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II. Die dreifach negierte Aufklärung

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Dialektiken der Aufklärung

Insbesondere drei Errungenschaften der Aufklärung stehen nun auf dem Spiel, nämlich der menschenrechtliche Universalismus, die Wissenschaft als letzte Instanz in Wahrheitsfragen und die republikanische auf Volkssouveränität beruhende Organisation menschlicher Gemeinschaften. Aus dieser Trias entstammen die beiden letzten zwar der Antike, und auch die erste gründet auf Ideen, die weit älter sind als das 18. Jahrhundert; dennoch haben sie in der Epoche, die wir ›Aufklärung‹ nennen, ihre maßgebliche Konfiguration erhalten. Wir riskieren nun, diese Errungenschaften zu verspielen.

Das ist immer wieder vorausgesagt worden, am eindringlichsten von Nietzsche. Und daß die Aufklärung keineswegs gegen Katastrophen gefeit hat, bleibt unbestritten. Aber sind diese ihr deshalb anzulasten? Wir stehen vor dem Thema ›Dialektik der Aufklärung‹. Viele Intellektuelle ließen im 20. Jahrhundert ihre Sorgen und ihre Aufmerksamkeit um dieses Thema kreisen. Sowohl Heidegger als auch Adorno und Horkheimer brachten die Widersprüche der Aufklärung in prägnante Formen; und beide Versionen ähneln einander teilweise zum Verwechseln. Ihnen zufolge hat die Ausdehnung der menschlichen Herrschaft mittels Technik und Wissenschaft desaströse Ausmaße angenommen. Beide Philosophien verabschieden die Geschichte und hoffen auf Erlösung.

Adorno und Horkheimer haben die Aufklärung für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – insbesondere für den Faschismus – verantwortlich gemacht. Hierfür prägten sie den Begriff der Aufklärung neu: Seit der »Odyssee« Homers betreibe der abendländische Mensch Aufklärung, indem er die Verfügung über sich selber und über die Welt ständig ausweitet und intensiviert. Die Selbstbehauptung ist sein Zweck und das Opfer sein Mittel. Zweck und Mittel ketten die sich aufklärende Vernunft an einen hoffnungslos instrumentellen Gebrauch; somit diene die Aufklärung einer nur instrumentellen Vernunft, welche keinerlei utopischen Impuls verspürt und den Zwecken der technischen Perfektion gehorcht. Mit dieser Vernunft verkehre sich die Aufklärung in ihr Gegenteil und befördere das Unheil, welchem die utopische Vernunft stets entkommen wollte. Eine solche geschichtsphilosophische Konstruktion ist schierer Mythos. Seltsamerweise hat dieser adornitische Mythos bei der kulturwissenschaftlichen Linken der deutschen Geisteswelt erhebliche Wirkung gezeigt.

Jedenfalls gaben sowohl Heidegger als auch Adorno und Horkheimer die Hoffnung auf, daß es in der Geschichte noch zu einer Wende kommen könnte. Letztere huldigten dem Credo, »daß Erlösung und Geschichte nicht ohne einander sind und nicht ineinander, sondern in einer Spannung, deren gestaute Energie schließlich nichts weniger will als die Aufhebung der geschichtlichen Welt«.1 Soll das vernunftgemäße Ziel der Geschichte in der Aufhebung der geschichtlichen Welt bestehen, und kann diese Aufhebung sich nur ereignen als Abbruch der Geschichte, dann haben wir Anlaß, uns vor einer solchen Geschichtsphilosophie zu ängstigen. Indes, in wohlbegründeter Parallelität hierzu konnte Heidegger seine Philosophie mit den Worten abschließen: »Nur noch ein Gott kann uns retten.« Was aber tun, wenn kein Gott uns rettet? Und wenn keine Erlösung naht, um die Geschichte ›abzubrechen‹?

Viele andere Dialektiken wurden erdacht, um die Widersprüche der Aufklärung in soziologische oder geistesgeschichtliche Erklärungsmodelle einzupassen und so die Aporien der Moderne und ihres ›Projekts‹ in Begriffe zu gießen. Eine davon verengt auf entschiedene Weise den Fokus auf das Politische und die politischen Ideen, nämlich jene von Hannah Arendt. Sie stellt in »Über die Revolution« die Amerikanische und die Französische Revolution einander gegenüber: Die erste leistete einen enormen Aufwand, um eine Verfassung zu schaffen, die als dauerhafte Ordnung hinfort das Zusammenleben einer politisch partizipierenden Bürgerschaft gewährleisten sollte; die andere ließ sich zu früh abdrängen vom Ziel der politischen Freiheit, um plötzlich das ›Glück‹ der Bürger sozial und politisch herstellen zu wollen. Robespierres Apostrophe vom Mai 1792: »La république? La monarchie? Je ne connais que la question sociale«2 rückte die Frage nach der politischen Freiheit in den Hintergrund. Das Manifest des Sansculottismus vom 16. November 1793 gab der Französischen Revolution einen völlig neuen Sinn: »Le but de la révolution est le Bonheur du peuple.« Aus dem Dilemma machte Saint-Just eine avantgardistische Tugend, als er am 3. März 1794 verkündete: »Das Glück ist eine neue Idee in Europa.« Das Abgleiten in den Terror ging Hand in Hand mit der Mißachtung der politischen Freiheit. Das war nach Hannah Arendt der Sündenfall der Moderne: »Die Verwandlung der Menschenrechte in die Rechte der Sansculotten ist der Wendepunkt der Französischen und aller ihr folgenden Revolutionen.«3 Es ist die Wende nicht zur Herstellung von politischer Freiheit, sondern zur Diktatur im Interesse sozialer Ziele.

Hier langen wir an bei jener sozialen Mechanik, die Jacob Burckhardt als moderne Paradoxie formulierte, und von der im neunten Kapitel die Rede sein soll. Arnold Gehlen hat, sicherlich in Kenntnis des Burckhardt-Paradoxes, die Gedanken von Hannah Arendt in einem anderen Sinne weitergedacht: Sogar Diktaturen sitzen nicht fest im Sattel, wenn sie die politische Wucht jener programmatischen Forderung zu spüren bekommen, die Gracchus Babeuf erhob: »Garantiert jedem einzelnen Bürger einen Zustand beständigen Glücks, die Befriedigung der Bedürfnisse Aller, ein unveränderliches Auskommen, unabhängig von der Unfähigkeit, der Unmoral und dem schlechten Willen der Machthaber!«4 Denn Glück soll politisch herstellbar sein, geradezu produzierbar. Als programmatisches Ziel verwandelt es den Staat in eine administrative Maschine, die notwendigerweise defizitär bleibt, weil das Produkt niemals den Erwartungen entsprechen kann. Der Staat wird permanent anklagbar, denn, wie es die Formulierung Babeufs ausspricht: Es kann ja nur am bösen Willen der Machthaber liegen, wenn das Glück aller sich nicht einstellt. Derselbe Staat, dem zugemutet wird, Glück herzustellen, gerät zum Widersacher, der sich berechtigten Ansprüchen des Bürgers in den Weg stellt. Aus der Ethisierung des Lebensglückes und dessen Erhebung zum höchsten Gut »folgt die moralische und somit öffentlichkeitsfähige Disqualifizierung derjenigen Mächte, die einer solchen Glücksmaximierung im Wege stehen könnten«. So liquidiert die Aufklärung auch nach Gehlens Ansicht sich selbst, weil die permanente Überflutung des Staates mit ›berechtigten Ansprüchen‹ eine institutionelle Entropie in Gang setzt. Und wenn Institutionen auf eine entropische Abschüssigkeit geraten, dann verfällt die Gesellschaft der Anomie: »Die Aufklärung ist, kurz gesagt, die Emanzipation des Geistes von den Institutionen.«5 Träfe das zu, dann überlebten weder die Institutionen noch der Geist. Diese Version der »Dialektik der Aufklärung« führt ein ganz anderes Drama auf als jenes von Adorno und Horkheimer. Und im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kann es kaum Zweifel daran geben, daß sie die Aufgabe, »die Zeit in Gedanken zu fassen«, weitaus besser erfüllt. Welche Relevanz sie für das Problem der Werte hat, das wird im weiteren Verlauf noch zu erörtern sein.

Es ist nicht zu leugnen, daß wir vor Trümmern stehen, an denen auch das ›Projekt der Moderne‹ mitgebaut hat. Seit der Renaissance ist dieses ›Projekt‹ – nämlich die Verhältnisse der Welt auf den Menschen und seinen Willen zu stellen – unablässig angezweifelt worden. Der französische Philosoph Rémi Brague hat kürzlich dem Titel seines Buches »Die Herrschaft des Menschen« den Untertitel »Genesis und Scheitern des modernen Projekts« hinzugefügt. Es gilt einzusehen, daß es nicht hilft, auf den Prinzipien der Aufklärung zu beharren, als seien es religiöse Dogmen. Ihre Errungenschaften sind nur zu verteidigen, wenn das an der Aufklärung ausgerichtete Denken sich die Grenzen derselben eingesteht. Die Übersteigerung ›des Menschen‹, seine tendenzielle Sakralisierung führt zu absurden kollektiven Maßnahmen oder in blutige Paradiese. Aber auf der anderen Seite ist es unmöglich, den Humanismus schlicht zu opfern. Denn was sollte an seine Stelle treten? Jede Alternative zu ihm treibt vehement zur Theokratie. Wir müssen Anthropozentristen bleiben, nicht weil wir noch an die Vergottung des Menschen glauben könnten, sondern weil die Alternativen zum Anthropozentrismus gefährlich sind. Ein bescheiden gewordener Humanismus ist auf jeden Fall gut beraten, die unbedingten Imperative zu ersetzen durch hypothetische Schlüsse. Das bedeutet, sich anzugewöhnen, im Modus des »Wenn – dann« zu denken, in Konditionalsätzen zu schreiben – und oft auch zu sprechen: Wenn die Europäer sich zusammenschließen wollen zu einer freiheitlichen Republik, dann kommen sie nicht umhin, bestimmte kulturelle Phänomene schnellstens über Bord zu werfen, um wichtige Errungenschaften zu retten, so lange es noch geht.

Negierte Vernunft:

Absolutes Gebot und Divinisierung des ›Anderen‹

Seitdem die deutsche Regierung den Sog der Immigration so beschleunigte, daß die Grenzen von sechs europäischen Ländern kollabierten, seitdem die islamistischen Attentate und Übergriffe in europäischen Städten sich vervielfachten und an die Schwelle zum Bürgerkrieg gelangten, und seitdem der britische Souverän entschieden hat, aus der Brüsseler Eurokratie auszuscheiden, verschärft sich die Frage, woran die öffentlich wirksamen Diskurse kranken. Bei welchen Belangen haben diese Diskurse die politische Vernunft verunstaltet?

Das am schwersten demolierte Moment dieser Vernunft dürfte das oben angeführte Bedingnis zwölf sein, nämlich die Entgrenzung von Schuld und Verantwortung. Ein Diskurs grenzenloser Verantwortung hat die normativen Eckpunkte des Regierens in der EU erheblich verschoben. Er hat eine Politik der Grenzenlosigkeit angestoßen, die wiederum mehrere europäische Länder dazu herausforderte, gegen die eurokratischen Diktate zu rebellieren und eigenständig ihre Grenzen zu sichern. Wie konnten so viele Zeitungen Europas, so viele Publizisten und Politiker das Haupt senken vor dem Imperativ, die Migranten aller Länder unbegrenzt aufzunehmen? Es konnte geschehen, weil hegemoniale Diskurse den Begriff der Verantwortung dermaßen überdehnten, daß er seinen Sinn verlor. Sowohl die Massenmedien wie auch die Kirchen hämmerten eine Verantwortung ohne Limit lautstark ein. Die entgrenzte Verantwortung überrollte die staatliche Politik, um grundlegende Verfassungsprinzipien außer Kraft zu setzen.

Wie kam es zu dieser Idee? Es ist der Philosoph Emmanuel Levinas gewesen, der die grenzenlose Verantwortung zum Prinzip erhob. Entnommen hat er sie aus Dostojewskijs »Die Brüder Karamasoff«. Dort belehrt der Staretz Sossima seine Mitmönche, ein jeder habe zu erkennen:

»… daß ein jeder von uns schuldig ist für alle und alles auf Erden, darüber besteht kein Zweifel, und dies nicht nur durch seinen Anteil an der allgemeinen Weltschuld, sondern ein jeder von uns ganz persönlich für alle Menschen und für jeden einzelnen Menschen auf dieser Erde … Erst nach dieser Einsicht kann sich unser ergriffenes Herz zu jener unendlichen Liebe weiten, die die ganze Welt umspannt und keine Sättigung kennt. Dann wird auch jeder von Euch die Kraft haben, die ganze Welt durch seine Liebe zu erringen und mit seinen Tränen die Sünden der Welt abzuwaschen.«6

Wenn alle schuldig sind, dann gibt es keine Verbrecher mehr. Dann zerlaufen alle Konturen der Verantwortung für eigenes Handeln. Folgerichtig hören die Gerichte auf, Recht zu sprechen; denn die Richter sollen nicht mehr urteilen und strafen, sondern verzeihen. Mitgedacht ist die Allgnade, welche letzten Endes alle Schuld tilgt und vom Bösen nichts mehr übrig läßt: Am Ende entkäme somit selbst der Teufel nicht der Gnade, welche ihn heimholt. Die großartige Idee der menschlichen Zusammengehörigkeit – hinweg über Zeiten und Länder – ist hier in einer Radikalität gedacht, die sogar über die Bergpredigt hinausgeht.

Wenn die Erlösung zum politischen Programm wird, droht Unheil. Was als regulative Idee erhaben ist und nicht zu überbieten, das erweist sich als konstitutive Idee – als Maxime praktischen politischen Handelns – als tödlich für alles Recht. Der Staretz scheut sich nicht, der Liebe des einzelnen Menschen eine geradezu gotteslästerliche Allmacht zuzusprechen: Sie bewirke, daß jeder einzelne die Sünden der Welt abzuwaschen vermag. Diese metaphysische Vollmacht irritiert; doch sie ist notwendig als Widerlager der Allschuld. Ohne diese Allmacht müßte die allschuldige Seele verzweifeln oder sich ins Sicherheitsnetz der Allgnade fallen lassen. Mit dieser Allmacht bedürfen die Menschen keiner Gerechtigkeit mehr, können sie doch jederzeit in einen paradiesischen Zustand eintreten.

Radikalisiert man das Mitleid und treibt man die Solidarität bis zum Äußersten, dann läßt sich die extreme existentielle Anspannung nur durchhalten, wenn die Idee der Allschuld obsessiv vorwärtspeitscht. Diese Allschuld ist ersichtlicherweise kein moralisches Thema mehr, sondern ein kosmisches. Wenn menschliche Schuld herausgelöst wird aus den Verflechtungen des eigenen Handelns, dann verliert sie ihre moralische Qualität. Werfen wir einen Seitenblick auf die griechische Tragödie. Sie umkreist zwanghaft das Thema, daß alles Handeln Folgen hat, die auf den Handelnden zurückschlagen. Denn ein Tun-Ergehens-Mechanismus sorgt für eine unbestimmbare Gerechtigkeit; und weise ist es, aus Widerfahrnissen und Leiden zu lernen: ›Bedenke die Folgen!‹ Wenn nun diese Folgen sich entufern, dann können sie nicht bedacht werden; und dann sind sie nicht mehr auf das Handeln des einzelnen oder der Kollektive beziehbar. Ist aber die Zurechenbarkeit stillgelegt, dann ist weder verantwortliches Handeln möglich, noch heldisches Einstehen für die Konsequenzen der eigenen Entscheidung. Wenn Folgen und Tun in keinerlei sinnhaftem Zusammenhang mehr stehen, dann verflüssigt sich der Boden für jede konsequentialistische Moral. Das entgrenzte Denken ist prinzipiell antitragisch. Konsequentialismus und Tragik verlöschen in ihm vollständig.

Gegen die Politische Vernunft richtet sich das Dostojewskij-Theorem in drei Hinsichten: Zum ersten wischt es die Zeithorizonte menschlichen Lebens aus. Wenn wir heute noch ins Paradies eintreten können, dann bedarf es keiner Zukunft mehr. Und wenn die All-Liebe eines einzigen imstande ist, die Sünden der Welt abzuwaschen, dann ist die großartige Idee von Hermann Lotze sofort einlösbar: Nämlich daß die Lebenden die Pflicht hätten, die Vergangenheit zu erlösen. Zum zweiten kollabiert die Sphäre des Politischen augenblicklich und vollständig. Denn in der bergpredigthaften Hingabe für die Mitmenschen ertrinkt jedwede Selbstbehauptung, sowohl die individuelle als auch die kollektive. In diesem Zustand wird es sinnlos, Fristen zu bedenken. Treffend nannte Blaise Pascal die Voraussetzung für ein Leben entlang der Seligpreisungen: ›Tun wir so, als hätten wir nur acht Tage zu leben‹. Zum dritten entwertet sich die Urteilskraft brüsk und restlos, sobald die Erlösung zum Leitmotiv des Denkens wird.

Das Denken von Emmanuel Levinas erhielt Aufwind während der Diskurswende der letzten beiden Jahrzehnte, als jäh klar wurde, daß die Annahme einer fortschreitenden Säkularisierung bestürzend naiv war. Seine Philosophie erfreut sich einer unentwegt steigenden Aufmerksamkeit nicht zuletzt wegen ihres dostojewskijschen Kerns. Levinas ist derjenige unter den modernen Philosophen, der die Vision des Staretzen Sossima in die Sprache der Philosophie übersetzt hat – freilich modifiziert. Zunächst schneidet der jüdische Philosoph die ostkirchliche Idee der Allgnade aus der Vision heraus. Damit verändert sich die theologische Qualität der moralischen Maxime, denn ihr fehlt die tröstliche Umfassung. Ferner formt er aus der Allschuld eine »grenzenlose Verantwortung«. Die moralische Haltung, welche aus der Einsicht entspringt, an allem schuldig zu sein, schmiedet er um zu einer absoluten Pflicht; diese ist kein kategorischer Imperativ, sondern ein göttliches Gebot, das unbedingten Gehorsam verlangt.

Da im 20. Jahrhundert der Begriff der ›Wahrheit‹ unter dem Dauerfeuer der Gegenaufklärung den Rückzug antrat, zog Levinas die äußerste Schlußfolgerung und verkehrte die griechische Rangfolge zwischen Wahrheit und Moral ins Gegenteil: Die Pflicht – nämlich für den ›Anderen‹ grenzenlos verantwortlich zu sein – steht höher als die Wahrheit; die Ethik steht höher als die Ontologie. Levinas ist sicher, daß eine solche Fürsorge ohne Grenzen den Verlauf der menschlichen Geschehnisse erheblich verändern kann: »Daß die unbegrenzte Verantwortung für den anderen – eine totale Entkernung des Selbst – sich in die konkrete Geschichte übersetzen kann, das denke ich.«7

Den ›Anderen‹ auf diese Weise zu sakralisieren zeitigt Folgen, die kein guter Wille ertrüge, falls er bereit wäre, ihnen ins Auge zu sehen. Es gibt nicht ›den Anderen‹; er hat soziologisch und historisch niemals existiert. Es ist ein Kollektivsingular; und solchen Begriffen eignet die Kraft zu verwischen und zu verdinglichen. Der ›Andere‹ suggeriert eine Beziehung zwischen ›ich‹ und ›Du‹. Diese gibt es, außer auf Robinsons Insel, nirgendwo. Man begegnet immer ›den Anderen‹. Und mit dieser Tatsache verwandelt sich das ethische Problem in ein soziales, im Ernstfall sogar in ein kulturelles. Wenn es um ›die Anderen‹ geht, dann befinden wir uns bereits in einem binären ›Wir/Ihr‹ Schematismus, den nicht wir erzeugt haben. Erzeugt hat ihn die bloße Situation selber, aber noch mehr der Wille der ›Anderen‹, als ›Andere‹ gelten und sich behaupten zu wollen. Kombiniert mit spezifischen Rechten, die kodifiziert und schnell einklagbar sind, weil ein Justizsystem sie garantiert, verwandelt dieser Wille jeden noch so bedürftigen ›Gast‹ in einen potentiellen Feind. Die Entschlossenheit, der ›Andere‹ zu bleiben, bedeutet, das ›Gastrecht‹ auszunutzen, um sich dem Recht zu entziehen. Denn das Recht in einer Republik duldet keinen ›Anderen‹, sondern nur Gleiche. Wolfgang Kersting hat den antirepublikanischen Gehalt dieser ›Divinisierung des Anderen‹ benannt: Sie übertönt mit Parolen aus der Bergpredigt die desaströsen Auswirkungen der Koexistenz von unterschiedlichen Lebenswelten, in denen jeweils ›Andere‹ ihren eigenen Normen und Werten gemäß leben; und sie sakralisiert Parallelgesellschaften.8

Der obige Satz von Levinas entzieht dem Wort ›Verantwortung‹ seine Qualität als Kategorie. Denn Kategorien definieren, sie begrenzen. Eine ›unbegrenzte Verantwortung‹ ist ein logisch widersinniger Begriff; sie ist bar aller kategorialen Qualität und bloß ein Schlagwort der moralischen Gefühlsdogmatik, beeindruckend wegen seines erhabenen Klangs. Daß hier politische Theologie lauert, ist nicht zu überhören. Denn in die konkrete Geschichte hineinwirken heißt allzumeist, das Politische selber beeinflussen und den Staat in die Regie nehmen. Die Obsession der grenzenlosen Verantwortung hätte den politischen Raum in der EU in den Jahren 2012 bis 2016 nicht dermaßen verwüsten können, wenn nicht zwei Umstände die Bereitschaft zu ihrer Rezeption erhöht hätten, nämlich neue Evidenzrahmen und der starke Schwund an ›temporaler Distanz‹.

Neue Evidenzrahmen: Sie plausibilisieren immanente Wirkungszusammenhänge. Ein Beispiel dafür bieten die britischen Abolitionisten, die einen Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und Plantagensklaverei herstellten. Die globale Verflechtung der Ökonomie bot sich an als Evidenzrahmen für die Idee, alle ökonomischen Handlungen wirkten sich aus bis in die entferntesten Gegenden der Welt. Solche unbedachte Fernwirkung des privaten Konsums ließ sich transponieren in eine Relation zwischen individuellem Handeln hier und einer Mitschuld am entferntesten Leid und Unrecht. Dieses Modell ließe sich zuschneiden auf die Ökologie, auf das Klima und auf immer weitere Bereiche. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) entfalten hierbei eine überschäumende Kreativität. Sie fungieren als Fabriken der diskursiven Multiplikation von Entgrenzungsrhetoriken, welche emphatisch unbestimmte Haftungen für nicht-intendierte Nebenwirkungen beteuern. Das Publikum muß bloß entsprechend ›sensibilisiert‹ sein. Und die wissenschaftliche Petschaft für blindlings fabrizierte Zusammenhänge bestellt man nachträglich bei jenen Fachleuten, die nur allzubereit sind, auf den entsprechenden Zug aufzuspringen. Gelingt es, solche Haftungszusammenhänge zu plausibilisieren, dann läßt sich Verantwortung entgrenzen – über den Globus und durch die Generationen.

Der zweite kulturelle Sachverhalt ist die mangelnde Distanz zum ›Tagesgeist‹. Der Philosoph Michael Großheim hat dieses kulturelle Syndrom brillant erörtert: Eine ansteigende Quote von Europäern erleidet die Tyrannei des Augenblicks und seiner Launen. Sie sind in wichtigen Hinsichten der diachronen Verankerung entledigt, in welcher jede Kultur ihre Menschen halten soll, sie ausstattend mit stabilen Semantiken und sie befähigend, wesentliche Entscheidungen zu treffen – entlang von internalisierten Normen und Werten, und mit offenem Blick auf biographische und kollektive Fristen. In Fristen denken heißt, über die Frist hinausdenken, den Sinn der Frist selber im Auge haben. Wer das nicht vermag, für den wird die Gegenwart zu einem abgetrennten Moment, zu einer Serie von isolierten Augenblicken – die unter Druck sich rasch eschatologisch aufladen. Fristlosigkeit disponiert zu panischen Anfällen und provoziert unter Streß eine garantierte Paranoia. In der Zeitlichkeit lebend, verstreichen uns unentwegt Fristen, denen wir gar keine, bloß geringe oder große Beachtung schenken. Vernünftiges Handeln muß unterscheiden zwischen wichtigen und unwichtigen Fristen. Verflüchtigt sich diese Unterscheidungskraft, dann wird das Handeln sprunghaft und das Denken panisch. Als der sophokleische Ödipus in höchster Bedrängnis sich an jede neu eintreffende Nachricht klammert, beklagt seine Frau Iokaste diese Haltlosigkeit: »Nicht beurteilt er/das Neue bedenkend nach dem Vergangenen/ist jedem Redner ausgeliefert« (v. 916 f).

Ödipus hat die Orientierung verloren, nämlich die Fähigkeit, das Neue zu deuten im Horizont, den das Alte gezogen hat. Wer die Orientierung verloren hat, ist jedem Windchen ausgeliefert wie eine Feder. Von allem Neuen ergriffen zu werden ist nicht Offenheit, sondern Verlorenheit. Daher die Wichtigkeit der diachronen Verankerung: Sie schützt davor, die Umschwünge des ›Tagesgeistes‹ wehrlos zu erleiden. Denn sie schafft Distanz zur eigenen Zeit, erzeugt im Geist eine gewisse Resistenz gegen die Tyrannei des Augenblicks, gegenüber den Zumutungen der kulturellen und politischen Moden. Nimmt diese Resistenz ab, dann verliert sich die kognitive Fähigkeit, Güter abzuwägen.9 Schlimmster Konformismus findet sich just nicht bei ›Konservativen‹, sondern bei den Sklaven der Aktualität. Denn Besinnung und Reflexion hängen an jener Distanz. Ohne sie ist das Subjekt den abstrusesten Einflüssen ausgesetzt, bar der moralischen Kraft, sich dagegen zu wehren. Denn internalisierte Normen behüten nicht vor den unsinnigsten Handlungen, falls die Orientierung fehlt. Daher sind moralbewaffnete Überfälle so verheerend. Aufforderungen, sich zu einer politischen oder sozialen Agenda zu bekennen, vorgetragen im Brustton moralischer Unbedingtheit, treffen auf Menschen, die, bar biographisch gesicherter Maßstäbe, außerstande sind, sich solcher Zumutungen zu erwehren. Die Apostrophie grenzenloser Mitmenschlichkeit zum Klang der manisch-moussierenden NGO-Diktion verschafft hohe Quoten der ›Sensibilisierung‹. Indes, ein solcherweise moralisch stimulierter Enthusiasmus zertrümmert bei den derart Überwältigten nicht allein die Urteilskraft. Just bei engagierten Menschen erniedrigt er obendrein die Intellektualität überhaupt – besonders dann, wenn im biographischen Ablauf solche Widerfahrnisse sich wiederholen und der erloschene Enthusiasmus in die ernüchterungslose Verbitterung eines fanatischen Blindgebliebenseins einmündet – ein Thema, das uns im zehnten Kapitel begegnen wird. In dieser Perspektive erhält auch die vielbeklagte Kurzatmigkeit von Politik in den repräsentativen Demokratien eine neue Färbung. Sie schuldet sich nicht allein den Rhythmen der Wahlkämpfe und den Legislaturperioden. Sie resultiert vor allem aus der geistigen Sozialisation der politischen Klasse. Deren Individuen haben nicht mehr gelernt, sich an geschichtlichen Haltepunkten zu orientieren. Das macht sie anfällig für moralgespickte Anfechtungen.

Diese beiden Sachverhalte erklären weitgehend die erstaunliche Empfänglichkeit des Zeitgeists für das Dostojewskij-Theorem mit seinen politmoralistischen Travestien. Letztere haben innerhalb einer Generation die im Öffentlichen zulässige politische Semantik umgewälzt. Wir stehen nun den Resultaten gegenüber, von denen fünf mit obszöner Aufdringlichkeit die Diskussionen belagern.

Erstens hat diese diskursive Konstellation ein neues Ideologem der ›Offenheit‹ erzeugt. Dieses entspricht exakt den Vorgaben der Levinas’schen Philosophie: Sie bekundet wenig oder gar kein Interesse am ›Anderen‹ als Fremden. Davor hatte Arnold Gehlen gewarnt: »Wer jeden Menschen schlechthin in seiner bloßen Menschlichkeit akzeptiert und ihm schon in dieser Daseinsqualität den höchsten Wertrang zuspricht, kann die Ausbreitung dieses Akzeptierens nicht mehr begrenzen, denn auf dieser Bahn gibt es keinen Halt.«10 Unwichtig ist es, den Fremden zu verstehen; nicht sein Sprechen zählt, sondern nur sein menschliches Antlitz, dessen Anblick mich unter den absoluten Imperativ stellt, ihn nicht allein zu schonen, sondern ihm grenzenlos zu helfen. Diese Hilfe sabotiert, wer es wagt, nach den Zeiträumen für das Helfen zu fragen und nach dem Verteilen von knappen Ressourcen; denn absolute Imperative setzen sich über Zeit und Ressourcen hinweg. Das absolute Gebot verlangt, dem ›Anderen‹ keine Fragen zu stellen und womöglich von den Antworten das eigene Handeln abhängig zu machen. Verstehen ist geradewegs untersagt. Verstehen hieße, den Fremden nach seinen kulturellen Besonderheiten fragen. Und aus dieser Frage entquellen sofort weitere Fragen, zuvorderst die, ob das kulturelle Sein des ›Anderen‹, dem wir nächstenliebend helfen, sich mit unserem eigenen kulturellen Sein verträgt oder nicht, bzw. an welchen Stellen die Divergenzen zu Unverträglichkeiten werden. Was, wenn wir entdeckten, daß der ›Andere‹ mitnichten bereit ist, uns als gleichwertige Menschen anzuerkennen? Was, wenn der ›Andere‹ ein Feind ist, welcher die Lebensweise des Helfers radikal ablehnt und kompromißlos bekämpft?

Die ›Divinisierung des Anderen‹ bekommt hier plötzlich einen strategischen Sinn: Sie schneidet jede solche Frage ab und unterwirft sie dem Verdacht: Wer fragt, scheint nach Gründen zu suchen, um sich der Pflicht zur Nächstenliebe zu entziehen. Welcher Art der ›Andere‹ kulturell sei und was dieses Sein für uns politisch bedeute, dies nachzufragen wird geradezu anstößig. Genausowenig wie das grenzenlose Akzeptieren zuläßt, Fragen nach dem kulturellen Sein zu stellen, gestattet es, nach Recht zu verfahren und Gesetze anzuwenden. Wo der Imperativ der Entgrenzung waltet, dort gilt kein Recht und kein Gesetz, dort gelten auch nicht die Menschenrechte; denn diese definieren und begrenzen die Rechte von Fremden. Das absolute Gebot bricht jedwedes Recht; somit subvertiert das entgrenzte Akzeptieren notwendig die Verfassung und die Fundamente einer Republik.11 Die kognitive Dimension ist dem Gebot bedingungslos untergeordnet; denn die Ethik hat Vorrang vor der Ontologie. Das Wissen dermaßen außer Kraft zu setzen, benimmt aller Besinnung den reflexiven Atem. Zudem bestürzt die kompromißlose Entintellektualisierung. Offenheit ist nicht mehr Offenheit des Geistes und des Erkennens; sie ist heruntergestutzt auf die Offenheit des Ohres für den Hilferuf des ›Anderen‹, genauer: für den Befehl, dem bedingungslos zu gehorchen ist. Diese Philosophie ist keine; sie funktioniert nur mit ausgeschaltetem Intellekt. Sie ist buchstäblich eine Ideologie der Entgrenzung, für die in höchstem Grade gilt, was Régis Debray auf alle Ideologien münzte: »In einer Ideologie zählen am wenigsten die Ideen.«

Zweitens hat die Obsession des uferlosen Helfenmüssens Breschen geschlagen, um die Öffentlichkeit mit Phantasmagorien eines politischen Heilszustandes zu überfluten. Wenn Verantwortung keine Kategorie mehr ist und zwischen Tun und Folgen keine verbindlichen Bezüge mehr herstellt, dann läßt sich jedes moralische Gebot ins politische Delirium treiben. Die Aktivisten kommen nicht umhin, jegliche Diskussion um das Ausmaß dieser Pflicht zu hysterisieren. Der hysterische Dauerton erzeugt die komplementäre Paranoia: Man braucht Schuldige, wenn das Unerfüllbare sich nicht erfüllt oder wenn erwartungswidrige Vorkommnisse sich der Erfüllung in den Weg stellen.

Drittens färbt sich das politische Vokabular religiös. Das mag anfangs als ein reizender Rückgriff auf entschwindendes Bildungsgut erscheinen. Doch die rhetorische Wirkung von religiösen Metaphern belebt Sinngehalte, die sich in einem neoreligiösen Gedankenagglomerat kondensieren. Wenn diese Welle anhält, dann wird der geistige Haushalt der nächsten europäischen Generation untauglich für wissenschaftliche und politische Rationalität.

Viertens wächst in der politischen Klasse die Bereitschaft, das ›Richtige‹ bedenkenlos durchzudrücken – gegen die Tatsachen und gegen den Volkswillen. Vor allem unter den Brüsseler Eurokraten macht sich eine unverhohlene Verachtung der Volkssouveränität bemerkbar. Aus dieser Bedenkenlosigkeit speist sich der permanente Gebrauch von Pflichtlügen und die Transformation des Öffentlichen in eine Sphäre legitimer Verlogenheit.

Fünftens entstehen unerwartete Allianzen. Das multinationale Kapital befleißigt sich des Vokabulars der ›Offenheit‹ für Menschenströme wie für Kapitalflüsse. Und NGOs, Kirchen und Großkapital kooperieren mit Multikulturalismus und Eurokratie – unter einem Banner, das prangt mit Fragmenten der Bergpredigt.

Diese fünf Aspekte werden im neunten Kapitel noch ausführlich beleuchtet werden. Meine Überlegungen begeben sich im folgenden auf einen scheinbaren Umweg, auf dem zwei Formen des Antiuniversalismus ihrer Erörterung harren.

Entwertete Wahrheit –

der Preis des Antihellenismus

Alle Aufklärung steht und fällt mit der Bemühung um wissenschaftliche Wahrheit. Sie ist die regulative Idee aller Erkenntnis. Ohne sie verlieren die Geltungsansprüche des vernünftigen Argumentierens ihre Grundlage. Nun stehen die Kulturwissenschaften seit über vier Jahrzehnten unter dem Bann jenes Diktums von Nietzsche: »Es gibt keine Tatsachen, es gibt nur Interpretationen.« Alle wesentlichen Thesen des radikalen Konstruktivismus sind letztlich von diesem Satz bedingt. Wenn die Aussagen über objektive Sachverhalte nur Interpretationen wären – ohne jedweden sachlichen Bezug zur ausgesagten Wirklichkeit –, dann wäre Wissenschaft überhaupt unmöglich.

Die Wahrheit nicht als regulative Idee gelten zu lassen, ist streng genommen keine erkenntnistheoretische Position, sondern eine Pose der Skepsis. Am pointiertesten hat der Sophist Gorgias um 430 v. Chr. die skeptischen Axiome formuliert: Erstens, es existiert nichts; zweitens, falls doch etwas existiert, dann können wir es nicht erkennen; drittens, falls es doch erkennbar wäre, so könnten wir diese Erkenntnis anderen nicht mitteilen.12 Zwar geht die Dekonstruktion von anderen Voraussetzungen aus als die alte Skepsis,13 doch es ergeben sich aus ihr Konsequenzen, die großenteils kongruent sind mit skeptischen Haltungen. Wer sich in dieser Pose aufstellt, tut das nur schreibend. Denker, die in ihren Büchern behaupten, es gäbe keine objektive – vom menschlichen Bewußtsein unabhängige – Realität, werden sofort zu empirischen Realisten, sobald sie sich eine Flugkarte zur nächsten Vortragsreise kaufen, obwohl doch Flugzeuge, Flughäfen und Flugpreise nur Vorstellungen sind, erzeugt durch referenzloses Interpretieren, nurmehr linguistisch existierend.

Mannigfaltige geistige Strömungen mündeten in jene Situation, die es zuließ, am Ende des 20. Jahrhunderts die Begriffe ›Wahrheit‹ und ›Objektivität‹ in den Kulturwissenschaften zu diskreditieren, während gleichzeitig das Genom entschlüsselt wurde, die Herstellung künstlicher Intelligenz sich rasant beschleunigte, die Theorie der schwarzen Löcher sich bestätigte, die dunkle Materie sich zum Forschen anbot und der Nachweis von Gravitationswellen nur noch eine Frage von Jahren war. Daß die Kulturwissenschaften auf ein vorkritisches Stadium zurückdrifteten, rührt aus dem massiven Wandel in den akademischen Karrieren und aus dem weitgehenden Verlust an basaler Bildung, insbesondere was die kantische Philosophie angeht. »Die Grundfrage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ läßt sich durch den Begriff der Objektivität bezeichnen«, schreibt Ernst Cassirer.14 Kant hat in seiner ersten Kritik die gesamte ›Transzendentale Analytik‹ dafür gebraucht, um das Objektivitätsproblem auseinanderzulegen und den Skeptizismus Humes zu widerlegen: Zum ersten gibt es eine äußere Wirklichkeit, eine objektive Realität unabhängig von unserem Bewußtsein. Die transzendentalen Kategorien, also die subjektiven Bedingungen des Erkennens, korrespondieren mit der Beschaffenheit der objektiven Wirklichkeit. Wissenschaftliche Erkenntnis ist objektiv, allgemein und notwendig. Zum zweiten können logisch korrekte Erkenntnisse ihren Gegenstand verfehlen; sie sind folglich empirisch korrigierbar. Fortschritt in der empirischen Erkenntnis ist daher möglich und erwartbar.15 Drittens nennt Kant seine eigene Philosophie einen ›empirischen Realismus‹. Daher hält er an der Korrespondenztheorie fest: Erkenntnis muß mit ihrem Gegenstand übereinstimmen. Viertens ist die äußere Wirklichkeit vollständig erkennbar, insofern sie als Erscheinung in den Bereich möglicher Erfahrung fällt. Daher ist Fortschritt im Erkennen möglich.16

Kant schlug sich auf die Seite der ›Objektivisten‹, weil er den menschlichen Fortschritt nicht zuletzt an die Wissenschaft gebunden sah und folglich die Möglichkeit objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis aufzeigen musste.17 Das fundamentalste Werk des modernen Denkens richtet sich just gegen jene skeptischen Annahmen, welche der radikale Konstruktivismus wiederholt, insofern er die Möglichkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis ebenso bestreitet wie das Vorhandensein einer ›objektiven Realität‹. Es ist notwendig, daran zu erinnern, weil radikale Konstruktivisten häufig Kants Namen im Munde führen.

Eine besondere Variante der Negierung von verbindlicher Wahrheit hat Michel Foucault geboten. Solange er noch seine Diskurstheorie pflegte, ging er davon aus, daß die Sinnsysteme unterschiedlichster Epochen sich dermaßen voneinander unterschieden, daß ihre Erkenntnisweisen untereinander inkommensurabel waren. Auf dieselbe Weise waren die Wissenssysteme der einzelnen Kulturen einander fremd und ohne Möglichkeit von Vermittlung. Der Anspruch der Philosophie, zu universell gültiger Erkenntnis zu kommen, sei demgemäß ein irrtümlicher. Dagegen obliege es der Postmoderne, unentwegt neue Wahrheiten zu erschließen, die keine Verbindlichkeit beanspruchen, zumal das Erkenntnissubjekt selbst jeglicher Pflicht enthoben ist, sich irgendeine Rechenschaft abzugeben: »Alles was ich in der Vergangenheit behauptet habe, ist völlig bedeutungslos.«18

Ob eine Verständigung zwischen den verschiedenen kulturellen ›Wahrheitsregimen‹ möglich sei, hat Foucault nirgendwo argumentativ erörtert. Dieses Versäumnis behob François Lyotard. Für ihn war evident, daß die Verschiedenartigkeit der Kulturen unüberbrückbar war, weil die »Vielzahl heterogener Diskursfamilien« untereinander unübersetzbar und inkommensurabel seien, denn es fehle ein ›Metadiskurs‹.19 An Hand der Thesen des Holocaust-Leugners Faurisson kam er zum Schluß, daß es nicht möglich sei, Katastrophen oder Ereignisse überhaupt in sprachlicher oder sonstwelcher zeichenhaften Form darzustellen.20 Eine radikale Diskontinuität zwischen Geschehen und Sinn behauptend, stellte er sich auf den Boden des dritten Axioms von Gorgias und kokettierte mit dem zweiten. In seiner Abhandlung »Le différend« begründete er 1983 seine Thesen auf sprachphilosophische Weise: Zum einen, daß die menschliche Sprache nicht geeignet sei, angemessene Urteile zu formulieren; denn Argumente seien nicht deswegen stark, weil sie logisch richtig oder unrichtig wären, sondern weil sie rhetorisch überzeugten. Zum anderen daß es keine übergreifende Regel zur Verwendung von Sätzen gebe, folglich auch kein logisches Verketten der Sätze; statt dessen blieben nur Sprachspiele entlang von diskursiven Konventionen.21 Solche Sprachspiele lassen ein regelrechtes Beweisverfahren nicht zu; ein Zwang zur Begründung müßte die Vielzahl möglicher Ideen und ihre ständige Innovation unterdrücken. Sprachspiele sind letztlich Teil einer ›allgemeinen Agonistik‹, also reine Machtspiele. Karl-Otto Apel und Manfred Frank kommentierten, daß damit die Vernunft verabschiedet werde.22 In der Tat. Lyotard scheut nicht davor zurück, die politischen Konsequenzen zu ziehen; die Menschenrechte, so hören wir von ihm, gehören zu den »verheerenden Wirkungen des Imperialismus (…) auf die einzelnen Kulturen«.23 Wir werden im fünften Kapitel sehen, aus welchem fragwürdigen Arsenal Lyotard diese Ideen entliehen hat. Fragt man, wie es zu dieser Argumentation kommen konnte, dann bedarf es eines Rückblicks. Die Feindschaft gegen das vernünftige Denken schwoll an, als angesichts des Ersten Weltkrieges Intellektuelle nach einem Schuldigen an der europäischen Urkatastrophe suchten und ihn in den hellenischen Grundlagen fanden. Dieser Antihellenismus gipfelt in Leo Schestows Buch »Athen und Jerusalem« (1937). Es bekämpft das mit den Mitteln der wissenschaftlichen Vernunft gewonnene Wissen und vor allem die auf Vernunft gegründete Philosophie: »Das Wissen befreit den Menschen nicht, sondern verknechtet ihn!« Der Schlachtruf lautet: Nieder mit dem Wissen – es lebe der Glaube: »Und in diesem letzten Kampf, einem Kampf auf Leben und Tod, wird es dem Menschen vielleicht gelingen, endlich die wahre Freiheit zurückzuerlangen, die Freiheit der Unwissenheit, die Freiheit vom Wissen, die der erste Mensch eingebüßt hatte.«

Das Wissen verknechtet, weil es einer auf den Geist wirkenden Notwendigkeit gehorcht, nämlich der Pflicht, logisch zu begründen. Diese Knechtschaft hat der Vernunft ihre große weltgeschichtliche Chance gegeben. Gerade diese verfemte Notwendigkeit stiftet intersubjektive Überprüfbarkeit und gewährt dem Erkannten allgemeine Verbindlichkeit, also universale Gültigkeit. Dagegen setzt Schestow eine Lösung, die aus allen Aporien der Vernunft herausführen und in unser Denken eine neue Dimension hineintragen soll, nämlich »den Glauben«.

Die Umpolung des Denkens auf den Glauben ruft nach einer epochalen Entscheidung, wie das im apokalyptischen Denken sowohl der Rechten als auch der Linken fast immer der Fall ist. Es gilt, »diesen letzten Kampf, einen Kampf auf Leben und Tod« zu führen – gegen die Vernunft überhaupt, gegen das Hellenische schlechthin.24 Schestows Angriff auf die kulturellen Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens ist konzipiert als Kampf zwischen zwei Kulturen:

»Darum kann die jüdisch-christliche Philosophie weder die Grundprobleme, noch die Denktechnik der rationalen Philosophie sich zu eigen machen. Wenn Athen urbi et orbi verkündet: … ›willst du dir alles unterwerfen, so unterwirf dich der Vernunft‹ – so hört Jerusalem darin die Worte heraus: ›Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest‹, und antwortet: ›Heb dich weg von mir Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen‹.«25

Nietzsche hatte die Vernunft als eine Hure des Willens zur Macht entlarvt. Schestow folgt ihm, allerdings faßt er Ziele ins Auge, die jenen von Nietzsche diametral entgegengesetzt sind. Schestow erklärt das Griechentum zum existentiellen Feind. Dieser Griechenhaß ist bisher kaum beachtet worden. Anscheinend hat nur Derrida bemerkt, daß der kulturphilosophische Antihellenismus an politischer Wucht dem Antisemitismus in nichts nachsteht.26 Leo Schestows Fernwirkung ist nicht zu unterschätzen. Für Emmanuel Levinas stellte ›Jerusalem und Athen‹ und die Opposition von Hellenischem und Jüdischem den zentralen Bezugspunkt dar.27 Von ihm nahm er den Impuls, das Postulat aufzustellen, daß vor der Ontologie die Ethik stehe und vor der vernünftigen Einsicht der gottgegebene Befehl. Jacques Derrida hat mit Argumenten der Hegelschen Logik die Levinas’sche Scheidung von ›Selbst‹ und ›Anderem‹ widerlegt; damit war auch der Vorrang der Ethik vor der Ontologie philosophisch hinfällig.28 Levinas war außerstande, diesem Einwand etwas entgegenzusetzen und nannte die Derrida’sche Kritik 1992 einen »Mord ohne Narkose«. Er gestand damit buchstäblich ein, daß seine Philosophie nicht den Anspruch einer Philosophie hatte, sondern eigentlich eine radikale Morallehre geblieben war. Doch Diskurse, denen es an logischer Strenge gebricht, können sehr wohl überzeugen, wenn ihre moralischen Imperative konsistent aufeinander bezogen sind und auf einen Zeitgeist treffen, der ihre Unbedingtheit genießt.

Welche Folgen Heideggers Angriff auf die Grundlagen neuzeitlicher Philosophie hatte, ist oft erörtert worden und darf hier beiseite gelassen werden. Letztlich wirkungsvoller als Heidegger haben die Gründungsväter der Frankfurter Schule die Aufklärung unterminiert. In ihrer »Dialektik der Aufklärung« nimmt das rationale Denken seinen Ursprung im Griechentum; es entspringt dem Kampf gegen den Schicksalszwang. Die Vernunft wird geboren als odysseische List der Selbsterhaltung in einer Welt voller übermächtiger Gefahren. Diesen Geburtsmakel kann die Vernunft niemals abstreifen: Vernunft ist wesensmäßig instrumentelle Vernunft und vermag sich darüber nicht zu erheben. Darum trachtete Adorno angestrengt nach einem Modus des Erkennens, der die transzendentalen Schranken der logischen Verfahren durchbricht. Im letzten Aphorismus seiner »Minima Moralia« hören wir:

»Philosophie wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.«

Wer wesentliches Erkennen auf Erlösung bezieht, kann den Begriff der Wahrheit dermaßen umgestalten, daß er nichts mehr zu tun hat mit seinem Gebrauch in der bisherigen Tradition: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.«29 Daß Leiden den Impuls gibt, Sinnfragen zu stellen, ist unbestritten; und es ist unbestritten, daß diese Sinnfragen manche Wahrheiten zugänglich machen. Daß aber der Drang, Leiden sprachlich auszudrücken, die Bedingung aller Wahrheit sei, ist grotesk, falls man im Rahmen des vernünftigen Denkens bleibt. Denn mit der Keule des Leidens läßt sich die Vernunft bewußtlos schlagen. Wenn Erkenntnis ihre klassische und ›Kritik‹ ihre kantische Bedeutung ablegen, dann erscheint nur noch jenes Denken als kritisch, das unaufhörlich neue Themen und Gebiete findet, wo sich auftürmendes Unheil immer schwereres Leiden verursacht. Dieses Theorem läßt sich politisch vortrefflich verwerten. Seit einem halben Jahrhundert bringen selbsternannte Opfer aller Couleur ihre Anklagen in Stellung und berufen sich auf Leiden, die nicht selten schlankweg erfunden sind. Wer tatsächlich nach dem Wahren sucht und sein Forschen danach ausrichtet, wird sich vom lautstarken Leiden nicht einschüchtern lassen. Adornos Sentenz erlaubt nicht nur, sondern fordert geradezu dazu auf, just diese Unbeirrbarkeit unter moralischen Verdacht zu stellen.

Ohne Wahrheit keine Wissenschaft. Der Wahrheit den Rang der Leitidee abzusprechen heißt, das Ansehen der Wissenschaft im gesamten öffentlichen Raum zu beschädigen. Im akademischen Milieu lassen sich die Schäden bereits besichtigen: In den Geisteswissenschaften ist die Beschäftigung mit der Methodik, also mit den Regeln des Überprüfens und des Bewahrheitens, dramatisch zurückgegangen. Konstant sinkt die Quote derjenigen Akademiker, die imstande sind, zu prüfen und zu widerlegen. Wenn aber diese Fertigkeit, den eigenen Verstand selbständig zu gebrauchen, seltener wird, dann zerbröselt die Basis der Aufklärung.

Nun erhebt jede Wahrheit den Anspruch auf zwingende Gültigkeit. Denken entlang der Regeln des logischen Bewahrheitens heißt eben: in Grenzen denken und sich den logischen Zwängen ebenso beugen wie den Evidenzen. Vernunftwahrheiten, so etwa mathematische Gesetze, sind weniger bedroht als faktische Wahrheiten. Aber gerade die faktischen Wahrheiten stellen jene ›Grenzen‹ dar, an denen Urteilskraft erworben wird und sich übt. Wenn sowohl die Fähigkeit, den Verstand selbständig zu gebrauchen, seltener wird, als auch die Urteilskraft nicht zur notwendigen Schärfe gelangt, dann verdunstet die Möglichkeit, die Kontroversen argumentativ auszutragen. Und wo das Argumentieren nicht mehr gelingt und unerwünscht wird, dort sehnt sich das Denken nach Bevormundung. Diese vollzieht sich, indem sie bestimmte Denkinhalte verpönt und als unstatthaft ausscheidet. Die Kriterien für solche Aussonderung können moralische, religiöse und politische sein. Die richtige Gesinnung garantiert dann für die Fähigkeit, das ›Richtige‹ vom ›Falschen‹ zu unterscheiden. Dazu mehr in einem späteren Kapitel.

Exkludierter Universalismus –

Lévi-Strauss und die Gleichheit der Kulturen

Die Vereinten Nationen gründen auf einer geschichtsphilosophischen Idee: Es gibt eine einheitliche Menschheit; und diese benötigt einen einheitlichen rechtlichen Rahmen, um in einem gattungsüberspannenden Fortschritt eine immer humanere Welt zu schaffen. Indes, schon beim Verhandeln über die Erklärung der Menschenrechte subvertierte die American Anthropological Association 1947 deren Universalismus mit dem Einspruch:

»Wie kann die vorgeschlagene Erklärung auf alle menschlichen Wesen anwendbar sein und keine Festschreibung von Rechten sein, die nur in Form derjenigen Werte erdacht sind, die in den Ländern Westeuropas und Amerikas vorherrschen? (…) Das Individuum verwirklicht seine Persönlichkeit durch die Kultur: die Achtung der individuellen Unterschiede erfordert demnach die Achtung der kulturellen Unterschiede.«30

Dieser Kulturrelativismus qualifiziert die Menschenrechte als rein westliches Produkt mit zweifelhafter Relevanz für den Rest der Menschheit. Er bekennt sich zur »Ablehnung des Fortschritts- und Perfektibilitätsdenkens der Aufklärung« und pflegt den »Rekurs auf politische Traditionen als Grundlage politischer Ordnungen«, um die politischen Ansprüche des Naturrechts abzuwehren.31 Einer der prominenten Vertreter dieser Sicht war Claude Lévi-Strauss.32 Er lieferte der UNESCO seine »Kleine Geschichtsphilosophie zum Gebrauch für internationale Funktionäre«, wie er später sein Werk »Rasse und Geschichte« etikettierte.

Was nützt es, so lautet dessen Ausgangsfrage, den Rassismus auf der Ebene der Biologie zu eliminieren, wenn er auf der kulturellen zurückkehrt? Also setzte Lévi-Strauss als nicht mehr hintergehbares Axiom die Gleichheit aller Kulturen. Solche Gleichheit anzuerkennen, sollte die Gleichheit der Menschen garantieren. Daß beides sich unauflöslich widersprechen könnte, daran schien niemand gedacht zu haben.33 Einzelne Hochkulturen – so die chinesische und die griechisch-römische – entfalteten technische und zivilisatorische Fertigkeiten, die denjenigen ihrer Nachbarn unverhältnismäßig überlegen waren. Will man diese Tatsache erklären, hat man die Wahl: Entweder sind die betreffenden Menschen als solche von Natur aus ungleich, oder ihre Kulturen sind radikal different im Hinblick auf ihre zivilisatorische Leistungskraft. Zwar überragen die technischen, politischen, zivilisatorischen und wissenschaftlichen Fortschritte der westlichen Kultur augenfällig die Errungenschaften aller anderen Hochkulturen; die Existenz dieser Kultur scheint somit ein heimtückisches Attentat auf das Axiom von der Gleichheit der Kulturen zu sein. Doch das täuscht. Der Abstand der westlichen Hochkultur zu den anderen ist kultursoziologisch geringer als jener zwischen den staatlich organisierten Hochkulturen überhaupt und den vorstaatlichen Gesellschaften. Der Zweifel am Axiom der Gleichheit aller Kulturen wird also nicht vom Gewicht der westlichen Kultur geschürt; vielmehr war die Annahme der Ungleichheit überall verbreitet und selbstverständlich. Erst Adam Ferguson (1767) und dann besonders systematisch und wirkungsvoll Johann Gottfried Herder (1774) konzipierten die Rolle der unterschiedlichen Kulturen auf neue Weise, indem sie ihnen eine Berechtigung an sich zusprachen. Damit war die Frage nach der ›Gleichberechtigung‹ gestellt.

Der Kulturrelativismus hat größte Schwierigkeiten beim interkulturellen Vergleich. Herder hat in seiner Schrift »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« das methodische Problem erkannt: Wer über die unterschiedlichen Kulturen nachdenkt, gerät in Versuchung, sie zu bewerten. Diesem Bewerten entkommt man nur, wenn man sich weigert, sie zu vergleichen – »im Grunde also wird alle Vergleichung mißlich«; frühere Stadien der Menschheit dürfe man nicht mit dem »Maasstabe einer andern Zeit« messen. Und eben das wirft er der aufklärerischen Philosophie französischer Prägung vor: »Nur entwickelte sich dagegen auch etwas ganz Anderes, (was ich zwar keineswegs mit jenem zu vergleichen willens bin: denn ich mag gar nicht vergleichen!).«34

Diese Abneigung gegen das Vergleichen als Prinzip des Forschens begründet Hans-Georg Gadamer radikal kulturrelativistisch: »Das Wesen des Vergleichens setzt die Ungebundenheit der erkennenden Subjektivität, die über das eine wie das andere verfügt, bereits voraus. Es macht auf eine erklärte Weise gleichzeitig. Man muß deshalb bezweifeln, ob die Methode des Vergleichens der Idee der historischen Erkenntnis wirklich genügt.«35

Ob der Abstand ein zeitlicher zwischen den Epochen ist oder ein historischer zwischen Kulturräumen, ist nicht wichtig. Wenn jeder analysierende Beobachter in den Wertmaßstäben seiner eigenen Kultur – oder Epoche – dermaßen befangen bleibt, daß er nicht imstande ist, Kulturen ›von außen‹ zu betrachten, dann ist das Vergleichen immer schon beschränkt. Gadamer entwertet mit einem Federstrich die gesamte Soziologie Émile Durkheims und Max Webers, welche das Vergleichen zur methodischen Operation erhoben hat.

Behält man diesen Kontext im Auge, dann wird verständlich, wieso Lévi-Strauss einen Gewaltstreich wagt: Er negiert die Vorstellung eines unilinearen Fortschritts in der Geschichte. Zum ersten definiert er jeglichen Fortschritt als ein Fortschreiten in eine Richtung, die aus den Vorlieben einer jeden Kultur resultiert. Keine Kultur sei stationär; denn der Eindruck, sie bewege sich kaum, sei eine perspektivische Täuschung, der ein außenstehender Beobachter notwendigerweise erliegen müsse. Zweitens strebe jede Kultur innerhalb ihrer eigenen Zielvorstellung nach besonderer Perfektion und erreiche sie auch oft. Gleiten die unterschiedlichen Kulturen auf divergierenden Bahnen, dann macht die Divergenz die jeweiligen Fortschritte untereinander inkommensurabel. Solche Inkommensurabilität scheint Gleichheit zu garantieren. In der Tat entsteht Ungleichheit dann, wenn Verschiedenes an einem gemeinsamen Maß gemessen wird. Auf Inkommensurabilität pochend, bewahrt der große Anthropologe die differenten Kulturen davor, daß sich zwischen ihnen Ungleichheiten ergeben. Doch die methodische Herstellung von Unvergleichbarkeit bleibt stets ein intellektuell fragwürdiges Unterfangen. Es genügen einige wenige kritische Überlegungen, und jedwede Unvergleichbarkeit zerbröselt. Es ist ein Trugschluß, aus der Unvergleichbarkeit auf Gleichheit zu schließen. Zwar läßt sich behaupten, das Unvergleichbare sei ein ›gleicherweise Berechtigtes‹. Wer jedoch daraus folgert, daß aus solcher ›Geichberechtigung‹ sich ›Gleichheit‹ ergebe, bewegt sich in schwächelnder Logik. Zudem geht die Rechnung empirisch nicht auf: Lévi-Strauss vermutet insgesamt mehrere tausend Kulturen, doch er nennt in »Rasse und Geschichte« nur wenige mögliche evolutionäre Richtungen, nämlich neun. Selbst wenn es ein paar mehr wären: Auf jeder evolutionären Straße rempeln sich die Haufen vorwärtsdrängender Kulturen. Alle Kulturen auf demselben Evolutionsast sind mithin Konkurrenten; zweifelsohne sind ihre Fortschritte untereinander vergleichbar. Miteinander konkurrierend erweisen sie sich mitnichten als ›gleich‹; denn auf ihrer Suche nach Perfektion sind jene schneller als diese und die einen gründlicher oder erfolgreicher als die anderen. Selbstverständlich muß es dabei Gewinner und Verlierer geben. Das Konzept der Gleichheit der Kulturen ist somit in sich logisch unstimmig und empirisch falsch.

Zwanzig Jahre später benannte Lévi-Strauss offenherzig diese Widersprüche. 1971 war er eingeladen, mit einem Vortrag zum Thema Rassismus eine UNESCO-Tagung zu eröffnen. Der Vortrag – »Race et culture« – wurde zum »assez joli scandale«.36 Lévi-Strauss schmiedete das Problem um: Der szientistische Rassismus ist widerlegt und erledigt, somit von randseitigem Belang. Die ernstzunehmenden Phänomene sind Xenophobie und Ethnozentrismus; ihnen entquillt eine alltägliche Abwertung des Menschen durch den Menschen, welche sich bedauerlicherweise überall findet. Jede Kultur enthält Lévi-Strauss zufolge in sich eine Eigenlogik und damit eine Selbstbewertung, die soweit gehen kann, daß man die ›Werte‹ der anderen Kultur nicht einmal zu bemerken imstande ist. Nähe bedroht die kulturelle Eigenart. Um diese zu bewahren, sind die anderen − im Zweifelsfalle − als selbständige Kulturen zu verleugnen. Viele ›primitive‹ Ethnien nennen sich selber »die Menschen« und geben »den anderen« Namen, die das Menschsein negieren; sie sprechen diesen das Menschsein ab. Nicht die menschliche Natur treibt zur Abstoßung anderer. Selbst wenn die Menschen von Natur aus ›gut‹ wären, kämen sie nicht umhin, die ›anderen‹ abzuwerten; denn sie sind notwendigerweise Kulturwesen, und ihre eigene Kultur ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Gerade wegen der hohen Loyalität zur eigenen Kultur begegnen die Menschen anderen Kulturen mißtrauisch oder feindlich. Die »Abwertung des anderen« entstammt nicht irgendeinem ›Rassismus‹. Den »anderen« abzustoßen, ist eine Funktion jedweder Kultur, also der Kultur überhaupt, solange sie eine partikulare bleibt, die sich von anderen partikularen Kulturen unterscheidet.

Bald erhob sich der Vorwurf, Lévi-Strauss vertrete einen holistischen Kulturbegriff, und aus diesem ergebe sich eine solche Abstoßung; doch in der historischen Wirklichkeit bestünden alle Kulturen aus Mischungen und Synkretismen. Dieser Einwand ist kurzsichtig. Denn nur für die Außenstehenden – und Kulturwissenschaftler sind solche –, sind alle Kulturen ebenso wie alle Religionen ›an sich‹ hybride Formationen. Soziologisch ist dieser objektive Tatbestand nicht relevant, weil die innerhalb der betreffenden Kultur lebenden Menschen ihre eigene Kultur niemals als ein ›Hybrid‹ ansehen, sondern als ein einheitliches Sinnsystem. Denn nur zureichend kohärente Sinnsysteme können orientieren. Die Akteure selber sind notwendigerweise Essentialisten und ›Holisten‹. Dem trägt Lévi-Strauss Rechnung. Die politischen Konsequenzen liegen auf der Hand: Weder der europäischen Hegemonie noch dem sogenannten Kolonialismus läßt sich die Abwertung des anderen anlasten. Überall in der Dritten Welt, welche brüderlich vereint stehen sollte, sind demnach Formen des rassischen Hasses endemisch. Damit sprach Lévi-Strauss eine historische Wahrheit aus; aber sie auszusprechen hieß, den Sündenbock für alle Übel − die damalige westliche Suprematie − aus dem Spiel zu nehmen.

So enthält »Race et culture« eine düstere Vorhersage: Wenn es erstens unmöglich ist, sich mit den »anderen« zu vermengen und gleichzeitig mit sich identisch zu bleiben, und wenn zweitens der Mechanismus gegenseitiger Abstoßung gar nicht außer Kraft zu setzen ist,37 und wenn drittens die demographische Explosion zu Agglomerationen ungekannter Größen führt sowie zu kulturellen Vermengungen bisher unvorstellbaren Ausmaßes − dann müssen interkulturelle Feindschaften entstehen, wie es bislang noch keine gegeben hat. Es wird, so prophezeit Lévi-Strauss, ein »régime d’intolérances exacerbées« aufsteigen, das alle bisherigen »haines raciales« zu schwachen Abbildern macht. Lange vor Samuel Huntington hat Lévi-Strauss künftige »clashes of civilizations« angekündigt.

Kommt der Vielfalt der Kulturen ein Eigenwert zu, und ist es geboten, jedwede Besonderheit zu bewahren, dann ist das Vorurteil eben nicht mehr zu bekämpfen, sondern man hat es aufzuwerten. Der Kampf gegen die Diskriminierung des ›anderen‹ wird illegitim. Gewiß, dann ist das Bemühen der UNESCO, überall auf ›gegenseitige Verständigung‹ hinzuwirken, widersinnig: Jede Kultur hat ihren Eigenwert, und die dümmsten Mythen dürfen Achtung beanspruchen, weil sie zum geistigen Repertoire irgendeines Teils der Menschheit gehören.

Alle politischen Massenmörder berufen sich auf die Besonderheit ihrer Kultur. Unter dem Schutzschild der gegenseitigen Achtung ist jede Kultur befugt, in ihrem Inneren die Menschenrechte in einem Ausmaß zu mißachten, wie sie allein es für richtig befindet. Eine Einmischung von außen hieße ja, die Achtung zwischen gleichwertigen Kulturen zu verletzen. Die »Eigenart«, welche faktisch immer eine Resultante semantischer Kämpfe ist, homogenisiert sich unter politischem Hochdruck und verwandelt sich in ein stählernes Gehäuse. Sie macht ihre Menschen zu Insassen im unentrinnbaren Käfig ›ihrer‹ Kultur. Alain Finkielkraut hat dies in »Die Niederlage des Denkens« ausgedrückt: Die UNESCO verfällt jener Idee eines »Volksgeistes« Herderscher Prägung, welche das reaktionäre Denken gegen den Universalismus der Aufklärung in Stellung brachte. Der Ethnopluralismus unterwirft den einzelnen Menschen den Launen seiner Kultur ebenso sehr, wie die Rassenlehre es einst tat.

Schlimmer noch: Wenn alle Kulturen in sich selber die höchste Wertigkeit finden und es kein ›Gesetz‹ über ihnen gibt, dann hat die exterminatorischste Kultur dieselbe Daseinsberechtigung wie alle anderen, glaubt sie doch ernsthaft, andere Kulturen und Völker ausrotten zu müssen, um selber leben zu können. Sogar in diesem Glauben folgt sie noch ihren eigenen Werten. Auf den kulturalistischen Hasen wartet längst ein wohlbekannter Igel: Mit welchem Recht könnte man den Nationalsozialismus verurteilen? Die Versklavung der Osteuropäer und die Vernichtung der Juden gehörte zur essentiellen Besonderheit − zur ›Differenz‹ − der emergierenden NS-Kultur. Diese liefert das konsequenteste Exemplum dafür, wohin die Selbstermächtigung treibt, die jeweilige kulturelle ›Eigenart‹ zu verteidigen – und zwar mit denjenigen Mitteln, die man selber für geboten hält. In demselben Maße wie die Geltung universaler Werte entweicht, hört Auschwitz auf, ein Verbrechen zu sein.

Lévi-Strauss hat das fundamentale Dilemma aufgezeigt, über das man bei der UNESCO immer den Deckel hielt. Es hätte andernfalls eine klare Entscheidung verlangt: Universalismus oder Ethnopluralismus/Multikulturalismus? Denn eine Kultur als ›gleich‹ anzuerkennen, deren moralische, religiöse oder politische Erfordernisse vorsehen, gewissen menschlichen Gruppen das volle Menschsein abzusprechen, andere teilweise zu entrechten, ist widersinnig. Den Grund dieses Widersinns kann jeder gebildete Europäer leicht einsehen, der sich auf die griechischen Grundlagen unserer Kultur besinnt: Der Begriff der Gleichheit ist ein wesentlich politischer und setzt voraus, daß die Gleichen sich ein und demselben Gesetz unterstellen und gleichen Ansprüchen gehorchen.

Halten wir fest: Die geschichtsphilosophische Frage nach dem Fortschritt wird aufgefangen in der Antwort, die Kulturen seien gleich. Doch gleich können sie nur sein, wenn sie untereinander kommensurabel werden. Sind sie inkommensurabel, dann zerbricht der Begriff der Einheit des Menschengeschlechts. Lévi-Strauss eliminiert die Denkmöglichkeit einer gemeinsamen Geschichte der Menschheit restlos. Diese Geschichtsphilosophie ohne Geschichte besticht mit ihrer konsequenten Ablehnung der Globalisierung sowie deren politisch-moralischen Implikationen. Indes, sie hat sich als selbstgesponnenes antiuniversalistisches Gewebe um den Anthropologen gelegt und sich zum Käfig verhärtet. Nach dem Sieg des Front National in Dreux gab Lévi-Strauss am 21. Oktober 1983 ein Interview; dabei stellte er die multikulturalistischen Positionen auf dieselbe Stufe wie die rechtsextremen: »Diese Ideen scheinen mir nicht illegitimer oder schuldhafter zu sein als die umgekehrten Ideen, deren Auswirkungen auf die öffentliche Meinung wir verspüren. Die ersteren zum Sündenbock zu stempeln, ohne die Risiken der zweiten einzuschätzen, ist pure Inkonsequenz. Bei diesem Thema existieren zwei entgegengesetzte Verirrungen, die einander wechselseitig erzeugen.«

Der Ethnopluralismus der ›Neuen Rechten‹ ist ebenso legitim wie der Multikulturalismus, denn sie beruhen auf denselben Axiomen. In der Tat, beide sind einander feindliche Zwillingsemanationen desselben Antiuniversalismus. Nicht verwunderlich also, daß Lévi-Strauss sechzehn Jahre vor dem 11. September die ethnologische Pflicht anspricht, ›seine‹ Kultur zu schützen gegen einen erneut erobernden Islam:

»Unsere Kultur ist in der Defensive gegen äußere Bedrohungen, zu denen wahrscheinlich die islamische Explosion zählt. Und augenblicks fühle ich mich unbeirrbar und in ethnologischer Hinsicht als Verteidiger meiner Kultur.«38

Zur Beerdigung des Multikulturalismus läutet Lévi-Strauss die Glocke kultureller Selbstbehauptung. Der große Anthropologe denkt gar nicht daran, in universalen Rechten die Zuflucht zu suchen, um den Frieden der Kulturen zu denken. Statt dessen geht er den Weg des Ethnopluralismus – bis ans bittere Ende.

Die Niederlage der politischen Vernunft

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