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Ein Spaziergang
ОглавлениеNeujahr. Ich ertappe mich dabei meinen Spaziergang nicht nur mit Papa, sondern insgeheim auch mit dir zu unternehmen. Zumindest in meinen Gedanken begleitest du Papa und mich auf unserem ersten Spaziergang im neuen Jahr. Jeder Schritt der feste Vorsatz dich wieder sehen zu wollen, den ersten Schritt zu wagen, dich wieder in die Arme zu schließen. Erinnerungen steigen in mir auf. Erinnerungen an die Zeit als du noch unser Junge warst. Als wir noch miteinander gesprochen hatten. Die Zeit vor deinem Kontaktabbruch.
Es ist kalt, bitterlich kalt und doch gelingt es der Sonne wärmende Lichtblitze zwischen kahlen Ästen auf mein Gesicht zu zaubern. Hell, dunkel, hell, dunkel, ein ganzes Stück hell, dann wieder schattig dunkel. Von weitem erkenne ich eine Gestalt – ein junger Mann mit einem Kinderwagen. In einem Bruchteil von Sekunden scanne ich seine Silhouette – könntest es du sein? Bist du es? Mein Sohn, unser Sohn mit unserem Enkel?
Wehmut macht sich breit. Wehmut, die sich mit jedem Schritt den wir uns aufeinander zubewegen mehr und mehr in hoffnungsvolle Erwartung dann aber in unbeschreibliche Furcht verwandelt. Was, wenn du es wirklich bist? Wie sollen, wie wollen, wie würden wir dich begrüßen? Wie ansprechen? Wie würdest du reagieren? Käme es zum Streit? Fielen wir uns in die Arme? Oder zeigtest du uns die kalte Schulter und gingst wortlos an uns vorbei? Was wäre schmerzhafter? Gingst du an uns vorbei? Ohne stehen zu bleiben? Würde ich weinen? Schreien? Toben? Mich in Vorwürfe verstricken und Papa davon abhalten dich zu packen und einfach festzuhalten?
Was wenn du es bist der da auf uns zuschob, mit seinem Kinderwagen, alleine und irgendwie schwankend wie ein Teddybär. Was würde ich sagen, wie auf dich zugehen? Nach so langer Zeit?
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und Papa spürt meine Anspannung. Wir sprechen schon seit geraumer Zeit nichts mehr, genauer gesagt, seitdem du dich in unserem Blickfeld befindest. Hat er wohl das gleiche Gefühl wie ich, die gleiche Hoffnung, die gleiche Angst. Papa starrt ebenfalls auf den jungen Mann der uns da entgegenkommt. Keiner von uns spricht es aus. Nur unsere Hände fassen einander immer fester zu. Bis, ja, bis der junge Mann so nah ist, dass wir erkennen können, dass er dir sehr ähnlich sieht. Gleiche Größe, gleicher Gang und doch so ganz anders.
Ein Anderer – nicht du! Fragend und etwas vorwurfsvoll blickt mir der junge Mann ins Gesicht. Er hat wohl gemerkt wie lange ich ihm andauernd ins Gesicht geschaut hatte. Unausweichlich, starr und ohne mit den Wimpern zu schlagen oder meinen Kopf auch nur einen Zentimeter nach links oder rechts gedreht zu haben. Vielleicht hat er auch meine Erwartung oder meine Angst gespürt, die ihm vermutlich kalt den Rücken herunterlief. Ich nicke ihm zu. Lächle kurz als wir auf gleicher Höhe aneinander vorbeigehen. Hätte ich mich entschuldigt für meine Blicke, er hätte es nicht verstanden. Wieder das Lichterspiel: hell, dunkel, hell, dunkel. Unsere Schritte werden schneller und fester. Fast so, als würden wir unsere letzten Kraftreserven mobilisieren um überhaupt weitergehen, weiterleben zu können. Eine Träne rollt mir über die Wange. Ich wische sie mir schnell weg. „Die verdammte Neujahrssonne brennt schon richtig in den Augen“. Papa drückt meine Hand, ganz fest. Er schluckt laut. Weiß er doch, dass es nicht die Sonne war, die für meine Tränen verantwortlich war.
Ohne Worte setzen wir unseren Weg fort.
Am Wegesrand eine verwelkte Rose. Rot, leuchtend wie aus Wachs aber welk und ohne Leben. Wir setzen unseren Spaziergang fort im Lichterwechsel hell, dunkel, hell, dunkel – In der Hoffnung dir zu begegnen.