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Kapitel 3

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Ausgerechnet aus Tallin hatten sich die zuständigen Behörden mit einem Amtshilfeersuchen an das BKA gewandt.

Hier hatte sich anscheinend jemand hingesetzt und den Aufruf zur Tat ins Estnische übersetzt und diesen Text dann an einem windigen Tag per Flugblattaktion in der Innenstadt per Luftpost verteilen lassen.

„Die Kollegen dort möchten nun gern wissen, was wir davon halten,“ hatte ihm der mit der Beobachtung des internationalen Umfeldes beauftragte Kollege nicht ohne eine gewisse Schadenfreude mitgeteilt und zugleich auch angefragt, ob er schon mal einen Flug buchen sollte. Rogge hatte in diesem Fall erst einmal dankend abgelehnt und den „lieben Kollegen“ gebeten, zunächst doch noch ein „wenig mehr Informationen“ über das zu beschaffen, was den Kollegen in der Hauptstadt der Baltenrepublik anscheinend so viel Kopfzerbrechen bereitete.

Das Ergebnis hatte nicht lange auf sich warten lassen. Bereits am übernächsten Tag hatte Rogge eine Kopie des Papiers, einschließlich einer Übersetzung ins Deutsche auf dem Schreibtisch. Und diese verhieß nichts gutes; denn während in der bisherigen Kurierpost mehr allgemein dazu aufgerufen wurde, zur Tat zu schreiten, hatte es sich der oder die estnische Verbreiter/in offenkundig in den Kopf gesetzt, ein entsprechendes Signal zwar nicht möglichst bald dafür aber höchst spektakulär in die Welt zu setzen.

Für die „Großtat“ auserkoren hatte er oder sie sich ausgerechnet das Atomkraftwerk, das in Litauen das bestehende Kraftwerk Ignalina ersetzen soll. Perfiderweise enthielt das Papier die konkrete Aufforderung, einen entsprechenden Zündmechanismus im Verlauf der Bauarbeiten so in die Anlage zu implementieren, dass diese punktgenau an einem nicht näher bestimmten Tag nach Inbetriebnahme des Kraftwerkes den GAU auslösen würde.

Rogge lehnte sich in seinem Sessel zurück.

Er musste sich eingestehen, dass ein solches Vorhaben im Rahmen der Vorgaben aus Sicht eines möglichen Attentäters Sinn machen könnte. In das Kontrollzentrum oder die Außenhülle eines Atomkraftwerkes, in die Unmengen von Stahl eingearbeitet werden, einen altertümlichen Sprengmechanismus aus Metall einzubauen, dürfte kaum zu identifizieren sein. Da in diesem Fall zudem die Detonation von außen nach innen angelegt sein würde, dürften auch die konzeptionellen Sicherungen zu überwinden sein, da diese das Kraftwerk in erster Linie gegen eine Detonation schützen sollen, die von außen einwirkt.

Zudem könnte der Zeitfaktor ein solches Vorhaben begünstigen. Wenn es möglich sein sollte, den Zündmechanismus etwa durch eine bestimmte Umgebungstemperatur mit einer Vorlaufzeit von zwei Tagen zu aktivieren, so bliebe für den oder die Täter/in/nen sogar noch ausreichend Zeit, sich mit Familie und Freunden so rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu bringen, dass der GAU keine unmittelbare Gefahr für ihn oder sie mehr darstellt.

Als besonders ärgerlich war zudem zu werten, dass die Kollegen in Estland dem Anschein nach keine rechte Vorstellung davon hatten, wie viele dieser Aufrufe verbreitet worden sind.

Noch während Rogge sich auszumalen versuchte, welche Folgen ein solcher Anschlag für die Debatte um die Sicherheit von Nuklearanlagen haben dürfte, erreichte ihn bereits eine Mitteilung, die einer Entwarnung sehr nahe kam. Der estnischen Polizei war eine junge Frau ins Netz gegangen, die nach Aussagen ihres früheren Freundes als Urheberin und Verteilerin des Attentatsaufrufes angesehen werden musste.

In den Augen Rogges lieferte genau dieser Sachverhalt allerdings die unabweisbare Notwenigkeit für eine unaufschiebbare Dienstreise, die zu buchen er dann auch gleich in die eigenen Hände nahm.

Wenn er gegenüber sich selbst etwas selbstkritischer eingestellt gewesen wäre, hätte er sich zweifelsfrei eingestehen müssen, dass seine Bereitschaft diesen Flug umgehend zu buchen weniger mit dem aktuellen Fall als mit der vagen Hoffnung zu tun hatte, bei dieser Gelegenheit eine Spur der Frau zu finden, die ihm in der Glovico Sache so unversehens den Rücken gekehrt hatte, obwohl sie ein Kind von ihm erwartete.

So kam es, dass sich noch am selben Abend eine dreiköpfige Delegation aus Wiesbaden auf den Weg zu den estnischen Ermittlern aufmachte und, dort angekommen, darum bat, in die laufenden Untersuchungen einbezogen zu werden.

Dem Wunsch wurde umgehend entsprochen und bei dieser Gelegenheit wurden die drei angereisten Beamten mit der erhebenden Einsicht vertraut gemacht, dass die Festgenommene tatsächlich lediglich als Übersetzerin und Verteilerin tätig geworden war, nicht jedoch als Urheberin des Textes in Frage kam. Das freundliche Angebot der estnischen Kollegen, die junge Dame trotzdem erneut zu befragen, hatten die Angereisten freudig angenommen.

Als die junge Frau in den Raum geführt wurde, stutzte Rogge kurz und zog die Stirn in Falten. Die Festgenommene war mittelgroß und trug ihre hellblonden Haare in einem Knoten zurück gesteckt. Diese Aufmachung erinnerte Rogge irgendwie an die Haartracht, die er häufig bei Landfrauen im Baltikum hatte beobachten können und folglich speicherte er sie für sich sogleich unter als die „Baltin“ ab, Bekleidet war sie mit einem dunklen Rock und einer hellen Bluse. Der Oberrat registrierte, dass die Dame fast ein wenig schamhaft den Blick senkte. Spontan kam es ihm so vor, als ob er die junge Frau kennen würde. Aber er wusste nicht, wo er sie hinpacken sollte.

Erst auf den zweiten Blick hin machte er sich klar, dass das wohl daher rührte, dass die Dame eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau hatte, deren Verschwinden dem Oberrat seither keine Ruhe mehr ließ, nur eben etwas jünger.

Dem Anschein nach mochte die Festgenommene Anfang bis höchstens Mitte Zwanzig sein. Die Tage in der U-Haft hatten sie sichtbar mitgenommen. Ihr Gesicht war blass und sie wirkte müde. Anscheinend war sie aus dem Stand heraus festgenommen worden und hatte seither keine Gelegenheit gehabt, sich frisch einzukleiden. Die helle Bluse machte einen leicht zerknitterten Eindruck und der Beschuldigten war dies bewusst und anscheinend unangenehm. Mit den Fingerspitzen zupfte sie zunächst an den Ärmelbündchen und versuchte dann, den Stoff mit den Händen ein wenig zu glätten. Wie zufällig zeichneten sich die Konturen Ihres Oberkörpers dabei für einen Moment lang sehr deutlich ab. Es war nur ein ganz kurzer Blick, den sie Rogge dabei zuwarf, doch der ließ ihn aufmerksam werden. Es sprach etwas ausgesprochen Provozierendes aus ihren Augen und das hatte so gar nicht zu tun mit dem niedergeschlagenen Eindruck, den sie beim Hereinkommen vermittelt hatte.

Um sich zu vergewissern blickte Rogge auf das vor ihm liegende Datenblatt und zog die Augenbrauen hoch. Er hatte sich verschätzt, die Frau würde in wenigen Monaten ihren dreißigsten Geburtstag feiern.

Um dem oder der Täter/in auf die Spur zu kommen konnte die kleine Germanistikstudentin, namens Julia Enkell, als welche sich die vermeintliche Attentäterin in spe laut den Eintragungen ihres Ausweises entpuppt hatte, bedauerlicherweise bis jetzt keine wirklich weiterführenden sachdienlichen Hinweise machen.

Sie hatte die Gelegenheit wahrgenommen, sich ein paar Dollar zu verdienen und das Ganze zudem für eine der üblichen Szeneaktionen gehalten, mit denen verschiedene Gruppen seit geraumer Zeit versuchten, das Problembewusstsein in Sachen Atomenergienutzung in den postsowjetischen, baltischen Staaten auf internationales Niveau zu bringen.

Immerhin war sie in der Lage, vergleichsweise konkrete Angaben zu den Auftraggebern zu machen.

Ein Mann mittleren Alters hatte sie unter Vermittlung eines Kommilitonen angesprochen, der gelegentlich Touristen bei Stadtführungen begleitete und ihr den Auftrag erteilt, das Papier zu übersetzen, zu vervielfältigen und dann in den Cafes im Universitätsviertel auszulegen.

Die junge Frau war sich daher ganz sicher, den Auftraggeber als Touristen identifizieren zu können. Und sie war sich ebenfalls sicher, dass dieser Tourist der Aussprache nach aus Deutschland oder vielleicht noch Österreich stammen musste.

Er hatte bar und im Voraus bezahlt und die junge Frau hatte sich daher verpflichtet gefühlt, ihre Zusage auch einzuhalten. Das klang glaubhaft. Dreihundert Euro stellten für die kleine Studentin sicher keinen Pappenstiel dar. Rogge war sich nach diesen Auskünften keineswegs sicher, wie er nun weitermachen sollte.

Bei Licht besehen dürfte der jungen Dame vielleicht gerade noch ein Phantombild zu entlocken sein. Mit dem Fall an sich hatte sie aber im eigentlichen Sinne offenkundig nichts zu tun.

Alles andere sah nunmehr nach der üblichen Routinearbeit aus: Um herauszufinden, wer der Studentin diesen Auftrag erteilt hatte, würde es notwenig sein, die Passagierlisten der Reisegruppen zur Luft und zur See für den fraglichen Zeitraum zu überprüfen, die Daten der Grenzkontrollstellen abzufragen, bei den Hotels die Gästebücher einzusehen und so den Kreis der infrage kommenden Personen systematisch einzugrenzen.

Rogge war sich im Grunde sicher, dass diese Vorgehensweise vergleichsweise schnell zu dem gewünschten Resultat würde führen müssen und er seiner Dienststelle den Auftraggeber bereits in den nächsten Tagen, spätestens Wochen auf dem silbernen Tablett würde präsentieren können.

Schließlich, so machte sich der Oberrat klar, dürfte die Zahl der aus Deutschland stammenden Touristen mittleren Alters, auf die sich zur fraglichen Zeit die Beschreibung der Studentin anwenden ließ, sehr überschaubar sein.

Es war also kaum damit zu rechnen, dass sich der Übeltäter noch lange den Fragen der Ermittler würde entziehen können.

Der Kriminaler war innerlich bereits im Begriff, erneut die Koffer zu packen. um die Heimreise anzutreten, als ihn eine kleine Ergänzung im Vernehmungsprotokoll stutzig machte, die zu erwähnen die junge Germanistikstudentin bisher nicht für nötig befunden hatte.

Der Mann hatte sich nicht nur in Begleitung ihres Kommilitonen befunden. Im Wagen vor dem Lokal, in dem sie sich getroffen hatten, habe noch eine Frau gesessen, die selbst ansonsten aber nicht weiter in Erscheinung getreten sei. An deren Aussehen konnte sich die Studentin daher auch nicht erinnern. Dafür war ihr bei dem Auto aufgefallen, dass es sich um ein Fahrzeug mit einem einheimischen Kennzeichen gehandelt hatte. Rogge freute sich über die hiermit erreichten Fortschritte im Schweinsgalopp und erkundigte sich bei seinen estnischen Kollegen danach, ob deren Befragungen bezüglich des Fahrzeuges bereits zu irgendwelchen verwertbaren Ergebnissen geführt hatten.

Nachdem er ihnen das Gefühl gegeben hatte, wieder in die Ermittlungen einbezogen zu sein, ließen diese ihn nicht im unklaren darüber, dass es sich bei dem Wagen vermutlich um das Fahrzeug des Deutschen gehandelt haben dürfte, das zur Verschleierung seiner tatsächlichen Herkunft lediglich mit einem estnischen Kennzeichen ausgestattet worden war.

Zu dieser Einsicht waren die Kollegen gelangt, nachdem sie die Fahrzeugdaten, die ihnen der Kommilitone der Studentin im übrigen sehr genau hatte beschreiben können, als Volkswagen identifiziert und diese Angaben dann mit den in Estland gemeldeten Wagen dieses Typs abgeglichen hatten. Ein solcher Wagen war in dieser Farbe im ganzen Land nicht zugelassen.

Spät, aber wie die späteren Ereignisse noch zeigen sollten, nicht zu spät, begann Rogge hellhörig zu werden. Immerhin bedeutete diese Erkenntnis, dass der große Unbekannte neben der ahnungslosen Studentin und deren Kommilitonen weitere Helfer im Land gehabt haben musste und das wiederum ließ die baldige Identifizierung dieses Herrn weniger wahrscheinlich erscheinen. Schließlich war kaum anzunehmen, dass jemand, der es für geboten hält zwar mit dem eigenen Wagen, aber gefälschtem Nummernschild aufzukreuzen ausgerechnet im Hotel seinen richtigen Namen angegeben haben sollte.

Als er versuchte diesen Sachverhalt zu klären, konnten ihn seine einheimischen Kollegen wieder beruhigen.

Es sei aus Sowjetzeiten her üblich, sich im Hotel die Reisepässe der Gäste aushändigen zu lassen, wurde dem Beamten aus Deutschland versichert.

Nicht so sicher waren sich die Kollegen aus Tallin hingegen in der Frage, ob der Gesuchte überhaupt in einem Hotel genächtigt hatte und falls ja, ob er dann dort seinen eigenen Pass vorgelegt haben dürfte. Ausgeschlossen werden konnte das zu diesem Zeitpunkt jedoch auch nicht. Die Überprüfung der einschlägigen Unterkünfte jedenfalls war noch nicht abgeschlossen. Als einzig belastbarer Hoffnungsschimmer verblieb damit vorerst die Begleiterin des Mannes. Wie sich alle beratenden Beamten schnell einig geworden waren, dürfte diese kaum als blinde Passagierin in dem Wagen gesessen haben. Sie müsste folglich in der Lage sein, auch einige Worte zur Identität des Gesuchten zu verlieren.

„Zu dumm nur“, musste sich Rogge eingestehen, dass ausgerechnet die Identität dieser Frau auch nicht bekannt war und in Ermangelung einer brauchbaren Beschreibung wohl so schnell auch nicht in Erfahrung zu bringen sein dürfte.

Für einen Moment blieb Rogge daher ebenso ratlos wie seine Begleiter und auch den Esten ging es offenkundig nicht viel besser.

„Mir fällt da gerade noch etwas ein,“ ließ sich in genau diesem Moment die junge Frau vernehmen.

Sie hatte sich entschieden deutsch zu sprechen, was ihr als Germanistikstudentin auch nicht sonderlich schwer viel, aber die mühselige Übersetzungsarbeit jedenfalls in einer Richtung überflüssig machte.

„Was ist Ihnen noch eingefallen?“, erkundigte sich Rogge wissbegierig. Die junge Frau errötete leicht und blickte dann ein wenig verschämt zu Boden, sagte aber nichts.

Es dauerte noch einen Moment, bis nun auch die estnischen Beamten von dem Gedankenblitz der Studentin in ihrer Sprache erfuhren. Aber auch deren Fragen verweigerte sich die Frau beharrlich.

Was um alles in der Welt konnte so peinlich sein, dass es einer jungen Frau angeblich erst mit stundenlanger Verspätung einfiel, dann aber doch nicht ausgesprochen werden konnte?

„Ist Ihnen der Mann irgendwie zu nahe getreten?“

Rogge versuchte sich dem Thema auf, wie er fand, dezentem Umweg anzunähern, lag aber bereits mit der angedeuteten Vermutung anscheinend völlig falsch. Jedenfalls reagierte die junge Frau mit heftigem Kopfschütteln.

Rogge war ratlos und blickte daher die junge Profilerin hilfesuchend an.

„Sollen wir vielleicht einen Moment nach draußen gehen?“, versuchte diese daraufhin der Studentin eine Brücke zu bauen. Deren zustimmende Reaktion bewies ihr, ins Schwarze getroffen zu haben.

Die Profilerin sah Rogge fragend an, dieser gab den fragenden Blick an seine estnischen Kollegen weiter und nickte schließlich seiner Kollegin zustimmend zu, nachdem auch die Esten gestisch Zustimmung signalisiert hatten.

Beide Frauen verließen daraufhin den Raum. Deren Abwesenheit versuchten die verbliebenen Männer mit Belanglosigkeiten zu überbrücken. Als beide Frauen nach wenig mehr als fünf Minuten bereits wieder in den Raum zurückkehrten, richteten sich alle Augen neugierig auf sie.

Ohne ein Wort nahm die Studentin wieder ihren Platz ein. Der Blick war, wie Rogge ein wenig irritiert feststellen mussten, noch immer gesenkt. Seinen fragenden Blick beantwortete die Profilerin mit hochgezogenen Augenbrauen. Als ihr Chef nicht begriff, stellte sie sich neben ihn und flüsterte ihm ins Ohr: „Sie musste mal für kleine Mädchen.“

Rogge blieb im Wortsinne die Spucke weg. „Und deshalb macht die hier ein solches Theater?“, kam es ihm so trocken über die Lippen., dass er erst einmal nach dem vor ihm stehenden Wasserglas greifen und sich erfrischen musste.

„Das auch, aber da ist natürlich noch was“, gab ihm seine Mitarbeiterin zu verstehen und räusperte sich verlegen. „Jetzt fängt die auch noch an?“ Der Kriminaloberrat zeigte sich verwundert und begann sich ernsthaft dafür zu interessieren, was es spannendes gab. Doch anstatt einer klaren Auskunft druckste die Kollegin herum und wand sich wie ein Wurm.

„Sie erwarten jetzt aber nicht im Ernst, dass ich ebenfalls für einen Moment mit Ihnen vor die Tür gehe, oder?“ Doch kaum hatte Rogge es fertig gebracht, diesen Gedanken auszusprechen, als sowohl die junge Frau, wie auch die Profilerin wie auf Kommando heftig mit dem Kopf zu nicken begannen.

„Falls ihr beiden mal auf die Idee kommen solltet, euch als Synkronspringerinnen für den Sprung vom 10 Meter Brett anzumelden, so kann ich euch bestätigen, dass der Anfang gar nicht so schlecht ist.“ An der Reaktion beider Frauen wurde ihm schnell klar, dass er diese Art von Gehässigkeit besser unterlassen hätte.

Während die Estin es vorzog, den Kopf wie ein geprügelter Hund noch tiefer zwischen den hochgezogenen Schultern verschwinden zu lassen, fuhr ihn seine Mitarbeiterin in einem Ton an, den er von Untergebenen so bisher wirklich nicht gewohnt war. „Was bilden Sie sich eigentlich ein, wer Sie sind Herr Rogge? Wir versuchen Ihnen hier so behutsam wie möglich näher zu bringen, dass es ein wenig peinlich für Sie werden könnte, wenn die Aussage, die Sie verlangen, hier in aller Öffentlichkeit ausgebreitet wird, und Sie haben nichts besseres zu tun, als sich wieder einmal über alles lustig zu machen.“

Die schöne Luise, wie Rogge sich angewöhnt hatte, die Profilerin für sich zu nennen, machte eine Pause und Rogge holte tief Luft. „Peinlich für mich?“, erkundigte er sich papageienartig bei seiner Mitarbeiterin.

„Wie darf ich das verstehen?“

Dass er sich damit endgültig selbst den Weg verbaut hatte, die seltsame Neuigkeit zunächst einmal unter vier oder sechs Augen mitgeteilt zu bekommen, begriff er zu spät, denn jetzt platzte der Estin der Kragen.

„Das waren doch Sie,“ brach es aus ihr heraus. Gleich darauf zog sie jedoch wieder den Kopf ein, als sie die verständnislosen Blicke der im Raum versammelten Beamten auf sich konzentriert sah.

Ich war was?“ Der Kriminaloberrat spürte, wie die fragenden Blicke seiner estnischen Kollegen auf ihn gerichtet waren. Das trug nicht gerade dazu bei, seinen Verstehensprozess zu beschleunigen.

Immer noch begriffsstutzig starrte nun er wechselweise zunächst auf die estnische Studentin und dann auf seine Profilerin.

Keine von beiden war jedoch bereit ihm den Gefallen zu tun und ihm auf die Sprünge zu helfen - im Gegenteil. Dem Anschein nach fand die deutsche Polizistin sogar Gefallen an der Situation und tat ihr bestes, es dem ‚Kotzbrocken’ heimzuzahlen.

„Da müssen Sie nun schon selber drauf kommen, Herr Oberrat,“ säuselte sie ihm spitz zu und bot ihm mit mitleidsgetränkter Stimme an, ihn beim ostfriesischen Schnelldenkerwettbewerb anzumelden. „Da machen Sie bestimmt eine tolle Figur, Herr Oberrat, wirklich.“

Rogge wusste nicht wirklich, wie ihm geschah. Eine solche Respektlosigkeit von Seiten einer jungen Untergebenen war ihm in seinen vielen Dienstjahren noch nicht untergekommen. Ratlos sah er seine „zweite große Stütze“, den ebenfalls mitgereisten Polizeioberkommissar Thomas Enders in der Erwartung an, dass dem etwas Geeignetes einfiele. Doch der machte keinerlei Anstalten, sich hier einzumischen, zumal er ebenso wenig mit der Feststellung der Estin anfangen konnte, wie alle übrigen im Raum versammelten Personen. Für einen unendlich langen Moment herrschte Schweigen.

Einer der Uniformierten räusperte sich, sonst geschah nichts. Nur ganz allmählich gelang es Rogge währenddessen, die Worte der Estin dort einzuordnen, wohin sie gehörten. Als er die Botschaft schließlich begriffen hatte, erhob er sich geradezu im Zeitlupentempo von seinem Stuhl, beugte sich vor zu der Estin und sah sie mit offenem Mund einen kurzen Moment lang an.

„Sagen Sie das noch einmal,“ waren die einzigen Worte, die er schließlich über die Lippen brachte.

Die Estin hatte sich inzwischen anscheinend wieder gefangen und war erkennbar entschlossen, sich hier nicht weiter unterbuttern zu lassen. Mit wild funkelnden Augen sprang sie nun ihrerseits auf und tat dem „Kommissar aus Deutschland“ den erbetenen Gefallen.

„Sie waren das,“ fauchte sie Rogge mit einer Aggressivität an, die er ihr gar nicht zugetraut hätte, und fügte ohne Luft zu holen hinzu, dass sie sich ganz sicher sei und er doch aufhören solle, sich hier zu verstellen. Damit war ihr Potential an Aufmüpfigkeit aber auch bereits wieder erschöpft und sie kauerte sich wie zuvor mit hochgezogenen Schultern auf ihren Stuhl.

Der Beamte aus Deutschland konnte förmlich körperlich spüren, wie die Atmosphäre im Raum begann frostig zu werden. Sein Verstand sagte ihm, dass er jetzt damit zu rechnen hatte, von den estnischen Kollegen festgenommen zu werden. Zu klar war die Aussage der jungen Frau und zu eindeutig schien auch deren Motivlage zu sein.

„Du kleines Luder spielst uns hier das Hascherl vor und schaffst es dabei ganz nebenbei, den Spieß umzudrehen.“ Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, suchte er zugleich fieberhaft nach einer eleganten Lösung, um hier nicht zum Schluss ganz schlecht auszusehen. Er fühlte, in die Falle getappt zu sein, und er registrierte verblüfft, wie selbst seine beiden neben ihm sitzenden Kollegen begannen körperlich von ihm abzurücken. Je länger es dauerte, bis ihm eine Lösung einfiel, desto peinlicher wurde es für ihn. Natürlich war die Vorstellung absurd, zugleich aber begann das Absurde reale Formen anzunehmen. So begann das Undenkbare denkbar zu werden, je länger sich der Kopf daran gewöhnte, in den ungewohnten Bahnen zu denken. Rogge war klar, dass es unklug war, den versammelten Polizistenköpfen diese Zeit zu geben; denn er wusste aus Erfahrung, dass sich die Phantasie der Ermittler gegen den Häftling zu richten begann, wenn es ihm nicht rechtzeitig gelang, ihre Hirne von der Sinnlosigkeit der ausufernden Phantasie zu überzeugen. Ausgerechnet sein ranggleicher estnischer Kollege, der eigens seinen Urlaub unterbrochen hatte, um den Kollegen aus Deutschland seine Referenz zu erweisen, sprach die erlösenden Worte, die Rogge in seinem Panikanfall nicht in den Kopf gekommen waren.

„Was redest du da? Wann soll das gewesen sein? Der Kollege aus Deutschland ist vor wenigen Stunden hier eingetroffen. Wie kann er dir da vor Tagen bereits diese merkwürdigen Unterlagen gegeben haben?“

Aufmerksam registrierte Rogge, wie sein Kollege der kleinen Studentin versuchte, den Schneid abzukaufen. Doch die junge Frau saß in der Falle. Wenn sie jetzt einknicken sollte, musste sie damit rechnen, wegen Verleumdung eines Polizisten und dazu noch eines Polizisten aus einem befreundeten Land zur Rechenschaft gezogen zu werden. So etwas konnte übel ausgehen, nicht nur in Estland. Daher war man stets besser beraten, es sich vorher dreimal zu überlegen, ob die gegen einen Polizisten vorzubringenden Anschuldigungen auch belastbar waren, bevor man sie öffentlich machte. Doch dieser Schritt lag hinter der Studentin. Jetzt nicht einzuknicken war daher die einzige Möglichkeit, der drohenden Sanktion aus dem Weg zu gehen. Aber dazu waren nun eben belastbare Fakten von Nöten und genau diese zu präsentieren zögerte die junge Frau noch einen kurzen Augenblick. Gerade lang genug, um sich dem nahe liegenden Verdacht nicht noch stärker auszusetzen, all das, was jetzt kommen würde, vorab auswendig gelernt und vielleicht sogar geprobt zu haben, gerade kurz genug, um den Ermittlern nicht das Gefühl zu geben, in Wirklichkeit keine belastbare Antwort auf die Frage bereit zu haben.

„Das wissen Sie doch selbst ganz genau,“ erklärte die Studentin an Rogge gewandt mit fast weinerlicher Stimme. Sie blickte kurz auf, senkte dann den Blick erneut und gab das genaue Datum an. Selbst die ungefähre Uhrzeit fehlte nicht.

„Das war fast auf den Tag genau vor zwei Wochen,“ gab die junge Frau zu Protokoll, „so ungefähr um 14.30 Uhr. Ich bin gerade vom Mittagessen zurückgekommen, da stand er vor meiner Tür. Wir haben dann so etwa zwei Stunden gebraucht, um die Details durchzugehen. Ich erinnere mich deshalb so genau, weil ich um 17.00 Uhr bereits wieder zum Tanzkurs musste und daher rechtzeitig los musste.“

Das war konkret, sehr konkret sogar, wie sich Rogge eingestehen musste.

„Zum Tanzkurs! Ach wie niedlich.“

Rogge sprühte vor Sarkasmus, versuchte sich aber zu bremsen.

„Um die Sache rund zu machen, wäre jetzt eigentlich noch eine Handvoll Zeugen schön, die bestätigen können, dass du mich an diesem Tag tatsächlich getroffen hast.“

Rogge hatte seinen Sarkasmus noch keineswegs beiseite gelegt. Zugleich zermarterte er sein Gehirn nach der Antwort auf die jetzt unausweichliche Frage. Doch sein Erinnerungsvermögen spielte ihm einen Streich. Er konnte sich partout nicht besinnen, was er an diesem Tag gemacht hatte. Allein, dass er nicht in Estland gewesen war, schien ihm sonnenklar. Während er weiter überlegte, verschaffte ihm die junge Übersetzerin eine kurze Denkpause. Sie war noch nicht fertig mit ihren Ausführungen und legte ein Beweismittel nach. Das war zwar nicht die Handvoll Zeugen, aber immerhin noch zwei und zwar Kommilitonen, die sie zum Tanz angeholt hatten. Selbstverständlich konnte sie deren Namen und Adressen angeben und ebenso selbstverständlich würde es sich hierbei nicht um fiktive Adressen handeln.

Soviel hatte Rogge inzwischen begriffen.

Er begriff auch, dass es anfing eng zu werden. Wie eng es tatsächlich bereits war, erfuhr er bereits einige Sekunden später. Das bisher so unschuldige Lämmchen konnte rein zufällig auch noch eine digitale Speicherkarte mit einigen Photos präsentieren. Das Medium wurde in eine Kamera eingesetzt. Ausgerechnet die schöne Luise hatte hier aushelfen können, nachdem die Esten bedauernd mit dem Kopf geschüttelt hatten. Auf einem der Photos war die junge Studentin selbst in dem Moment abgelichtet, als sie lachend vor einem Wohnhaus stand. Neben ihr ein Mann, der eindeutig die Züge Rogges trug. Gemacht worden waren die Aufnahmen angeblich von einer ihrer Kommilitoninnen, die ihr einen Streich spielen wollte, indem sie ihr ein Verhältnis zu einem deutlich älteren Mann nachwies.

„Rein zufällig“ hatte sie die Aufnahme noch nicht gelöscht und ebenso zufällig hatte sie die Speicherkarte bei ihrer Festnahme in der Hosentasche gehabt. Die Kamera wurde herumgereicht und es bestand eigentlich kein Zweifel. Der Mann neben der blutjungen Studentin war Rogge. Die schöne Luise sah Rogge mit einem Blick an, der ihn irritierte. Der Blick hatte etwas Triumphierendes an sich, so als ob die Profilerin etwas wusste, was hier noch nicht zur Sprache gekommen war. Aber Rogge hatte keine Idee, was das sein konnte. Ihm blieb nicht viel Zeit zum Grübeln; denn noch viel enger konnte es nun ja wohl nicht mehr werden. Rogge zermarterte sein Gehirn. Wie war das alles möglich? Als ihm schließlich eine Idee kam, wo er sich an diesem Tag aufgehalten haben konnte, traf ihn diese Erinnerung wie eine Keule.

Er hatte sich tagelang allein in seiner Wohnung aufgehalten, hatte sich von der vorausgegangenen Feier erholt, war nicht ans Telephon gegangen und hatte auch sonst keinerlei Kontakte wahrgenommen.

Photos oder gar Zeugen dafür hatte er selbstverständlich nicht vorzuweisen.

Ein noch weniger belastbares Alibi hätte er sich nicht ausdenken können.

Er verwarf diese Idee und entschied sich spontan zu einer ganz anderen Geschichte.

Er hatte sich nicht in den eigenen vier Wänden aufgehalten, sondern das verlängerte Wochenende für einen Kurzurlaub genutzt, um sich in Estland umzusehen. Was er dort konkret gesucht hatte, war ja nun klar – es ging ihm um ein wenig Abwechslung. Die hatte er auch gefunden. Sie saß jetzt ihm gegenüber und das nette kleine Photo von ihm und ihr deutete bestenfalls an, welch vergnüglicher Beschäftigung sie zuvor miteinander nachgegangen waren. Allein das war ja noch nicht verboten. Genau dieses Detail aber hatte die kleine Jule wohlweislich unterschlagen und Rogges Phantasie reichte aus, um sich auszumalen, wie sich die Schilderung der Einzelheiten ihres gemeinsamen amourösen Abenteuers hier und jetzt auf die Glaubwürdigkeit der jungen Dame auswirken würde. Spätestens dann, wenn er beiläufig erwähnen würde, was er sich das Vergnügen hatte kosten lassen, würde sie dastehen wie eine kleine Nutte, die sich aus Rache oder nennen wir es enttäuschter Liebe diese haltlosen Beschuldigungen ausgedacht hatte, um ihn zu kompromittieren und zu diskreditieren. Er würde einzuräumen haben, dass das nun ein wirklich blöder Zufall war, ausgerechnet mit dem Mädchen ins Bett gegangen zu sein, das hier nun beschuldigt wurde, terroristische Kurierpost verbreitet zu haben. Aber solche Zufalle gibt es bekanntlich und im nachhinein würde das seiner Geschichte sogar den Anstrich besonderer Glaubwürdigkeit verleihen.

So, wie es aussah war er nicht so ganz zufällig an die junge Dame hier geraten und - auch das würde er mit süffisantem Unterton einflechten - im Bett hatte er das vollauf bestätigt bekommen. Auch wenn man es diesem kleinen Biest mit der Unschuldsmiene nicht auf den ersten Blick ansah: sie war eine Professionelle, die ihren Job als Reiseleiterin und Übersetzerin vermutlich nur als Sprungbrett nutzte, um Männer und vielleicht auch Frauen (?) ganz gezielt abzugreifen.

Da sie sich nicht zu schade dafür war, das mit ihm für Geld zu tun, hatte sie es sicher auch mit anderen getrieben. Dass es sich bei der Mehrzahl ihrer Kunden um Deutsche handeln dürfte, ergab sich in naheliegender Weise aus ihrer Übersetzersprache. Als ihr einer ihrer Freier dann auch noch Geld dafür geboten hatte, die Papiere zu übersetzen und zu verteilen, da hatte sie sich diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen lassen. Dass sie nicht damit gerechnet haben dürfte, deswegen hier einer solch hochnotpeinlichen Befragung unterzogen zu werden, das könne man ihr wohl uneingeschränkt abnehmen. Rogge räusperte sich und blickte betreten in die Runde.

Rette sich, wer kann!

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