Читать книгу Rette sich, wer kann! - Ekkehard Wolf - Страница 8
Kapitel 5
Оглавление„Herr Rogge, das ist Hendrik Ansib.“ Die Polizisten hatten den Weg auf dem Korridor schweigend zurück gelegt. Rogge hatte erwartet, dass sein estnischer Kollege nun irgendeine Einlassung zu dem kleinen Disput von eben folgen lassen würde und war insofern überrascht zu erleben, mit welcher Professionalität der Oberstleutnant die Situation entschärfte.
„Es tut mir leid, dass Sie sich diesen Unsinn haben gefallen lassen müssen,“ wischte er das Thema auf deutsch kurzerhand vom Tisch und kam dann sofort zur Sache.
„Herr Ansib ist – wie sagt man – Experte für Sprengstoff und hat eine Neuigkeit, die für uns alle von großem Interesse sein dürfte. Bitte nehmen Sie Platz!“
Ohne Umschweife berichtete anschließend der Sprengstoffexperte von den Erkenntnissen, die immerhin als so bedeutsam eingestuft worden waren, dass dies den Abbruch der Befragung zu rechtfertigen schien.
„Wir haben da eine ganz unschöne Entdeckung machen müssen,“ eröffnete der Experte seinen Bericht, zögerte dann aber damit, seine Ausführungen fortzusetzen.
Das lag offenkundig nicht daran, dass er die Übersetzung abwarten wollte; denn auch nach deren Abschluss suchte er erkennbar nach Worten.
Nicht nur Rogge war gespannt darauf, was nun folgen würde.
Der Beamte lehnte sich zurück und war sich offensichtlich der Spannung bewusst, die er mit seinem Zaudern auslösen musste. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, seine Unsicherheit offen zu legen. An seinen Vorgesetzten gewandt erkundigte er sich offenkundig jetzt zunächst ausdrücklich danach, ob er die Details seiner Erkenntnisse vor den ausländischen Kollegen so ohne weiteres ausbreiten dürfe.
Jedenfalls entnahm Rogge dies aus der Reaktion Woronins und dem Umstand, dass das, was er gesagt hatte, ebenso wenig übersetzt wurde, wie die Entgegnung des Polizeioffiziers.
Dem gelang es nur mühsam, seine Verlegenheit angesichts dieser neuerlichen Peinlichkeit zu überspielen. Er entschloss sich aber dazu, seinen Gästen reinen Wein einzuschenken.
„Herr Ansib hat Zweifel daran, dass er seine Erkenntnisse vor Ihnen offen legen darf. Ich habe ihm das soeben ausdrücklich gestattet.“
Während Rogge und seine Begleiter sich darum bemühten, einander keine vielsagenden Blicke zu zuwerfen, nahm der Sprengstoffexperte seinen Bericht wieder auf.
Rogge nahm sich gleichwohl vor, sich in einer ruhigen Minute bei der Übersetzerin danach zu erkundigen, ob sein Kollege das vorangegangene Gespräch zwischen den beiden inhaltlich richtig wieder gegeben hatte.
Ihm war aufgefallen, dass die junge Frau dabei spontan ihren Blick gesenkt hatte.
Zunächst aber konzentrierte er sich auf das, was der Beamte zu berichten hatte.
Dabei erfuhren er und seine Begleiter von der Hausdurchsuchung, die im Zuge der Festnahme der Studentin bei ihr und ihren Freunden durchgeführt worden war.
Zur Überraschung der Ermittler hatte diese Untersuchungen zur Entdeckung von Sprengstoffspuren geführt und Anhaltspunkte dafür geliefert, dass die Wohnung der angeblichen Studentin als eine Art Hobbywerkstatt für Feinmechanik genutzt worden sein könnte.
Während die Sprengstoffspuren Ähnlichkeiten zu den Funden aufzuweisen schienen, die kürzlich im schwedischen Oskarshamn sicher gestellt worden waren, deuteten die Materialfunde auf eine Verbindung nach Deutschland hin.
Jedenfalls wies das unter eine Holzdiele in einer Lederhülle eingewickelte Werkzeug Deutschland als Herkunftsland aus.
Rogge glaubte im gleichen Augenblick zu verstehen, warum der Beamte sich ausdrücklich die Genehmigung hatte geben lassen, diese Information vor den Kollegen aus Deutschland auszubreiten.
Wie er noch begreifen sollte, irrte er sich jedoch gründlich.
Doch zunächst einmal wurde die kleine Runde von einem ganz anderen Ereignis gestört.
Ohne Anzuklopfen stürzte die Beamtin ins Zimmer, von der die früheren Befragungen der Studentin geleitet worden waren.
„Die Studentin hat versucht sich umzubringen,“ meldete sie atemlos und gab sich keinerlei Mühe, ihre eigene Fassungslosigkeit zu verbergen.
Obwohl die Mitteilung nicht übersetzt worden war, hatte Rogge keinerlei Mühe gehabt, den Sinn der Worte zu erfassen.
„Sie hat was?“, fragte er gleichwohl auf deutsch zurück und erntete damit zunächst nur einen verständnislosen Gesichtsausdruck der jungen Beamtin.
Nachdem die Übersetzerin seinem Nichtverstehen ein Ende bereitet hatte, klärte sie ihre Zuhörer in knappen Worten, die nunmehr zügig übersetzt wurden, über das auf, was sich nach ihrer Kenntnis gerade abgespielt hatte. Gleich nach der Beendigung der Befragung hatte sie die junge Frau zu deren Haftzelle begleitet. Die Studentin hatte gleich darauf darum gebeten, etwas zu trinken zu bekommen. Sie hatte dafür gesorgt, dass dieser Wunsch erfüllt wurde. Die Studentin hatte dann aber das Glas Wasser zunächst doch noch unangetastet gelassen und sich statt dessen danach erkundigt, wie lange sie noch hier bleiben müsse und was jetzt mit ihr geschehen würde. Nur wenige Augenblicke später hatte die Beamtin das Gespräch unterbrechen müssen, da ein Kollege an der Tür geklopft hatte, um ihr mitzuteilen, dass sie dringend am Telephon verlangt werde. Der Anrufer hatte zwischenzeitlich jedoch bereits wieder aufgelegt. Als sie gleich daraufhin wieder die Zelle betreten hatte, fand sie die junge Frau von Krämpfen geschüttelt auf dem Boden liegend auf. Dem Anschein nach, war sie einer Vergiftung erlegen. Ob die Studentin sich das Gift selbst zugeführt hatte oder ob es sich bereits im Glas befunden hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Die Beamtin hatte aber keinen Zweifel, dass die junge Frau das selbst eingenommen haben musste.
Rogge spürte deutlich, wie sein Blutdruck anstieg.
Ihn beschlich ein äußerst mulmiges Gefühl. Da taucht eine wichtige Zeugin auf, die völlig überraschend ihn persönlich belastende Aussagen macht und kaum sind diese Angaben zu Protokoll genommen, da verschwindet die Zeugin wieder und das gleich auf nimmer Wiedersehen, gerade so, als hätte es sie nie gegeben. Was bleibt, ist lediglich die Anschuldigung und die war bei Licht besehen ja äußerst schwerwiegend. Wenn sich die estnischen „Kollegen“ nun ohne weitere Umschweife als KGB-Agenten zu verstehen gegeben und ihm eine Verpflichtungserklärung vorgelegt hätten, so wäre die Welt für den Polizeioberrat schon fast wieder in Ordnung gewesen.
Verschwörungstheorien waren schon immer seine Stärke gewesen.
Rogge atmete tief durch.
Ein Blick auf seine beiden Kollegen verriet ihm, dass diese auf die Meldung ähnlich schockiert reagierten wie er selbst.
Und auch die drei estnischen Polizisten machten keinen Hehl aus ihrer Betroffenheit.
Doch noch ehe die Beamten dazu kamen, sich gegenseitig ihre Betroffenheit und Anteilnahme zu bekunden, hielt die Verhörbeamtin noch eine weitere Neuigkeit für sie bereit, auf die abermals Rogge nicht vorbereitet war, und die ihn folglich in Bedrängnis bringen sollte.
Erst jetzt fiel dem Oberrat auf, dass die junge Beamtin es für nötig gehalten hatte, in Begleitung von zwei Uniformierten den Raum zu betreten.
Beide hatten sich nicht über die Türschwelle begeben, sondern dort das weitere Geschehen abgewartet.
Während ihr Vorgesetzter sichtlich nach den richtigen Worten suchte, hatte sie die Neugier überwältigt und dazu veranlasst, einen Schritt vorzutreten.
„Da wäre noch etwas.“
Die Vernehmungsbeamtin zeigte deutlich Spuren von Unsicherheit.
Vielleicht aber auch nur, um der nun folgenden Mitteilung die wünschenswerte Aufmerksamkeit zu sichern, brach sie nach diesen Worten ab und wartete auf ein Zeichen ihres Vorgesetzten, weitersprechen zu dürfen. Woronin schien einen Moment zu brauchen, bis er begriff.
Doch dann forderte er seine Untergebene mit einer einladenden Handbewegung zum Weitersprechen auf. „Bevor sie versucht hat sich umzubringen, hat sie noch etwas zu Protokoll gegeben.“
Erneut unterbrach sich die Verhörbeamtin und provozierte damit eine Geste des Unverständnisses auf Seiten des Polizeioffiziers.
„Nun reden Sie schon!“
Rogge wurde das Gefühl nicht los, dass es sich hierbei um ein einstudiertes Verhalten handelte.
Die jeweiligen Beiträge waren nach seinem Eindruck sorgfältig aufeinander abgestimmt und so dosiert, dass die Übersetzerin keinerlei Schwierigkeiten hatte, das Gesagte weiterzugeben.
„Sie hat ausgesagt, dass dieses Werkzeug ihr ebenfalls von Herrn Rogge übergeben worden ist.“
Der Beschuldigte spürte, wie sich die Blicke aller Anwesenden geradezu klettenartig an ihn zu heften begannen. Er spürte auch, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten und die Innenflächen seiner Hände begannen feucht zu werden. Er zwang sich dazu, die Blicke zu erwidern, ahnte aber zugleich, das er keinen besonders überzeugenden Eindruck machte und wusste beim besten Willen nicht, was er dazu nun sagen sollte.
In einem Anfall aufkommender Panik erinnerte er sich daran, dass sein eigenes Handwerkszeug, nach seinem letzten Besuch bei dem Uhrmacher spurlos aus seinem Wagen verschwunden war.
Er entschloss sich daher dazu, auf diese Behauptung nicht mit der spontanen Eingebung zu reagieren, auf die er sich Sekunden zuvor noch hatte einlassen wollen und musste zu seiner nicht geringen Überraschung erleben, dass dies andere für ihn genau umgekehrt entschieden hatten. Ausgerechnet Woronin war es, der ihn in eine Lage brachte, die ihm keinen Ausweg ließ.
Mit unüberhörbarer Verärgerung in der Stimme verwahrte sich der Este mit Nachdruck gegen den Schwachsinn, den sich diese Dame da ausgedacht hatte.
Wieder fiel Rogge auf, dass selbst dieser Gefühlsausbruch so dosiert verabreicht wurde, dass die Übersetzerin keine Mühe hatte, ihm zu folgen.
Und dann kam das, was aus Rogges Sicht unter diesen Umständen wohl eher übel enden musste.
An den Sprengstoffexperten gewandt erkundigte sich der Leitende Beamte sodann danach, wo „das Zeug“ derzeit aufbewahrt wurde und ordnete an, die Sachen daraufhin zu untersuchen, ob da „auch nur eine Spur von Fingerabdrücken des Kollegen aus Deutschland“ zu finden sei.
„Ich nehme doch an, dass Sie nichts dagegen haben,“ wandte sich Woronin danach in geradezu kollegialem Ton an seinen Mitstreiter aus dem Lande im Herzen Europas.
Rogge wurde das Gefühl nicht los, dass seinem Gegenüber das schwere Schlucken, das ihn bei dieser Aufforderung überkam, nicht nur auffiel, sondern genau so gefiel, wie einem etwas gefällt, der erlebt, wie die eigene Rechnung aufgeht.
Der Oberrat öffnete die ihm zur Verfügung gestellte Teekanne, schenkte sich eine Tasse ein und zwang sich dazu, in aller Ruhe das Glas zu leeren.
Danach hatte er seine Entscheidung getroffen.
Rogge entschloss sich zu einem Befreiungsschlag, war sich aber zugleich auch bewusst, dass dieser Schuss nach hinten losgehen konnte, sofern der Este mit falschen Karten spielen sollte.
„Hören Sie,“ erklärte er so gedehnt, als ob er der Übersetzerin alle Zeit der Welt geben wollte, um seinen Worten das ihnen gebührende Gewicht zu verleihen. „Hören Sie, ich denke wir sollten das genau so machen, wie Sie gerade vorgeschlagen haben. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass die Überprüfung positiv ausfallen dürfte, wenn das stimmt, was ich jetzt inzwischen vermute.“
Die verständnislosen Blicke seiner Zuhörer beiderlei Nationalität zeigten ihm, dass es besser sein dürfte, diese Vermutung jetzt doch etwas gründlicher zu erläutern. Während die beiden Begleitbeamten seine Fingerabdrücke nahmen, schilderte er seinem staunenden Publikum in nur mühsam bewahrter Ruhe den Vorfall von dem verschwundenen Handwerkszeug und versäumte es auch nicht, darauf hinzuweisen, dass er es nunmehr für dringend erforderlich halte, seine Dienststelle von diesem Gang der Dinge unverzüglich in Kenntnis zu setzen.
Erst, als er geendet hatte wurde ihm bewusst, dass er im Begriff war, seine Glaubwürdigkeit mit seiner Redseligkeit zu verspielen.
Um Zeit zu gewinnen, griff er erneut zu dem ihm angebotenen Tee und registrierte zugleich, wie sein Puls zu rasen begann.
Noch während er fieberhaft nach einem Ausweg suchte, spürte er, wie ihm die Kräfte verließen.
Als er wieder zu Bewusstsein gelangte, befand er sich allein mit Woronin und einer Person in dem Raum, die auf ihn wie ein Arzt wirkte.
Während der seinen Puls maß, beugte sich der Oberstleutnant über ihn und teilte ihm mit besorgter Stimme und Miene mit, dass er einen Schwächeanfall erlitten habe.
„Die anderen habe ich hinausgeschickt. Ich hoffe, das ist ihnen recht,“ erklärte der estnische Polizeioffizier nun auf deutsch.
Rogge gelang es mühsam, sich aufzurichten.
Weniger Mühe hatte er damit, sich zu gegenwärtigen, was sich vor seinem Niedergang zugetragen hatte.
Noch bevor er dazu kam, das Thema aufzugreifen, versuchte der Este beruhigend auf ihn einzuwirken. „Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Rogge, ich habe Herrn Enders gebeten, sich mit ihrer Dienststelle in Verbindung zu setzen und den Vorfall dorthin zu berichten, ganz wie Sie das verlangt haben.“
Auch bei dieser Bemerkung konnte sich Rogge das ungute Gefühl nicht verkneifen, hier in etwas hineingeraten zu sein, was sich ganz langsam begann seiner Kontrolle zu entziehen.
Erneut aber machte er sich klar, dass ihm nichts anders übrig blieb, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, denn schließlich hatte er gerade eben genau diese Meldung ja selbst verlangt. Dass er nicht dagegen protestieren konnte, dass diese durch einen Untergebenen abgefasst wurde, hatte mit seinem Zusammenbruch zudem mit seiner eigenen Person im Wortsinne vor Aller Augen gelegen. Erst jetzt konnte er damit beginnen, sich über die Gründe für den Schwächeanfall seine Gedanken zu machen.
Sollte hier jemand nachgeholfen haben? Noch bevor er dazu kam, sich hierüber ernsthaft den Kopf zu zerbrechen, klingelte erneut das Telephon.
Der Este hob den Hörer ab, sagte etwas auf estnisch, wechselte dann in die deutsche Sprache, und reichte das Telephon nach dem Austausch einiger kurzer Höflichkeitsfloskeln mit den Worten an Rogge weiter: „Für Sie, Frau Grafunder.“
Der Polizeioberrat nahm den Hörer entgegen.
„Herr Rogge?“, tönte es ihm entgegen.
„Was ist los bei Ihnen? Gibt es ein Problem?“
Die Dienstvorgesetzte des Beamten hatte auf jegliche Schnörkel verzichtet und erwartete offenkundig einen unverzüglichen Bericht.
Rogge spürte, dass sie in Eile war und ihm war klar, dass es ihr lästig war, ihn hier anrufen zu müssen.
Gleichwohl konnte er es sich nicht verkneifen, sich danach zu erkundigen, woher sie von den Problemen erfahren hatte.
„Enders hat mich angerufen,“ verkündete sie ihm knapp. Der Ton war unwirsch.
Die Frau am anderen Ende der Leitung gab sich keinerlei Mühe, ihre Verärgerung zu verbergen.
Sie wartete.
„Rogge?“
Dem Angesprochenen war klar, dass ihm irgendwelche Ausflüchte hier jetzt nicht weiterhelfen würden.
Er zögerte trotzdem und sah den estnischen Kollegen fragend an.
Doch dieser zuckte nur mit den Schultern.
Rogge räusperte sich: „Es tut mir leid, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass dies hier eine sichere Verbindung darstellt.“
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung bewies ihm, dass seine Vorgesetzte einen Augenblick benötigte, um die Bemerkung richtig einzuordnen.
Als sie sich dazu entschlossen hatte, weiter zu sprechen, klang ihre Stimme ungewohnt behutsam: „Ich denke nicht, dass das im Augenblick von großer Bedeutung ist. Sie wissen, wessen Sie beschuldigt werden?“
Rogge konnte die Frage lediglich bejahen.
„Und?“
Wieder wartete die Frau in Deutschland auf eine Antwort ihres Mitarbeiters.
„Na ja, das ist natürlich alles völliger Unsinn. Sie werden doch nicht im Ernst annehmen, dass an der Geschichte von diesem Mädchen etwas dran ist?“
Rogges Stimme hatte ihren gewohnt dunklen Klang verloren und war in eine Mischung aus Aufgeregtheit und Empörung umgeschlagen, die Uneingeweihte vermutlich mit dem Ausdruck hysterisch belegt hätten.
„Ich nehme überhaupt nichts an, sondern erwarte, dass Sie mir jetzt einfach klipp und klar sagen, was da los ist bei Ihnen.“
Andrea Grafunder klang weiterhin völlig ruhig. Sie hatte sich jedoch Mühe gegeben, dem Klang ihrer Stimme noch mehr Bestimmtheit zu verleihen.
Erst jetzt begriff Rogge, dass seine Vorgesetzte ernsthaft beunruhigt war und das verstärkte seine eigene Unruhe. Der Oberrat atmete tief durch.
Er spürte, wie die Innenflächen seiner Hände wieder feucht wurden.
So unauffällig wie möglich, versuchte er diese an seiner Hose trocken zu reiben, musste jedoch erkennen, dass der Mann an seiner Seite jede Bewegung aufmerksam registrierte.
Diese Beobachtung trug nicht dazu bei, seine innere Unruhe zu beseitigen.
Als er wieder in der Lage war, der Aufforderung seiner Vorgesetzten Folge zu leisten, hatte seine Stimme bereits einen krächzenden Klang angenommen.
Die Zunge klebte förmlich am Gaumen und er hatte Mühe klar zu artikulieren.
„Hören Sie, Ich habe mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun, absolut gar nichts.“
Noch während er diese Worte aus sich herauspresste, wurde ihm bewusst, dass er damit genau die Haltung an den Tag legte, die jeder kleine Kriminelle auch an den Tag zu legen pflegte, der auf frischer Tat ertappt wurde.
„Natürlich nicht Rogge, beruhigen sie sich bitte. Ich will doch nur wissen, was da los ist bei Ihnen.“
Dass seine Vorgesetzte es für geboten hielt und sich die Mühe machte, ihn in diesem geradezu mütterlichen Tonfall anzusprechen, trug erwartungsgemäß dazu bei, den Oberrat noch mehr in Rage zu versetzen.
Als ihm bewusst wurde, dass sich die Frau bereits zum wiederholten Mal darauf beschränkt hatte, ihn mit dem Nachnamen anzusprechen und dabei den in der Anrede üblichen Herrn ganz einfach wegzulassen, war er kurz davor, den Hörer aufzulegen.
Lediglich die fragend hochgezogene Augenbraue seines estnischen Kollegen veranlasste ihn dazu, von dieser spontanen Eingebung Abstand zu nehmen.
Wieder entstand eine kurze Pause, die Andrea Grafunder zu der Frage veranlasste: „Rogge, sind Sie noch dran?“
Der Angesprochene ließ die Frage unbeantwortet und atmete ein weiteres Mal tief durch, bevor er sich dazu entschloss, gegenüber seiner Vorgesetzten Klartext zu reden.
„Offen gesagt, ich habe keine Ahnung, was hier gespielt wird. Alles was ich Ihnen im Augenblick sagen kann ist, dass hier so eine kleine Nutte aufgetaucht ist, die behauptet hat, dass ich ihr das gesamte Material zugespielt haben soll.“
„Und diese Zeugin ist jetzt tot. Habe ich das soweit richtig verstanden?“
Die Stimme seiner Vorgesetzten klang weiterhin betont sachlich, wenngleich nach Rogges Wahrnehmung nur noch wenig besorgt.
„Ist das richtig?“
Die Nachfrage stürzte den Oberrat in Verwirrung.
„Ob was richtig ist?“
„Ich frage Sie, ob es richtig ist, dass die Zeugin sich kurz nach ihrer Aussage in ihrer Zelle umgebracht hat?“ Andrea Grafunder gab sich die allergrößte Mühe, ihren Gesprächspartner auf seine tatsächliche Situation aufmerksam zu machen. Aber erst nachdem der im zweiten Anlauf begriffen hatte, dass seine Vorgesetzte mit der Zeugin die gleiche Person meinte, wie er, als er von der kleinen Nutte gesprochen hatte, wurde dem Oberrat wirklich bewusst, dass seine Lage derzeit ein wenig prekär war.
„Ja, was soll ich dazu sagen? So wurde mir das auch berichtet.“
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Hören Sie zu, ich habe Anweisung gegeben, dass die Botschaft informiert wird und darum gebeten, dass sich jemand vor Ort um Sie kümmert.“
Rogge traute seinen Ohren nicht.
Diese Ankündigung konnte eigentlich nichts anderes bedeuten, als dass seine Chefin davon ausging, das er festgenommen sei.
Fragend blickte er seinen estnischen Kollegen an.
Doch der zuckte nur ebenso fragend mit den Schultern. Sein Gesichtsausdruck verriet sogleich, dass er nicht zu wissen schien, worum es gerade ging.
Der Blick des Oberrats wanderte weiter zur Tür des Raumes, in dem er sich augenblicklich befand.
Verblüfft nahm er wahr, dass diese inzwischen nicht nur offen stand, sondern dazu noch immer von zwei Uniformierten ausgefüllt wurde.
„Soll das heißen, Sie glauben dieser Nutte und wollen mich hier festhalten?“
Rogge hatte die Frage direkt an seinen estnischen Kollegen gerichtet, jedoch ohne dabei die Sprechmuschel des Hörers abzudecken.
Entsprechend überraschend kam für ihn die verständnislose Rückfrage Grafunders.
Da er voll darauf konzentriert war, die Reaktion des estnischen Polizisten zu erfassen, nahm er deren Worte nur als unbestimmtes Quäken im Hörer wahr, versuchte diese Unaufmerksamkeit jedoch sogleich wieder auszubügeln.
„Entschuldigung, was haben sie gerade gesagt?“
Während er sich nun darauf konzentrierte, den Worten seiner Abteilungsleiterin und Chefin zu lauschen, wiederholte sich dasselbe Spiel nur seitenverkehrt.
Jetzt übersah und überhörte er die Antwort des Esten. Immerhin gelang es ihm dafür zu verstehen, was seine Vorgesetzte ihm zu sagen hatte, auch wenn das für ihn wenig schmeichelhaft war.
Sie verbat sich energisch seinen Ton, klärte ihn darüber auf, dass nicht sie, sondern wenn schon dann die Kollegen aus Estland seine Festnahme veranlasst hatten und forderte ihn dazu auf, „sich jetzt gefälligst einer anderen Ausdrucksweise zu befleißigen.“
Im gleichen Moment brach die Leitung zusammen und das Gespräch war beendet. Rogge hatte alle Zeit der Welt, sich auf das Geschehen vor Ort zu konzentrieren.
Das wiederum ließ keinen Spielraum für Interpretationen. Vermutlich auf ein entsprechendes Handzeichen seines inzwischen wie bedauernd mit den Schultern zuckenden Kollegen aus Estland hin hatten sich die beiden Uniformierten vom Türrahmen weg zum Schreibtisch bewegt, an dem sich Rogge niedergelassen hatte. Dort nahmen sie sogleich eine auch für den Kriminalbeamten aus Deutschland so vertraute Pose ein, dass auch für ihn keinerlei Zweifel daran zurückblieben, wie die von ihm zuvor gestellte Frage zu beantworten war.
Umso größer war die Überraschung, als sein Kollege sich ihm mit um Verständnis bittender Miene zuwandte und ihm beide Beamten namentlich vorstellte und sich dafür entschuldigte, dass beide „leider nur wenig deutsch sprechen.“
„Wir haben die beiden Beamten zu ihrem Schutz abgestellt,“ klärte er Rogge auf und bat ihn dringend „nichts ohne ihre Begleitung zu unternehmen.“
Den verständnislosen Blick des Deutschen missverstehend, entschuldigte sich der Este für „die Panne mit dem jungen Mädchen“ und machte deutlich, dass er auf jeden Fall vermeiden möchte, seinen Kollegen am kommenden Morgen aus irgendeinem Gewässer fischen zu müssen.
„Ansonsten hätten wir Ihnen anbieten müssen, hier bei uns zu übernachten, aber das wäre ja wohl kaum in ihrem Sinne gewesen, nicht wahr?“
Der estnische Kollege lachte, wie Rogge fand, ein wenig gequält.
Angesichts der mit der Auskunft verbundenen Wendung seiner persönlichen Perspektive bereitete ihm diese Beobachtung jedoch keinerlei Kopfzerbrechen.
Und auch der Polizeioffizier beeilte sich ihm beruhigend mitzuteilen, dass seine beiden Begleiter sich bereits im Hotel aufhalten.
Gleich nachdem sich beide Beamten abschließend darauf verständigt hatten, wann sie sich am kommenden Tag treffen würden, beeilte sich Rogge, in dem Dienstwagen Platz zu nehmen, der für ihn bereit gestellt war.
Der Beamte aus Deutschland war froh, einem Missverständnis aufgesessen zu sein und genoss daher geradezu die Fahrt durch das abendliche Tallin.
Die Phase der Hochstimmung hielt jedoch nur solange an, bis der Wagen an einer roten Ampel halten musste. Hier glaubte Rogge seinen Augen nicht zu trauen, als unmittelbar in dem Moment, in dem die Signalanlage wieder auf grün geschaltet hatte und der Wagen sich erneut in Bewegung setzte, direkt neben ihm ausgerechnet die junge Frau auftauchte, deren Selbstmordversuch ihm zuvor berichtet worden war. Dass hier ein Irrtum ausgeschlossen war, zeigte ihm die Reaktion der angeblichen Studentin. Sobald sie den auf dem Beifahrersitz platzierten Mann ebenfalls erkannt hatte, senkte sie den Blick, wandte sich abrupt ab und eilte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Noch bevor es Rogge gelang, den Fahrer seines Wagens zum Halten zu veranlassen, war die junge Frau bereits wieder in der Nacht verschwunden. Immerhin trug das gerade Erlebte von nun an dazu bei, Rogge die weitere Fahrt noch bewusster wahrnehmen zu lassen. Genau diese bewusste Wahrnehmung wiederum ließ ihn nach einiger Zeit daran zweifeln, dass ihre Fahrt tatsächlich ins Hotel führen würde. War es möglich, dass die Strecke vom Polizeihauptquartier bis in die Unterkunft in dieser kleinen Stadt länger als eine Dreiviertelstunde dauern konnte?