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Kapitel 2
ОглавлениеSchmutzige Wäsche
Als Nicht von Ungefähr aus der Droschke stieg, befand er sich vor einem dieser typischen, neueren Gebäude aus gelbbraunem Klinkerstein, die allzu sehr den Ruß, der im Winter durch die Kamine der umstehenden Bauten entlassen wurde, richtiggehend anzogen. Die Fassade hätte wirklich wieder einmal eine gründliche Reinigung nötig gehabt, fand der Detektiv. Wirklich hing immer noch als Kennzeichen ein Holzschild, auf dem ein Fass abgebildet war, über der breiten Eingangstür, das auf den vorherigen Besitzer des Unternehmens hinwies. Ein schmiedeeiserner Türklopfer war zwar angebracht, doch als Nicht gegen das Türblatt drückte, öffnete es sich in gutgeölten Angeln, ohne ein Geräusch wiederzugeben. Gleich konnte Nicht von Ungefähr fröhliche Frauenstimmen erkennen, die von weiter weg zu kommen schienen. Durch einen langen Flur, von welchem beidseitig wiederum Türen abgingen, es mochte sich höchstwahrscheinlich um Büroräume oder Ähnliches handeln, betrat der Detektiv schließlich die Halle und bemerkte, dass er auf einer Art Empore stand, die wohl sechs Meter über dem eigentlichen Boden rings um einen enormen Raum herum, angebracht war.
Unten stand ein riesiger Zuber, aus robustem Eichenholz, über dem eine aus Balken und Metallteilen bestehende, abenteuerliche Konstruktion beinahe zu schweben schien. Das Ungetüm sah aus wie eine Art Kran und im Prinzip war dies auch eines der Funktionen, die es zu erfüllen hatte. An diesem stählernen Gerüst war eine Art überdimensionierter Quirl aus ca. fünfzehn, hölzernen Paddeln angebracht, die sich mit Hilfe einiger Zahnräder und Pleuelstangen im und gegen den Uhrzeigersinn, in Bewegung setzen ließen. Gerade holten zwei Männer den Rührer mittels eines starken Taus und Flaschenzügen ein und schwenkten ihn zur Seite, wobei das feuchte Holz tropfend eine gewölbte Wasserspur auf dem gepflasterten Boden der Halle hinterließ. Die Schar fröhlicher Mädchen war auf Abstand gegangen, als der Quirl heraufgezogen worden war, näherten sich nun wieder dem Bottich, der bestimmt fünf Meter an Höhe aufwies, dann wurde an einem, an der Unterseite befestigtem, eisernem Rad von zwei der jungen Frauen gedreht, woraufhin mit einem lautem Blubbern das Waschwasser in ein Röhrensystem floss, das weiter hinten aus der Halle zu führen schien.
Nicht von Ungefähr beobachtete fasziniert das Geschehen und bemerkte erst mit einiger Verspätung, wie schwül es hier drinnen doch war, die ganze heiße feuchte Luft war in die Höhe gestiegen; dort unten mochte es wohl erträglicher sein. Dann bemerkte er den eigentlichen Verursacher der Hitze, ein riesiger, stählerner Tank, unter welchem ein enormer gusseiserner Herd stand, in dem ein wackeres Feuer brennen musste. Qualm und Ruß wurden mittels eines dicken Ofenrohres durch die Außenwand abgeleitet. Eine zweite Heizanlage war dafür verantwortlich, die Mechanik des Quirls zu bewegen, wie Nicht nun begann zu vermuten. Auf diese Weise war es jedenfalls möglich, erhebliche Mengen an Wäsche zu bewältigen, die jetzt von den Mädchen durch eine Klappe am Boden des Bottichs befördert, und nach und nach hinüber zur Mangel verbracht wurde, wo das Wasser, das die Stoffe aufgesaugt hatten, mittels mehrer waagrechter, gegenläufiger Walzen herausgepresst wurde. Diese schwergängige Konstruktion wurde allerdings nicht von Dampfkraft in Bewegung gesetzt, sondern musste mittels einer großen Kurbel betätigt werden. Dies schien dem Detektiv eine etwas schwere Arbeit für zarte Frauenhände zu sein, doch war die Kurbel mit mehreren Zahnrädern und Antriebsriemen so gut übersetzt mit den Walzen verbunden, dass die beiden Mädchen, die sich diese Arbeit teilten, allem Anschein nach wenig Mühe damit hatten.
„Was mache dann sie hier?“ Nicht von Ungefähr erschrak, als er so unvermittelt von hinten angesprochen wurde. Er hatte keine Schritte nahen hören und drehte sich nun ruckartig auf dem Absatz um. Vor ihm stand ein kleiner, seriös gekleideter Herr, der ein Klemmbrett in der Hand hielt, auf dem ein wahres Zettelgebirge befestigt war.
„Äh, ja“, stotterte Nicht. „Vielleicht können sie mir ja weiterhelfen. Ist denn die gestrige Wäschelieferung des Excelssior schon gereinigt worden?“, fragte er dann, woraufhin der Herr in den besten Jahren, der noch den alten, beinahe schon ungebräuchlichen Dialekt der Weentbehler Urbevölkerung sprach, stirnrunzelnd in seinem Zettelberg blätterte.
„Gestärn, gestärn, am fünfte also …! Na, die Säcke müsste noch obbe stehen, wenn ich das richtisch seh!“
„Oben?“, fragte der Detektiv.
„Ja, obbe eebe!“
„Könnte ich vielleicht einmal etwas nachsehen? Es wird das Diadem der Fürstin von Gurkenfels vermisst. Die Leitung des Hauses ist in hellem Aufruhr. So etwas ist bisher noch nie vorgekommen! Die Frau schreit Zeter und Mordio!“
Der Mann führte Nicht von Ungefähr aus der Halle hinaus, in einen weiteren Flur, von dem wenige Türen noch abgingen. Dann öffnete er den Eingang zu einer Art Verschlag, in welchem haufenweise Säcke bereitstanden, die die Wäsche aller möglichen hauptstädtischen Institutionen zu beinhalten schienen.
„Sie waschen sogar die Uniformen der Garde!“, stellte der Detektiv verwundert fest, als er auf einigen der Behältnisse den Stern der kontinentalen Polizeibehörde erkennen konnte.
„Ja, seit Neuestem! Allerdings selbstverständlisch nur im Schongang. Die Herrn würdde sonst allzuschnell in ihre Amtskleidung net mehr neipasse!“, merkte der Wäschereiangestellte nun an. Die Mitglieder der Garde waren bekannt dafür, sich den lieben langen Tag die Mägen mit frittierten Pfannkuchen vollzustopfen; dies behaupteten zumindest lästerliche Zungen, die sich gerne mal über den mangelnden körperlichen Schwung der Gendarmen echauffierten.
„Ah hier ‚Hotel Excelssior‘! Da drübbe stehn se ja!“
Nicht von Ungefähr folgte der ausgestreckt zeigenden Hand des Mannes und konnte tatsächlich in der Ecke ungefähr zwanzig große Säcke stehen sehen, die diese Aufschrift trugen. ‚Da hab ich ja was zu tun!‘, dachte er gerade entmutigt, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte.
„Marianne, was machst denn du hier?“, rief er gleich darauf überrascht aus, als er die Person, die so plötzlich hinter ihm stand, erkannte.
„Ich bringe die Testwäsche“, erwiderte die ältere Frau, sie trug ganz undamenhaft eine Art blauer Latzhose und ihre grauen Locken lugten unter dem Kopftuch hervor. Irgendwie wirkte sie mehr wie ein Pirat aus einem Schundroman, als wie die oberste Putzfrau im Palast des Reichsverwesers Puntigam.
„Die Testwäsche?“
„Ja, klingt komisch, wie?“, meinte Marianne, „Alles muss man selber machen, immer dasselbe!"
„Und wieso Testwäsche?“, fragte Nicht, der sich noch immer hierauf keinen Reim machen konnte.
„Äh, ja, die Sache ist ganz einfach! Ich habe nun im Auftrag des Ministers Osthoven etliche Wäschestücke mit voller Absicht vollkommen eingesaut, um die Waschkraft der Maschine auf die Probe zu stellen, um eventuell aus dem Resultat dieser Versuchsanordnung ablesen zu können, was an den Gerätschaften noch verbesserungswürdig ist. Du musst wissen, diese sogenannte Waschmaschine ist wieder mal eine von Osthovens Erfindungen!“
„Ah, jetzt begreife ich“, erklärte der Detektiv. Er hatte schon so seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht mit den Erfindungen des jugendlichen Finanzministers Osthoven.
Es war erst ein paar Monate her, dass er eine merkwürdige Beobachtung gemacht hatte, Vorgänge, die im ehemals kaiserlichen Palast stattfanden. Neugierig, wie er als Detektiv nun schon von Beruf wegen sein musste, hatte er sich nächtens in das Gebäude geschlichen und schließlich entdeckt, dass keineswegs der Reichsverweser selbst es war, der dort oben vor den Fenstern seines Amtszimmers auf und abging, sondern lediglich ein mechanisches Abbild desselben. Ein künstlicher Puntigam sozusagen, konstruiert von eben jenem Minister Karl Osthoven, von welchem gerade die Rede gewesen war. Die ganze Geschichte war Nicht immer noch ein wenig peinlich. War nicht er selbst es gewesen, der den Mechanismus des künstlichen Menschen versehentlich beschädigt hatte, und dann mithilfe des Kammerdieners Humphrey, dem Uhrmachermeister Stundenruh und mit eben dieser Putzfrau Marianne, das Ding schließlich wieder in Gang hatte setzen können. Osthoven hatte diese Maschinerie konstruiert, damit der Reichsverweser, der sich gerne mal ein, zwei Tage eine Auszeit von den Regierungsgeschäften gönnte, nicht so schnell vermisst wurde. Besonders seit der Zeit, da es eine Gewohnheit der Touristen geworden war, von der Brücke über dem Weent aus, wenn sie einmal die Metropole besuchten, immer auch einmal einen Blick auf die Gestalt des Reichsverwesers zu werfen, der über ihr aller Wohlergehen doch so gütig wachte.
Erst bei dieser Gelegenheit war Nicht mit Marianne, dem Kammerdiener und dem Uhrmachermeister bekannt geworden und mittlerweile hatten sich echte Freundschaften hieraus entwickeln können.
„Kuck dir das mal an!“, Marianne hatte einen der Säcke geöffnet und einen langen, einstmals weißen Kittel daraus hervorgezogen. „Das ist einer der Arbeitsklamotten des Küchenmeisters. Und die Soßen, Fett und Eiweißflecken waren Osthoven noch nicht genug gewesen, ich sollte noch anständig Maschinenöl, Fischeingeweide und schwarzen Schlamasseltee draufträufeln!“
„Von Träufeln würde ich da ja nicht gerade sprechen!“, meinte Nicht von Ungefähr. Das arme Kleidungsstück war aber auch dermaßen von den verschiedensten brauntonigen Flecken übersät, dass man kaum mehr etwas von der Struktur des Stoffes erkennen konnte. „Stinkt auch wie die Pest!“, fügte er noch hinzu und konnte nicht den Impuls unterdrücken, sich bei diesen Worten die Nase zuzuhalten.
„Na ja, Osthoven sagte, es soll ein echter Härtetest sein!“
„Das ist es wirklich“, bestätigte ein nasal sprechender Privatdetektiv. „Sag bloß diese Wäscherei hier gehört unserem verehrten jugendlichen Finanzminister?"
„Nein, nein. Eigentlich befindet sie sich immer noch im selben Besitz wie zuvor die Böttcherei. Man hat gewissermaßen umgesattelt, und Osthoven spricht von einem sogenannten Fremdscheiß-Unternehmen, wenn ich das richtig verstanden habe?"
„Ein findiger, junger Mann, unser Finanzminister. Das muss ich schon sagen“, meinte Nicht von Ungefähr, nicht wenig Bewunderung schwang in seiner Stimme mit. Nicht nur war Osthoven der Erfinder so großartiger, mechanischer Wunderwerke, wie dem eines künstlichen Menschen, nein, auch mit so profanen Angelegenheiten, wie dem Problem mit der Wäsche, setzte er sich anscheinend auseinander. Wirklich löblich!
„Aber was machst du eigentlich hier, Nicht?“, fragte jetzt Marianne, die das verdreckte, stinkende Kleidungsstück wieder in den Sack zurückgesteckt hatte.
„Ich wühle in schmutziger Wäsche!“, meinte der Detektiv irgendwie resigniert klingend. In dem Moment, als er das gesagt hatte, war ihm wieder einmal bewusst geworden, dass ein Großteil des Berufes, den er für sich selbst ja gewissermaßen erfunden hatte, genau aus einer solchen, widerwärtig zu nennenden Tätigkeit bestand.
Nicht von Ungefähr weihte nun Marianne in den Entführungsfall ein, er hatte größtes Vertrauen zu der obersten Putzfrau des Kontinents. Obwohl sich die beiden, wie gesagt, erst wenige Monate kannten, hatte Marianne eine beinahe mütterlich zu nennende Rolle in Nichts Leben eingenommen. Seine eigene Mutter war ihm immer ein Rätsel geblieben und dies lag nicht nur daran, dass sie ihm seine eigentliche Abstammung so lange Zeit verschwiegen hatte. Laurentia von Ungefähr war immer schwergefallen die Mutterrolle auszuüben, was möglicherweise an ihrem gesellschaftlichen Stand liegen mochte. In den oberen adligen Kreisen war es verpönt, dem Nachwuchs gegenüber allzu viel Gefühl aufkommen zu lassen, da konnte auch Laurentia nicht raus aus ihrer edlen Haut, obwohl man nun nicht sagen würde können, Nicht hätte eine von Lieblosigkeit geprägte Kindheit hinter sich. Dennoch war immer ein gewisser Abstand zwischen Mutter und Sohn eingehalten worden, dies gehörte sich wohl nicht anders.
„Interessant, interessant!“, meinte Marianne nur lapidar, obwohl ihre Augen nicht verbergen konnten, wie aufregend sie diese Sache fand. „Solltest du nicht besser die Gendarmerie einschalten?“
„Nun, das hab ich diesen Knirpsen natürlich ebenfalls nahegelegt, doch waren sie der Meinung, besser die Warnung im Brief der Erpresser zu berücksichtigen.“
„Vielleicht haben sie ja recht damit. Ich habe noch keinen von denen zu Gesicht bekommen. Müssen ja putzige Kerlchen sein?!“
„Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob dies der richtige Ausdruck ist?! Sie scheinen mir durchaus ernstzunehmende Leute zu sein!“
„So einen würde ich zu gern auch einmal sehen!“, sagte Marianne jetzt mit leuchtenden Augen. „Aber wann kommt unsereiner schon mal ins Theater?“
Der Besuch des Weentbehler Staatstheaters war nun keineswegs den Honoratioren und den neureichen Manufakturbetreibern vorbehalten, längst hatten auch die Gattinnen von Handwerksmeistern ihr Faible für diese hohe Kunst entdeckt. Doch war es wohl für eine alleinstehende Frau, Marianne war seit vielen Jahren schon Witwe, noch dazu den niederen Kreisen entstammend, kaum angemessen, sich dort in Abendrobe unter die Herrschaft zu mischen.
„Dann gehen wir doch einfach mal hin! Ich durfte heute schon einmal der Probe der Schauspieler lauschen“, meinte daraufhin Nicht von Ungefähr, der, wie schon erwähnt, keineswegs an so etwas wie Standesdünkeln litt.
„Wenn du meinst“, erklärte zaghaft Marianne. „Aber wie ist das jetzt mit dieser Bettwäsche, nach der du suchst? Sehen wir doch einfach mal nach!“, schlug die oberste Putzfrau des Kontinents dann pragmatisch vor und schnappte sich den ersten, mit dem aufgenähten Emblem des Excelssior markierten Sack und leerte ihn gleich vor sich auf dem Boden aus.
Akribisch untersuchten beide nun die Wäsche, kein mit reichlich Blut besudeltes Laken oder Ähnliches war zu finden, daher stopften sie alles wieder zurück und nahmen sich das nächste Behältnis vor. Erst beim sechsten wurden sie schließlich fündig. Das Laken, das Marianne aus einem ganzen Berg von Wäsche sogleich herauszog, kaum dass die Sachen den Boden berührt hatten, war tatsächlich über und über mit bräunlichen Flecken bedeckt.
„Selbst in einer Hochzeitsnacht würde es wohl so blutig nicht zugehen!“, meinte die Putzfrau nur und hielt Nicht den Stoff vor die Nase.
Tatsächlich sahen das Laken und der Bettbezug, der augenscheinlich dazugehören musste, aus, als hätte man ein Ferkel darauf geschlachtet. Dieser arme Kammergarn hatte sich wohl ganz schön gewehrt, vermutete Nicht. Wie wäre es schön, wenn man auf irgendeine Weise anhand der Flecken würde feststellen können, ob es sich um das Blut eines einzelnen Menschen oder etwa mehrerer handelte. Das wäre zur Aufklärung von Verbrechen geradezu ein elementarer Fortschritt. Aber eine solche Vorgehensweise mochte noch weit in der Zukunft liegen, obwohl man in jüngster Zeit davon gesprochen hatte, dass es wohl verschiedene Arten von Blut geben musste; der Detektiv hatte erst kürzlich einen Artikel über dieses Phänomen gelesen. Ein Doktor der Medizin hatte Versuche mit Blutübertragung bei Unfallopfern gemacht, die unglaubliche Mengen des Lebenssaftes verloren hatten. Bei manchen Patienten schlugen diese sogenannten Transfusionen überraschend gut an und die Kranken waren wieder zu Kräften gekommen. Andere hatten weniger Glück, da das fremde Blut, kam es in den Venen der Todgeweihten an, auf der Stelle zu verklumpen begann, und der Tod des Patienten sich somit nicht verhindern ließ. Doch war man anscheinend noch nicht soweit, dass man genau einordnen konnte, woran dies eigentlich lag.
Als Nicht von Ungefähr den karierten Bettbezug schüttelte, das Excelssior hatte wohl eine Vorliebe für Karos, wie Nicht schon hatte bemerken können, fiel ein kleiner Gegenstand klimpernd auf den Dielenboden der Abstellkammer. Die einzelne jämmerliche Gasfunzel machte es schwer das Ding zu finden, schließlich bückte sich Marianne und hielt eine Art Anstecker in Kreuzform in Händen. Da weder Nicht noch seine Freundin erkennen konnten, um was es sich handelte, traten sie hinaus auf den Gang, wo ein Fenster hinaus auf den Hinterhof der Wäscherei blickte. Tatsächlich ein Kreuz, dachte Nicht von Ungefähr, und keinesfalls nur eins von der Sorte, die sich ein frommer Mitbürger anstecken oder um den Hals hängen würde. Dazu war das Ding erstens viel zu schwer, es musste aus hochkarätigem Gold gefertigt sein, außerdem zeigte es ein Emblem, das der Detektiv nun auf der Stelle identifizieren konnte. Es handelte sich um ein Tatzenkreuz, in dessen Mitte der kaiserliche Adler Schwert und Reichszepter in seinen Klauen trug. Den Schnabel weit aufgerissen, wirkte das Tier eher wie ein Wesen aus der Welt der Legenden, als wie ein wirklicher Vogel, der in Dr. Brehmers Lexikon der Fauna und Flora des Kontinents zu finden gewesen wäre. (Obwohl selbst bei Brehmer, besonders in den frühen Auflagen seines Werks, Wesen auftauchten, deren Existenz auch heute von keinem anderen Forscher jemals hatte bestätigt werden können)
„Was ist das, ein Orden?“, fragte Marianne, die von derlei Dingen nicht die geringste Ahnung hatte.
„In früheren Zeiten wurde ein ähnlich aussehendes Schmuckstück an Menschen vergeben, die sich in höchstem Maß um das Kaiserreich verdient gemacht hatten!“, erklärte Nicht der Putzfrau. „Hierbei jedoch handelt es sich augenscheinlich um eine Nachbildung, der Schnabel des Wappentiers ist im Original geschlossen!“
Heribert von Ungefähr, dem Opa von Nicht, war die Ehre zu Teil geworden, einen solchen Orden von Alphons dem Vielgepreisten verliehen zu bekommen, für Verdienste für Volk und Vaterland, wie die Formulierung damals lautete. Heribert hatte die äußersten, hinteren Regionen der Nebelberge erkundet und mit dafür gesorgt, dass auch diese weit entfernten Untertanen, die damals noch quasi als Halbwilde angesehen wurden, ebenso den Kaiser als Herrn annahmen, wie der Rest des Kontinents. Die Methoden, mit denen er diese Unterwerfung durchgesetzt hatte, wären durchaus zweifelhaft zu nennen gewesen. Es mussten viele Hinterbergler in den dort beinahe das ganze Jahr über fallenden Schnee gebissen haben.
„Und was ist es nun?“, fragte Marianne ungeduldig. Wenn ihr was an Nicht auf die Nerven ging, dann war es, dass man ihm immer alles aus der Nase ziehen musste.
„Es handelt sich hierbei um das geheime Zeichen der Mitglieder der MWGFDK, einer verbotenen Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die alte Ordnung wiederherzustellen.“, erklärte Nicht von Ungefähr.
„MWG …, was bitte?“
„MWGFDK! Monarchie Wiederherstellungsgesellschaft, Freunde des Kaisertums e. V!“
„E. V.?“
„Na ja, sie haben sich tatsächlich ins Vereinsregister eintragen lassen, allerdings ist keine von den Personen, die dort als Vorstand angegeben sind, existent!“
„Warum dann der Quatsch?“ Marianne konnte sich wirklich gar keinen Reim auf die Sache machen.
„Ich denke, es handelt sich bei diesen sogenannten reaktionären Kräften allesamt um Mitglieder der ältesten Adelsfamilien und dort muss eben alles seine Ordnung haben. Außerdem hätten sie sich nach Wiedereinführung der Monarchie ja für gemeinnützig erklären lassen können!“, legte nun der Detektiv seine eigenen Gedanken diese Angelegenheit betreffend dar.
„Ach“, sagte Marianne nur, sie verstand mal wieder kein einziges Wort.
„Noch dazu leiden manche der Mitglieder der Organisation an akuten esoterischen Schüben, so hat mir zumindest ein alter Schulkamerad erst neulich berichtet. Einige von ihnen scheinen zu glauben, dass Alphons der Vielgepreiste keineswegs dem Schwert des Henkers zum Opfer gefallen ist, sondern dass er heute noch leben soll und nur darauf wartet, wieder das Schicksal des Kontinentalvolkes zu bestimmen; dann, wenn verschiedene Umstände eintreten würden!“
„Umstände? Welche Umstände denn?“, fragte Marianne, der dieses ganze Gebrabbel immer absurder vorkam.
„Ja, das habe ich auch nicht so ganz verstanden. Aber eigentlich ist es doch immer dasselbe. Irgendein Schwert muss aus einem Felsen gezogen werden, dann würde das Wasser der Meere sich in Blut verwandeln, Bullenwiesel würden wie Hagelkörner vom Himmel fallen, die aphalusische Wüstenei würde zufrieren und der Sand sich daraufhin in pures Gold verwandeln, das Bier würde nach Pfefferminz schmecken und dergleichen mehr. Man kennt das doch!“
„Äh ...“, Marianne hatte von all dem niemals gehört, konnte sich Bier mit Pfefferminzgeschmack aber durchaus vorstellen.
„Jedenfalls kann ich kaum glauben, dass der entführte Theatermensch irgendetwas mit dieser adligen Bande von Querköpfen zu tun haben kann“, stellte Nicht von Ungefähr fest. „Eher denke ich, der Mann hat einem seiner Angreifer dieses Kreuz vom Revers gerissen, als er sich gegen seine Entführung gewehrt hat!“
„Das klingt logisch!“, meinte Marianne. „Aber tragen diese Leute, wenn sie sich doch so konspirativ verhalten, dann ihre Abzeichen so offen am Revers?“
„Das Kreuz ist leicht zu verwechseln mit dem Parteiabzeichen der KKP, die man vielleicht als so etwas, wie den legalen Arm dieser Organisation bezeichnen könnte“, erklärte der Detektiv.
„KKP?“
„Kaiserliche Kontinental Partei, Marianne. Nie davon gehört?“
„Aber warum sind die denn nicht verboten?“ Die Putzfrau gehörte zu der Sorte Mensch, die sich für Politik in keiner Weise zu interessieren schien.
„Unser verehrter Reichsverweser ist der Meinung, dass es am besten sei, in seinem Parlament auch Gruppen zuzulassen, die sich für die alte Ordnung aussprechen. Er glaubt aus unerfindlichen Gründen, so etwas gehöre zu dem Gesellschaftssystem, das ihm vorschwebt, irgendwie dazu. Er nennt es Demokratur, glaube ich!“
Nicht hätte zugeben müssen, dass auch er sich niemals sonderlich für Politik interessiert hatte, doch war er immerhin schon unter der Regentschaft Puntigams groß geworden und er vertraute im Grunde dem Reichsverweser. Der schien ihm ein durch und durch redlicher Mann zu sein. Und wenn es eins gab, das Nicht keinesfalls wollte, so war es, dass die sogenannte alte Ordnung wiederhergestellt würde. Zustände wie damals, als das gemeine Bauernvolk noch das Joch der Leibeigenschaft hatte tragen müssen, schienen dem Spross von Adel, in höchstem Maße unerträglich zu sein. Nein, dorthin zurück, sollte der Weg auf gar keinen Fall gehen!
„Na denn“, meinte Marianne daraufhin. Irgendwie schien sie die Sache nicht mehr zu interessieren. „Aber ich würde doch gerne wissen, ob du bei der Entführungsgeschichte weiterkommst?“
„Ich halt dich auf dem Laufenden!“, sagte Nicht und das meinte er ganz ernst. Vielleicht kannte sich Marianne, was Politik betraf, nicht gerade besonders gut aus, aber sie hatte Fähigkeiten, die ihm durchaus von Nutzen sein konnten. Sie war eine technisch sehr versierte Person, was Nicht wieder einmal bestätigt fand, als er, kurz nachdem er sich von der reichsverweserischen obersten Putzfrau getrennt hatte, ihre Stimme aus der Waschhalle heraufdröhnen hörte.
„Meister, die Pleuelstange ist mit dem Gorbelknirz zu lasch verbunden. Ich bräucht‘ mal den zwanziger Rohrschlüssel!“
Den Weg zurück in sein Büro bewältigte Nicht von Ungefähr dann zu Fuß, er wollte in Ruhe noch einmal die ganze Angelegenheit Revue passieren lassen. Merkwürdig fand er auch, dass die Hurveniks nicht in Erwägung zogen, den Reichsverweser Puntigam in den Entführungsfall einzuweihen. Von Humphrey, dem Kammerdiener Puntigams, wusste Nicht, dass die Schauspieltruppe gute Kontakte zum Palast hatte. Anscheinend waren sie sich schon vor Monaten begegnet, dieser seltsamen Geschichte in der Provinz wegen. Aber wahrscheinlich nahm Kringskranx die Drohung der Entführer, betreffs der Einschaltung der Behörden, durchaus ernst und wollte keinesfalls riskieren, dass ihrem Impresario ein Haar gekrümmt würde, obwohl er jedenfalls durchaus schon was auf die Mütze bekommen haben musste, wie der Detektiv an all dem Blut auf der Decke und dem Bettlaken hatte feststellen können.
***
Der Impresario des Marionettentheaters Karbunkelkraut, das sich in der Zwischenzeit in Volkstheater umbenannt hatte, trug nun keineswegs eine Mütze, auf welche er etwas hätte bekommen können. Es war die Melone, die den ersten Schlag mit dem hölzernen Knüppel einigermaßen abgefangen hatte und dadurch etwas in Mitleidenschaft gezogen worden war. Kammergarn hing an dieser Kopfbedeckung auf eine Weise, wie andere Leute vielleicht an ihrem Haustier; ohne das runde Ding auf dem Schädel ging er niemals aus dem Haus.
Als er jetzt aus der Bewusstlosigkeit erwachte und um sich tastete, fand er zu seiner Erleichterung sogleich den Bowler Hut neben sich auf einer erstaunlicherweise recht weichen Matratze liegend. Kammergarn wollte sich aufsetzen und bemerkte dann, dass man seinen rechten Arm an einen fest in der Wand verankerten Bügel gekettet hatte. Trotz dieser Behinderung seiner Bewegungsfreiheit gelang es ihm schließlich, sich aufzurichten und sich im schummrigen Licht, das durch ein mit einem dichten Vorhang verhangenen Fenster drang, umzusehen, und konnte nun erkennen, dass er sich in einem recht gemütlich eingerichteten Schlafzimmer befand. Mit der Linken betastete er nun die Beule an seinem Hinterkopf und stellte fest, dass er einen Verband um den Schädel trug. Er musste geblutet haben wie ein Schwein, dachte er, als er diese Feststellung machte. Langsam aber sicher kehrte die Erinnerung zurück.
Er war in das Zimmer ihrer Suite im Excelssior gegangen, nur um sich nach dem Abendessen einmal kurz aufs Ohr zu legen und sich so für den Abend zu stärken. Den Hurveniks hatte er gesagt, er müsse einmal kurz meditieren gehen, für diese Art der Entspannung konnten die kleinen Kerle weit mehr Verständnis aufbringen, als wenn er die Wahrheit gesagt hätte. Seine Künstler waren draußen im Weentbehler Stadtpark geblieben, wo sie sich beim Schachspiel vergnügten und damit großes Aufsehen erregten.
Es war für die Bürger, die an diesem wunderschönen Frühlingstag in der Parkanlage unterwegs waren, ein derart absurder Anblick, die Hurveniks anzutreffen, wie jedes Mal, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigten. Doch als sie das schwarz-weiß karierte, aus Pflastersteinen bestehende Schachbrett entdeckten, waren die kleinen Kerle gleich Feuer und Flamme. Die grob geschnitzten Figuren aus schwerem Buchenholz waren ungefähr einen Meter hoch, im Gegensatz zu den Hurveniks, die gerade einmal den Riesenwuchs von dreissig Zentimetern erreichten. Als sie dann damit begannen, die Figuren auf dem Brett herumzuschieben, waren schon die ersten faszinierten Zuschauer stehengeblieben. Beim ersten Bauernopfer war Applaus aufgebrandet, als der junge Fargraffel, der sich mit Kringskranx eine Partie lieferte, den Bauern seines Gegners mit einer Gewalt vom Brett schlug, dass die Figur dreissig Meter weiter am Rande eines Teiches erst zum Liegen kam. Triumphierend hielt der Angreifer seinen eigenen Bauern hoch in die Luft und stellte ihn schließlich auf das Feld, das er gerade so gewaltsam abgeräumt hatte. Die Rache seines Gegners folgte auf dem Fuße. Auch Kringskranx schlug nun erbarmungslos zurück. Der Hurvenik schwang sich auf den Rücken seines Springers, der, wie es sich gehört, die Form eines Pferdekopfes hatte, hielt sich an der Mähne des hölzernen Tieres fest und schaukelte so lange, bis er das Feld des Gegners erreichte, dann stieg er ab, nahm seine Figur in beide Hände und verpasste dem schwarzen Bauern einen solchen Schlag, dass dieser in weitem Bogen etwa vierzig Meter entfernt in einem Rhododendronstrauch landete.
Mittlerweile war die Menge, die sich eingefunden hatte, enorm angewachsen. Man konnte sich kaum sattsehen an diesen kleinen Wichten, die die allermeisten der Anwesenden vor Wochen noch allein dem Reich von Sagen und Mythen zugehörig wähnten. Wie viele Geschichten hatte man nicht von den Großeltern zu hören bekommen, über die Heinzelmännchen, die des Nachts, wenn alles schlief, all die Arbeiten für einen erledigten, zu deren Besorgung man tagsüber nicht mehr gekommen war? Doch auch andere Märchen existierten, die von diesen kleinen Gesellen handelten. Sie wären Boten des Unheils und ihr Schreien vermochte es, den Tod desjenigen herbeizuführen, vor dessen Haus sie einen solchen schrecklichen Schrei ausstoßen würden. Wie viele Menschenkinder waren davor gewarnt worden, die furchtbaren Screechies würden sie holen, äßen sie nicht den Teller auf, gingen sie nicht sogleich zu Bett, würden sie nicht das Fluchen unterlassen oder das Ziehen von Grimassen, und so weiter, und so fort. In jeder denkbaren Welt versuchen Eltern, ihrem Nachwuchs durch das Drohen mit solcherart Horrorszenarien Sitte und Anstand beizubringen, und in keiner aller möglichen Welten hat diese zweifelhafte Erziehungsmethode jemals Früchte getragen. Das einzige was man mit derlei Druckmitteln erreichte, war, dass die lieben Kindlein eben alles für sich behielten und zusätzlich noch jahrelang an Alpträumen leiden mussten.
Das geneigte Publikum im Weentbehler Bürgerpark, wie die Anlage seit der Regierungszeit des Reichsverwesers Puntigam umbenannt worden war, vormals waren die ‚Kaiserlichen Gärten‘ für die breite Masse nicht zugänglich gewesen, gebärdete sich nach und nach wie die Zuschauer bei einem Boxkampf. Mit jeder Spielfigur, die vom Brett geschlagen wurde, wurde auch das Johlen der Leute lauter und lauter. Die Herren in ihrem Sonntagsstaat hatten längst die Langbinder gelockert und rote Köpfe bekommen. Ein findiger fliegender Händler reagierte blitzschnell und besorgte allerlei Erfrischungen aus einer nah gelegenen Taverne, was für die Herren bedeutete, dass sie anfingen, sich mit dem üblichen Volksgetränk, dem Weentbehler Starkbier abzufüllen. Die Ehefrauen hieben ihrem jeweiligen Gespons des Öfteren die Ellbogen in die Seiten, doch ließen diese sich in den meisten Fällen nicht davon abhalten, dem Gerstensaft gehörig zuzusprechen. Die ledigen Damen, die ihre jugendlichen Verehrer noch nicht dazu gebracht hatten, sich das Joch der Ehe um den Hals zu hängen, waren einerseits angezogen von den drolligen, kleinen Kerlen mit ihren roten Mützchen, unter welchen die gelben, dicken Zöpfe heraussahen; dann wieder schreckten sie vor den Fratzen zurück, die die Hurveniks zogen, wenn wieder eine Figur des jeweiligen Gegners mit Brachialgewalt abgeräumt wurde. Das alles ging nun nicht ohne Pöbeleien und Provokationen vor sich, doch äußerten sich die Schauspieler immerhin in der ihnen entsprechenden Weise.
„Nehmt das, Ihr Schuft!“, konnte man zum Beispiel hören; oder, „Ich bereite Euch die Hölle auf Erden, garstiger Wanzling! Sackgesichtiges Gewürm, ich werde Euren König vierteln lassen! Für die Jungfräulichkeit Eurer Dame kann ich keineswegs garantieren! Ich werde Euren Turm schleifen, so dass nichts als Geröll übrigbleibt! Euer Bischof wird furchtbare Qualen erleiden, er wird wünschen sich vormals schon mit seinem Rosenkranz selbst erdrosselt zu haben!“
Aufgepeitscht durch die johlende Menge wurde das Gebaren der Schauspieler immer schlimmer.
„Euch werd‘ ich geben, elendigster Galgenschwengel“, ein schwarzer Springer flog durch die Luft und schwamm alsbald auf der Oberfläche des Teiches, wo er schließlich von zwei Knaben herausgefischt wurde.
„Finsternis und Teufels! Sattelt mein Pferd! Ausgearteter Bastard!“ Der noch übriggebliebene Springer schlug einen weißen Läufer vom Brett.
„Seid Ihr nicht bald Matt, Gevatter? Weh dem, den zu spät die Reue trifft!“
„Matt, ha! Eher zerkratzt mein Bischof nun das wölfische Gesicht Eurer Dame mit seinen Nägeln!“
„Ihr Hurensohn von einem rakermäßigen Kratzer, zieht endlich! Zieht, sage ich, mausköpfiger Sklave!"
Kammergarn hatte in diesem Augenblick beschlossen, dass es Zeit für ein Nickerchen würde, er teilte Kringskranx, dem Anführer der Hurveniks, noch mit, die beiden Schachspieler sollten es besser nicht allzu weit treiben. Die hölzernen Spielfiguren waren immerhin Abbilder derjenigen Spielsteine, die der Großplimps der aphalusischen Wüstenei im zwölften Jahrhundert besessen haben soll, gefertigt von einem auf dem Kontinent anerkannten Meister der Holzschnitzerei. Daraufhin hatte er sich gähnend verabschiedet. Als er den Park in Richtung des Excelssior verließ, konnte er noch weitere, wüste gegenseitige Beschimpfungen der beiden Schauspieler deutlich vernehmen.
Dann war er ins Hotel gegangen, um bald darauf Bekanntschaft mit einem äußerst harten Gegenstand zu machen, der ihm mit voller Gewalt von hinten auf den Kopf geschlagen wurde. Als er sich, kurz bevor er das Bewusstsein verlor, seinem Angreifer zuwandte, gelang es ihm noch, den nicht gerade großen Kerl am Schlafittchen zu fassen, dann war ihm ein zusätzlicher Schmerz durch die rechte Hand gefahren, bevor es endgültig dunkel geworden war. Daran erinnerte sich Kammergarn jetzt wieder mit schmerzendem Schädel, auch stellte er mit Schrecken fest, dass er anscheinend eine große Menge Blut verloren haben musste, die Melone und das einstmals beige Hemd, dass er am Leibe trug, wiesen große, rötlichbraune Flecken auf.
Ihm fiel auf, dass er tatsächlich auf einem weichen, breiten Bett lag, die Daunendecke war zurückgeschlagen und über sich konnte er jetzt doch wahrhaftig einen rotseidenen Baldachin erkennen. Er fragte sich gerade, ob er wohl in einem Bordell gelandet sein könnte, als sich die Tür öffnete und eine recht kleine Gestalt ins Zimmer kam, die sich sogleich räusperte.
„Ähem, na Kammergarn, ich hoffe, ich hab‘ dir nicht allzu wehgetan!“ Es klang sogleich in Kammergarns Ohren so, als täuschte der Mann die Lässigkeit, die er hier zur Schau trug, lediglich vor. Er schien darum bemüht zu sein, seine Stimme tiefer erscheinen zu lassen; Kammergarn hatte ein derartiges Verhalten bei zu klein geratenen Männern schon des Öfteren beobachten können.
Der Kerl war ganz in Schwarz gekleidet, ein Zweireiher wie er bei den höheren Ständen in der Hauptstadt en vogue zu sein schien. Mit einem gewöhnlichen Gauner hatte es Kammergarn dem Anschein nach nicht zu tun. Der Mann trug allerdings eine Mütze auf dem Kopf, die zu seiner sonstigen Aufmachung so ganz und gar nicht passte. Eine rote, gestrickte, winterliche Wollmütze mit einer sogenannten Bommel hatte er sich tief bis hinunter übers Kinn gezogen, allerdings waren ungeschickt Löcher für Mund und Augen hineingeschnitten, weshalb er ständig an dem Ding herumzupfen musste, um vernünftig sehen zu können. Noch dazu ragten aus dem unteren Schlitz die Enden eines imposanten, gewichsten Schnurrbartes heraus, der bis zur Nasenwurzel hinaufgezwirbelt war.
„Ähem,“, begann der Kerl jetzt von Neuem, als Kammergarn keine Anstalten machte, auf seine Rede die Reaktion zu zeigen, die er wohl erwartet hatte. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, wir haben nicht vor dich umzubringen, wenn, ja wenn diese Wichte mit denen du unterwegs bist, sich an all unsere Anweisungen halten!“
„Oh, dann leg mich besser gleich um, die Kerlchen haben ihren ganz eigenen Kopf, man kann sie sehr schlecht zu irgendetwas bewegen, worauf sie keine Lust haben! Außerdem sind sie finanziell auch nicht so gut gestellt, wie ihr vielleicht vermutet!“ Kammergarn ging davon aus, dass die Entführung seiner Person, noch dazu am helllichten Tage, unbedingt von mehreren Personen ausgeführt worden sein musste. Zumindest hatte dieser Pimpf, der sich da breitbeinig mit dieser jämmerlichen Pudelmütze auf dem Kopf präsentierte, dies niemals ganz alleine fertigbringen können.
„Das, äh …, werden wir schon noch sehen, Kerl!“, stieß der Kleine jetzt aus, seine Stimme war um eine Quinte höher geschnellt, er klang in keinster Weise überzeugend. „Wenn nicht dann ...“, nun klang er ernstlich etwas hysterisch, „… dann können wir auch, ...äh, anders!“ Bei diesen Worten drehte er sich um, lief mit kurzen, eiligen Schritten hinaus und schloss hektisch die Tür hinter sich. Gleich darauf konnte Kammergarn das Knirschen eines Schlüssels in einem schlecht geölten Schloss hören. Er ließ sich zurück in die Kissen fallen, wobei er allerdings die rechte Hand immer noch in einer unbequemen Stellung halten musste, da diese ja mit Handschellen an der Wandhalterung befestigt war. Zumindest hat irgendjemand von dieser Gaunerbande einen Plan, augenscheinlich hatte der Bügel, der fest mit dem Mauerwerk verbunden schien, keinen anderen Zweck, als einen Menschen hier anzuketten.
Der Impresario konnte wie von weit entfernt nun Stimmen wahrnehmen, eine davon schien einer Frau zu gehören. Er spitzte die Ohren und glaubte zu verstehen, dass etwas gesagt wurde, wie: „Aber, Putzi, was hast du denn nur mit dieser Mütze angestellt?!“
***
Als Nicht zurück in sein Büro kam, fand er dort Kringskranx, den Hurvenik und seinen Adjutanten Krautschuk vor. Die beiden hatte sich über seinen Schreibtisch hergemacht und die Tischplatte einmal gründlichst abgeschrubbt, so dass sich der Detektiv in der ansonsten vollkommen stumpfen, hölzernen Oberfläche beinahe spiegeln konnte. Nicht hatte keine Ahnung, wie sich die beiden Kerlchen Zugang zu seinen Räumlichkeiten verschafft hatten, sah jedoch über den Umstand dieses erneuten widerrechtlichen Eindringens geflissentlich hinweg.
„Wir haben schon wieder einen Brief bekommen!“, sagte Kringskranx. Der Hurvenik schien es nicht für nötig zu befinden, sich bei Nicht für ihre Anwesenheit in irgendeiner Weise zu rechtfertigen.
Nicht nahm Kringskranx den Zettel aus der Hand, der aus demselben dicken, teuren Papier bestand wie die vorherige Mitteilung.
Sehr geehrte Wichte
Hier senden wir euch das Stück, das ihr zur Aufführung bringen mögt. Ihr werdet sehen, auch wenn vielleicht das Werk sich nicht zur Gänze mit den Werken des großen Dichters Stoppklopp wird messen lassen können, so denke ich doch, die Worte, die unser politischer Mitstreiter gewählt hat, werden auch eure empfindlichen, sensiblen Gehörgänge in keinster Weise beleidigend finden. Auch wenn ihr vielleicht nicht vollständig mit der Führung der einzelnen Handlungsstränge euch anfreunden können werdet, so werdet ihr, wenn ich einmal meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen eure Zustimmung finden dürfte, dies jedenfalls als ein herausragendes Werk einzuschätzen in der Lage sein, und es nicht als das Geschreibsel eines wilden, wirklichkeitsfernen Phantasten einordnen.
Diesen letzten Satz las Nicht jetzt schon zum siebten Mal. Und hatte ihn dennoch immer noch nicht vollständig verstanden. Schließlich gab er es auf und las weiter.
Ihr werdet also sehen, das Opus Magnus unseres verehrten Dichters, steht in der Tradition all jener Tragödien, die die unbedingte Liebe zum Kaisertum in Gestalt des legendären Königs Krumppert, dem Hellerleuchteten, in schönster Kraft ausdrücken. Die Krumppert Saga stellt das nationale Epos dar, welches das Volk des Kontinents, das doch so vielfältige Blüten auf der Landfläche, wie auch auf all den unzähligen Antillen trägt, erst zu einem einzigen einigen Volk zu machen in der Lage ist. Und wie in der Krumppert Saga, so möchten wir erreichen, dass es wieder so wird, wie ehedem, als mit der Regentschaft der kontinentalen Kaiser eine wahrhaft goldene Epoche angebrochen war.
Bitte berücksichtigt bei der Besetzung der verschiedenen Rollen Folgendes. Es wäre mir ein wirkliches Anliegen, wenn ihr diejenige Person, welche in Romero und Julischka, eben die Julischka gegeben hat, auch hier für die weibliche Hauptfigur in Erwägung ziehen würdet. Diese junge Frau ist mir in solch guter Erinnerung, dass ich mir, ohne sie als Königin Gerdundula, die Aufführung des Stückes kaum vorstellen kann. Aber so ist dies nur der Wunsch einer zarten, künstlerisch behauchten Seele und keineswegs eine Bedingung, um euren verehrten Impresario wiederzubekomm…
Hier brach die wunderschöne, runde Schrift plötzlich ab. Einige Tintenflecken darunter stand in krakeligsten Buchstaben.
Macht dies Stügg und nich das was eigentlich auffem Plan steht, sonst schneiden wir dem Feddsagg die Aingewaide aus dem Fettebauch. Prmiäre am fuffzehnten, dann kriescht ihr den Kärl gesunt widder zurügg!!!
Beim letzten Ausrufezeichen schien tatsächlich die Feder abgebrochen zu sein, das Papier war an dieser Stelle perforiert.
„Seltsam, seltsam!“, murmelte Nicht von Ungefähr. „Und wo befindet sich nun dieses merkwürdige Manuskript?“
„In unserer Unterkunft. Ich habe die anderen schon einmal mit den Proben beginnen lassen. Immerhin sind es nur noch zehn Tage bis zum fünfzehnten, und sie müssen sich doch mit dem Text und den Bühnenanweisungen vertraut machen“, erklärte Kringskranx. „Ein Bühnenbild muss entworfen und die passenden Kostüme gefunden werden. Du machst dir ja keine Vorstellung, was noch alles zu tun ist. Eine wahre Mammutaufgabe dies alles in der Kürze der Zeit zu bewältigen!“
„Habt ihr denn die Schrift einmal überflogen?“, fragte Nicht, der sich um derlei Dinge, wie den Aufwand, der bei solch einer Produktion betrieben werden musste, noch niemals Gedanken gemacht hatte.
„Ja, ich habe Krautschuk damit beauftragt. Er hat von uns allen die schnellste Auffassungsgabe und ist insbesondere für die politische Ausrichtung bei uns zuständig!“, erklärte Kringskranx und gab so das Wort an seinen ebenso kleinen Adjutanten weiter, der sich das rote Mützchen richtete, bevor er anfing zu sprechen.
„Ähem, ja! Es handelt sich wohl um eine recht eigenwillige Interpretation des Krumppert Mythos. König Krumppert, der sagenhafte König der Mittellande, dem nachgesagt wird, er hätte selbst die wilden Stämme der Nebelberge unterworfen und diese in die menschliche Zivilisation erst eingegliedert. Diese Nebelbergler also hätten, bevor Krumppert auf der Suche nach dem heiligen Donnerkeil in deren Land gekommen war, immer noch in Höhlen gehaust und wären noch nicht einmal mit den Segnungen der Religion in Berührung gekommen“, erklärte nun Krautschuk, er versuchte, sich kurzzufassen, was ihm jedoch nicht ganz gelingen wollte. „Es tauchen allerhand Ungereimtheiten auf, Gerdundula, die Königin, setzt sich dafür ein, dass ihre Tochter den Häuptling eines Nebelbergstammes ehelicht, das stellt schließlich das neuerliche Zerwürfnis zwischen Krumppert und seiner Ehrfrau dar, ein Zerwürfnis, das in der originalen Krumppert Sage in keiner Weise vorkommt.“
„Aber was hat das nun alles mit dem Kaisertum zu tun?“, fragte Nicht von Ungefähr, der langsam sichtlich verwirrt wirkte.
„Eine gute Frage“, meinte Krautschuk daraufhin. „Es gibt einige Szenen, die meiner Meinung nach sehr schwer umzusetzen sein werden. Eine Art von Traumsequenzen, könnte man da wohl sagen. Die Bühnenanweisungen sind nur haarsträubend zu nennen. Jedenfalls sieht man am Ende Krummpert auf dem Schlachtfeld in seinem Blute liegend, das legendäre Schwert Exkalligraph auf der einen, die teure Gattin Gerdundula, welche bittere Tränen über das Dahingehen des geliebten Mannes vergießt, auf der anderen Seite. Dann erhebt sich der Oberkörper Krummperts ein allerletztes Mal und er malt sich aus, wie der gesamte Kontinent von einem ritterlichen Geschlecht adligen Ursprungs regiert wird; gnädige, weise Herrscher, die nichts anderes im Sinn haben, als ihr Volk zu Reichtum und Wohlstand zu führen, und dabei fällt dann ganz am Ende gar noch der Name des letzten Kaisers, Alphons des Vielgepreisten, als sei der eine Art messianische Gestalt gewesen! Eine Rede übrigens, die zwar von ihrer kitschigen Klischeehaftigkeit durchaus zum Rest des Machwerks passen will, aber doch für die Handlung ansonsten vollkommen überflüssig ist. Es wirkt fast so, als wäre dieser abstruse Quatsch im Nachhinein noch von anderer Hand hinzugefügt worden!“
„Puh“, sagte Nicht, ohne sich bewusst zu sein, überhaupt etwas gesagt zu haben. Es war bloße Empathie mit dem Kleinen, der während seiner Rede kein einziges Mal Luft geholt hatte.
„Aber wie gesagt, habe ich es bisher nur kurz überfliegen können!“, fügte der Hurvenik jetzt noch hinzu.
„Und ihr wollt die Premiere also für den Fünfzehnten ansetzen?“
„Das gehört wohl zu den Bedingungen. Wir werden es selbstverfreilich dann auch bei dieser einzigen Vorstellung belassen, wenn wir erst unseren Kammergarn wiederhaben!“, stellte Kringskranx fest.
„Ich finde, man könnte aus dem Stoff dennoch eine wunderschöne Oper machen!“, meinte daraufhin Krautschuk, der ein gewisses Faible für sogenannte Volksopern hatte. Man konnte nur hoffen, dass diese Idee niemals umgesetzt werden wird, Hurvenikmusik besteht nicht nur aus Halb- oder Vierteltönen, es gibt Werke, die sich durch Melodiebögen mit vierundsechzigstel Noten besonders auszeichnen. Diese sogenannte Musik klingt dann in etwa so, wie die Sirene in den modernen Manufakturen des Kontinents, mit denen der Anbruch der Feierabendstunde angekündigt wird. Davon konnte der Detektiv allerdings nichts wissen.
„Das ist vielleicht die Idee!“, fügte Krautschuk noch hinzu, diese Bemerkung blieb für Nicht rätselhaft, doch hatte die Stimme des Hurveniks ein irgendwie fanatisches Timbre angenommen.