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Vorwort: Drei grenzenlose Aussagen

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»Das sind keine Menschen, das sind Verbrecher!« So urteilte der sächsische Ministerpräsident Tillich am 23. Februar 2016 über Bewohner eines Dorfes, die einen Bus von Migranten blockiert hatten. »Es gibt keine Obergrenzen!«, so verlautbarte die Kanzlerin Angela Merkel monatelang, um deregulierte Migration nach Deutschland zu rechtfertigen. Und Martin Schulz appellierte auf dem SPD-Parteitag am 10. Dezember 2015: »Für den Sieg des Bösen reicht es, daß die Guten nichts tun.« Diese drei Aussagen markieren die Fluchtpunkte einer Weltsicht, die beansprucht, als einzige diskursfähig zu sein. Sie hängen miteinander zusammen und beruhen auf gemeinsamen Axiomen.

»Das sind keine Menschen.« Wie ist es möglich, Bürgern, die zivilen Widerstand leisten gegen staatliche Maßnahmen, das Menschsein abzusprechen? Den politischen Gegner zu kriminalisieren heißt, sich an einer Grenze zu bewegen – genauso wie wer zivilen Widerstand übt, sich an einer Grenze bewegt, aber eben nicht zum Verbrecher wird. Doch selbst wenn ziviler Widerstand zum Verbrechen würde: Wie kann ein Politiker öffentlich behaupten, bestimmte Menschen seien keine Menschen? Wieso steht ein Verbrecher außerhalb des Menschseins? Immerhin spricht Tillich nicht von Mördern, sondern von Bürgern, die einen Bus mit Migranten nicht in ihr Dorf einfahren lassen wollten. Wenn Verbrecher keine Menschen sind, was sind sie dann? Sind es Tiere, Untermenschen oder Dämonen? Tillichs Aussage stellt uns vor das Problem, wie Grenzen zu ziehen sind. Wenn eine radikale Moralität die Grenzen zieht, und wenn diese Grenze zur ultimativen und sakralisierten wird, dann freilich ist der Satz richtig: Verbrecher sind keine Menschen. Sie haben ihr Menschsein verwirkt, in dem Augenblick als sie den Bus mit Migranten stoppten. Die gesamte Menschheit sagt sich los von ihnen und anerkennt sie nicht mehr als zur Gattung zugehörig.

»Keine Obergrenzen«, so lautete das Mantra, mit dem die Kanzlerin die unkontrollierte und rechtswidrige Zuwanderung nach Deutschland befahl und jedweden Einwand abschmetterte. Am 7. Oktober, in einem Interview, behauptete sie, Deutschland habe 3 000 Kilometer Landgrenze; diese Grenze sei nicht zu schließen. Folglich liege es »nicht in unserer Macht, wie viele nach Deutschland kommen«. Demnach würde Deutschland sogar die 60 Millionen Flüchtlinge auf dem Globus aufnehmen, und wenn nötig auch 100 oder 200 Millionen. Zum erstenmal in der Geschichte der staatlich organisierten Menschheit verkündigte eine Regierung, daß die Grenzen offen stünden für eine ungehinderte und unbegrenzte Zuwanderung in einen Staat. Eine Entgrenzung dieser Art, wenn sie dauert, läßt jedwede rechtliche und politische Ordnung kollabieren. Ein Staat, der die Hoheit über seine Grenzen aufgibt, gibt seine Staatlichkeit auf.

Vom »Sieg des Bösen« sprach Martin Schulz auf dem SPD-Parteitag, Edmund Burke zitierend. Den Guten stehen nicht die Schlechten gegenüber, sondern das Böse. Das Böse ist nicht bloß das Schlimme, nicht das Übel. Es ist keine moralische Kategorie, sondern eine kosmische. Das Böse ist die kosmische Macht, die alle bösen Handlungen verursacht und bewirkt. Wenn das Böse zu einer Realität in der politischen Arena wird, dann kämpfen die Guten gegen die Agenten des Bösen, gegen dämonische Feinde. Wer im Dienste des Bösen steht, der ist nicht bloß verworfen, sondern gefährlicher als der schlimmste Killer; er steht jenseits der absoluten Grenze.

Der manichäische Schematismus von Martin Schulz leistet dasselbe wie der moralische Extremismus von Tillich; beide grenzen den politischen Gegner aus der Menschheit aus. Dieser Rückfall hinter sicher geglaubte Hegungen, die wir nicht zuletzt der Aufklärung verdanken, wirft Fragen auf. Unter anderem danach, wie vernunfthaltig diese Exklusion ist. Sie operiert mit zwei Entgrenzungen: Erstens entgrenzt sich die Feindschaft, denn sie wird, das Menschsein der Gegner negierend, zu einer Abwertung ohne Maß, zweitens entgrenzen sich die möglichen Maßnahmen; denn es gilt nicht bloß, diesen Feind zu besiegen, sondern ihn zu vernichten. Und dafür ist die konventionelle europäische Hegung des Kampfes und Krieges untauglich. Solche hysterische Maßstabslosigkeit ergibt sich logisch aus den Axiomen, die alle drei Aussagen konstituieren. Der Vernunftverlust in dieser Grenzenlosigkeit der Feindschaft indiziert, daß der hegemoniale Diskurs wesentliche Errungenschaften der Aufklärung stillgelegt hat. Die politische Vernunft hat eine Niederlage erlitten. Das ist erstaunlich, weil ja alle drei Aussagen zweifelsohne ein universalistisches Anliegen artikulieren: Merkels Satz nimmt die Einigung der Menschheit in einer grenzenlosen Weltrepublik vorweg, nämlich den asylbezogenen Kosmopolitismus. Die beiden anderen Aussprüche flankieren diesen Universalismus, indem sie radikal exkludieren, was sich ihm entgegenstellt. So gerät eine Staatsgrenze – immerhin die konstitutive Bedingung für einen Staat – zum universalismusfeindlichen Ärgernis. Indes, alles in der Welt ist begrenzt. Einen grenzenlosen moralischen Universalismus stur durchzusetzen, erheischt einen hohen kognitiven und moralischen Preis. Sogar einen politischen; denn der britische Souverän hat dieser Entgrenzung sein klares Nein entgegengestellt. Eine Grenze zu haben ist das entscheidende Merkmal aller Existenzen und sogar aller Ideen. Alles Bestimmen und alles Definieren begrenzt das Definierte. Wer Grenzenlosigkeit zum Ideal erhebt, macht die Selbstverdummung zur moralischen Pflicht. Dagegen muß die Politische Vernunft Einspruch erheben.

Diesen Einspruch will das vorliegende Buch begründen. Um die Gründe darzulegen, hat es sich drei Fragen zu stellen: Worin besteht die Niederlage der Politischen Vernunft? Wieso kam es zu dieser Niederlage – in ganz Europa, vor allem aber in Deutschland? Was bedeutet diese Niederlage für die Politische Kultur? Demgemäß entfaltet das erste Kapitel zunächst den Begriff der Politischen Vernunft; es erörtert, warum diese einerseits einem menschenrechtlichen Universalismus verpflichtet ist, und wieso sie anderseits die historische Dimension in ihren Begriff einschließt; es verdeutlicht die erheblichen Konsequenzen, die sich für vernunftorientiertes politisches Denken ergeben, sobald es die Verlierbarkeit aller kulturellen Errungenschaften berücksichtigt. Der Gegenstand des zweiten Kapitels sind drei Weisen, die Aufklärung zu negieren, zunächst das Theorem der grenzenlosen Nächstenliebe, dann der Antiuniversalismus in seiner doppelten Gestalt als Negierung universaler Wahrheitsansprüche und als Kulturrelativismus. Das dritte Kapitel behandelt die maßgebliche Triebfeder für die Zerstörung des menschenrechtlichen Universalismus, nämlich die antikolonialistischen Diskurse, wobei die ethnopluralistischen und rassistischen Grundsätze von Frantz Fanon besondere Beachtung finden. Es folgt im vierten Kapitel eine kritische Besinnung auf Foucaults späte politische Verirrungen, auf seine Idee einer pseudoreligiösen Befreiung aus der Geschichte und auf seine Hinwendung zu einer Politik der permanenten antirepublikanischen Schuldsuche. Auf dieser ideengeschichtlichen Basis beruht die Politik der Recognition, die im fünften Kapitel untersucht wird; dabei erweist sich, daß kommunitärer Multikulturalismus und Ethnopluralismus Parallelphänomene auf derselben ideellen Grundlage darstellen und ideengeschichtliche Nachfolger von chauvinistischen Ideologien sind. Das sechste Kapitel bespricht, wie die Politik der Antidiskriminierung in die Rechtsdiskurse übersetzt wird und sich zu einem Instrument entwickelt, um sowohl die Meinungsfreiheit als auch die wissenschaftliche Wahrheitssuche einzuschränken und um Grundprinzipien der Demokratie auszuhebeln. Daran schließt sich im siebten Kapitel eine kritische Besinnung auf die Gedächtnispolitik an, insbesondere auf deren Funktion bei der Konstituierung kommunitärer Denkungsarten, die sich gegen alle Kriterien historischer Wahrheit sträuben. Das achte Kapitel legt zunächst dar, daß der Begriff des Gemeinwohls unverzichtbar bleibt und daß keine Demokratie bestehen kann, wenn die individuelle Freiheit der politischen Freiheit übergeordnet wird; anschließend wird erörtert, warum die Kritische Theorie unfähig war, sich dem Trend zur Entlegitimierung von Demokratie und Menschenrechten entgegenzustemmen. Im neunten Kapitel rückt der Zerfall kardinaler staatlicher Funktionen ins Blickfeld, insbesondere der Verlust der Wehrfähigkeit und die Diskreditierung der Ordnungsorgane. Dabei wird die Rolle der Rechtsprechung kritisch zu besehen sein, insbesondere ihre Transformation unter dem Druck der EU und ihre Funktion bei dem Angriff auf die Grenzen 2015. Das zehnte Kapitel befaßt sich mit der partiellen Zerstörung der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik. Im Fokus stehen diskursive Praktiken, mit denen die Massenmedien 2014–2016 evidente Realität leugneten und Hyperrealität erzeugten, Praktiken, die nachhaltig die politische Kultur der Republik beschädigt haben. Das elfte Kapitel schließlich untersucht, wieso Werte auf Opferbereitschaft angewiesen sind, ferner wieso ein pervertierter Toleranzbegriff notwendig in die politische Apathie und zum Verlust von Aufklärung führt. Soll der Verlust nicht endgültig werden, ist kulturelle Selbstbesinnung zu leisten; diese beinhaltet jedoch historische Rückbesinnung, um in der Vergangenheit orientierende Landmarken zu ermitteln. Am Schluß steht eine Betrachtung des Zusammenhangs von historischer Dankbarkeit und politischer Freiheit.

Die Niederlage der politischen Vernunft

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