Читать книгу Die Ehre der Stedingerin - Eike Stern - Страница 8
6. Kapitel
ОглавлениеAn einem sonnigen Nachmittag im Herbst 1204 nach der Fleischwerdung des Herrn erschienen vier Ritter in Berne und erregten Aufsehen. Sie waren als Eigenbrötler verschrien unter den Edlen, ungern und argwöhnisch geduldete Neue am Rande der Bremischen- und Oldenburger Ritterschaft. Sie blieben Sachsen, die im Sprachschatz sächsisches beibehielten. Deshalb nannten sie sich hinsichtlich der Schlüssel im Wappen die Keyhuser, und man erzählte sich, sie spielten den Junkern von Specken vor Jahren übel mit. Auch äußerlich stachen sie ab von ihren Standesgenossen. Ockerfarbene Reitstrümpfe aus feinem Leinen hatten sie an, besetzt mit kleinen Eisenringen, und darüber anschmiegsame Kettenhemden in kurzem Schnitt.
Dirk zügelte vor dem Kirchturm das verschwitzte Ross und warf sich selbstbewusst in die Brust, da sich ein Ausblick auf den freien Platz bot, in dessen Mitte an diesem Morgen ein kleiner Markt stattfand, wie an jedem Dienstag. Wo sich beim Erntedankfest noch das Bühnengerüst ausbreitete, reihten sich die zahllosen Buden, Stände und Zelte der fahrenden Händler längs des Palisadenzaunes. Das Gras am Zelt einer Garküche wirkte gelblich.
Für Frederik hatten sie einen Abstecher in Kauf genommen, zu einem Gestüt im Raum Hannover; der ritt auf einem Hengst mit dunkelbraunem Fell, das gepflegt glänzte. Um den Schnitt mit der inselhaften Glatze zu vergessen, rasierte er sich den ganzen Schädel und versteckte das unter einer losen Kapuze, die er einfach von der Kutte abtrennte. Er trug das Kettenhemd, das ihm früher gute Dienste leistete, darüber einen Wappenrock wie Godeke, Ekhard und Dirk. „Und nun - ? Ich kenne mich hier nicht aus, Dirk.“
Er zog nachhaltig den Zügel straff, und der stattliche Hannoveraner, dem sein Reiter noch fremd war, schnaubte auf dem Fleck tretend aus und schüttelte störrisch die Mähne.
Dirk konnte den Blick nicht von dem anderen Teil der Warft lösen, den neuerdings ein Wassergraben von der Hauptinsel abgrenzte. Stapel von Bauholz und Backsteinen erhoben sich drüben, abgedeckt mit Planen.
„Man erkennt schon den Rahmen der geplanten Burg“, stellte er fest und wies mit dem Kinn hinüber. Nach wie vor stand der kleine klotzige Fachwerkbau der alten Schmiede mit dem Schornstein, unter dem sich die Ässe der Schmiede befand. Sich im Wind kräuselnder Rauch stieg auf; man hörte das helle Klingen von geschlagenem Erz. Dirk sagte sich, Lüder sei letztlich wohl einsichtig gewesen und arbeite schon im Dienste des Grafen. Langsam ließ er das Pferd hin traben und die anderen Reiter folgten gemächlich, bis er absprang und an dem Gatter neben der Tür den Zügel festzurrte.
An der Stelle von Lüder schwang ein stiernackiger Geselle in blanker Lederweste den Schmiedehammer. Die Muskeln leicht angespannt, hielt er mit einer Zange ein Stück rotwarmes Eisen auf den Amboss gestreckt, und der handliche Schmiedehammer schlug den Takt und formte es, dass es hell und heiter durch die offenstehende Tür in den Morgen hinaus klang. Der Satz, den er sich im Geiste für Lüder zurechtgelegt hatte, blieb Dirk im Hals stecken. „Sei mir gegrüßt, Schmied“, begrüßte er den Mann ganz profan, während Godeke hinter ihm die von stickiger Hitze erfüllte Werkstatt betrat.
Ärgerlich brummte der Mann vor sich hin, ehe er sich umdrehte und sie mit einem scharfen Blick musterte, wer ihn da wohl störte. Sein Gesicht wirkte gewöhnlich, ein grob geschnittenes Bauerngesicht mit hohlen Wangen, die Stirnglatze übersät mit den Spuren verblasster Sommersprossen. Die ruppige Nase erinnerte Dirk seltsam an einen Habicht. „Was wollt ihr von mir?“, fragte er, ohne richtig die Lippen auseinander zu bekommen. „Ist ein Ross zu beschlagen?“
„Wo finde ich Lüder, der vorher diese Schmiede bestellt hat?“
Der neue Schmied zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ob er tot ist? Ich weiß nicht“, erwiderte er kurzsilbig.
„Tot?“ Dirk wiederholte ihn ungläubig. „Seit wann?“
„Fragt mich nicht, ich frag Euch ja auch nicht. Für mich war’s ein Schlendrian. Der ist aus der Schmiede, ohne aufgeräumt zu haben und hat’s auch nicht nachgeholt. Kein guter Mann rennt so von der Arbeit weg.“
„Lüder war ein tüchtiger Schmied“, belehrte ihn Dirk. Ihn ärgerte dieses vorschnelle Urteil.
Der Mann leckte sich unzugänglich die Zähne. „Langweilt mich nicht, auch wenn ihr ein Ritter seid. Langweilt mich nicht.“
„Wie starb Lüder?“, fragte Dirk ihn und blickte Godeke zerknirscht an. „Eigentlich wollte ich mir bei ihm ein Schlachtschwert schmieden lassen.“
Der neue Schmied betrachtete die Edelleute aus zusammengekniffenen Augen, kalt, starr und feindselig und kam zu dem Schluss, lieber zu schweigen.
„Du weißt nicht, was mit Lüder geschehen ist?“, folgerte Dirk.
„Ich bin meinem Grafen verpflichtet und werde mir nicht die Zunge verbrennen oder so.“
„Na das ist ja eine Auskunft“, sagte Dirk und überlegte, ob sich dem Mann nicht ein wenig mehr aus der Nase ziehen ließe. „Auf einem Turnier in Hannover fiel mir ein dänischer Edelmann auf. Der trug geschultert ein blankes Schwert, das war das gewaltigste und furchterregendste, das man sich vorstellen kann… gut vier oder sogar fünf Fuß lang... Kannst du mir eine solche Waffe herstellen, mit einer ungewöhnlich langen Klinge… drei Hand breit der Griff?“
Dirk schätzte ihn richtig ein. Es weckte geschäftliches Interesse an dem Fall und seinen Ehrgeiz. „Bis wann? Sicher… das will ich tun. Ihr habt Glück, ich verfüge über einen Schleifstein und habe lange Jahre bei einem Schwertfeger gearbeitet.“
„Das trifft sich. Der Griff sollte mit schwarzem Leder überzogen sein. Die Klinge muss perfekt ausbalanciert werden, damit das Schwert in der Hand liegt wie ein gewöhnliches. Das setzt Können voraus. Als Knauf nimm ein hübsches Medaillon mit irgendeiner Gravur, in die Klinge arbeite bitte eine Blutrille ein.“
Dirk hielt sich die Hand flach an die Brust. „Das Ganze in etwa so groß, vom Erdboden gemessen.“
Der Schmied furchte skeptisch die Stirn. „Über vier Fuß hinaus geht auf Kosten der Qualität. Also Ihr habt Wünsche, Herr Ritter. Na ja, ein wenig länger als vier Fuß oder so, das ist machbar. Ich habe noch einen halbfertigen Rohling liegen… Trotzdem. Kostet Schweiß und ist mühsam, so ein langes Ding. 20 Mark muss Euch das wert sein, sonst stehlt mir nicht die Zeit.“
Dirk holte vernehmlich Luft. Der, für den der Rohling war würde sich gedulden müssen, und das machte es für ihn teuer. Die Vorstellung, Lüder sei tot, rief Erinnerungen an Ulrike wach. Es war heiß am Schmiedefeuer, und er wischte sich über die Brauen. „Ich schwitze wie ein Bulle, aber ich gehe nicht, ehe ich nicht weiß, was hier los war nach Erntedank.“
Überlegend blickte er Godeke an, und der schüttelte den Kopf über ihn. „Das ist ein Vermögen, Dirk. Bedenke, was du tust.“
Für 20 Mark hätte Dirk einen Bauernhof kaufen können, aber das schien ihm egal. Adalbert gönnte er sich damals ebenso aus einer Laune heraus für viel Geld. Dieses Schlachtschwert war ein lang gehegter Traum, gut genug für einen König. Er hatte sich entschlossen, seinem Leben einen Sinn zu geben, und dieser Leichtsinn würde ihn beflügeln zum nächsten Schritt, gleichgültig, ob es ihn um die gesamte Barschaft brachte und er danach den Freunden auf der Tasche lag. Die unsichere Hoffnung, vermutlich bei den Aumunds unterzukommen, tröstete ihn darüber hinweg. „Gut, Schmied. Der Auftrag gilt. Brauchst du Geld im Voraus?“
„Die Hälfte“, bellte der Schmied begeistert.
„Wohlan, wir werden uns einig. Vorausgesetzt, du verrätst uns, was oder wer Lüder umbrachte.“
„Ich weiß es bloß ungefähr. Sicher ist, seine Töchter brachen vom Gutshof der Aumunds am Sonntag nach dem Erntefest auf zur Kirche von Berne und kamen nie an. Die Pferde gingen durch oder so, hab‘ ich gehört. Der Großknecht des Hofes fand sich tot an der Unfallstelle, und die Fräulein, in dem Versuch, zu Fuß die Kirche zu erreichen, wurden von den Rittern der Lechterburg verschleppt. Daraufhin brach Lüder zur Burg auf, und man munkelt, er wurde umgebracht.“
Dirk schlug sich an die Stirn. „Mein Gott, so starb er. Und Rike?“
„Rike kenne ich nicht“, gab ihm der Schmied zu verstehen, nahm aber gern den Auftrag an, da Dirk ihm zuvorkommend zehn Markstücke auf die offene Hand zählte. „Gebt mir sechs Tage, und Ihr habt Euer Ungetüm von Schwert.“
Als Dirk nach draußen kam, sahen auch Frederik und Ekhard ihm an, ihm wühlte eine schlechte Neuigkeit im Magen. „Arme Rike“, sagte er traurig vor sich hin, setzte den Stiefel in den Steigbügel und warf mit Schwung das Bein über den breiten Pferderücken, um dann, fest im Sattel verankert, Godeke ernst in die Augen zu fassen. „Und das verdankt Lüder unserem werten Freund Konrad. Was sagst du dazu?“
„Wir sollten uns anhören, was deine Liebste dazu zu erzählen weiß.“
„Ja. Und ich bereue nicht länger, mich mit meinem Vater überworfen zu haben. Ulrike braucht mich jetzt.“
Die vier Ritter brachten den Alten Deich in wildem Galopp hinter sich und bogen mit flatterndem Haar ab zur Huntebrücke, um bald darauf vor der Fachwerkfassade des Gutshofes, bei einer schrundigen Trauerweide abzusitzen. Geldis trieb es gerade zu den Kühen, in jeder Hand einen Holzeimer. Sie staunte angesichts der Reiter. Auf dem Erntedankfest sah sie Ulrike mit diesem jungen Ritter ausgelassen tanzen. Sie stellte die Eimer ab, strich sich freudig am grünlich blassen Leinenrock die Hände trocken und knickste. „Hoher Herr, Euch schickt der liebe Gott. Etwas Schreckliches ist geschehen.“
„Ich weiß…“ Dirk wirkte plötzlich nervös. „Führst du mich zu ihr, zeigst mir ihre Kammer?“
Geldis schüttelte halsstarr den Kopf. „Ihr würdet sie nicht antreffen.“
„Wo dann?“
„Sucht sie auf dem Kirchhof… Sie wird sich freuen, schätze ich. Aber bitte nur, wenn Ihr es ernst meint mit ihr. Sie ist so anders seit Tagen und will sich nicht mit dem Tod ihres Vaters abfinden.“
Dirk nickte überlegend. „Hat man seine Leiche gefunden?“
„Nein.“
„Siehst du, darum hofft sie. Und das kann ich verstehen.“
Sie lächelte bitter, als die Ritter wieder der Dorfstraße zustrebten. Hohles Geklapper klang vom Fluss her an ihr Ohr, als sie über die Huntebrücke abzogen, nun den weiten Weg nach Berne noch einmal zurück. Denn seit fast hundert Jahren beerdigten die Stedinger der Lechterinsel ihre Toten auf dem Friedhof hinter der Kirche zu Berne, weil die Warft, auf der sich Kirche und Rathaus erhob, mit Sicherheit niemals überschwemmt wurde.
Wieder blieben Dirks Freunde bei den Pferden und Dirk zog die quietschende Pforte im Schatten der Friedhofslinde auf und holte tief Luft, als er den christlichen Gottesacker betrat. Das Gefühl, das ihn beschlich, streiften die Augen über das Gräberfeld, war nie schön, aber diesmal schauderhaft, obwohl ein Friedhof in der kalten aber hellen Herbstsonne kaum unheimlich zu nennen wäre. Ziegen weideten das hohe Gras, wo die Vergessenen schliefen. Kinder spielten Verstecken hinter kostspieligen Granitskulpturen, verwildertem Gestrüpp, Füllhörnern und dicken posaunenden Engeln. Freche Phantasiegeschöpfe wie pausbäckige Seraphsköpfe, Nasentrompeter und Figuren, die ihren nackten Hintern in die Luft strecken, lockerten die Idylle der zahllosen mit Namen und Alter gravierten Denkmäler, Säulen und Kreuze auf. „Ewig… Oh ist das lang…“ las Dirk über einem kleinen Heidebeet.
Ein knurrender Hund tauchte über den mit Tannenzweigen bedeckten Gräbern auf, einen Kinderschädel in den Lefzen. Dirk stockte der Atem und er besann sich, hier wie in Zwischenahn, gebührte keinem außer den Vornehmen, Geistlichen und Betuchten eine bepflanzte Ruhestätte... Der Köter wies ihm den Weg zu der hübschen kleinen Kapelle mit der nie voll werdenden Grube der Namenlosen. Hier, unter dem ausladenden Schirm einer stattlichen Eiche, traf Dirk auf eine Schar Trauernder, die sich mit gefalteten Händen um einen frischen Erdaufwurf mit Kränzen und Blumengebinde versammelt hatte, einen Anverwandten zu verabschieden. Einiges war geschehen, von dem sich Dirk keine Vorstellung machte, aber auch sonst verging selten eine ganze Woche, ohne dass man in dieser Gruft wühlte und Zuwachs beisetzte. Von einem zünftigen Grab konnte in dem Fall kaum die Rede sein: Leichnahm wurde auf Leichnahm gebettet, und wenig dazwischen geschüttet, die Erdschicht blieb stets dünn. Starke Regenfälle spülten dann und wann auch eine widerliche Hand oder einen Fuß frei, und die unseligen Toten der Armen fanden eigentlich nie wirkliche Ruhe.
Als die Trauergesellschaft wich und es alle zum Leichenschmaus zog, schmückten zahllose Kränze das Armengrab, ein Gärtner krempelte die Ärmel hoch und machte sich daran, es ansehnlich zu haken.
Dirk wollte eben die Suche aufgeben, da kam hinter den einen Augenblick länger ausharrenden Anverwandten Ulrike zum Vorschein - in eingesunkener Haltung an einem Grab kniend, auf dem sich Kriechwachholder ausbreitete. Lüder hatte seine Frau abgöttisch geliebt, und den Rest des Geldes, das noch aus den Tagen des westfälischen Hausstandes stammte, für einen Stein geopfert. Einen Batzen Silber musste er berappen für diesen Luxus. Fremdes Getier, nämlich winzige rot gemusterte Feuerwanzen krabbelten im Grün und auch auf dem verwitterten Grabstein, wo zwei Rosenstöcke einen Sonnenfleck offenließen. Sie hockte verneigt davor und merkte nicht, wer hinter ihr stand. Und er war unschlüssig, ob er sie sinnlos erschreckte, sollte er sie so ansprechen.
Endlich richtete sie sich auf, betete und wandte sich zu gehen. Sie zuckte zurück, als Dirk ihr in die geröteten Augen schaute. „Du…? Hier?“
Er atmete tief durch angesichts ihres burschikos gestutzten Haars, da vergrub Ulrike vor Scham ihr Gesicht in den Händen und weinte. „Wer?“, fragte er, und die Frage kam wie ein Aufschrei. „… hat dir das angetan?“ Das lange Haar gehörte zu ihr wie die Himmelfahrtsnase, und sie wirkte schlimm zugerichtet, da Johann den Zopf oben am Haaransatz kappte.
„Der Hauptmann… von der Lechterburg“, brachte sie verstört hervor und wagte nicht mehr, Dirk in die Augen zu schauen. Sie fühlte sich so wertlos, und je länger sie weinte, desto hemmungsloser flossen die Tränen.
Für Dirk lag auf der Hand, die rauen Gesellen auf der Burg zerschnitten ihr brutal die Haare… Deshalb wirkte sie ungewohnt verschüchtert. Aber es waren Tränen der Freude. Jeden Tag hatte sie um dieses Wiedersehen gebetet, so oft sie Zeit fand, den Kirchhof aufzusuchen – und er war gekommen. Was die beiden füreinander empfanden, kam an einen Punkt, an dem sich Standesunterschiede erübrigten, zumal sie unter sich waren. Für Ulrike zählte über allem anderen, er kam früher zurück als vorhergesagt, und für ihn, dass sie plötzlich an seiner Schulter hing und schluchzte, als wäre der Einzige erschienen, der ihr noch helfen konnte.
„Sie haben Vater… in der Lechterburg… und ich fürchte, die foltern ihn. Er ist verschwunden, seit er von Berne aufbrach, Wibke und mich nach Hause zu holen.“
Stockend berichtete sie, und Dirk nahm sich heraus, ihr über das Haar zu streichen, um sie zu beruhigen. Doch ob er seinen ehemaligen Waffenbruder Konrad bewegen könnte, Lüder frei zu lassen, bezweifelte er. Dafür lag dem zu viel am Wohlwollen des Flamen, der in Bauern nur Kreaturen zwischen Mensch und Tier sah. „Du meinst, dein Vater lebt?“
Sie zog einen wehmütigen Mund und blickte ihn aus flackernden Augen an, mit dem Gefühl, er könnte nicht richtig zugehört haben.
„Was ist denn, mein Täubchen?“, fragte er, weil er das spürte.
Sie kniff eine Braue an, machte ein schiefes Gesicht wie Lüder, lief dem eine Sache gründlich gegen die Hutschnur. „Täubchen?“, wiederholte sie ärgerlich und glaubte Konrad zu hören. Aufgebracht stieß sie mit dem Zeigefinger auf ihn ein. „Nenn‘ mich nie wieder so. Hörst du?“
„Nie wieder“, versprach er.
Sie war so durcheinander, und was sie quälte saß tiefer: Da waren die Einsamkeit, die jeden am Grab der Mutter befällt, und der Gedanke, künftig allein für ihre Geschwister sorgen zu müssen, schnürte ihr beengend das Herz ein. Den Vater niemals wieder um Rat fragen zu können, überstieg ihre Kraft, und die Hoffnung, sein Verschwinden könnte andere, nebulose Gründe haben, die bislang unbeachtet blieben, entsprang eher einer kindlichen Sehnsucht, das eigentlich schmerzende so lange wie möglich nicht an sich heranlassen zu wollen. Zu denen, die zeitlebens Wünsche, Träume und Wirklichkeit in einen Topf warfen und alles so drehten, wie es sich leichter ertragen ließe, wollte sie nie gehören.
Er sah ihr den Kummer an und drückte sie ein wenig unbeholfen an sich, aber sie wähnte sich in die Arme Lüders versetzt und sah gerührt zu ihm hoch. „Warum tut uns Gott das an?“, klagte sie mit wehleidiger, leicht zitternder Stimme, und was sie seit Tagen um den Schlaf brachte, platzte heraus wie Wasser aus einem brechenden Krug. „Ich habe immer versucht, gut zu sein… Das ist nicht gerecht.“
„Nicht gerecht?“, wiederholte Dirk und lächelte dazu genau das Lächeln, das ihr so gut tat. „Das kann man wohl sagen.“
„Glaubst du an Gott?“, fragte sie, als sei es ihr wichtig.
Er strich sich nachdenklich durchs Haar und nickte gelassen. „Na sicher, nur stelle ich mir unter dem Begriff vermutlich etwas Anderes vor als du.“
Es zauberte ein überraschtes Lächeln in ihr trauriges Gesicht. „Na hör mal“, gab er ihr verwundert zu verstehen, „die meisten Menschen glauben doch.“
„Sie mögen zum Gottesdienst erscheinen, sicherlich.“ Soweit gab sie ihm vorbehaltlos recht. „Aber ihre Gesichter, lauschen sie Wilke Holms, sind wie Masken, ohne einen Funken Ehrfurcht vor dem Geist, der dem Gotteshaus innewohnt. Sie lieben den Holms für seine Predigten, aber sie wissen die Botschaften nicht zu deuten, die er aus dem Leben einstreut. Drei von vier Leuten sind Lästermäuler, es ist wie die Kirche mit zwei Zugängen. Zu der einen führt eine breite Straße, zur anderen ein holperiger Pfad. Alle wählen sie den leicht begehbaren Weg, den des geringsten Widerstandes, aber der andere Weg führt in den Himmel.“
Dirk nickte beifällig. „Meine Güte, das klingt nach einem großen Herzen. Aber das gefällt mir.“
„Ich glaube“, erklärte sie, wischte sich wie erlöst die Tränen von den Wangen. „Jeder Mensch hat eine Aufgabe in seinem Leben.“
„Sagt das Lüder?“
„Nein, Wilke Holms, und zwar mit genau den Worten.“
„Ein weiser Mann“, raunte Dirk.
Ulrike, eben noch zu Tode betrübt, erweckte von einem Moment zum anderen den Eindruck, innerlich wieder aufzublühen, und sie gestand ihm, „ich weiß wohl, es ist ein törichter Kindertraum, aber ich bete jeden Abend vor dem Schlafengehen und könnte ohne nicht einschlafen.“
„Ich auch. Allerdings leise, ohne die Lippen zu bewegen. Es ist eine Stimme in uns, auf die man hören sollte.“
Ulrike nagte an ihrer Unterlippe, als würde sie darüber nachdenken. Und so sehr sie sich freute, wie sie sich auch in der Hinsicht glichen, kam sie unweigerlich wieder auf den unseligen Tag zu sprechen, der im Rittersaal der Lechterburg endete, da sie nicht einsehen wollte, warum der liebe Gott, der doch allmächtig ist, alles sieht und alles weiß, zulassen konnte, wie ihr mitgespielt wurde. Nur brachte sie das wirklich Ungeheuerliche beim besten Willen nicht über die Zunge, und als sie ins Stocken geriet, beschlich ihn der Verdacht, dass Johann ihr wahrscheinlich nicht aus Gehässigkeit, sondern auf Order von Konrad den Zopf genommen hatte, um sie für ihn unattraktiv zu machen. Mit dem Hintergedanken, er würde dadurch das Interesse an ihr verlieren. Seine Art, Weiber nur nach Schönheit zu beurteilen, regte ihn früher schon auf.
„Ach Ulrike, Haare wachsen nach…“, beruhigte er sie. „Mich hält das nicht davon ab, dich zu mögen. Es ist etwas ungewohnt, ohne den Zopf, aber ich fange schon an, mich daran zu gewöhnen. Na komm, ich lade dich ein, auf einen Becher Wein im Bunten Hahn.“
So erschienen die beiden munter plaudernd im Steintor des Kirchhofs. Ekhard lehnte am weißen Steinpfosten, die Beine auf den Feldweg gestreckt, die Laute auf dem Schoß, während die Rosse zufrieden waren mit dem saftigen Gras am Wegesrand. Da es nahelag, nun gemeinsam zum Gut der Aumunds zu reiten, erhoben sich Frederik und Godeke wie gerufen. Ekhard zog sogar das Barett und verneigte sich mit wedelndem Hut vor ihr.
„Das sind meine Freunde“, stellte Dirk sie vor, und sie schauten den beiden unschlüssig nach, weil Dirk ihnen zwar zunickte, aber ohne mehr Worte zu vergeuden, vorbeiging.
Wo Tische und Stühle vor der Tür standen, kehrten die beiden in das Wirtshaus ein, das gleich neben dem Fachwerkhaus der Herberge lag. Dirk bestellte einen guten Jahrgang Burgunder und jeder am Kelch nippend, saßen sie sich in einer Ecke bei Kerzenschimmer gegenüber, obwohl es draußen taghell war und sonnig.
„So“, sagte Dirk, „nun heraus mit der Sprache: Was haben sie euch getan? Hast du dich gewehrt… und sie haben Lüder eine Klinge an den Hals gehalten…? Du schämst dich, das merke ich dir an.“
Sie senkte die Stirn und starrte auf die Tischplatte, ohne darauf einzugehen. Doch ihm lag zu viel an ihr, um es dabei bewenden zu lassen. „Ich habe mich mit meinem Vater überworfen“, übertrieb er. „Möglicherweise verstößt er mich. Ist mir gleichgültig. Ich suche keine gute Partie, sondern eine Lebensgefährtin, die mich versteht. Und ich nehme dich so wie du bist zum Weib, egal ob da etwas ist, das du mir heute noch nicht erzählen möchtest. Ich verzeihe es dir einfach und gut. Gott weiß, von was wir leben, aber ich stehe zu dir.“
Verwundert zog Ulrike die Brauen zusammen. „Was willst du verzeihen? Ich gab nichts… sie haben es sich genommen.“
Wie auf dem Kirchhof vergrub sie das Gesicht entsetzt in die Hände, anders hätte sie die Schande nicht ertragen. Nie sah er ihr ernster in die Augen, aber Dirk spürte, er musste Geduld haben mit ihr. Ihr fehlte nur das nötige Vertrauen in ihn, um sich wirklich mit Leib und Seele bei ihm anzulehnen und dafür konnte er ihr nicht böse sein. Wie es aussah, hätte er anhand von Taten zu beweisen, zu was er fähig war, und er schreckte nicht davor zurück, gegen den eigenen Stand anzutreten. Seine Augen nagelten sie fest, ein wildes, gegen ihre Sturheit rebellierendes Aufbegehren blitzte darin.
„Ulrike, was wollen wir nun tun? Mich reizt es, mit dir nach Burg Lechtenberg zu reiten. Ich möchte den Vogt zur Rede stellen.“
Ulrike traute ihm das zu, und der unbändige Hass, der sie im Rittersaal nach dem Schürhaken greifen ließ, kochte erneut hoch. Sie erzählte ihm haarfein alles, was in ihr wühlte und sie schon so lange beschäftigte.
Dirk knirschte mit den Zähnen. Unverzüglich weihte er seine Vettern ein, weshalb es ihn nun dringlich zur Lechterburg trieb und bat sie, im Gasthof abzuwarten, was bei diesem Besuch herauskäme. Sein Rappe graste bei den Pferden seiner Vettern auf dem Grünstreifen vor der Friedhofsmauer und scharrte mit den Hufen, als er seinen Reiter erkannte. Dirk saß geschwind im Sattel und klopfte dem Rappen beruhigend den Hals.
„Heb das Bein, so hoch du kannst, bis du den Fuß in den Steigbügel kriegst“, riet er Ulrike und reichte ihr lächelnd die Hand. Als sie hinter ihm zu sitzen kam stieg ihr der herbe Geruch von Pferdestall und Mannsbild in die Nase. Sie wusste nicht, wohin mit den Armen, doch setzte sich Adalbert sogleich in Bewegung, und der breite Rücken schaukelte heftig, so dass sie erschrocken Halt suchte, anfangs an seiner Schulter, dann umschlang sie beherzt seine Hüften und schloss die Hände um seinen Bauch.
Beritten war es bloß ein kurzer Ausritt zu den Huntewiesen, und an dem kragenförmigen Steg zog er vor der hochgekurbelten Zugbrücke innerlich aufgerührt den Zügel an und ließ den Rappen halten. „Meldet dem Burgherren“, rief Dirk den Turmwachen zu, „Dirk von Keyhusen bittet um Einlass!“
Lange brauchten sie nicht warten, da zeigte sich auf dem Bergfried Konrad. Wilhad von Brügge stellte sich gleich neben ihn, und Dirk beging den Fehler, mit zu wenig Feingefühl an die Sache heran zu gehen. „Was habt ihr mit Lüder gemacht?“, fragte er ganz konkret.
Natürlich erkannten die Ritter Ulrike; was Wilhad mit dem Vogt tuschelte, verschluckte der Wind. Aber der schien sich nicht im Unrecht zu fühlen. „Wir rieten ihm heimzugehen, und das tat er.“
Es klang banal und stank nach einer Lüge, das störte Dirk. „Weißt du was“, gab er kaltschnäuzig zurück, „das glaube ich dir nicht!“
Leider hielten sie sich zu nahe am Torhaus der Burg auf. Das lud dazu ein, von oben einen Kübel Wasser über den Steg zu schütten. Ein ungünstiger Windstoß verstreute den Guss, und Dirk und Ulrike bekamen genug ab, dass danach die Kleider kalt am Leib klebten. „Verdammt“, bemerkte Dirk, „ich bin nass wie eine Katze.“
„Das soll euch noch leidtun“, drohte er den beiden Rittern, und Ulrike flüsterte er zu, „jetzt glaube ich auch, sie haben Lüder in den Turm gesperrt. Und ich schwöre dir bei Gott, wir holen ihn da heraus.“
„Aber wie?“ fragte sie neugierig und schüttelte sich, so fror sie in ihrem nassen Kleid.
„Du wirst schon sehen. Gib mir eine Woche, es vorzubereiten. Deine Freundinnen und du, ihr müsst zu mir stehen und zugeben, was euch angetan wurde.“
„Ich verstehe immer noch nicht, was du tun willst. Aber du solltest den Deichgrafen einweihen. Das ist ein Mann der Tat, willensstark wie ein Ritter.“
„Gut, bringe mich zu ihm.“
„Du musst nach dem Hof der Bardenfleths fragen.“
„Ich möchte ein Treffen aller aufrechten Männer von Stedingen“, erklärte ihr Dirk und ritt mir ihr schnurstracks zum Marktplatz von Berne, um seine Freunde aus dem Gasthof zu holen. „Wir reiten zu dem Bardenflether, den sie in dieser Gegend den Deichgrafen nennen“, gab er ihnen zu verstehen, und Ulrike zeigte ihnen den Weg.
Am frühen Nachmittag erschienen vier Junker in weißgelben Waffenröcken auf dem Deich, in dessen Schutz das Gehöft Bardenfleth lag, ein langgestreckter Fachwerkbau mit bäuerlich gekreuzten Pferdeköpfen über der Giebelfront, weiß gekalkt, Eingangstüren und Rahmen der Fenster grün und über allem ein tief herunterhängendes, wulstiges Reetdach. Ein Stück abseits hob sich die Scheune vom blauen Himmel ab. Unzählige Hühner und sich herumtreibende Schweine bevölkerten das Gut, eine Drossel sang auf dem Giebel der Scheune, und einige Mägde vom Gesinde hoben neugierig die Köpfe, als die fremden Edelleute ihre Rosse anhielten.
Ulrike ließ sich elegant zu Boden gleiten und lachte, als sie auf ihren Füßen zu stehen kam und ihr nicht länger ihr Sitzfleisch weh tat. Jemand rief wohl nach dem Gutsherrn. Aus der größten Tür des Fachwerkhauses, durch welche die vollen Erntewagen in die Diele fuhren, betrat Rainald von Bardenfleth den Hof. Das schulterlange, graue Haar wirkte sehr gepflegt, und sein brauner Mantel mit Fellkragen entsprach der Kleidung der Wohlhabenderen. Aus wachen grauen Augen musterte er argwöhnisch Dirks junges Gesicht. „Was verschafft mir die Ehre?“
Dirk stieg gelassen ab und stemmte neben Ulrike die Arme in die Hüften. „Ich bin Dirk, der Sohn des Vogtes von Burg Keyhusen. Ich bin hier, weil ich mit dem Vogt von Burg Lechtenberg ein Hühnchen zu rupfen habe.“
Der oberste Deichgraf empfing sie bewusst reserviert, galten doch die Keyhuser Ritter als Lehnsmänner des Grafen von Oldenburg. Er schnitt ein entsetzlich abweisendes Gesicht und zog die Brauen an, eine steile Falte zog die Stirn hinauf. „Ein übermütiger Bursche wiegelte kürzlich auf der Rodung am Hemmelskamper Wald die Bauern auf, und das ging böse aus. Ich bemühe mich seitdem, Hetzer zu überhören. Haltet mich aus eurem Händel mit dem Vogt heraus. Mich quälen andere Sorgen und davon genug.“
Dirk dämmerte bereits, was weiter passierte. „So etwas beginnt man nicht aus Starrköpfigkeit, sondern überlegt sich zuvor genauestens wie, wo und wann…“
„So ist es. Acht Männer aus Bettingbüren und Ranzenbüttel, die ihn gut kannten und sich mitreißen ließen, sind dafür gehängt worden. Sie haben bei der Kapelle auf dem Kirchhof einen Platz gefunden, wo sie frei sein können.“
Energisch bot ihm Dirk die Stirn. „Hört mich erst einmal an.“
Er langte mit ausholendem Arm nach Ulrike und zog sie fürsorglich an sich. „Das ist Ulrike, die Tochter von Lüder, dem Schmied. Sie war an dem Sonntag nach Erntedank mit einem Fuhrwerk unterwegs nach Berne, zum Gottesdienst. Bei ihr war Birte Aumund, die Ihr kennen dürftet, sowie ihre Geschwister und eine Magd, die ich Euch gern als Zeuginnen bringe, falls ihr darauf besteht. Ein Trupp Reisiger unter Führung des Vogtes von der Lechterburg fing sie am Brookdeicher Holz ab. Die Waffenkechte haben im Rittersaal um die Frauen gewürfelt und sich an ihnen vergangen, und ich will nicht mehr und nicht weniger als Rache dafür.“
Der Deichgraf nickte begreifend. „Das kam schon öfter vor, kann ich Euch verraten.“
Dirk las in den Mienen, er war überzeugend. Rainald hielt ihm die Hand hin, und er schlug freudig ein. Seine Freunde sprangen von den Rossen und schüttelten dem Deichgrafen einer nach dem anderen kraftvoll die Hand.
„Ganz Stedingen wird aufstehen, wenn ich das will“, sagte Rainald von Bardenfleth. „Ich habe meine Leute, um ein Thing einzuberufen und das bekannt zu machen. Einer wird es dem anderen flüstern. Am nächsten Sonntag… da wo die Ritter die Gespanne abzufangen pflegen, am Brookdeicher Holz. Diese Raubritter gehören bestraft. Und der Siedlungsvertrag des Jahres 1106 ermächtigt uns, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln den Landfrieden aufrecht zu halten und die Übeltäter zur Verantwortung zu ziehen. In der Kolonisationsurkunde wird klar erwähnt, auch in der niederen Gerichtsbarkeit ist die Aburteilung von Landfriedensbrechern möglich. Niemand kann uns vorwerfen, wir hätten zum Aufruhr angestiftet. Wir treffen uns zur Abenddämmerung. Ich hoffe, auf Euch ist Verlass!“
Bis dahin war es noch eine Woche hin, und als Ulrike sich an Dirks Rücken schmiegte und sie die Hände vor seinem Bauch faltete, sprengten sie zum Gehöft der Aumunds. Er hieb frohlockend die flache Hand auf den Oberschenkel und genoss die Vorfreude, wie er sich einst auf die Schwertleite freute. Alles war in die Wege geleitet und erfüllte ihn mit Stolz. Er dachte bereits nach, wie sie ohne große Verluste die Burgen einnehmen könnten, doch wie er sich das genau vorstellte, verriet er nicht einmal Ulrike. Seit sie sich ihm auf dem Friedhof geöffnet hatte, war er mit keinem anderen Menschen lieber zusammen und genoss es, ihr nahe zu sein. „Wie stehst du zu Birtes Vater, Rike? Weiß er, was geschah? Es wäre günstig, sollte sich eine Kammer auf dem Aumundhof für uns finden.“
Ulrike blies der Wind durch die Haare, während sie sich bei ihrem dritten Ritt durchaus geborgen an seinem Rücken fühlte und sich ungehemmt von hinten an ihn klammerte. „Der alte Aumund weiß, wer ich bin, und er mag mich, glaub‘ ich, aber mit ihm über das zu sprechen, was uns widerfuhr, das bringe ich nicht fertig. Ich möchte eigentlich mit keinem darüber reden…“ Das Hufgetrappel der Freunde begleitete sie, und etwas fehlte plötzlich, weil das Geräusch fehlte.
Dirk warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah Godeke an, dessen Gesicht rot war vor Anstrengung. Der Freund grinste, als wollte er sagen: So leicht wären sie nicht abzuschütteln. Dirk gab Ulrike unverhofft einen sehr vertraulichen Kuss hinter das Ohr - schneller als sie den Kopf wegdrehen konnte.
„Ich bin stolz auf dich“, flüsterte er. „Du hättest es leicht verderben können, eben beim Bardenflether. Zum Glück hast du mich nicht dafür getadelt, dass ich dich an mich zog. Das hätte mich unglaubhaft gemacht vor eurem Deichgrafen. Jetzt nimmt die Sache ihren Lauf. Weißt du, vieles wollen wir, und wenig wird in die Tat umgesetzt. Nach diesem Thing im Brookdeicher Holz lässt sich nichts mehr zurückpfeifen…“
Sie hätte ihm gern anvertraut, wie unangenehm es für sie auf einmal wurde. Ein Mädchen mochte hässlich sein, hübsch aussehen, oder zu den Schönheiten zählen, wichtig war allein, unbefleckt zu bleiben, bis es zum Altar geführt wurde. Die alten Wertevorstellungen machten leider keinen Unterschied, ob der gefallene Engel früher schon als schwaches Geschöpf für Tratsch sorgte, oder ob verwahrloste Mannsbilder im Schergenrock ihr fleischliches Verlangen an ihnen ausgetobt hatten. Auch ein schuldlos in Schande gefallenes Mädchen sollte so klug sein, sich nicht selbst ins Gerede zu bringen. Dirk machte keinen Hehl daraus, genau dazu würde er sie drängen. „Hat Birte ebenso viel Rückgrat wie du?“
Ulrike stöhnte, als hätte er einen wunden Punkt berührt. „Was heißt hier Rückgrat?“, fragte sie unwillig. „Auf mich wirkt Birte, als wären ihr kürzlich Mutter und Vater verstorben. Seit ein paar Tagen zerreißen sich die Leute auf dem Markt den Mund über sie und ihr Missgeschick auf Burg Lechtenberg. Gott weiß, wer sich da verplappert hat - sicher ist: Birte mag den Sohn des Deichgrafen, und für Bolke von Bardenfleth ist sie nicht mehr gut genug… Der wird kalte Füße bekommen, denkt sie, und ich kann es ihr nicht ausreden. Daran wird sich nichts ändern, so lange sie sich in ihr Kämmerlein verkriecht. Und genau das tut sie… leider.“
Er spürte, Ulrike litt auch darunter, doch das Problem, das Birtes Zustand mit sich brachte, lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung. Hinter der Huntebrücke näherte sich der große, von Pfützen starrende Gutshof der Aumunds, mit dem Bauernhaus aus Fachwerk und dem Storchennest auf dem Reetdach, und Ulrike fiel etwas ein, das alles veränderte. „Geldis ist wetterwendig und leicht zu beeinflussen, die kriege ich rum. Und die hat es besser als Birte verwunden. Du wirst keinen roten Kopf bekommen bei der Versammlung am kommenden Sonntag“, rutschte ihr über die Lippen, und das war unüberlegt, da sie seinen Eifer anheizte und sie es eigentlich lieber nicht darauf angelegt hätte, alles an die große Glocke zu hängen. Aber auf dem Aumundhof herrschte Antje Aumund, mehr noch als vielleicht Sibo Aumund, und deren Fürsprache rückte alles in ein anderes Licht. Zufällig hielt sie sich am großen Dielentor auf. Da sie Ulrike längst in ihr Herz geschlossen hatte und sich herausstellte, die vier Edelleute brachten sie lediglich heim, bekreuzigte sie sich erleichtert. Freudig knickste Ulrike vor Birtes Mutter, und die sah sie an, als wäre ihr diese Geste der Unterwürfigkeit zuwider.
„Du bist ja eine kleine Heldin“, lobte sie Antje Aumund. Die Augen ruhten mit Wohlgefallen auf Ulrike. Sie dagegen fand es peinlich.
„Rike hat dem Vogt mit dem Schürhaken gedroht“, erklärte Antje. „Himmel und Hölle hat sie beschworen, wenn sie ihrer Schwester ein Leid zufügen.“
Dirk hob anerkennend die Brauen. „Alle Achtung, Rike, du bist ein starker Mensch.“
Sie schnappte nach Luft, erwägte sie doch eben noch, einen Rückzieher zu machen, aber seine Hochachtung bedeutete ihr viel. An diesem löblichen Bild wollte sie ungern rütteln. Tröstlich blieb die Hoffnung, Geldis könne sich durchaus weigern, zur Notzucht im Rittersaal öffentlich Stellung zu beziehen. Und Ulrike fragte sich, ob es wirklich so wichtig war, die Sache ruchbar zu machen. Am liebsten hätte sie Birtes Mutter festgehalten, die in ihrem schwerfälligen, leicht wackelnden Gang bereits zur Nebentür in der Fachwerkfassade zuckelte, um sie zu Geldis zu bringen.
Abseits der geräumigen Diele reihten sich die Kühe im Halbdunkel. Eine Magd schaute hochgeschreckt vom hellen Licht von ihrem Schemel auf, die sich gerade die Hände mit Melkfett einrieb. Geldis strahlte sie an, als könne kein Wässerchen ihre Laune trüben und hätte fast den halbvollen Holzkübel umgekippt.
„Den Burgen an Hunte und Olle droht ein Sturm“, berichtete Dirk ihr. „Hast du den Mut, zuzugeben auf welche Weise ihr drei entehrt wurdet?“
Geldis beeilte sich aufzustehen und vollzog den üblichen Knicks. „Sicher Herr Ritter.“
„Herr Ritter…“, wiederholte Dirk mit leiser Belustigung. „Das ist gut, Mädchen, eure Aussage ist unsere einzige Handhabe, um diese Schweinehunde zur Rechenschaft ziehen zu können.“
Ulrike und Geldis tauschten einen beklommenen Blick aus, und er wandte sich Birtes Mutter. zu. „Gute Frau, habt ihr eine Kammer für meine Freunde und im Stall Platz für vier Pferde?“
Sie lächelte matt. „Ich habe von Euch gehört, Ritter Dirk, willkommen bei Aumunds.“
Ulrike wunderte sich, was er vorhatte, und er drückte der Hausherrin ungesehen drei Markstücke in die Hand. „Damit ich immer eine offene Tür in Berne finde“, gab er ihr leise zu verstehen. Es war überreich gegeben, auch wenn es die Unterbringung von Lüders Töchtern begleichen sollte, aber er hatte beizeiten gelernt, sich rechtzeitig Verbündete zu suchen und wusste, auf kernige Menschen wie Antje Aumund konnte man bauen.