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Besitz und Eigentum
ОглавлениеAuf dem Rückweg von meiner Therapeutin steige ich zwei Stationen früher aus dem Bus aus. Brauche Bewegung. Brauche Luft. Ihre Worte aus der vergangenen Sitzung beschäftigen mich auch noch als ich mich spontan dazu entscheide über den Wochenmarkt zu schlendern.
An einem üppig gefüllten Blumenstand bleibe ich stehen. All das Rot, Orange, Gelb und Maigrün erfreuen meine Augen und ich spüre wie sehr mir diese Buntheit und Vielfalt hilft meine Trauer auszuhalten.
Im Hinterkopf wiederhole ich ständig das zuvor gehörte: „Nehmen Sie den Druck raus! Geben Sie Ihrem Sohn Zeit, Zeit die er braucht um zurückkommen zu können!“.
„Druck herausnehmen“? Allein schon das Wort „Druck“ hat etwas Machtvolles, Aktives für mich. Ich fühle mich aber schon lange, sehr lange nicht mehr machtvoll, ganz zu schweigen von aktiv. Seit deiner letzten WhatsApp-Nachricht, in der du mir geschrieben hattest, dass du keinen Kontakt mehr haben möchtest.
„Allein schon ihr mentaler Wunsch, ihr andauerndes Grübeln und Denken an Ihren Sohn verursacht Druck – bei Ihnen und sicher auch bei Ihrem Sohn“ meinte die, die es ja gelernt haben muss, mit traurigen Seelen umzugehen.
Ich schaue mir die üppig gefüllten Blumen in den verschiedenen Kübeln an und versuche mich abzulenken indem ich beginne, den Duft der Blumen in mir aufzunehmen. Aber sie riechen kaum. Komisch, die Blumen in den Kübeln riechen gar nicht oder sagt man da „duften“? Für einen kurzen Moment huscht ein Lächeln über meine Lippen, weil mir die Frage nach dem richtigen Wort „riechen“ oder „duften“ so banal und nebensächlich erscheint. Wie schön wäre doch das Leben, wenn dies mein einziges Problem wäre, über „riechen“ oder „duften“ zu entscheiden.
Langsam gehe ich weiter und mein Kopfkino beginnt von Neuem. Die Worte meiner Therapeutin aus der letzten Sitzung beschäftigen mich mehr als ich mir eingestehen möchte.
„Es gibt Kontaktabbrüche bei denen die verlorenen Kinder auf einmal ganz unverhofft nach 5,6,7 oder 8 Jahren plötzlich mit einem Blumenstrauß wieder vor der Türe ihrer Eltern stehen. Ganz so, als wäre nichts geschehen. Als hätte man sie einfach kurz mal aus dem Leben genommen und woanders hingesetzt.“. Wie ein Teddybär in einem Spielzeugladen, den man sich kurz mal aus dem Regal nimmt und dann wieder zurücksetzt bevor die Verkäuferin meckert, denke ich.
„Ja, und dann gibt es aber auch Fälle, da verschwinden diese wieder gefundenen Kinder ein zweites Mal. Wieder ohne Vorwarnung – wieder ganz unverhofft.“ klingt es weiter in meinen Ohren.
Das würde mir noch fehlen, nach Jahren wiederkommen ohne richtige Erklärung um dann wieder zu verschwinden. Dasselbe Spielchen von vorne? Nicht mit mir. Wut steigt in mir hoch – ich male mir aus, wie es wäre, wenn du plötzlich wieder vor meiner Türe stehen würdest. Meine Wut wird größer. Ein Gefühl, das ich lange nicht zugelassen habe. Ich spüre aber wie sehr sie mich erleichtert. Wie sehr sie mich wieder zum Leben erweckt. Zum ersten Mal kommen mir Beschimpfungen in den Sinn, die ich dir an den Kopf werfen würde. Mit der Wut beginnt mein Adrenalin zu steigen und ich fühle mich zum ersten Mal nicht mehr als Opfer. Ich fühle Stärke. Ein Gefühl, das ich schon sehr lange nicht mehr hatte. „Es ist besser du bleibst da wo der Pfeffer wächst“, schnauze ich in Gedanken und stelle mir die Situation unserer ersten Begegnung vor. Kommen, gehen, kommen, gehen – es würde mich zerstören. Kaputt machen. Kaputt und handlungsunfähig. In diesem Moment wird mir klar, was meine Therapeutin mit „Druck herausnehmen“ meinte. War ich gerade dabei? Könnte ich wirklich loslassen? Keine Erwartungen mehr, kein Warten, kein Harren?
Ich bin besessen, ich war besessen von dem Wunsch, dass alles wieder so wie früher wird. Mein Druck, der sicher auch dir mental und unbewusst Druck verschafft.
Ich spaziere weiter über den Markt und schaue mir ganz bewusst frisches Obst, Weine, Brot und Käse an um mich abzuregen. Mein Versuch mich abzulenken scheitert kläglich als neben mir ein kleiner Junge mit seinem jungen Vater aufkreuzt. Er durfte im Alter meines Enkels sein und hatte auch einen blonden Schopf und eine lustige Brille auf der Nase. Blau. Blau und rund. So wie Adrian eine hat. „Du Papa, kaufst du mir `nen Apfel?“
Der junge Vater beugt sich zu seinem Sohn herunter „Geh mal rüber zu Oma, die hat die Tasche mit dem Portemonnaie…“. In diesem Augenblick steigen Tränen in meine Augen. “Schon wieder versagt!“ denke ich. Ich wollte doch „Druck“ herausnehmen, tapfer sein, an mir arbeiten. Scheiße, denke ich, wenn ich doch nur endlich drüberstehen könnte. In meinem Hals macht sich ein schmerzender dicker Kloss breit. Dennoch ist mein Verlangen mit dem Jungen in Kontakt zu treten größer. Ich lächle ihn an und zwinkere mit den Augen.
„Magst du auch Äpfel?“, fragt mich eine helle Stimme so rein und unschuldig.
„Ja, Äpfel sind lecker und auch sehr gesund!“ etwas Besseres fällt mir gerade nicht ein.
Dem jungen Vater ist die Frage seines aufgeweckten Sohnes etwas peinlich und er fügt hinzu „Jetzt mag er einen Apfel und im nächsten Moment etwas Anderes“
Nickend stimme ich zu „Ja, so sind die Kinder. Das Recht der Jugend sich nicht festlegen zu müssen“, ich winke übertrieben und der kleine Junge ruft mir ein freundliches „Tschüssli!“ hinterher. Auf dem Weg zur U-Bahn krame ich nach einem Taschentuch in meiner Manteltasche. Ein 50 Cent Stück fällt mir beim Herausziehen des Taschentuches heraus. Mitten auf dem Marienplatz. Es fällt blitzschnell, kommt auf der Kante auf und rollt wie ein Laib Käse schnurstracks in großen Achterschwüngen herum. Es befinden sich viele Menschen auf dem Platz und irgendwann kann ich dem Geldstück nicht mehr mit meinen Augen folgen. Wo ist es nur hin gerollt? Ich weiß wohl, dass es nicht weit sein kann. Es muss ja irgendwo innerhalb eines Radius von, sagen wir mal, zwei oder drei Metern sein, aber für meine Augen ist es unauffindbar. Meine Blicke suchen noch eine ganze Weile starr nach den möglichen Ecken und Nischen in denen sich das Cent Stück versteckt haben könnte. Nichts. Weg.
Ich schnäuze dezent in mein Taschentuch und gehe in Richtung U-Bahn. Fast so wie mit dir, geht es mir durch den Kopf. Ich weiß, dass du nicht weit von mir bist und dennoch habe ich dich verloren. Weg. Einfach weggerollt.
Verlieren. Etwas verlieren, philosophiere ich weiter. Verlieren kann man nur etwas wenn man es besessen hat. Hatte ich dich, als mein Kind wirklich besessen? Der Unterschied zwischen „Besitz“ und „Eigentum“ ist der, dass man ausschließlich Gegenstände besitzen kann und von Eigentum nur dann spricht, wenn man auch die Rechte über eine Sache besitzt. So, oder so ähnlich hatte ich es einmal in meiner Schülerzeit erklärt bekommen. Richtig, da du kein „Gegenstand und keine Sache“ bist, kann und darf ich auch nicht von Besitz, ganz zu schweigen von „verlieren“ sprechen. Ich habe auch kein Recht, kein Anrecht auf dich. Kein Recht darauf von dir geliebt zu werden. Trotz alledem fühlt sich deine Abwesenheit für mich als großer Verlust an. Vielleicht bist du ja auch nur etwas weiter weggerollt, von mir, von deinem Zuhause. Vielleicht findet dich ja jemand, der deinen Wert zu schätzen weiß und der dich liebevoll aufhebt und in eine warme Tasche steckt.
Als endlich meine U-Bahn einfährt wird mir klar, dass ich noch sehr lange brauchen werde und viele Sitzungen bei meiner Therapeutin nötig habe, um endlich mit deinem, mit unserem Verlust klar zu kommen und loszulassen.