Wind zog an Kajas Zöpfen. Das Rauschen der Baumkronen tief unter ihren Füßen wirkte beinahe wie das von Wellen eines Ozeans. Zum Glück war sie schwindelfrei, denn der Blick durch die groben Gitterplatten unter ihren Stiefeln offenbarte die extreme Höhe der Plattform.
Sie war um eine breite Säule aus Stahl und Beton montiert. Darauf befanden sich ein kleines Wartungshäuschen sowie ein wuchtiger Transformator aus Keramik und endlosem Kabelgewirr. Die gesamte Konstruktion lag im Schatten eines blattförmigen Solarsegels, das sie mit Energie versorgte. Zur Kompensation von etwaigen Spannungsabfällen befand sich an der Spitze noch ein langer Trichter, der durch den Wind in Schwingung versetzt wurde und so Strom lieferte.
Ein leises Summen ertönte und ließ die Gitter unter Kajas Füßen leicht vibrieren. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, weil es durch ihre stählernen Knochen bis zur Wirbelsäule übertragen wurde und dort unangenehm kribbelte. Es bedeutete, dass die Feldgeneratoren in nächster Nähe aktiviert worden waren.
Ihr Blick schweifte in die Ferne und folgte den Ringen bis zum Horizont. Die dünnen, golden glänzenden Kreise wurden von schmalen Stangen an Ort und Stelle gehalten. Ihr Durchmesser betrug mehrere Meter. Inmitten des letzten erkennbaren Ringes blinkte ein silbernes Licht – der nahende Warentransportzug.
Man konnte kaum glauben, dass die filigran wirkenden Ringe den durch die Landschaft rasenden Bullet-Train tragen konnten. Ihr Geheimnis war ein Magnetfeld. Gewicht und Vibrationen verpufften innerhalb dieser unsichtbaren Kraft.
Nach wenigen Sekunden war der Transport-Zug schon so nah, dass Kaja ihn gut erkennen konnte. Er schoss durch die Ringe und schwebte scheinbar schwerelos in der Luft. Stur folgte die Bahn den verborgenen Leitkräften. Seine schmale, lange gezogene Front wirkte wie eine Pistolenkugel und hatte ihm seinen Namen verliehen. Es gab keinen Zugführer – alles lief vollautomatisch ab.
Stimmen wehten von unten zu Kaja herauf. Zwei Personen erreichten mit dem engen Aufzug die Plattform. Ein Mann und eine Frau traten ins Freie. Kaja kannte sie aus dem Supermarkt – der Zug lieferte also diesmal nicht nur Gerätschaften für die Terraforming-Prozesse, sondern auch größere Warenkontingente für die Siedlung. Als sie Kaja sahen, nickten sie ihr kurz grüßend zu und plauderten dann weiter unbekümmert miteinander.
Es hat sich also noch nicht überall herumgesprochen, dachte Kaja erleichtert. Vermutlich weiß es in wenigen Tagen jeder. Zum Glück bin ich vorerst unterwegs.
Der Zug glitt leise neben die Plattform und stoppte. Die Seite des Mittelwaggons faltete sich komplett zusammen und ermöglichten einen ungehinderten Zugang. Sofort machten sich die beiden daran, diverse Pakete mit einer Anti-Grav-Transportplatte abzuladen. Kaja beobachtete sie eine Weile, bevor sie sich ebenfalls dem Zug näherte. Vorsichtig trat sie über die Schwelle, durch deren Lücke sie den Wald tief unter sich aufblitzen sehen konnte.
»Guten Tag«, ertönte die Stimme des Zugsystems. »Dies ist kein Personentransport. Bitte verlassen Sie den Zug.«
Kaja kramte die ID-Card hervor, die sie von dem Verwalter erhalten hatte, und schaute sich nach einem Scanner um.
»Bitte verlassen Sie den Zug«, wiederholte das System.
Sie lief den Waggon ab und musterte die verschiedenen Bedieneinheiten an den Wänden. Irgendwo musste ein Lesegerät sein. Vermutlich waren die IDs der beiden Händler bereits hinterlegt und wurden automatisch beim Betreten abgescannt. Kaja war jedoch ein Fremdkörper. Dieser Bullet-Train würde sich keinen Millimeter von der Stelle rühren, solange sie sich unautorisiert darin befand.
»Bitte verlassen Sie den Zug«, fuhr das System unbeeindruckt fort.
»Ist ja gut, verdammt«, murrte Kaja genervt. »Hey, wisst ihr, wo sich der Kartenscanner befindet?«, fragte sie schließlich die beiden Händler, die weiterhin unbeirrt ihre Waren ausluden.
Die Frau schaute sie verwundert an, kicherte leise und hob dann theatralisch ihren Zeigefinger.
»System«, sprach sie laut. »Öffne den ID-Card-Scanner.«
Ohne dieser Aufforderung einer Antwort zu würdigen, erschien plötzlich die Projektion eines Anmeldeformulars neben der Tür.
»Hätte ich auch drauf kommen können«, grinste Kaja, rollte wegen ihrer eigenen Blödheit mit den Augen und winkte der Händlerin dankend zu.
Diese zwinkerte ihr verschmitzt zu und widmete sich weiter ihrer Arbeit. Kaja tippte sich durch das Formular und hielt die Karte in das rot umrandete, leuchtende Rechteck der Holografie. Ein bläulicher Lichtstrahl glitt darüber. Einen Wimpernschlag später huschte er auch über Kajas Augen. Sie zuckte kurz überrascht zusammen. Einen Iris Scan hatte sie nicht erwartet, auch wenn eine biologische Identitätsprüfung in einem solchen Ausnahmefall nur logisch war.
»Bestätige Mitfahrerlaubnis«, erwiderte das System. »Bitte begeben Sie sich in Waggon sieben.«
Kaja trottete durch den Zug, bis vor ihr eine Schleuse mit einer gelben Sieben darauf auftauchte. Als sie den Wagen betrat, leuchtete plötzlich ein gläserner Kasten auf. Sein grünes Licht ließ noch andere, identische Räumlichkeiten in dem Waggon erahnen.
»Bitte nehmen Sie zu ihrer Sicherheit in der isolierten Kabine Platz«, meldete sich das System erneut zu Wort. »Nur dort sind Ihre biologischen Komponenten vor den Strahlungsfeldern der Transporteinheiten geschützt.«
Kaja hielt kurz inne und musterte den gläsernen Raum. Darin befanden sich ein Doppelsitz sowie ein schmales Tischchen, das mit dem Boden verschraubt war. Es war nicht sonderlich komfortabel, doch am meisten störte sie, dass es im gesamten Zug keinerlei Fenster gab. Natürlich war das nicht notwendig, schließlich wurden normalerweise nur Gegenstände damit transportiert. Diese Kabinen waren lediglich für etwaige Notfälle gedacht. Dennoch hielt sich ihre Lust, in dieser rasenden Büchse mitzufahren, in Grenzen. Widerwillig setze sie sich. Die gläserne Tür schloss sich hinter ihr.
Plötzlich erloschen alle Lichter. Kaja saß in absoluter Dunkelheit. Nicht die kleinste Diode durchbrach die Finsternis. Bunte Flüssigkeiten schienen vor ihren weit aufgerissenen Augen ineinanderzufließen. Die Rettung kam in Form einer kleinen Holo-Fläche, welche vor ihr auftauchte. Darauf sah man die Wegstrecke des Zuges und wo genau er sich darauf befand, dazu Werte wie Innen- und Außentemperatur, Bahnzustand sowie eine Zeittafel.
»Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten«, plapperte das System leblos. »Dieser Zug ist nicht für Personentransporte ausgestattet. Leider verfügt die Datenbank über kein Unterhaltungsprogramm.«
»Na toll«, flüsterte Kaja. Die Worte kamen ihr in dieser Stille so laut wie Donnerschläge vor.
Als ihr Blick erneut auf die Projektion fiel, erkannte sie, dass sich der Zug bereits in Bewegung gesetzt hatte. Der Punkt auf der Fahrlinie bewegte sich ziemlich flott vorwärts. Dennoch spürte Kaja nichts: kein Summen war zu hören, kein Magnetfeld zu spüren. Isolationskabine traf es also perfekt – sie war mit sich völlig allein.
Wenigstens könnte ich hier ungestört einen Anfall bekommen, dachte sie nüchtern und lehnte sich zurück.
Wirklich entspannen konnte sich Kaja allerdings nicht. Der Entzug aller Reize warf sie auf sich selbst zurück. Ihr Herzschlag schien immer lauter zu werden und das Piepen in ihren Ohren beinahe unerträglich. Daher schloss sie die Augen und versuchte ein wenig zu schlafen.
Doch ihre Gedanken kreisten unentwegt um das, was nun vor ihr lag. Immer mehr Fragen türmten sich in ihren Gedanken zu einem wackeligen Berg auf.
Würde man herausfinden, was sie so quälte? War es wirklich nur eine Cyberpsychose? Wenn ja, woher hatte sie ihre Prothesen und vor allem, wieso? Würde eine Erinnerungskonstruktion vielleicht ihre alten Erinnerungen wieder hervorholen? Würde sie mögen, was sie sah? War die Kaja der Vergangenheit eine ganz andere Person als die Kaja der Gegenwart?
Sie würde eventuell Antworten auf alle diese Fragen finden – an dem Ort, welcher den Anbeginn der neuen Zeit mit sich gebracht hatte.