Читать книгу Emotiondancer - E.F. v. Hainwald - Страница 7

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»Bitte verlassen Sie am nächsten Halt den Zug.« Die Stimme des Systems riss Kaja aus ihrem Schlummer.

Ihr Gedankenkreisel war irgendwann doch der Erschöpfung gewichen. Erholsam war der leichte Schlaf allerdings nicht gewesen. Ihr Kopf fühlte sich so an, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen.

»Sind wir schon da?«, murmelte sie, sich streckend.

Ein Blick auf das Holo vor ihr verriet, dass dem nicht so war. Ihr Ziel war nahe, aber noch ein gutes Stück entfernt.

»System. Wieso soll ich schon hier aussteigen?«, fragte sie verwirrt.

»Dieser Bullet-Train ist ein Warentransporter«, antwortete es wenig aufschlussreich.

»Ja, und? Ich habe doch die Sonder-ID«, hielt Kaja dagegen. »System – mehr Informationen.«

»Dieser Zug ist nicht dafür ausgelegt, belebte Biomasse zu transportieren«, fuhr das System mit kalter Geduld fort. »Im folgenden Bahnhof haben Sie die Möglichkeit, in einen Personenwagen umzusteigen.«

Kaja schnaubte verächtlich. Sie war doch kein genetischer Boxsack! Als Biomasse bezeichnet zu werden, war genauso herablassend, wie von den Kybernetikern als Baukasten behandelt zu werden. Letztendlich war es aber unsinnig, auf ein programmiertes System wütend zu sein. Also schnappte sie sich ihren Rucksack und begab sich wieder in den mittleren Waggon zum Ausstieg.

Als sich die Tür öffnete, drang gleißend helles Licht in den dunklen Zug. Kaja blinzelte und hielt sich die Hand vor die Augen. Sie trat nach draußen, während sie sich langsam an die Helligkeit gewöhnte.

Es war, als würde sie gegen eine Wand laufen.

Unzählige Geräusche, Farben und Bewegungen überfluteten ihre Sinne. Arbeiter strömten an ihr vorbei, um Kisten aus dem Zug auf- und abzuladen. Menschenmengen fluteten in breite Gänge aus Glas und Stahl. Sie liefen unbeirrt durch farbenfrohe Produkt-Hologramme, welche scheinbar wie Gummibälle mitten auf den Gängen herumsprangen. In das Geplapper der Reisenden mischten sich herzhaftes Lachen, quengelnde Kinder, einladende Musik und schwungvolle Reden interaktiver Werbetafeln.

Eine angenehme Beschwingtheit ergriff von Kaja Besitz. Sie fühlte sich energisch und reisefreudig. Die Wucht der verschiedenen Emotionen an diesem Ort verbanden sich zu einem angenehmen Rauschen in ihrem Herzen.

Plötzlich war sie nicht mehr allein.

Kaja war wieder ein Teil der Menschheit.

Trotzdem war sie heillos mit der Situation überfordert. Einer der Arbeiter schob sie bestimmt weiter, damit der Warenaustausch ungehindert vonstattengehen konnte. Kaja lief langsam vorwärts, blickte hastig umher und suchte nach einem Halt inmitten dieses Gewirrs aus Lebendigkeit.

»Guten Tag«, hörte Kaja jemanden neben sich sagen.

Sie wirbelte herum. Vor ihr stand ein schlanker, hochgewachsener Mann. Seine Gesichtszüge waren von solch perfekter Symmetrie, dass es beinahe verstörend war. Er trug einen schlichten, weißen Anzug. Einziger Farbtupfer war ein Seidentuch um seinen Hals, welches ebenso blau war wie seine unwirklich strahlenden Augen. Seine schwarzen Haare waren ordentlich nach hinten gekämmt. Er lächelte freundlich und hob interessiert seine dunklen Augenbrauen.

»Ihre Emotionen zeigen, dass Sie sich unwohl fühlen. Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er mit sanfter Stimme.

Ein Holo, erkannte Kaja. Doch diese Erkenntnis war nur noch verwirrender. Wie kann es sein, dass er so lebendig wirkt?

Das distanzierte Sie war ein Überbleibsel aus den alten Zeiten ohne Cybernet, als den Menschen noch nicht gewahr gewesen war, dass sie alle Brüder und Schwestern waren. Es zeigte ganz klar, dass es sich hier um keinen lebenden Organismus handelte. Menschen würde einander nie so ansprechen.

Unwillkürlich streckte sie ihren Arm aus und wischte mit der Handkante durch seine Brust. Ungehindert glitt sie durch die Projektion. Es gab kaum Interferenzen im Bild, überall an diesem Ort mussten kleine Projektorprismen eingebaut sein. Die punktuell ausgerichteten Schallwellen erreichten ihr Gehör mühelos, trotz der vielen Umgebungsgeräusche.

»Ja, ich bin eine Holografie«, bestätigte der Mann nickend. »Sie wirken etwas verloren. Kann ich helfen? Ich verfüge über Zugriff zu den Informationsdatenbanken des äußeren Hauptbahnhofes.«

»Ich … ähm … Entschuldigung. Ich wollte nicht unhöflich sein«, stammelte Kaja.

»Keine Sorge. Ich habe keine Gefühle, die Sie verletzen könnten«, erwiderte das Holo und lächelte so atemberaubend echt, dass es Kajas Bauch kribbeln ließ. »Es ist verständlich, dass die optische Echtheit meines Abbildes manchmal für Verwirrung sorgt. In der Tat haben die Techniker große Fortschritte gemacht.«

»Nun … ja«, stimmte sie zu und räusperte sich. »Ich suche Personentransportzüge in die Stadt.«

»Nichts leichter als das«, erwiderte das Holo mit einem Lachen und streckte elegant den Arm an Kaja vorbei, wie ein Platzanweiser in einem Nobelrestaurant. »Folgen Sie diesem Gang. An einem großen Platz werden Sie Wegweiser finden. Folgen Sie dem mit der Bezeichnung City. So finden sie die Bahnsteige.«

Kaja starrte ihn an und nickte. In ihrer Siedlung gab es zwar Verkauf-Holos, aber die waren wesentlich simpler in Optik und Ausdruck. Sie lief ein paar Schritte in die angewiesene Richtung und drehte sich noch einmal um, da war er bereits verschwunden. Stattdessen konnte sie seinen weißen Anzug inmitten einer Menschentraube entdecken. Er gab dort wohl ebenfalls Auskünfte.

»Unglaublich«, murmelte sie und wandte sich endgültig ab.

Je tiefer sie in das Gebäude gelangte, desto dichter wurde das Gedränge. Über sich sah sie mehrere Stockwerke aufragen. Elegant geschwungene Brücken, die mehr an Äste, als an Architektur erinnerten, überspannten die breiten Gänge. Pflanzen wuchsen aus runden Aussparungen der Wände und rankten sich um Metallstreben. Manche von ihnen trugen riesige bunte Blüten. Vermutlich waren das nur Hologramme, doch so realistisch, dass man sie nicht von echten Pflanzen unterscheiden konnte.

Die Korridore waren mit Läden und Restaurants gesäumt, deren Reklamen mit reißerischen Slogans lockten. Viele der Shops besaßen die Aufschrift Zollfrei und boten somit Waren an, die man problemlos in andere Stadtgebiete überführen konnte. Es gab sogar Kliniken für kleinere genetische oder kybernetische Optimierungen – ein hübsches Mitbringsel als Erinnerung an den Besuch.

Das war wenig verwunderlich, denn die Menschen, denen Kaja begegnete, waren meist optimiert. Sie sah spitze Elfenohren und unrealistisch perfekte Körperformen. Gleich daneben erspähte sie mechanische, verglaste Arme. Beinahe natürlich modellierte Beine zeigten sich zwischen einem Minirock und hohen Schuhen. Nur eine dünne, blau leuchtende Linie an den Waden zeugte von der Prothese, die vermutlich neben gefühlsechten Sensoren auch verstärkte Muskelkraft beherbergte.

Unbezahlbar, dachte Kaja und fühlte den Stich des Neids in ihrer Brust.

Schließlich mündete der Gang in einen großen Platz. Dessen Rand war mit hohen Bäumen gesäumt, welche noch über das Gebäude hinausragten. Die Sonne stand gerade hoch am Himmel, sodass ihre Blätter wie Perlen glänzten. Kaja umrundete ihn und passierte verschiedene Abzweigungen. Die erste war mit International beschriftet. Dort reiste man also zu den Flughäfen oder raste mit speziellen Bullet-Trains quer durch den Kontinent. Der zweite war mit City gekennzeichnet – das sollte der Weg sein, den das Holo gemeint hatte.

Nachdem sie sich von der Menschenmenge hatte weitertreiben lassen, erreichte sie einen doppelstöckigen Bahnsteig. Die erste Klasse betrat die Stadtbahnen im oberen Bereich, die zweite Klasse durch den unteren. Diese war kostenlos, wie jedes normale öffentliche Verkehrsmittel. Kaja war nach der Reparatur knapp bei Kasse, also wandte sie sich diesem Zugang zu.

Markierungen am Boden sorgten für einen geordneten Strom der Reisenden. Es gab Halte- und Führungslinien, welche die Leute zu Bahnsteigen und Türpositionen dirigierten. Kaja wählte das Zentrum und reihte sich in die Schlange ein. Es ging zügig voran. Alle fünf Minuten fuhr eine neue Bahn ein. Schließlich war auch Kaja an der Reihe. Vor ihr glitt die Tür zur Seite.

»Das ist die zweite Klasse?«, platzte es aus ihr heraus, während sie vom Strom der nachfolgenden Menschen in den Zug geschoben wurde.

Sie hatte zwar etwas Komfort erwartet, doch das sprengte den Rahmen ihres Vorstellungsvermögens. Der Waggon war ein größeres Areal mit verschiedenen Räumen. Vor ihr lag ein zentrales Zimmer mit vielen Sitzgelegenheiten und die Wände waren überwiegend verglast. Am Rand befanden sich Getränkeautomaten und am Boden sowie an der Decke konnte man in Segmenten aktuelle Werbespots oder Nachrichten schauen. Kabellose Ohrstecker lagen in Schalen bereit, falls man den Ton dazu hören wollte. Ein Gefühl der Entspannung lockerte Kajas Muskeln. Es ergab keinen Sinn, dass sie sich so fühlte, daher musste es eine Grundjustierung durch das Cybernet sein, um die Reise so angenehm wie möglich zu gestalten.

Wie sieht dann bitte die erste Klasse über uns aus, fragte sich Kaja in Gedanken, während sie regungslos im Gang stand und die Geschäftigkeit der anderen Reisenden beobachtete.

»Wir begrüßen Sie im City-Express. Bitte halten Sie ihre Zugangsdaten bereit«, sprach die tiefe Stimme des Bahnsystems.

Stadtbewohner erkannte man daran, dass sie lediglich einen Irisscan benötigten. Ihre Daten waren in der Verwaltungszentrale hinterlegt. Besucher zogen ihre ID-Cards hervor und traten zu den schmalen, säulenartigen Scaneinheiten. Kaja kramte nervös ihre Karte hervor und hielt diese ebenfalls über den hüfthohen Pfahl aus Edelstahl. Mit einem leisen Piepsen wurde eine kleine Schrift über die Karte projiziert.

ERSUCHE BESUCHERZUGANGS-ID …

Die Buchstaben blinkten rhythmisch während des Vorgangs. Dann erschien darunter etwas kleiner:

GRUND: MEDIZINISCHE SONDERVERSORGUNG

Kaja atmete hörbar auf, als kurz danach das Wort GENEHMIGT auftauchte.

Sie suchte sich in einem kleineren Nebenraum einen Fensterplatz, während sich der Zug in Bewegung setzte. Das Kinn auf die Faust gestützt, beobachtete sie die vorbeiziehenden, gebogenen Metallpfeiler des Bahnsteigs. Als der Zug schließlich stark beschleunigte, aus dem Gebäude schoss und den Kontakt zu den Schienen verlor, wurde ihr kurz flau im Magen. Im Gegensatz zu dem Warentransporter, konnte sie hier sehen, wie der Bullet-Train scheinbar frei durch die Luft schwebte, während er zielsicher von einem Magnetring zum nächsten raste.

Als der Zug plötzlich eine Kurve beschrieb und Kaja einen neuen Blickwinkel auf die Landschaft erhielt, stockte ihr kurz der Atem.

Flirrende Lichtkanten brachen sich auf Glas. Stahl reflektierte verschwommen die Landschaft. Dunkle, geometrische Schatten zerschnitten Flächen aus Sonnenlicht. Gebäude drängten sich eng zusammen und erhoben sich zu einem Gesamtkonstrukt, welches die sie umringende Natur geradezu winzig erscheinen ließ.

Am Boden breit und ausladend, nach oben hin verjüngend, verschwanden die Strukturen in den Wolken und verloren sich im Blau des Himmels. Sonnensegel aus mehreren, beweglichen Ebenen bildeten gleißende Ringe aus Licht. Die mehrere Meter dicken Kabel, die sie mit den Gebäuden verbanden, transportierten das durch die Sonne energiereiche Plasma. Angesichts der Höhe verloren sie sich jedoch optisch, sodass es schien, als würden riesige Heiligenscheine von Engeln um diesen Ort gleißen.

Immer weiter schob sich das Monument in Kajas Sichtfeld, als der Zug eine weitere Kurve machte und schließlich direkt darauf zuraste. Schon bald war außer diesem Bollwerk der Wissenschaft nichts mehr zu sehen. Es war so gewaltig, dass Kaja durch die Perspektive das Gefühl hatte, es würde kippen und auf sie herabstürzen.

»Skyscrape«, hauchte sie ehrfürchtig, mit zittrigen Händen.

Je näher der Bullet-Train der Stadt kam, desto mehr Details konnte sie ausmachen. Die Oberflächen waren keinesfalls glatt, sondern durchbrochen von Rampen, Hochebenen und anderen Außenkonstruktionen. Leuchtende Bänder umrahmten Bereiche, die wohl für den Flugverkehr gedacht waren. Gigantische, bewegte Logos von großen Industrie-Konzernen, Wissenschaftsakademien und Dienstleister-Kombinaten dominierten die Fassaden. Schuppenartige Sonnenreflektoren milderten die Schlagschatten ab, damit Pflanzen weiterhin gedeihen konnten. Grüne Parks bildeten Terrassen, von denen ebenso grüne Adern die Gebäudesegmente umwucherten wie Efeu alte Grabsteine.

Mit jeder Sekunde offenbarten sich neue Eindrücke – so unendlich viele, dass man sie unmöglich begreifen konnte. Kaja war überwältigt angesichts dieser vollendeten Herrlichkeit der Moderne.

Mit den letzten Korrekturen in der Stadt- und Gesellschaftsstruktur vor drei Jahrzehnten, hatte die Obrigkeit dieser Stadt das Optimum aus dem Cybernet-System herausgekitzelt. Hier war die Familie der Menschheit ihrer Bestimmung einen großen Schritt näher gekommen.

In Skyscrape konnte keine Komponente ohne die anderen überleben. Die Stadt war ein Organismus geworden, eine Symbiose aus Technik, Natur und Menschheit – Wissenschaft, Industrie, Politik und Kunst. Die Gebäude selbst waren Leiter von Energie und Sender des Cybernets. Die digitale Vernetzung der Emotionen war immer da, wie ein großer, fürsorglicher Bruder umhüllte und schützte es die Herzen der Menschen.

Aus den Puzzlesteinen von Körperchemie, Hirnmagnetfeldern, digitalen Übersetzungsprogrammen sowie Stimulierung durch Strahlung und Magnetwellen war diese digitale Empathie die größte Errungenschaft der Menschheit geworden. Ohne sie hätte sich die Menschheit längst ausgerottet – dessen war sich Kaja sicher.

Vielleicht konnte sie hier endlich wieder Teil dessen werden, ein Mitglied der Menschenfamilie. Wo, wenn nicht hier, konnte eine Lösung für sie gefunden werden?

Vielleicht werde ich schon bald keine Waise mehr sein, dachte Kaja mit vor Aufregung rasendem Herzen.


Kaja wäre gern wieder allein mit sich. Die schlechte Laune ihres Zimmernachbarn lag wie ein Stein in ihrem Magen. Irgendwo hatte auch gerade jemand Spaß mit Onlinepornos, denn das Prickeln in ihrem Unterleib war ziemlich eindeutig. Auf engstem Raum, ohne irgendwelche Emotionsdämmung, war ihr die Nähe zu anderen Menschen schrecklich unangenehm.

Doch etwas Besseres als dieses Kapsel-Hotel konnte sie sich derzeit nicht leisten. Natürlich war ihr der günstige Preis bei ihrer Online-Vorbestellung seltsam vorgekommen, dass es jedoch mietbare Unterkünfte ohne jegliche Dämmung geben könnte, war ihr schlicht nicht in den Sinn gekommen.

Vermutlich ist das Ding sogar der Lieblingstreffpunkt von Gefühl-Voyeuren, dachte sie und knirschte mit den Zähnen, als eine fremde, miese Laune ihren Höhepunkt erreichte.

Unwillkürlich schlug Kaja ein paar Mal mit der Faust gegen die dünne Wand. Ihr Blut kochte vor externer Wut.

»Komm endlich klar! Die Welt ist scheiße, wir wissen's jetzt!«, brüllte sie ungehalten.

Zum Glück wandelte sich daraufhin die fremde Emotion von Ärger in Scham und ebbte langsam ab. Kaja vermisste Sioux. Sein gutmütiges Wesen hätte ihr hier gutgetan. Doch Tiere durfte man nicht so einfach in die Stadt einführen. Außerdem wären die geballten Gefühle der Menschenmenge auf der Reise sicher quälend für den Fuchs gewesen. Deswegen hatte sie sich dazu entschieden, ihren Wohngenossen für die Zwischenzeit zu einem Nachbarn zu geben. Ein Kapsel-Hotel wäre auch keine geeignete Unterkunft für ihn gewesen – er war Auslauf gewöhnt.

Diese günstigen Unterkünfte waren so etwas wie eine Art Bienenstock. Die wabenartig aufeinander getürmten Schlafzellen – ausgestattet mit Holo-TV, Klimaanlage und bequemen Matratzen – formten einen ringförmigen Turm. Im Foyer des Erdgeschosses gab es einen kleinen Supermarkt sowie diverse Automaten. Alles, was man brauchte, war auf engstem Raum untergebracht und zu einem sehr günstigen Preis zu haben.

Kaja war sorglos gewesen, als sie inmitten von Skyscrape aus dem Zug gestiegen war. Der Bullet-Train hatte einige Stadtebenen über den Versorgungsarealen gehalten, denn dort liefen die meisten Hauptverkehrsadern zusammen. Egal welchen sozialen Stand man hatte, der Hauptbahnhof war ihnen allen gemein, sobald man außerhalb der Stadt reisen wollte. Es gab dort keine Unterschiede, außer vielleicht in der Perfektion von physischen Optimierungen. Die Menschen waren alle divers und bunt; und dabei doch alle gleich. Kaja hatte sich sofort wohlgefühlt – ein nach Hause kommen.

Doch hier im Kapsel-Hotel waren ihre Sorgen erneut präsent. Sollte sie in dieser Umgebung einen Anfall erleiden, würde das unzählige Menschen beeinflussen. Kaja durfte keine Zeit verlieren.

Also rollte sie sich auf die Seite, legte ihren Kopf auf einen Arm und öffnete mit der anderen Hand die Holo-Konsole. Sofort projizierte sich eine große Fläche mit aktuellen Nachrichten vor der Wand. Kaja scrollte mit dem Zeigefinger durch die Artikel, welche mit hochauflösenden Fotos und Videos bestückt waren.

»Was für eine Qualität«, schnaufte sie und grinste breit. »In unserer Siedlung war die Leistung des Internets nicht mal ansatzweise so gut. Und das, obwohl hier gerade sicher jeder online ist.«

Vor allem die Porno-Fans unter den Gästen, ergänzte sie gedanklich und grinste plötzlich schief. Bei der Auflösung sieht man vermutlich jedes Detail.

Kurz war sie selbst versucht etwas Recherche zu betreiben, schüttelte jedoch amüsiert über sich selbst den Kopf.

Stattdessen machte sie sich mithilfe der Suchmaschine daran, verschiedene Institutionen zu finden, die Erinnerungskonstruktionen anboten. Schnell stand fest, dass Kaja zwischen medizinisch notwendigen oder komfortbegründeten Behandlungen unterscheiden musste – diese Korrekturen im Selbst einer Person waren teilweise so etwas wie die Schönheitsmodifikationen in Chirurgie und Genetik. Sie fand es ein wenig erschreckend, dass Optimierungen mittlerweile auch im Geist eines Menschen vorgenommen werden konnten, doch genau dieser Fortschritt konnte ihr vielleicht helfen.

Der Mensch war eben niemals mit sich zufrieden.

Im Zusammenhang dessen war das Netz voll mit Werbung von Genetik- und Kybernetikfirmen. Die jeweiligen Fachgebiete hatten über die Jahre eine Art loyale Anhängerschaft entwickelt – vielleicht in Ermangelung von Religionen, die mit dem Fortschritt massiv an Bedeutung verloren hatten. An irgendetwas musste man wohl glauben. Wenn es keine göttliche Instanz war, dann eben die Mystik der hohen Mathematik, vertreten durch die Prediger in ihren weißen Kitteln.

Verfechter der technischen Verbesserungen nannte man Synthies. Diese waren der Meinung, dass Kybernetik angesichts von Krankheiten und Altersverschleiß die Zukunft darstellte. Die Leute, welche der Genetik den Vorzug gaben, nannte man Bios. Wenn man schon in der Natur herumpfuschte, dann doch bitte mit ihren eigenen Methoden.

Kaja selbst hatte nie direkt Position bezogen, tendierte aber deutlich zu den Naturverfechtern. Sie würde niemandem etwas vorschreiben, dennoch war ihre Entscheidung im Zweifelsfall immer gegen Kybernetik gefallen, sobald es um ihre Gesundheit ging – was ihre Beine allerdings umso absurder machte.

Sie verlor sich in mehreren Artikeln, welche die jeweilige Seite anpriesen oder anprangerten. Außerdem wurde ihr auch schnell klar, welche wirtschaftliche Kraft hinter den jeweiligen Fraktionen stand. Man kam nicht umhin zu erkennen, dass dieser Konflikt einer der großen Triebmotoren der Weiterentwicklung war. Menschen benötigten wohl derlei Meinungsverschiedenheiten und Kämpfe, daran konnte auch der Fortschritt nichts ändern.

Doch solange das Cybernet über die Menschen wachte, würde es außer digitalen Zahlenschiebereien, in Form von Wirtschaftskriegen, keine Auseinandersetzungen geben. Die Zeiten von barbarischer Gewalt und Kriegen waren längst vorbei.

Eine zu Kaja herüberschwappende Empfindung von Trauer erinnerte sie daran, wonach sie eigentlich suchte. Zurück in den Suchbereichen für medizinisch notwendige Erinnerungsanalysen fand sie eine Auflistung von Kliniken und Fachärzten. Nur drei Stadtebenen über dieser befand sich ein großes Institut, das sich der Grundversorgung widmete, aber auch ein paar private Konstrukteur-Labore vermittelte.

Für einen Termin musste Kaja ihre ID-Card scannen lassen. Danach wurde sie aufgefordert, den Kopf zu heben, um einen Irisscan von der Projektionslinse durchführen zu lassen. Nach wenigen Sekunden erhielt sie Zugang zum digitalen Anmelderaum.

Ihr Behandlungsgrund wurde als valide eingestuft und ihr Termin war schon direkt morgen. Die Polizeibehörde und die Kybernetik-Klinik ihrer Siedlung hatten entsprechende Einträge vorgenommen. Kaja sah den groben Hergang des Geschehnisses sowie einen umfangreichen Bauplan sämtlicher kybernetischer Prothesen ihres Körpers. Ein weiteres Dokument beinhaltete ihre genetischen Schlüssel und Informationen wie Blutgruppe, Alter, biologisches und selbst-definiertes Geschlecht.

Sämtliche persönliche Daten lagen im System offen für Behörden, Konzerne und andere Zugriffsberechtigte dar. Kaja fand das ziemlich praktisch und vor allem notwendig, zum Beispiel bei einem Unfall. Im Ernstfall konnte man dadurch schnell reagieren. Auch bei der Suche nach einem passenden Arbeitsplatz konnte das sehr behilflich sein.

Plötzlich kam sie sich dumm vor, dass sie schon so lange ein Geheimnis um ihr Leiden gemacht hatte. Warum hatte sie es nur versteckt? Wieso sollte es ein Problem sein, wenn die anderen Menschen wussten, was sie plagte? Es gab doch nichts zu verheimlichen. So sehr Kaja auch darüber grübelte, sie konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern, warum sie damit begonnen hatte.

Obwohl sie wusste, dass auf diese Weise alles seine Richtigkeit haben musste, starrte sie die Tabellen weiter unverhohlen an.

Nach ein paar Minuten loggte sie sich aus, löschte das Licht und schloss die Augen. Kaja presste ihre Lippen aufeinander. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und Unruhe ließ ihre Schläfen pochen.

Der Schlaf ließ lange auf sich warten.

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