Читать книгу Emotiondancer - E.F. v. Hainwald - Страница 8
ОглавлениеDaheim.
Es war ein Gefühl, als gehörte Kaja hierher – beinahe, als wäre sie schon immer an diesem Ort gewesen. Diese Emotion war ihr vertraut und fremd zugleich. Die modernen, mit geometrisch-floralen Ornamenten versehenen Fassaden und die alles dominierenden Hologramme sowie die fortschrittlichen Menschen waren wie ein Deja-vu. Manchmal war sie versucht zu erraten, was hinter der nächsten Kreuzung ihre Sinne bestürmen würde.
Auf dem breiten Hauptboulevard pulsierte das Leben. Die meisten Leute waren zu Fuß unterwegs. Die geringe Grundfläche der Stadt war schnell zu überbrücken, sodass man öffentliche Verkehrsmittel nur für den Ebenenwechsel benötigte. Trotzdem war der Verkehr ziemlich rege. Manchmal schossen die lang gezogenen Fluggleiter der Besserverdienenden nur knapp über die im Licht glänzenden Dächer hinweg.
Kaja passierte gerade eine Unterführung, die mehr einem Urwald als einer Straße glich. Sie konnte die Betonwände hinter der Sintflut aus Blättern kaum noch entdecken. Gläserne Balustraden ragten fächerartig heraus und schufen ein angenehm getöntes Zwielicht.
Die Optimierungen der Menschen waren so vielfältig wie ihre Charaktere. Neben naturnahen Prothesen sah sie sogar ein paar zarte, mechanische Flügel auf dem Rücken einer Frau. Ein Mann war sicher über zwei Meter groß, weil seine Beine ein zusätzliches Gelenk besaßen. Wozu das alles gut sein sollte, konnte sie nur erahnen – vielleicht war es für deren Arbeit oder Sport von Vorteil?
Womöglich war es aber auch nur reiner Narzissmus, denn die genetischen Modifikationen waren ebenfalls überaus sichtbar. Katzenaugen schauten Kaja entgegen, Widderhörner rahmten mit ihrem eleganten Schwung aristokratisch anmutende Gesichter. Es war wie in einer anderen Welt.
Aus einem Anflug aus Geltungsdrang stoppte Kaja vor einer spiegelnden Fassade, tippte gegen ihre Haarspange und modifizierte die Einstellungen der Nano-Bots. Ihre Haarfarbe wechselte zu einem Silber, welches in den Spitzen in einen Schimmer von Blau überging.
Ein vorbeilaufender junger Mann hob anerkennend den Daumen und grinste sie nickend an. Seine animalisch wirkenden, spitz zulaufenden Zähne ergänzten auf seltsame Art seine sanften Gesichtszüge. Kaja lachte auf, fuhr sich durch ihr wildes Haar und lief mit keckem Hüftschwung weiter.
Sie fühlte sich hier wohl und sehnte sich danach, endlich wieder ganz dazuzugehören. Sie wollte keine Gefahr mehr für ihre Mitmenschen sein. Kaja wollte sie zum Lächeln bringen, mit ihnen zwanglos plaudern dürfen, sich nicht mehr hinter Emotionsdämmungen verbarrikadieren müssen.
Sie wollte nicht mehr anders als die anderen sein.
Genau deswegen stand sie nun vor dem medizinischen Institut, das sie gestern Abend im Internet herausgesucht hatte. An der Glasfassade des hohen Gebäudes umringten die Logos verschiedener Firmen das des Cybernets: ein schlichter, perfekter Kreis.
Nachdem Kaja das mit Blumen überwucherte und Säulen flankierte Eingangsportal durchschritten hatte, dachte sie kurz, sie würde erneut einen Bahnhof betreten. Die Halle glich einem riesigen Wartebereich mit vielen Sitzgelegenheiten, Automaten und kleinen Shops. Zwischen bewegten, holografischen Landschaften aus aller Welt wurden Tabellen projiziert. Darauf fand man die Namen der derzeit behandelten Patienten, sortiert nach Fachbereichen und Stationen.
Diese offene Handhabung von Informationen machte es dem Personal leicht, Auskünfte zu erteilen oder auf etwaige Änderungen in der Planung zügig zu reagieren. Außerdem fanden Angehörige schnell ihre Liebsten, ohne ewig an den überlasteten Rezeptionen anstehen zu müssen. Wer sollte schon Ausschau nach den Wehwehchen von Fremden halten? Abgesehen davon fühlte man sowieso den Schmerz des anderen – wenn man sich nicht gerade verkroch, wie Kaja es getan hatte.
Privatsphäre wurde der Effizienz hinten angestellt.
Sie schob sich durch die Menschenmassen und suchte eine Tafel, um die richtige Station zu finden. Kajas Blick huschte über die Schilder der kybernetischen Korrektur sowie der Organzucht- und Transplantationsabteilungen. Seit den Umstrukturierungen Skyscrapes war die Last auf diese Bereiche um einiges abgemildert.
Mit welchem Kunststück man es geschafft hatte, den stetigen Hunger nach Ersatzorganen zu stillen, wenn Kybernetik nicht infrage kam oder die Zucht an ihre Leistungsgrenze stieß, war im Wust der verwinkelten Wirtschaftsstrukturen nur schwer nachvollziehbar – und bot damit natürlich allerlei Material für Spekulationen und politische Manöver.
Das Leben schien fehlerhaft – die Wissenschaft hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dies auszumerzen.
Endlich fand Kaja die Wegweiser zu den nicht-organischen Behandlungsbereichen – Psychologie und Empathologie. Die von der Psyche getrennte Bearbeitung von Gefühlen war eine noch recht junge Praxis.
Kaja wurde auf die Minute genau aufgerufen. Das Sprechzimmer des Arztes war hell und bequem eingerichtet. Es gab zwar keine Fenster, doch dafür rechteckige Hologramme, die einen herrlichen Ausblick über die Stadt vortäuschten. Mit einem freundlichen Lächeln bat der Arzt sie, ihm gegenüber in einer kleinen Sitzecke Platz zu nehmen.
»Guten Tag, Kaja, ich bin Triton«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.
»Wie der alte Meeresgott?«, grinste Kaja und schüttelte sie. »Also Dr. Triton?«
»Den Titel brauchen wir nicht«, entgegnete er und lachte leise. »Und ja, meine Eltern sind fasziniert von den alten Mythologien. Interessant, dass du diese auch kennst.«
»Nun …«, Kaja stockte.
Tatsächlich hatte sie sich nie aktiv damit beschäftigt. Diese Information war total lapidar, hatte jedoch scheinbar mehr emotionalen Halt als verlorene, wichtige Erinnerungen – wie beispielsweise die an ihre Eltern.
Hilflose Wut kochte in Kaja hoch.
»Da habe ich ungewollt etwas angestoßen, mhm?«, stellte Triton aufmerksam fest.
Der Empathologe beugte sich vor und schloss seine Lider. Darunter zuckte es hin und her. Er schien sich ganz in die Übertragung von Kajas plötzlichem Ärger fallen zu lassen. Schließlich öffnete er sie wieder und blickte sie mit sanften, braunen Augen an. Kleine Fältchen an den Seiten ließen ihn jenseits der Vierziger vermuten, doch wer konnte das heutzutage noch genau erraten?
»Wut aus Frust und Selbstablehnung, nicht wahr?« Seine Worte trafen genau ins Schwarze, direkt in Kajas Herz.
Sie nickte und schämte sich plötzlich. Hitze stieg in ihr Gesicht. Zu Boden blickend spürte sie, wie sich eine Hand auf ihre linke Schulter legte. Die menschliche Wärme tröstete sie.
»Schon okay. Das ist niemals leicht und genau deswegen bist du ja hier«, sprach er milde.
»Du bist ein Erinnerungskonstrukteur?«, fragte Kaja und hob hoffnungsvoll das Kinn – das neuzeitliche, persönliche Du verhinderte eine zurückhaltende Distanz.
»Leider nicht«, gab Triton zu und schüttelte langsam seinen Kopf. »Mein Fachbereich ist die Diagnose und direkte emotionale Betreuung. Die Konstruktion erfordert noch wesentlich mehr, als Gefühle korrekt lesen zu können.«
Da es wenig Sinn machte, es weiter zu verbergen, erzählte Kaja von ihren plötzlichen Anfällen negativer Emotionen, die in ihrer Kraft auch sie umgebende Menschen überrollten. Die Vermutung, dass es eine Cyberpsychose aufgrund ihrer einfachen Prothesen sein könnte, die immerhin ein Drittel ihres Körpers ersetzen, fügte sie an. Den Verlust ihrer Erinnerungen erwähnte sie jedoch nur am Rande. Etwas hielt sie davon ab, genauer darauf einzugehen.
»Das klingt in der Tat sehr merkwürdig und könnte auf eine Cyberpsychose hindeuten«, stimmte er zu, während er nachdenklich sein Kinn rieb. »Doch dabei kommt es nicht zu derart weitreichenden Ausstrahlungen der Empfindungen. Eigentlich fühlt man sich nur sehr fremd und verliert Realitätsbezüge. Das passt allerdings zu dem Verlust der Erinnerungen.«
»Ich habe es lange verborgen, kann mich jedoch nicht erinnern, wie lange ich diese Symptome schon habe«, murmelte Kaja betreten.
»Du hättest wirklich schon längst eine Klinik aufsuchen sollen. Aber vermutlich kannst du mir die Frage, warum du das nicht getan hast, nicht beantworten, oder?«, hakte Triton schief grinsend nach.
»Du bist ein Meister deines Fachs«, seufzte Kaja, teils witzelnd, teils zynisch.
»Nun, es reicht aus«, lachte der Arzt – er nahm es ihr wohl nicht übel. »Wir werden einen Scan deiner Emotionen durchführen und mit den Protokollen des Cybernets abgleichen.«
Dafür führte Triton sie in einen kleinen Nebenraum. In der Mitte stand ein bequem aussehender Sessel. Kaja setzte sich darauf und blickte erwartungsvoll zu dem Arzt auf. Der trat zurück, lächelte sie an und hob einen Zeigefinger.
»Bitte entspanne dich. Die Prozedur erfolgt voll automatisch«, erklärte er und gleich darauf schloss sich die Tür vor ihm.
Kaja war allein. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie allein sie war. Sie fühlte niemanden mehr.
Gedämmt, erkannte sie. Ich bin es gewohnt. Für normale Leute wäre das wohl verstörend.
Sich zurücklehnend musterte Kaja die leeren Wände. Nichts weckte ihre Aufmerksamkeit. Selbst die Beleuchtung war gedimmt. Offenbar sollte es keinerlei fremde emotionale Interferenzen geben.
»Werde ich schon gescannt?«, überlegte sie laut, um die Stille zu füllen.
Ihre Stimme klang seltsam hohl. Auf einmal kam ihr der enge Raum erdrückend vor, beinahe wie eine Zelle. Nervös rutschte Kaja auf den Polstern hin und her. Das Gefühl von tausend Augen beobachtet zu werden, kroch in ihr hinauf. Ihre Augen huschten hin und her, suchten bewegte Schatten in den äußersten Winkeln ihres Sichtfeldes. Die Strukturen an der Wand schienen schärfer zu werden und Kaja glaubte Kratzer wie von Fingernägeln zu erkennen – Zeugnisse verzweifelter Versuche, dieser Falle zu entkommen.
Panik stieg in ihr auf.
War das ein beginnender Anfall?
Nein, stellte sie fest. Es ist anders. Ist das der Scan?
Plötzlich war alles vorbei. Das seltsame Gefühl war wie fortgewischt und eine tiefe Ruhe durchströmte Kaja. Die Tür öffnete sich und Tritons Umrisse erschienen im rechteckigen Licht des Durchgangs. Er lächelte, doch diesmal übertrug sich keine vertrauenerweckende Freundlichkeit auf Kaja.
Sie folgte ihm zurück zum Besprechungszimmer. Allerdings setzten die beiden sich diesmal nicht hin, stattdessen führte er sie bereits Richtung Ausgang.
»Die Messungen waren sehr undeutlich«, begann Triton schließlich. Das Lächeln verschwand. »Die Parameter deiner Emotionen und das Protokoll des Cybernets fallen gänzlich aus den Normwerten. Das wird tiefergehende Untersuchungen benötigen.«
Kaja blinzelte irritiert und glotzte ihn verwundert an.
»Genau deswegen bin ich ja hier«, meinte sie schließlich.
»Es tut mir sehr leid«, entgegnete der Arzt, doch irgendwie kam ihr das plötzlich wenig ehrlich vor. »Eine derartige Tiefenuntersuchung ist sehr kostenintensiv. Leider deckt das die Krankenversicherung deines Arbeitgebers nicht ab.«
»Aber … das kann nicht sein«, erwiderte Kaja und ballte ihre Hände zu Fäusten. »Es wurde mir zugesagt, dass jegliche Kosten, selbst wenn eine Erinnerungskonstruktion nötig sein sollte, von der Firma getragen werden.«
»Ich rede von den besten Spezialisten auf diesem Gebiet.« Triton seufzte und steckte seine Hände in die Taschen seines weißen Kittels. »Außerdem ist dein Zustand nicht so beunruhigend. Er rechtfertigt nicht, dass für diese aufwendige Diagnose Dutzende andere Patienten in gefährlicheren Situationen warten müssten.«
Diese Worte drückten Kaja den Atem aus den Lungen, als hätte man ihr die Faust in die Magengrube gerammt. Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte. Ihre Situation war auch derart gefährdend für andere Personen, dass man das kaum so verharmlosen konnte, wie es dieser Arzt gerade tat. Er hatte nicht mit ansehen müssen, was sie erlebt hatte – das unsägliche Leid in den Gesichtern der sie umgebenden Menschen.
»Also«, begann Kaja erneut, atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. »Ich erklärte bereits, dass meine Anfälle so stark sind, dass andere davon mitgerissen werden. Wenn ich behandelt werde, hilft das also auch zig anderen Leuten.«
»Du wirst hier keine Behandlung erhalten«, antwortete Triton direkt, mit überraschender Kälte.
Dieser Satz war wie ein Fallbeil, welches auf Kaja herniederfuhr – ein Urteil, so endgültig, dass es nicht wie eine Diagnose, sondern wie reine Willkür wirkte. Sie knirschte frustriert mit den Zähnen und entschied sich für eine Offensive.
»Also gut«, zischte sie. »Ich verlange Akteneinsicht in die eben durchgeführten Scan-Vorgänge und deren Resultate.«
Schließlich gab es nichts zu verbergen. Ein Grundprinzip des modernen Datenaustauschs.
»Selbstverständlich.« Triton nickte, trat zur Tür und aktivierte dessen Öffnungsautomatik durch seine Nähe. »Wende dich bitte an die Daten-Auskunftsbehörde von Skyscrape. Ich habe den nächsten Termin.«
Kaja stand der Mund offen angesichts dieses unverhohlenen Rausschmisses. Wütend stampfte sie an Triton vorbei. Sie ließ es sich nicht nehmen, ihm dabei einen giftigen Blick zuzuwerfen und sich ganz ihrer Abscheu gegen sein Verhalten hinzugeben. Sein ruckartig nach hinten verzogener, rechter Mundwinkel ließ ihn aussehen, als hätte ihm jemand gegen das Schienbein getreten, und zeugte davon, dass er diesen Hieb durch das Cybernet abbekommen hatte.
Allerdings fühlten es auch die anderen Menschen auf dem Gang des Klinik-Institutes. Die Gesichter der Leute wandten sich ihr fragend zu. Kaja riss sich zusammen und kämpfte ihre Wut nieder, so gut sie konnte.
»Guten Tag, Kaja«, hörte sie plötzlich das Kliniksystem mit melodischer Frauenstimme sagen. »Bitte beruhigen Sie sich. Dies ist eine medizinische Einrichtung und gegenseitige emotionale Rücksichtnahme essenziell für die Genesung anderer Patienten.«
»Verdammt, ja«, knirschte Kaja und eilte den Korridor entlang, weil die anderen Leute sie daraufhin noch intensiver musterten. »Kein Grund, mir gleich den digitalen Stinkefinger zu zeigen.«
»Wünschen Sie eine Indizierung besänftigender Emotionen aus dem Speichersystem?«, fuhr das System unbeeindruckt fort.
»Nein!«, grollte sie und beschleunigte weiter ihre Schritte. »Ich gehe.«
»Das Institut wünscht Ihnen einen schönen Tag und gute Besserung. Auf Wiedersehen, Kaja«, leierte es weiter und brachte sie damit fast zur Weißglut.
Die Halle ähnelte einer Massen-Toilette. Durchnummerierte Kabinen waren in Knöchelhöhe transparent, damit man sehen konnte, ob sie besetzt waren. Statt einer Decke besaßen sie gläserne Halbkuppeln, die mit ihren kabelbestückten Fortsätzen wie verdrehte Quallen wirkten.
Kaja öffnete einen dieser Verschläge und setzte sich auf das festgeschraubte Stahlhöckerchen. Nachdem die Tür hinter ihr geschlossen war, öffneten sich mehrere Holo-Anzeigen – sie war umringt von cyanfarbenen Tabellen.
»Wer hätte gedacht, dass die Datenauskunftsbehörde ein Selbstbedienungsladen ist«, murmelte sie und versuchte sich in den unzähligen Formularfeldern, Log-in-Möglichkeiten und Suchvorschlägen zu orientieren.
Jeder konnte kommen und gehen, wie er wollte. Dieser Ort hatte rund um die Uhr geöffnet – schließlich brauchte er kein Personal. Man loggte sich ein, suchte die gewünschten Informationen und ging wieder.
So zumindest die Theorie.
Tatsächlich kam es auf den Verstand des Anwenders an. Ohne die richtigen Suchbegriffe konnte es Stunden dauern, bevor man etwas Sinnvolles zutage gefördert hatte. Die Datenmengen waren schier unendlich – alle Informationen der Einwohner und Besucher Skyscrapes waren hier aufgelistet.
Okay, das sollte nicht weiter schwer sein, dachte Kaja selbstsicher und tippte ihren Namen ein. Schließlich brauche ich nur Informationen über mich selbst.
Eine Liste tauchte auf.
32 725 Personen.
»Das ist doch wohl ein Scherz«, knurrte sie, als sie erkannte, dass die Suchmaschine die gereihten Buchstaben ihres Namens in jeglichen Einträgen auflistete.
Kaja überlegte. Alle Ergebnisse einzeln durchzuarbeiten wäre wochenlange Arbeit. Da es keine Nachnamen mehr gab, weil digitale IDs die Rolle der genaueren Zuordnungen übernommen hatten, war es schwierig, genauer zu suchen. Also versuchte sie es zusätzlich mit ihrem Geburtsdatum.
1337 Personen.
»Großartig«, seufzte sie und legte den Kopf in den Nacken. »Verdammte Mega-City!«
Dann kam ihr eine Idee.
»System?«, fragte sie vorsichtig.
»Online«, schnarrte eine blecherne Stimme monoton, was zeigte, dass diese Verwaltung bereits Jahrzehnte alt sein musste.
»ID-Check und Irisscan meiner Person«, forderte Kaja und hoffte, dass diese mittlerweile standardisierte Prozedur damals ebenfalls eingebaut worden war.
»Kalibriere«, tönte es. »Bitte warten.«
Vermutlich greifen gerade Hunderte Leute auf das System zu, überlegte Kaja und legte nachdenklich den Kopf schräg. Wahrscheinlich hat die Obrigkeit wenig Interesse daran, der Auskunftsbehörde ein Update zu spenden.
»Bereit«, sagte das System, woraufhin sich die Projektionen um Kaja in eine dünne, blaue Spirale verwandelten, die ihren Blick hinauf lenkte.
Kaum hatte sie ihr Kinn gehoben, glitt der Scan-Strahl über ihre Augen. Sie blinzelte überrascht – er war ungewohnt hell gewesen. Nun veränderten sich die Hologramme erneut und vor ihr formte sich ein Rechteck in der Größe einer ID-Card.
»Alles klar«, murmelte sie, kramte die Karte heraus und hielt sie in die Aussparung.
»Suche. Bitte warten«, informierte sie das System.
»Wenn du noch langsamer wärst, könnte man auch jedes Bit in einem Eimer einzeln rüber tragen«, spottete Kaja.
»Daten eingelesen. Identität Kaja bestätigt«, erlöste es sie von ihrer Ungeduld.
»Alle Daten zu dieser Person auflisten«, wies sie an, woraufhin vor ihr ein neues Fenster projiziert wurde.
»Was zum …«, hauchte sie.
RUFNAME: KAJA
ID: 11 1 10 1
BIOLOGISCHES GESCHLECHT: WEIBLICH
GEWÄHLTES GESCHLECHT: WEIBLICH
ARBEITGEBER: NEW WOLRD FORMATION
AKTUELLER AUFENTHALTSORT:
DATENAUSKUNFTSBEHÖRDE
Das war auch schon alles. Keine Protokollierung ihrer Anfahrt nach Skyscrape, kein Lebenslauf, keine Qualifikationen. Sogar ihr aktueller Wohnort fehlte. Es gab nicht einmal ein Bild von ihr.
»System. Erweiterte Informationen«, wies sie an.
Vielleicht war die hiesige Software nur zu träge.
»Anfrage abgewiesen«, lautete die kalte Antwort.
»Was?!«, fuhr Kaja auf.
»Entspann dich mal!«, hörte sie jemanden aus einer anderen Kabine brüllen – die Schallisolierung war recht gut, Emotionsdämmung gab es jedoch offensichtlich keine.
»'tschuldigung!«, rief sie zurück, so laut sie konnte.
Kaja versuchte es mit manueller Eingabe, doch auch die Holografie zeigte in roter Schrift VERWEIGERT an. Sie versuchte es noch über andere Umwege, doch sie kam an keine weiteren Informationen.
»Das ist doch verrückt«, knirschte sie. »Die Untersuchung war erst vor wenigen Stunden. Sie muss doch irgendwo verzeichnet sein!«
Oder Triton hat sie verschwinden lassen, schoss es ihr durch den Kopf. Aber … warum?
Seine plötzliche Abweisung nach dem Scan kam ihr in den Sinn. Doch das erklärte nicht, warum es so gar keine Daten über sie gab – oder warum das System diese nicht als fehlend meldete.
»Hier ist doch was faul«, flüstert sie und kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Aber verweigert heißt nicht, dass es nichts gibt. System?«
»Online«, tönte es.
»Gibt es mehr als die angezeigten Informationen?«, bohrte sie nach.
»Positiv.«
»Na also. System – welche Freigabe ist dafür erforderlich«, hakte Kaja weiter nach, auch wenn sie vermutete, dass sie diese nicht aufbringen konnte – aber vielleicht war es ein Hinweis.
»Erweiterte Identitätsprüfung erforderlich«, erklärte das System mit kalter Geduld. »Freigabe einer Person Stufe 5.«
»Was zum Teufel ist eine Person Stufe 5?«, überlegte Kaja laut.
»Vertreter der Obrigkeit«, antwortete das System auf ihre sich selbst gestellte Frage und schob eine eigene hinterher: »Prüfung einleiten?«
Kaja hielt überrascht die Luft an. Wieso sollte lediglich die Führungsebene von Skyscrape Zugriff auf ihre Daten haben dürfen? Weshalb ausgerechnet diese Stadt? Eingeschränkten Zugang durch Fremde würde sie ja noch verstehen, aber sie war doch sie selbst. Warum durfte sie ihre eigenen Informationen nicht einsehen?
»Prüfung einleiten?«, wiederholte das System stur.
»Ähm … ja?«, versuchte es Kaja zaghaft.
Plötzlich öffnete sich die Konsole vor ihr. Eine Fläche mit dem Umriss einer Hand fuhr heraus. Kaja zuckte mit den Schultern und legte ihre Finger darauf. Ein stechender Schmerz ließ sie ihre Hand zurückziehen. Als sie ihre Fingerspitzen anschaute, sah sie an ihrem Mittelfinger einen winzigen Tropfen Blut.
Auf einmal riss Kaja ein so unerwartetes Wort aus ihren Gedanken, dass sie von dem Hocker aufsprang.
»Genehmigt«, sprach das System.
Vor Kaja wurde der erweiterte Datensatz projiziert. Sie setzte sich wieder hin und scrollte mit dem Finger durch die Seiten. Tatsächlich fanden sich nun mehr Details zu ihrem Leben, doch keine davon waren älter als zwei Jahre. Davor klafften riesige Lücken.
Wie kann das sein, fragte sie sich und zog ihre Augenbrauen zusammen. Nur weil meine Erinnerungen weg sind, heißt das doch nicht, dass sich die Protokolle im System löschen.
Abgesehen davon fand sie keinen aktuellen Eintrag über ihren Klinikbesuch und den durchgeführten Scan. Auch ihr Anfall in der Schorf-Siedlung tauchte nicht auf. Die Reparatur an ihrem Bein kurz davor hingegen schon.
Normalerweise wurde jeder Lebensabschnitt gut dokumentiert. Der Mensch war dieser Tage genauestens protokolliert, um Abläufe im Leben stark zu vereinfachen – wer wollte schon ständig seine Daten neu eingeben müssen? In Extremsituationen, wie zum Beispiel Zeugenaussagen, waren sie ebenfalls sehr wichtig, um Sachhergänge nachvollziehen zu können. Von medizinischen Notfällen mal abgesehen.
Das waren automatische Prozesse, niemand gab so etwas per Hand ein. Jeder Eintritt in den Bereich eines neuen Systems übermittelte Daten. Durch das sofortige Sichern blieben die Arbeitsspeicher geklärt und damit waren die Informationen stets sicher hinterlegt.
Wenn Daten fehlen, bedeutet das, es muss Parameter geben, die sie zurückhalten, erkannte Kaja und tippte sich nachdenklich mit dem Finger gegen das Kinn. Ihre Hände begannen auf einmal leicht zu zittern. Oder jemand sortiert und löscht sie manuell.
Ihr Darm schien sich zu verknoten. Ein heißes Prickeln schoss durch ihre Gliedmaßen. Kaja hob ihr Kinn. Ihre Augen musterten die gläserne Kuppel über ihrer Kabine.
Werde ich aktiv beobachtet?
So genau das Speichersystem auch war, ganz offensichtlich konnte sie mit dessen Hilfe nichts über sich selbst herausfinden. Da dies scheinbar nur ihre Person betraf – schließlich gab es keinerlei Beanstandungen in der normalen Bevölkerung – musste das einen guten Grund haben.
Wusste man um ihre Anfälle? Aber warum half man ihr dann nicht, sondern warf sie sogar aus den Therapien?
Etwas in Kaja wusste, dass da mehr war – nein, sie fühlte es – so intensiv und real wie ihren eigenen Atem. Es war viel realer als alle ihre Erinnerungen. Kaja hatte den Eindruck, dass sie sich plötzlich neben sich selbst befinden würde. Sie sah sich selbst an genau diesem Ort sitzen.
Bin ich schon einmal hier gewesen, fragte sie sich. Übelkeit stieg in ihr auf.
Kaja schloss ihre Lider und hielt den Atem an. Sie versuchte Erinnerungen heraufzubeschwören, sich an diesem Gefühl des Deja-vus festzuhalten und daran zu zerren wie an einer Schnur. Doch außer dem Bild, dass sie hier neben sich sitzen würde, wollte sich nichts vor ihrem geistigen Auge formen.
Plötzlich fühlte sie sich so stark beobachtet, als würde jemand direkt hinter ihr stehen. Sie wirbelte herum und starrte auf die kahle Stahltür der Kabine. Hastig schloss sie die geöffneten Daten, loggte sich aus und trat hinaus.
Vor ihr lag die beruhigende Monotonie absolut gleichförmiger Räumlichkeiten.
Kaja war darin ein unsichtbarer Fleck Andersartigkeit.
Die ID-Card glitt durch die Holo-Fläche. Mit einem leisen Piepsen checkte sie aus – Kajas medizinischer Aufenthalt in Skyscrape war beendet. Sie hatte keine Diagnose und erst recht keine Hilfe erhalten, sondern nur noch mehr Fragen vorgesetzt bekommen.
Doch wollte sie wirklich die Antworten erfahren?
Kaja schulterte ihren treuen Rucksack und trottete zum Bahnsteig. Schon nach diesen zwei Tagen hatte sie sich an den Trubel hier gewöhnt. Sie wich ganz automatisch den Passanten aus, sah sie jedoch nicht wirklich. Die Durchsagen vermischten sich mit den allgemeinen Gesprächen. Emotionen waren ein flüsterndes Bächlein in ihrem Inneren.
Der Zug rollte ein. Wenigstens war ihre Heimfahrt ein Personentransport. Er würde zwar wesentlich länger dauern und sie mehrfach umsteigen müssen, aber besser als der geschlossene Bullet-Train war es allemal. Kaja trat vor die offene Tür und beschaute das gemütliche Innere des Zuges.
Doch ihre Beine waren plötzlich schwer wie Blei, die Füße wollten sich nicht vorwärtsbewegen. Mitreisende schoben sich eilig an ihr vorbei, um einen guten Platz zu ergattern. Kaja starrte mit rasendem Herzen auf ihre Hinterköpfe.
Diese kurze Zeit inmitten der vielfältigen Menschen hatte sie daran erinnert, wie einsam sie eigentlich gewesen war – wie wunderbar es war, dazuzugehören.
BITTE EINTRETEN.
Rote Holo-Buchstaben inmitten des Zustiegs. Kaja stand noch im Sensorbereich.
Sie biss die Zähne zusammen. Wenn sie diesen Zug betrat, würde ihr Leben genauso weitergehen wie bisher. Sie konnte sich nicht wirklich an bessere Zeiten erinnern, aber bedeutete dies, dass es so bleiben musste? Konnte sie sich wirklich erneut hinter einer Emotionsdämmung vergraben und immer die Flucht ergreifen, wenn sie zu viel Aufmerksamkeit erregt hatte? Durch die fehlende Behandlung konnte sie auch nicht in der Siedlung bleiben und musste weiterziehen – wie immer.
»Bitte treten sie ein oder zurück«, forderte das System innerhalb des Zuges.
Schweigend schloss Kaja die Augen. Nach einem dritten Aufruf hörte sie das Zischen der sich schließenden Tür. Damit war die Chance vertan, in ihr altes Leben zurückzukehren. Sie trat einen Schritt zurück. Der Bullet-Train surrte laut. Ein starker Luftzug strich über Kajas Wangen, als er aus dem Bahnhof rauschte. Sie öffnete ihre Augen wieder und blickte auf das leere, silbern glänzende Gleis.
Warum gehe ich nicht zurück, fragte sie sich in Gedanken. Sioux wartet auf mich. Ich könnte mit ihm irgendwo anders hin. Vielleicht finde ich in anderen Städten einen Erinnerungskonstrukteur, der mir weiterhelfen kann.
Vielleicht hätte sie aber auch nach ein paar Anfällen bereits alles vergessen, was sie hier erlebt hatte. Sie hätte kein gutes, aber doch annehmbares Leben mit täglichen, kleinen Freuden ...
… bis sie sich selbst verlieren würde.
Kaja machte auf dem Absatz kehrt und steuerte die Anmeldekonsole in der Mitte des Bahnsteigs an. Sie setzte ihren Rucksack ab und wühlte in der großen Fronttasche herum. Zwischen ihren zusammengeknüllten Sachen fand sie endlich ihre ID-Card.
Es war jedoch nicht die, welche sie von der Ärztin erhalten hatte. Diese war ihre eigene. Ein abgegriffenes, völlig zerkratztes Ding. Das einzige, was sie immer begleitet hatte – wenn es in der Lage wäre zu sprechen, könnte es vermutlich ihr gesamtes Leben erzählen, all die verlorenen Erinnerungen.
Die Datenzugänge darauf unterschieden sich nicht von den neueren, die ihren Aufenthalt zu Untersuchungszwecken in Skyscrape genehmigt hatten. Es fehlte lediglich genau diese Möglichkeit.
Sie zog die alte Karte durch das Gerät. Eine quadratische Holo-Fläche tauchte vor dem Gerät auf. Kaja tippte sich durch die Anmeldeformulare und gleich darauf erschien auf dem Display in befriedigend grüner Schrift:
TOURISTISCHER AUFENTHALT.
GENEHMIGTE HÖCHSTDAUER: 7 TAGE.
So lange konnte man die Stadt als Urlauber ohne Antrag besuchen. Das sorgte für keinerlei Überfüllungen und die ständige Möglichkeit, als spontaner Besucher oder Geschäftstätiger eine Unterkunft zu finden. Platz war nun einmal eine Kostbarkeit in den Großstädten.
»Sieben Tage«, flüsterte Kaja, presste die Lippen zusammen und holte die neue ID-Card heraus.
Ihre perfekten Kanten glänzten im Licht. Die glatte Oberfläche war ein wenig verschmiert von ihren Fingerspitzen. Das Logo der NWF war klein in die rechte Ecke aufgeprägt und fühlte sich beim Darüberstreichen angenehm rau an.
Ich habe eine Woche Zeit, um herauszufinden, was mit mir los ist, wer ich bin … wer ich war, dachte sie und hob die Karte vor ihre Augen. Und warum jemand Unbekanntes an mir Interesse zu haben scheint.
»Ich habe absolut keine Ahnung, wie ich das anstellen soll«, sprach Kaja laut, packte mit der anderen Hand ebenfalls nach der Karte und brach sie mit einem Ruck in zwei Teile.
Entschlossen wandte sie sich Richtung Skyscrape und verschmolz mit der Masse der Reisenden.