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Kapitel 3

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Im Athenaeum

Nicht von Ungefähr hatte beschlossen, am Abend mit seiner Recherchearbeit fortzufahren. Die Erwähnung des Datums der Premiere des von den Entführern verordneten Theaterstückes, hatte ihm den nahenden Geburtstag seiner Frau Mutter wieder in Erinnerung gebracht. Laurentia sollte an genau diesem Tag die Wiederkehr ihres zweiundvierzigsten Wiegenfestes begehen und zu allem Überfluss hatte Nicht noch keinen Gedanken daran verschwendet, was er ihr denn zu diesem Anlass um Himmels Willen zum Geschenk machen sollte.

„Das Schönste wäre es, du würdest mir ein Enkelkind schenken“, hatte Laurentia von Ungefähr gesagt, als er sie das letzte Mal auf ihren Geburtstag angesprochen hatte, und gleich hinzugefügt: „Aber das Kind soll mich auf keinen Fall Oma nennen, dazu fühle ich mich dann doch noch etwas zu jung, meinst du nicht, Nicht?“

Aus diesem Grund nun streifte der Detektiv bis in die frühen Abendstunden hinein durch die langgestreckte Häuserzeile der Metropole, die seit jüngster Zeit als Sohlenzone bezeichnet wurde; das hieß Fahrzeuge aller Art, mochte es sich nun um einspännige Egoisten, Droschken, oder auch um eines dieser modernen, von stinkenden sogenannten Verbrennungsmotoren betriebenen Blechvehikel handeln, durften hier nur in den frühen Morgenstunden entlangfahren, um die Geschäfte mit Waren zu beliefern. Eine hervorragende Einrichtung, war hierzu die Ansicht Nichts. Früher musste man ständig auf der Hut sein, nicht von einem der riesigen Brauereipferde niedergetrampelt zu werden oder zumindest in die enormen Hinterlassenschaften dieser Tiere zu treten. Heute war spätestens um halb Zehn am Morgen die Straße von allen Pferdeäpfeln befreit, die städtische Müllabfuhr hatte sich in dieser Hinsicht als absolut zuverlässig herausgestellt. 'Auch eine Errungenschaft, ohne die man kaum mehr würde auskommen können', dachte der Detektiv.

Wie mochte es wohl früher gewesen sein? Nicht von Ungefähr war viel zu jung, als dass er noch die letzten Regierungsjahre des Kaisers, Alphons des Vielgepreisten, erlebt hatte, aber er war sicher, dass jetzt, zumindest hier in der Hauptstadt, so lebenswichtige Institutionen wie Wasserwerk, Müllabfuhr und Straßenreinigung wesentlich besser funktionierten als ehedem. Gut, auch hier konnte es schon einmal zu Arbeitsniederlegungen kommen, doch einigten sich die Stadt und die neugegründeten Gewerkschaften normalerweise recht schnell und alles ging wieder seinen geregelten Gang.

Fast hätte man meinen können, es sei Sommer. Ein laues Lüftchen wehte durch die Straßenschluchten, hier in der Sohlenzone waren die Häuser beinahe alle bis zu fünf Stockwerke hoch, dennoch konnte die Sonne auch um diese Zeit einfallen, da die Einkaufsmeile streng geradeaus von Westen nach Osten verlief. Café und Kneipenbesitzer hatten schon Stühle und Tische nach draußen gestellt, die wohl erst Anfang der Woche aus ihren winterlichen Kellerquartieren heraufbefördert worden waren.

Wäre nicht diese lästige Sache mit Laurentia von Ungefährs nahendem Ehrentag gewesen, hätte Nicht schon früher sich an einem der Kaffeehaustische niedergelassen, doch war er beinahe zwei Stunden lang durch die Straßen gelatscht, war vor Schaufenstern, wie hypnotisiert verharrt, war dann weitergegangen, hatte sich in den verschiedensten Abteilungen der größeren Kaufhäuser verirrt, die begannen, ihr Warenangebot auf alle möglichen Bereiche auszuweiten. Wenn vormals ein Geschäft ausschließlich Oberbekleidung für den Gentleman anfertigte und verkaufte, so war jetzt zum Beispiel eine Abteilung Angelsport, Tabakwaren, oder 'Utensilien für den Herrenreiter' hinzugekommen.

Er hatte sich Porzellanservice angesehen und war bei einem Juwelier gewesen. Er spielte kurz mit dem Gedanken an eine verschließbare Brosche mit einem winzigen Gemälde ihres einzigen Sprosses darin, dann war ihm diese Idee jedoch zu kitschig erschienen. Ein viel zu gefühlsduseliges Geschenk für die Frau Mama! Er zog in einer Musikalienhandlung eine Tischharfe in Erwägung; Laurentia von Ungefähr hatte durchaus eine musische Erziehung genossen, kurz darauf aber ließ er auch diesen Gedanken wieder fallen und gab das Unternehmen für den heutigen Tag auf. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren, die ganze Zeit über ging ihm der Fall des entführten Impresario im Kopf herum. Der Detektiv setzte sich schließlich unter die orange-braun gestreifte Markise eines Cafés und bestellte einen zwiefach genobbelten Mokka, um was es sich dabei, außer, dass es irgendwie Kaffee war, genau handelte, war Nicht von Ungefähr vollkommen unbekannt, doch war es Mode hier in der Hauptstadt nun schon seit einigen Jahren geworden, immer neue Kaffeekreationen zu erfinden und ihnen diese blödsinnigen Namen zu geben. Nach Nichts Meinung schmeckte allerdings eins dieser Getränke genau wie das andere. Dann schien ihm die rechte Zeit gekommen zu sein, seinen Freund Philipp in dessen Club anzutreffen.

Philipp von Quandt war ein Internatszögling, wie auch Nicht einer war. Erzogen in einer dieser Anstalten, an denen sich nur die auserwählten Sprösslinge der adligen Häuser tummeln durften. Selbst die Nachkommenschaft der neureichen Fabrikbesitzer und Bankiers war in einigen dieser Institutionen noch immer ausgeschlossen, ohne ein winziges 'von', oder ein noch kleineres 'zu' im Namen blieben einem die Segnungen dieser Institutionen immer noch verwehrt. Aber lange würde das auch nicht mehr so sein. Zwar bemühten sich die Rektoren jener Einrichtungen mittlerweile darum, sich in Sparsamkeit zu üben, doch früher oder später mussten wohl auch die hartnäckigsten Verfechter der alten Ständeordnung einsehen, dass ohne das schmutzige Geld dieses sogenannten Großbürgertums ein finanzielles Überleben nicht mehr möglich war.

Der Club Philipps war im Grunde eine ebenso überkommene Institution wie die traditionsbewussten Internate. Auch hier wurde man ohne Adelstitel nicht als Mitglied aufgenommen. Immerhin war es heutzutage schon möglich auch einmal einen befreundeten Bankier ohne vernünftige Abstammung als Gast dorthin einzuladen, doch war auch dies nicht gern gesehen, wenn man solch einen Faux Pas beging. Gleich wurde hinter dem Rücken desjenigen gewitzelt, er müsse den Kredit bei der und der Sparkasse wohl bitter nötig haben, kein Wunder bei der Gemahlin, was musste er auch eine zu Kuchenbecker ehelichen, der Name allein besagte ja wohl schon alles …, und so weiter, und so fort. Kurzum es handelte sich bei Etablissements wie genannten Clubs um finstere, verrauchte Höhlen des Snobismus, in welchen das Laster der Überheblichkeit zur Tugend erhoben wurde. Ein einziger Sumpf aus Kleinmütigkeit, Arroganz und Inzucht.

Die Sonne ging langsam im Osten unter, als Nicht von Ungefähr die heiligen Hallen des traditionsbewussten Clubs betrat, der im Volksmund Hochnasensaal, eigentlich jedoch Weentbehl-Athenaeum hieß. Allein der vergoldete Türklopfer in Form eines Löwenkopfes machte schon etwas her. Wahrscheinlich, so überlegte Nicht, musste ein Wachmann allein zum Schutz dieses Artefakts eingestellt worden sein, obwohl er in der Nähe der feuerrot lackierten Türe, zu welcher es sieben Treppenstufen hinaufging, niemanden bemerken konnte, der dieser aufregenden Tätigkeit nachzugehen schien. Nach einem einzigen Klopfen nur wurde dem Freiherren geöffnet und der Butler, der ihn nun kurz in Augenschein nahm, zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor er die Entscheidung traf, dass der Gentleman, der vor der Türe stand, als ein ebensolcher einzuordnen war. Dieses instinktive Erkennen eines Menschen von Adel kann unmöglich erlernt sein, dachte Nicht. Diese Fähigkeit musste einem sozusagen schon in die Wiege gelegt worden sein, vielleicht hatte es was mit dem Geruchsinn zu tun. Vielleicht verströmte das blaue Blut der Edelleute eine von normalen Menschen abweichende Duftnote, die nur von höherrangigen Dienstboten auf der Stelle olfaktorisch erkannt werden konnte. Dies waren in etwa die Gedankengänge des Detektivs, als er Jansen, dem Butler durch einen breiten, holzgetäfelten Flur folgte.

Auch im Hauptsaal des Athaeneum waren die Wände von dunklen, exotischen Hölzern eingefasst, wenn nicht ebenso dunkle Bücherregale davorstanden, die vor Lesestoff nur so strotzten, obwohl keiner der Anwesenden, die allesamt über den riesigen Raum verteilt, in verschiedenen Ecken in klobigen Polstermöbeln saßen, ein einziges ledergebundenes Exemplar dieser Sammlung in Händen hielt. Überall auf kleinen Beistelltischchen waren jedoch etliche Zeitungen und Zeitschriften in den verschiedensten Zuständen der Zerfledderung verteilt. Vom Weentbehler Anzeiger, dem Abendblatt und der Kontinentalschau, bis zu sogenannten Journalen, deren politische Ausrichtung extrem konservativ zu nennen, eine schwere Untertreibung darstellen würde. Allerdings waren diese Schrifterzeugnisse, die Titel trugen wie Kontinentalspiegel, La Chapelle-Chronicles oder Zeitenhobel, noch diejenigen, die einen gehobenen Intellekt am ehesten würden beschäftigen können. Daher hing diese Art meinungsbildender Journale meist auch noch an den dafür vorgesehenen Ständern, wo man sie in ihren Klemmlatten belassen hatte. Das normale Clubmitglied vertrieb sich die Zeit anscheinend lieber mit Magazinen über die Fuchs und Bärenjagd, Fliegenfischen im Wandel der Jahreszeiten oder Sommerhäuser-Aktuell, wo Ferienchalets in den abgelegensten Orten des Kontinents der reichen Klientel zum Kauf angeboten wurden. Dazu gönnte man sich gerne einen oder zwei Sherry, setzte sich mit ein paar Gleichgesinnten an einen der Whist- oder Bridgetischchen nieder und beschwerte sich bei seinen Artgenossen seufzend über die immer schlechter werdende Welt, an deren moralischem Niedergang in den allermeisten Fällen allein der Reichsverweser Puntigam schuld war.

Nur wenige Frauen waren zugelassen in diesen Etablissements. Zwar konnte es vorkommen, dass der eine oder andere Gentleman seiner Mätresse imponieren wollte, diese dann herumführte und ihr gar das eine oder andere Mitglied des Oberhauses vorstellte, allerdings war dies keineswegs gern gesehen. Und schon gar nicht wollte man in diesem Refugium der Männlichkeit am Ende noch von der eigenen Ehefrau belästigt werden, das schien den Mitgliedern aller dieser honorigen Stätten das Wichtigste zu sein. Zwar war laut Satzung den Gemahlinnen der Eintritt keineswegs verwehrt, doch band diese Tatsache niemand seiner eigenen Frau auf die Nase. Wenigstens hier wollte man schließlich einmal seine Ruhe haben!

„Der Herr Graf sitzt vorne an seinem Platz an der Theke, Herr von Ungefähr!“, meinte schließlich der Butler, als sie den Saal betraten. Nicht hatte seinen Namen nicht nennen müssen, er hatte sich nur nach seinem alten Freund erkundigt, doch schien das Gedächtnis von Jansen die Physiognomien sämtlicher Männer von Adel abgespeichert zu haben. Wahrscheinlich verbrachte er seine ganze freie Zeit mit dem Studium des Prochnowschen Adelsregisters, in welchem von jedem Mitglied sämtlicher Adelshäuser Weentbehl-Lachapelles auch zusätzlich kleine, recht treffende Zeichnungen der Herrschaften abgedruckt waren.

Die Augen Nichts hatten sich kaum an das schummrige Licht gewöhnen können, das die überall an den Wänden verteilten Gaslampen mit ihren grünen gläsernen Lampenschirmen verbreiteten, dennoch war es ihm möglich, die Theke wahrzunehmen, die gleich dem Eingang gegenüber aufgebaut war. Und auf einem der ansonsten leeren Barhocker saß tatsächlich eine Gestalt, in der er schließlich Philipp von Quandt erkannte.

Sein Kamerad aus Kindertagen saß gebückt da, den Oberkörper über das Holz der Theke gebeugt, die Ellbogen in der eingefrästen Abflussrinne versunken.

„Philipp, altes Haus!“, begann Nicht von Ungefähr und kam sich bei dieser Art der Anrede selbst steinalt vor. Aber so redete man nun einmal in Etablissements wie diesem, wollte man nicht vollständig aus der Rolle fallen. „Wie steht es um die Ländereien auf Schloss Quandtwart?"

„Häh“, sagte Philipp nur, er hatte nicht seinen Blick von dem Glas abgewandt, das er beharrlich in der rechten Hand drehte, als ob sein Leben davon abhinge, die Flüssigkeit darin am Rotieren zu halten. Dann erst sah er auf und ein Ruck ging durch seinen Körper, als er den Freund aus Jugendtagen erkannte. „Oh, mein Gott, der Freiherr Nicht von Ungefähr! Das ist ja kaum zu glauben!?“

Die Stimme des Edelmannes bezeigte dem Detektiv auf der Stelle, dass Philipp von Quandt schon etwas zu tief in das Glas vor ihm gesehen haben musste, oder besser nicht nur in dieses eine, welches er momentan in Händen drehte. (Immerhin wurde hier jedes Glas nur einmal benutzt und in einen schmalen Lastaufzug gestellt, der vom Personal dann in die Spülküche im Keller hinabbefördert wurde)

„Ich dachte, ich seh mal, was du so treibst. Und da ich wusste, dass du hier immer schon gerne verkehrtest, da dachte ich, da schau ich doch mal rein!“, erklärte nun der Detektiv seine Anwesenheit in dem Club, in den ihn ansonsten keine zehn Pferde hineinbringen würden. Er konnte dieses ganze elitäre Untersichseinwollen seiner eigenen Klasse im Grunde so gar nicht ausstehen.

„Schön, schön, das wird wohl meine letzte Woche hier sein!“, stöhnte von Quandt und blickte stumpfsinnig vor sich hin.

„Ach, Mensch Philipp, du heiratest doch nur! Das heißt nicht, dass du ab diesem Moment für alle Welt tot und vergessen sein wirst?“, meinte Nicht in dem vergeblichen Versuch, etwas Mitgefühl in seiner Stimme mitschwingen zu lassen.

Selbstverständlich hatte es dem allerersten Privatdetektiv des Kontinents nicht entgehen können, dass sein alter Kamerad in der nächsten Woche das Ehebündnis mit der Contessa zu Zwitschenberg eingehen würde. Selbst im bürgerlichen Weentbehler Anzeiger war von diesem kommenden Ereignis vorab schon berichtet worden. Mit diesem Schritt war die Familie Quandt in der Lage, die Schulden, die sich bei den Banken angehäuft hatten, ein für alle Mal loszuwerden, so vermutete man gemeinhin. Nicht hatte keine blasse Ahnung, wo hier der Vorteil für die Partei der Zwitschenberger liegen mochte, aber vielleicht hatte die Contessa ja tatsächlich einen Narren an dem versoffenen Grafen gefressen. Man konnte ja nie wissen. Allerdings war die Contessa zu Zwitschenberg keinesfalls eine Schönheit, selbst wenn die Zeichnungen im Anzeiger ihr immer noch schmeichelten, so konnte einem doch auch bei diesen Kunstwerken nicht entgehen, dass ihr Näschen keinesfalls vornehm zurückhaltend zu nennen gewesen wäre. Im Original betrachtet verfügte die junge Frau über einen Riechkolben, dessen Größe und Farbe jeglicher Beschreibung spottete. Ja, sie trug einen derart vorstehenden, puterroten Zinken mitten im Gesicht, der einem sechzigjährigen Bierkutscher, der Zeit seines Lebens, dem Gerstensaft und anderen verheerenden Giften ein wenig zu ausgiebig zugesprochen haben mochte, weitaus eher angestanden hätte. Das fliehende Kinn und die ebenso fliehende Stirn machte die Sache nun auch nicht gerade besser. Obwohl ein solch vogelähnliches Aussehen bei einigen der älteren Fürstenfamilien immer mal wieder vorkam, so war doch das Profil der Contessa Augusta keineswegs mit einer zarten Amsel oder einem Rotkehlchen zu vergleichen, sondern ähnelte eher der Silhouette einer der riesigen Geier der aphalusischen Wüstenei. Nicht von Ungefähr konnte sich sehr wohl in den erbarmungswürdigen Zustand seines Freundes hineinfühlen.

„Das sagst du so einfach!“, meinte jetzt Philipp und starrte Nicht von Ungefähr voller Neid über sein Glas hinweg an, bevor er erneut einen kräftigen Schluck nahm. „Ich sag dir mal eins, alter Junge, Augusta sieht nicht nur irgendwie seltsam aus, sie verhält sich auch ebenso! Wenn die mich erst unter ihre Fuchtel gebracht hat, dann gnade mir Gott!“

„Aber ist denn das Aussehen tatsächlich so wichtig?“, fragte nun der Detektiv, obwohl er sich in keiner Weise vorstellen konnte, ein solch hässliches Geschöpf, wie die Contessa Augusta zu ehelichen.

„Ich weiss, ich weiss, die inneren Werte! Pah!“, brachte Philipp mit unterdrückter Wut heraus. „Und wenn diese sogenannten inneren Werte nur in Form von ausgiebigen Flatulenzen ans Licht der Welt gelangen?!“

„Philipp, ich denke, du übertreibst wieder einmal maßlos!“

„Ach, Nicht“, meinte der Graf jetzt, „vielleicht übertreibe ich ja wirklich! Aber du weißt doch, dass ich viel eher den Tänzerinnen vom Ballett zugeneigt bin! Warum nur, warum nur, ist unsereiner nur darauf angewiesen, jemanden aus dem eigenen Stand zu ehelichen, kannst du mir das einmal verraten?! Ist ja wohl alles nur überkommene, blödsinnige Tradition!“

Da Nicht im Grunde der gleichen Meinung war, fiel es ihm schwer, dem Schulkameraden zu widersprechen, doch hatte er ebenso das Gefühl, der gute Philipp suhlte sich nicht eben ungern in seinem eigenen Elend.

„Wie oft bist du eigentlich der Contessa schon begegnet?“, fragte der Detektiv, der sich die Antwort auf diese Frage beinahe schon vorstellen konnte.

„Ach, zweimal, beim Rennen in Brisbane, und im Theater, bei einer der Aufführungen dieser winzigen Schauspieler, die auf der Bühne, ohne einen dieser kleinen Feldstecher an der Abendkasse zu erwerben, kaum zu erkennen sind.“

Wirklich fanden die billigen Ferngläser inzwischen rasenden Absatz. Karl Osthoven der Finanzminister des Reichs hatte eigens zierliche optische Hilfen entwickelt, mit welchen man das Geschehen auf der Bühne besser beobachten konnte. Osthoven war wirklich mit allen Wassern gewaschen, seit zwei Jahren Minister, gerade einmal Mitte Zwanzig und höchstwahrscheinlich schon Millionär, dachte Nicht von Ungefähr und konnte wieder einmal nicht umhin, diesen Emporkömmling klammheimlich zu bewundern.

„Hast du denn überhaupt mehr als zwei Worte mit ihr wechseln können?“, fragte Nicht.

„Wie mans nimmt, Floskeln halt, sie war immer in Begleitung ihrer Anstandsdame, ihrer Schwipptante Mechthild zu Guttenberg.“

„Na dann kannst du doch über ihren Charakter im Grunde gar nichts sagen!“

„Nein, nein, vielleicht tue ich ihr ja auch furchtbar unrecht. Aber ich fühle mich nun einmal echt beschissen!“

„Ach, wart‘s mal ab!“, meinte Nicht und kam nun endlich auf die Sache zu sprechen, wegen welcher er Philipp eigentlich gesucht hatte. Vielleicht würde ihn dies, zumindest eine Weile von seiner eigenen Misere ablenken. „Sag mal, Philipp, mal was ganz anderes, kennst du eigentlich jemanden von der MWGFDK?“

„Häh?!“, Philipp von Quandt hatte die Augen weit aufgerissen, so als könne er momentan nicht fassen, nach was sich Nicht erkundigte. „Was willst du denn von diesen Schwachköpfen, ich hätte nicht gedacht, dass du so tief sinken könntest, mein lieber Nicht?!“

Der Detektiv erklärte seinem Mitzögling nun, dass er lediglich einen Fall bearbeite und diese Organisation womöglich gewissermaßen eine Rolle in einer Sache spielen mochte, die nicht gerade legal war, konnte aber dem Freund lediglich entlocken, dass dieser nicht genau sagen könnte, wer genau hinter diesen Leuten steckte. Die Mitglieder des Oberhauses, die offiziell der KKP angehörten, würden wohl kaum, mit der Sprache herausrücken, wer dazugehörte. Immerhin war die MWGFDK schon durch das Beschmieren etlicher Häuserwände aufgefallen. Sogar vor dem ehemals kaiserlichen Palast, hatten die Unholde nicht Halt gemacht. Eines Morgens, vor drei Monaten etwa, prangte eben dort tatsächlich die Parole ‚Wolle unsern Kaiser Alpfons widderhamm‘, direkt auf dem großen Tor, das den Haupteingang des Schlosses darstellte. Trotz, oder gerade wegen dieser fehlerhaften Schreibweise soll der Herr Reichsverweser ernsthaft aufgebracht gewesen sein.

Alles was ihm hier von Philipp berichtet wurde, wusste Nicht von Ungefähr selbstverständlich längst, auch hatte er den Eindruck, dass sich der Freund keine größeren Sorgen, wegen des Einflusses dieser Leute auf die Kontinentalpolitik machte. Aber dann erwähnte Philipp schließlich doch noch einen Namen.

„Vielleicht könntest du aus Putzi was rausbringen“, es klang, als hätte er nur laut überlegt. „Ja, Putzi von Fallersleben, du kennst die Sippschaft, oder?“

Jetzt musste Nicht doch passen, er hatte den Namen von Fallersleben wohl schon einmal irgendwo aufgeschnappt, hätte aber nicht mehr sagen können wo und in welchem Zusammenhang.

„Nicht wirklich“, meinte er daher nur.

„Nun die Familie lebte seit Generationen von der Einfuhr menschlicher Ware aufs Festland“, erklärte Philipp, nachdem er erneut einen großen Schluck von seinem Getränk genommen hatte, das er von dem äußerst diskret sich zurückhaltenden Barmann hinter dem Tresen immer wieder unaufgefordert nachgeschenkt bekam.

„Sklavenhandel! Ein mieses Gewerbe!“, entfuhr es dem Detektiv. Es war kein Wunder, dass die Sippschaft dieses Putzi von Fallersleben nicht eben gut auf den Reichsverweser zu sprechen war. Während der Regierungszeit der Kaiser gehörte der Handel mit Menschen keinesfalls zu moralisch fragwürdigen Unternehmungen, sondern wurde als ehrenwertes Gewerbe betrachtet. Damit schien schon einmal klar zu sein, warum der Vater dieses Putzi sich bei den Monarchisten eingereiht hatte.

„Wie man's nimmt, immerhin war das doch früher allgemein anerkannt. Und ging es denn damals den Ureinwohnern der Inselgruppen weit draußen im Ozean nicht am Ende besser hier auf dem Kontinent, auch wenn sie für ihren Unterhalt arbeiten mussten!?“, fragte Philipp von Quandt erstaunt. Er konnte nicht nachvollziehen, wie man sich hierüber so echauffieren konnte.

„Als Sklaven!? Unfrei? Als Eigentum skrupelloser Großgrundbesitzer? Wie sollte es ihnen denn da besser gehen?“, fragte Nicht fassungslos.

„Na, jetzt tu mal nicht so! Hat nicht dein Großvater noch sich nicht genau solcher Geschäftsleute wie den Fallerslebens gerne bedient, um die Obstplantagen der von Ungefährs zu bewirtschaften?“ Philipp blickte Nicht mit wässrigem Blick, eine Augenbraue nach oben gezogen, forschend skeptisch an.

„Zugegeben“, musste Nicht dem Freund beipflichten. „Aber das heißt keineswegs, dass ich das gutheißen muss!“

„Na, dein Vermögen wirst du wohl kaum deswegen einer karitativen Einrichtung spenden, wenn du in dessen Genuss kommst!“ Die Stimme Philipps hatte jetzt einen unverbrämt spöttischen Unterton angenommen. Nicht wusste auf dieses Argument nichts zu erwidern, er hatte sich hierüber noch niemals Gedanken gemacht und kam sich nun ein wenig vor wie ein Heuchler.

„Wo meinst du, könnte ich diesen Putzi denn antreffen?“, fragte Nicht daher, um schleunigst das Thema zu wechseln, er wollte jetzt nicht weiter über dieses Problem nachdenken.

„Die Familie besitzt ein Schlösschen in der Hauptstadt, früher nur für die unvermeidlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen, nun aber weilt der Alte von Fallersleben, des Öfteren in Weentbehl, immerhin ist er Mitglied des Oberhauses. Und jetzt im Frühjahr könnte möglicherweise die gesamte Familie dort wohnen. Ich denke, es liegt an der Rübnitz-Chaussee in Lachapelle, wo auch sonst?“

Ja, dort lagen die meisten der größeren Häuser derjenigen adligen Familien, die sich nicht ganzjährig in der Hauptstadt aufhielten, war dem Detektiv klar. Das Palais der von Ungefährs lag am Rande des gleichen Viertels, und selbstverständlich wusste er, wo die Rübnitz-Chaussee gelegen war.

Nicht nippte noch einmal an seinem Tee, der schon kalt geworden war, und ließ Philipp alleine. Immerhin schien er den Freund in gewisser Weise aufgeheitert zu haben, auch wenn dies so keineswegs beabsichtigt gewesen war. Allerdings sank Philipp von Quandt sofort wieder in sich zusammen, nachdem Nicht das Athenaeum verlassen hatte.

Nachdenklich schritt der Detektiv durch die abendlichen Straßen, er überlegte, wie er bei den von Fallerslebens auftreten wollte. Jetzt war es dafür im Grunde zu spät. Doch immerhin ging es um das Leben eines unschuldigen Mannes und je früher es ihm gelingen würde, etwas über diejenigen herauszufinden, in deren Hand sich dieser Kammergarn befand, desto mehr Chancen hatte der wohl die Geschichte zu überleben. Wenn er denn überhaupt noch am Leben war, dachte Nicht? Sollte man nicht von den Entführern ein Lebenszeichen fordern, war dies nicht das, was man in solchen Fällen üblicherweise tat? Allerdings verlangten die Schurken ja kein Lösegeld von den Hurveniks, sondern wollten, dass sie dieses merkwürdige Drama zur Aufführung brächten. Wie also sollte man mit ihnen in Kontakt treten? Man müsste den Boten abfangen, falls eine neuerliche Botschaft hinterlegt würde. Und wie sollte er etwas aus diesem Putzi herausleiern über die Monarchistenbande, der sein alter Herr dem Anschein nach nahestand? Besser wäre es wohl, das Personal der von Fallerslebens einmal unter die Lupe zu nehmen. Nicht von Ungefähr konnte sich durchaus vorstellen, dass die Hausangestellten der Familie vielleicht nicht ganz so loyal zu ihren Arbeitgebern stehen würden. Wenn man sich vorstellt, wie diese Leute mit Menschen umgegangen waren, die sie einfach ihrer Heimat beraubt und als Sklaven hier aufs Festland verschifft hatten, so behandelten die Mitglieder der Familie von Fallersleben ihre Dienstmädchen und Diener höchstwahrscheinlich ebenfalls immer noch so, wie sie es von früher gewohnt waren, nämlich wie Leibeigene.

Nicht gedachte Marianne tatsächlich zu diesem Fall mit hinzuzuziehen. Wer, wenn nicht die höchstrangige Putzfrau des Kontinents wäre besser geeignet, den Kontakt mit den Angestellten der von Fallerslebens herzustellen, ohne das gleich jemand Verdacht schöpfen würde?

***

Kammergarn schnallte sich, als er von draußen auf dem Flur Schritte seiner gut eingerichteten Zelle sich nähern hörte, schnellstens wieder proforma die Handschelle an den Bügel an der Wand hinter dem Bett. Längst hatte er es fertiggebracht, das Ding mittels einer der kurzen Drähte unterschiedlicher Dicke, die er immer in den Hosentaschen mit sich trug, aufzumachen. Dies stellte für einen ehemaligen Gauner, wie den Impresario des Volkstheaters Karbunkelkraut, das Kleinste aller Probleme dar. Immerhin hatte er von frühester Jugend an seinen und seines Ziehvaters Lebensunterhalt mit Einbrüchen und Taschendiebstählen bestreiten müssen.

Dem alten Kruckhardt, so der Spitzname des Ganoven, der den Jungen aufgezogen hatte, den er, wie er nicht müde geworden war, zu behaupten, aus vollkommenster Selbstlosigkeit an Sohnes statt annahm, war gleich klar gewesen, dass es diesem kleinen, dünnen und beweglichen Knaben keinerlei Schwierigkeiten bereiten würde, durch gekippte Fenster oder schlecht verrammelte Kelleraufgänge in die Häuser zu gelangen, die schon von ihren noblen Fassaden her, reiche Beute versprachen. So war das einige Jahre gegangen und der Knabe Jonathan, der sich mittlerweile kaum mehr an seine richtigen Eltern erinnern konnte, nur die süße Stimme seiner Mutter verfolgte ihn noch heute manchmal in seinen Träumen, stellte sich bei all diesen Unternehmungen, als ein hervorragendes Werkzeug für Kruckhardt heraus, der ein Bein verloren hatte, und solchen Tätigkeiten aufgrund dieser Behinderung nicht mehr selbst nachzugehen vermochte. Als der Ziehvater dann das Zeitliche segnete, brachte es der jetzt jugendliche Jonathan Kammergarn durchaus fertig, sich mit dem von der Pike auf erlernten Handwerk über Wasser zu halten. Kurz darauf aber war er mit einem weitaus vornehmeren Metier des Ganoventums bekannt gemacht worden und schlug sich daraufhin Jahre und Jahre als Hasardeur durch, bis er an den Falschen geriet, und von einer angeheuerten Bande halbtot geschlagen, mitten in der Wildnis liegengelassen wurde. Dort hatten ihn dann die Hurveniks gefunden, seine zahlreichen Wunden versorgt und ihn wieder aufgepäppelt. Als er sich an die Existenz dieser zauberischen Wesen gewöhnt hatte, musste er feststellen, dass er eine Leidenschaft mit einigen dieser Wichte teilte. Und dies war die Passion fürs Theater.

Zwar lag der kriminellere Teil seines Lebens nun schon lange hinter Kammergarn, doch hatte er gewisse Gewohnheiten beibehalten, und das Mitführen kleiner biegsamer Drähte, aus denen man in Windeseile Dietriche formen konnte, war eine davon. Allerdings hatte die Untersuchung seines Gefängnisses nun auch nicht gerade viel gebracht. Hinter der Glasscheibe des einzigen, von einem dicken Vorhang verhangenen Fensters war ein gewölbtes, schmiedeeisernes Gitter angebracht; er befand sich im Parterre eines Hauses, so konnte Kammergarn erkennen, das auf eine Art winziges Hinterhöfchen hinausblickte, umgeben von den Mauern anderer Gebäudeteile. Man hatte noch dazu den Griff des Fensters abgeschraubt, so dass es nicht zu öffnen gewesen wäre, hätte er um Hilfe rufen wollen. Allerdings hatte Kammergarn nicht den Eindruck, dass hier noch irgendwer wohnte. Im Grunde sahen die Fenster auf der anderen Seite aus, als hätte sich in den Räumlichkeiten vor nicht allzu langer Zeit eine Manufaktur oder etwas ähnliches befunden. Die Räume schienen recht hoch zu sein und auch die Fenster waren in entsprechender Höhe eingebaut.

Da hörte Kammergarn Schritte vom Flur nahen, warf sich, trotz seines umfangreichen Körpers, beinahe mit tänzerischer Anmut zurück aufs Bett und ließ die Handschelle wieder zuschnappen. Er würde keine zehn Sekunden benötigen, diese wieder mit dem winzigen Dietrich zu öffnen.

Nach dem Drehen des Schlüssels im Schloss der stabilen Holztür, kam wieder der Mann ins Zimmer, den Kammergarn schon kennengelernt hatte, und den er für denjenigen hielt, der ihm den Totschläger über den Schädel gezogen haben musste. ‚Sollte der denn wirklich Putzi heißen?‘, dachte Kammergarn jetzt. ‚Putzi, so hieß doch nun wirklich kein Mensch!‘

Wieder hatte der Mann die seltsame Bommelmütze auf dem Kopf, die so gar nicht zu den frühlingshaften Temperaturen passen wollte, schon gar nicht, wenn man sich das kratzig wirkende Ding noch bis übers Kinn hinunterziehen musste. Der steife nach oben gezwirbelte Schnäuzer machte die Aufmachung auch nicht gerade modischer.

„Ich soll dir was zum Essen bringen“, meinte jetzt der Kerl, den Kammergarn für diesen ominösen Putzi hielt. „Ich bin zwar der Meinung, dass es dir ganz gut anstehen würde, ein paar Pfund abzunehmen, aber …, na ja!“ Er trug tatsächlich ein Tablett auf dem linken Arm, mit der rechten Hand steckte er gerade einen Schlüsselring klimpernd in die Tasche seines Zweireihers.

‚Zumindest scheint mir dieser Trottel immerhin kein normaler Krimineller zu sein‘, dachte der Impresario. Eher würde er einen jungen Mann von einigem Adel in ihm vermuten, obwohl er sich bemühte, sich nicht allzu gewählt auszudrücken, was aber höchstwahrscheinlich gar nicht seine Herkunft zu leugnen helfen soll, sondern, dachte Kammergarn, eher versucht Putzi auf diese Weise bedrohlicher zu wirken. Umständlich mit dem Tablett jonglierend trat der dann näher.

„Nun, ich hoffe, ihr habt eure Lösegeldforderung gestellt?“, fragte nun Kammergarn ruhig. „Und werdet doch hoffentlich eingesehen haben, dass von den Hurveniks nichts zu holen sein wird. Obwohl wir, wie Sie wohl wissen, im Excelssior abgestiegen sind, heißt das nun keineswegs, dass die Truppe über größere finanzielle Mittel verfügt!“

„Geld interessiert uns ganz und gar nicht, Meister!“ Putzi versuchte mit diesem ‚Meister‘ schon wieder vergeblich so zu klingen, wie er sich die Redeweise eines professionellen Verbrechers vorstellte. „Wir haben ganz anderes im Sinn, mein Dicker!“

„Und was, wenn Sie mir die Frage erlauben?“

„Es geht um …“, man konnte trotz der Vermummung dem Kerl zumindest an den Augen ansehen, dass es in seinem Hirn zu rotieren begann. „Ach, was geht dich denn das eigentlich an? Kann dir doch vollkommen einerlei sein! Hauptsache alles geht nach Plan und wir können dich wieder laufen lassen, oder?“

„Nun, es würde mich dennoch interessieren ...“

„Je weniger du weißt, desto besser für dich. Stell dir nur einmal vor, du würdest unsere Gesichter sehen. Was glaubst du eigentlich, was wir dann mit dir machen würden, Fettsack? Zuviel Wissen kann schädlich sein, hat dir das deine liebe Mutti nicht beigebracht?“ Bei diesen Worten versuchte er noch einmal seine Stimme um ein, zwei Halbtöne zu senken, was ihm allerdings gründlichst misslang, wie Kammergarn bemerkte, da der Kerl fast hätte husten müssen.

Jetzt stellte er umständlich das Tablett auf der Bettkante ab. Kammergarn überlegte, ob er ihn mit einem einzigen kräftigen Haken würde ausschalten können, doch zögerte er, diesen Plan umzusetzen, da er nicht sicher war, wie viele Komplizen der Kerl im Nebenzimmer haben mochte. Zwar hatte er bisher nur die Stimme einer weiteren Person, noch dazu lediglich diejenige einer Frau wahrgenommen, aber man konnte ja nie wissen.

„Meine liebe Mutti hat mir so einiges beigebracht, zumindest Umgangsformen, also Dinge, die Ihnen vollkommen abgehen!“

„Was soll das heißen, ich bin sogar verwandt mit dem alten Freiherrn von Knick..." Putzis Stimme hatte zu ihrer natürlichen Tonhöhe zurückgefunden, zumindest solange, bis er sich jetzt mit einem zarten Händchen, das noch niemals im Leben irgendeine körperliche Arbeit hatte verrichten müssen, selbst auf den Mund schlug und hierbei seine exakt vertikal nach oben gerichteten Bartspitzen in Unordnung brachte.

„Du willst mich wohl einwickeln ..., ach, ...“, brachte er schließlich noch heraus, bevor er schleunigst den Rückzug antrat, nicht ohne jedoch die Tür wieder sorgfältig hinter sich abzuschließen.

‚Was für ein Idiot!‘, dachte Kammergarn und machte sich dann über die Mettbrötchen her, auf welche eine, wie er annehmen musste, weibliche Hand noch ein wenig frische Petersilie gestreut hatte.

***

Unterdessen hatte Krautschuk mit dem Komponieren begonnen. Nun konnte man nicht von Komponieren im eigentlichen Sinne sprechen, entlieh er nämlich die allermeisten Melodien dem Schatzkästlein der volkstümlichen Hurvenikmusik, die so gar nichts mit der Musik der Menschen gemein zu haben schien. Immerhin handelte es sich auch hier um Tonfolgen, die zwar ein normaler Bewohner des Kontinents niemals als Melodie empfunden hätte, doch beinhalteten diese sogar Klänge, die auch das menschliche Ohr als Geräusch wahrnehmen konnte. Wichtiger schien Krautschuk allerdings das Libretto zu sein, immerhin musste er sich ja an das halten, was das Stück, zu dessen Aufführung die kleinen Kerlchen gezwungen waren, ausmachte. Immerhin gedachte er den Worten, die den Akteuren hier in den Mund gelegt wurden, eine etwas lyrischere Note zu verleihen. Wenigstens sollte sich das ja alles auch reimen, wenn man es singen sollte. Dies zumindest hatten Hurvenikopern mit dem Musiktheater der Menschen gemein, es reimte sich jeder Satz, und dies zumeist auf die allergemeinste Art und Weise.

Kringskranx, der selbstverständlich den Krumppert geben sollte, war nicht eben abgeneigt, den Änderungen im Skript zuzustimmen. Zwar hegte er einige Bedenken, betreffend dieser Korrekturen, doch hoffte er, die Entführer Kammergarns würden an derlei Kleinigkeiten keinen Anstoß nehmen. Es schien sich ja, zumindest bei einem oder höchstwahrscheinlich einer dieser Halunken oder Halunkinnen, um eine wirkliche Liebhaberin der schönen Künste zu handeln. Dies glaubte der Hurvenik wenigstens, aus den wenigen Zeilen herausgelesen zu haben. Und was konnte ein solcher Schöngeist, der sich ja auch als ein wahrer Bewunderer des Volkstheaters Karbunkelkraut entpuppt hatte, schon dagegen haben, wenn die Künstler dem Stück ihren ganz eigenen Stempel aufdrückten?

Nur war es so, dass seitdem beschlossen worden war, das Ganze als volkstümliche Oper zur Aufführung zu bringen, etliche Bewohner des Hotels Excelssior sich schon über den unerträglichen Lärm beschwert hatten, der seit kurzem aus der Suite der Hurveniks herausschallte. Direktor Rissenbeck hatte die Wichte gebeten, ihre Proben woanders abzuhalten, da einige der Gäste tatsächlich schon Hals über Kopf ihretwegen abgereist waren. Trotz all der kulturellen Angebote, die die Metropole Weentbehl-Lachapelle im Frühjahr vorweisen konnte, war Rissenbeck zu Ohren gekommen, dass sogar Lord Pomfrey mitsamt seiner gesamten Entourage das Hotel verlassen hatte. Auf die Frage, warum er denn seine Pläne geändert habe, hatte der Edelmann nicht antworten können, anscheinend war er von einem Tag zum anderen stocktaub geworden, noch dazu hatte es ihm anscheinend die Sprache verschlagen. Der Nachtportier berichtete, Pomfrey habe ausgesehen wie jemand, der ein fürchterliches, traumatisches Erlebnis erlitten haben musste.

Glücklicherweise bot sich die Möglichkeit für zwei bis drei Stunden am frühen Vormittag im Theater selbst die Proben stattfinden zu lassen. Zu dieser Zeit befand sich nur der Hausmeister des Kulturtempels an seinem Arbeitsplatz und der hörte zu seinem großen Glück, von welchem er allerdings nichts wissen konnte, seit Jahren schon unglaublich schlecht. Im Gegenteil fühlte der gute Mann, immer wenn der junge Fargraffel zur Hauptarie der Königin Gerdundula ansetzte, ein angenehmes Kribbeln im Kopf, das sich daraufhin in seinem ganzen Körper vitalisierend auszubreiten begann.

In diese ersten Proben platzte nun am nächsten Morgen Nicht von Ungefähr hinein. Gerade machten die Hurveniks eine kleine Pause und waren damit beschäftigt, die Hinterlassenschaften der Ballettvorstellung vom Abend zuvor wegzuräumen und das ganze große Haus einmal einer Grundreinigung zu unterziehen, wie sie sagten. Anscheinend hatten sie die Putzkolonne, die eigentlich hierfür zuständig war, wieder nach Hause geschickt. Die Leute fragten den Hausmeister, ob dies denn alles so seine Ordnung habe, der konnte jedoch nur freundlich, mit verklärten Zügen nicken, woraufhin man gerne tat, was von einem verlangt wurde und beschloss, diese so plötzlich verhängte Urlaubszeit ausgiebig zu nutzen.

Nicht hatte die Kerlchen ja schon in seinem Büro bei Säuberungsaktionen beobachten können, was jedoch nun hier auf der Bühne und im Saal des Kontinentaltheaters vor sich ging, war tatsächlich atemberaubend. In einer Geschwindigkeit, so dass man die winzigen Körper kaum mehr im Gegenlicht der aufgedrehten Gasbeleuchtungsanlage erkennen konnte, widmeten sie sich nun dieser Tätigkeit, und Nicht konnte erneut verstehen, wie die Legende von den fleißigen Heinzelmännchen entstehen hatte können.

Hier schien ein Besen sich wie von selbst in rasendem Tempo durch die Bankreihen zu bewegen, nur um Sekunden später von zwei mit Feudeln bewaffneten Hurveniks verfolgt zu werden, ein dritter und vierter folgte wiederum diesen beiden auf dem Fuße, die einen zwanzig Liter Eimer aus Blech, als hätte er keinerlei Gewicht, über den Boden gleiten ließen.

Hoch droben an dem Eisengestell, an dem die Lampen, welche die Bühne anstrahlten, angebracht waren, wienerte einer der Knirpse das Glas der Scheinwerfer so sauber, dass Nicht den Eindruck hatte tatsächlich sehen zu können, wie es heller und heller im Saal wurde. Wieder ein anderer bearbeitete den enormen, rotsamtenen Vorhang mit einem Teppichklopfer, wobei der kleine Kerl bei jedem Schlag fast drei Meter in die Luft sprang, bevor er das Weidengeflecht auf den Stoff knallen ließ.

In all dem Tohuwabohu unterrichtete der Detektiv nun den Anführer der Hurveniks, Kringskranx, was er bis jetzt herausgefunden hatte. Nicht von Ungefähr hatte den Eindruck, dass der Hurvenik keineswegs überrascht war, von diesen wirklich ernsthaften politischen Hintergründen, die die ganze Geschichte dadurch bekam. Kringskranx überlegte nun tatsächlich, doch den Reichsverweser über die Entführung Kammergarns zu informieren, beschloss dann aber für sich, noch eine Weile damit zu warten. Er hatte am gestrigen Tag schon ein Telegramm aufgegeben und Verstärkung angefordert. Er rechnete aber damit, dass es bestimmt noch mindestens eine Woche dauern würde, bis jemand den weiten Weg von Hallgard bis hierher in die Hauptstadt bewältigt haben würde.

***

Derweil ging im Fürstentum Hallgard so langsam aber sicher nach einer echten Regierungskrise soweit alles wieder seinen normalen Gang, wenn man einmal davon absieht, dass Graf Bodo sich noch keineswegs von einer schweren geistigen Umnachtung vollständig erholt hatte. Aber da seine Ehefrau, die holde Priscilla durchaus fähig schien, die Lage zu bewältigen, war die Sache dann nicht gar so schlimm. Bodo hatte sich vorher schon weitaus öfter um seine geliebte Funzelballmannschaft gekümmert, deren Training er nun ganz und gar selbst übernommen hatte. Bei besagter sportlicher Betätigung handelt es sich um eine recht populäre Angelegenheit, doch nirgendwo sonst als hier in den mittleren Mittellanden wurde diesem ominösen Spiel eine solch große Bedeutung zugemessen. Was vielleicht auch seine Berechtigung hatte, zogen sich die Partien oftmals in eine solche Länge, dass mancher der Zuschauer schon verdurstet sein soll, weil er, wegen der Anspannung, die es mit sich brachte ein solches Spiel zu verfolgen, einfach vergessen hatte, Flüssigkeit zu sich zu nehmen.

Einige während des Aufstandes abgebrannte Häuserzeilen Hallgards befanden sich schon wieder in halbfertigem Zustand. Die sogenannte Rebellion des westlichen Quartiers der Stadt, das nur das Viertel der roten Lampen genannt wurde, hatte einige Gebäude doch immens in Mitleidenschaft gezogen. Allerdings trugen die Schuld an diesem Umstand keineswegs die Aufständischen, sondern weit eher der Baron selbst, der sich mit finsteren Mächten eingelassen hatte, was ihm schließlich keineswegs gut bekommen war.

Die Arbeiter deckten schon die Dächer der neuerrichteten Häuser ein; die über die ganze Stadt verteilten, kunstvollen Brunnen, zumeist Produkte des ansässigen Bildhauers Kürbisstein, sprudelten wieder nach dem langen Winter und schossen Fontänen in die Höhe. Einige der vor einem Monat gepflanzten Bäumchen im heruntergekommenen Garten der Festungsanlage begannen doch tatsächlich schon auszuschlagen, und ein kleiner Junge, namens Simon feierte mit seinem besten Kumpel Anton und einer enormen Sahnetorte in der Schlossküche seinen dreizehnten Geburtstag. Aber all dies ist für diese Geschichte leider vollkommen unerheblich.

Kammergarn entführt – stop - Böse Sache – stop - Erpresserische Unholde -stop- Keine Polizei- stop - Benötigen dringend Unterstützung -stop- Mit freundlichen Grüßen – stop - Krinskranx

Pampfnagel der Schmied hatte die Worte überflogen, die auf dem Telegramm standen, bevor er sie Athanasius laut mit tiefer, brummender Stimme vorlas. Den Hufschmied hätte man nur einen Riesen nennen können, er war annähernd zwei Meter groß und beinahe genauso breit, mit dem roten Bart im Gesicht wirkte er tatsächlich ein wenig wie der Riese Rübchenzahl, der in den fernen Nebelbergen der Legende nach sein Unwesen treiben sollte. Der blinde Alchimist hatte gespannt zugehört und schien nachzudenken. Athanasius Greifwald war um einiges kleiner von Gestalt als Pampfnagel, allerdings beinahe genau so dick wie dieser, doch ging von dem Blinden etwas aus, das nur ehrfurchtgebietend zu nennen sein würde. Er schien zu überlegen, das Weiß seiner Augen blickte in die Glut der Esse, die der Hufschmied schon auf die höchste Temperatur gebracht hatte, um seinem Handwerk nachzugehen.

„Kammergarn entführt, das hört sich nun keineswegs gut an“, murmelte der Alchimist endlich und wühlte wie geistesabwesend in seinem eisengrauen Vollbart, der weit hinab auf seine Hemdbrust fiel. „Wir sollten jemanden in die Hauptstadt schicken, was meinst du Schmied?“

„Selbstverfreilich“, meinte Pampfnagel gleich. „Stelle mich gerne zur Verfügung!“

„Ach, Schmied, ich denke, du wirst momentan hier benötigt. Wer sollte denn sonst den Wiederaufbau beaufsichtigen, es liegt im Viertel immer noch einiges in Trümmern!“, stellte Athanasius fest. „Und wahrscheinlich bräuchten wir bei dieser Angelegenheit eher jemanden, der nicht allzu auffällig aus der Menge herausragt!“

„Ich kann mich auch ganz klein machen“, erwiderte Pampfnagel, und obwohl der Alchimist gar nicht sehen konnte, dass der Schmied bei diesen Worten in die Knie ging und einen Buckel machte, um kleiner zu erscheinen, musste er dennoch laut lachen, so als ob er diesen lächerlichen Versuch unauffällig zu wirken mit den Augen hatte verfolgen können.

„Warum willst du dich kleinmachen, Pampfi?“, ertönte jetzt eine Stimme von der Tür der Schmiede aus. Im Eingang stand Sergeant Fribbeldropp in der Uniform der Hallgardenser Armee. Vor zwei Monaten war er zum Verbindungsbeamten des Rotlichtviertels ernannt worden, in welchem sich auch das Geschäft Pampfnagels und das Haus des Alchimisten befand. Im Grunde ging mit dieser Beförderung auch die Änderung seines militärischen Ranges einher, eigentlich war er jetzt Leutnant, doch nahm man an, dass es sich bei der Bezeichnung Sergeant um seinen Vornamen handelte und so war man dabei geblieben, ihn mit Sergeant anzusprechen.

„Sergeant, ich hätte da einen Auftrag, kannst du dir ein wenig Urlaub nehmen?“ Athanasius hielt Fribbeldropp den Zettel mit Kringskranx Nachricht unter die Nase und dieser überflog nun geschwind die Zeilen.

„Oh Mann“, stöhnte er dann, „ich muss sofort los!“

„Gemach, gemach!“, meinte der Alchimist, „das muss genau überlegt sein!“

„Wo soll er denn hin der Kontaktbereichsbeamte Fribbeldropp?“, fragte nun eine Stimme, die so tief war, dass es schien, das freiliegende Dachgebälk der Werkstatt käme ganz leicht ins Beben. In der Tür stand jetzt eine Gestalt, die in gar keiner Weise mit diesem Bass in Einklang zu bringen war. Es handelte sich bei der zarten, elfenhaften Frau um die Witwe Zimmerschreck persönlich. Sie führte hier im Viertel der Gauner und Ganoven das Regiment, wie man so sagen könnte; eine Betätigung, die wiederum zu ihrer körperlichen Erscheinung so gar nicht passen wollte.

Die Witwe Zimmerschreck mochte seit langem die Sechzig schon überschritten haben, ihr langes schneeweißes Haar reichte ihr beinahe bis auf die immer noch schmalen, jugendlich schlanken Hüften, der ganze Körper strahlte eine sehnige Kraft aus und die ebenmäßigen Züge der Frau verrieten, dass sie einstmals eine wunderschöne Maid gewesen sein musste, obwohl eine Härte in ihrem Blick lag, die über diese Tatsache beinahe hinwegzutäuschen vermochte.

Athanasius klärte nun auch die Witwe über das Schicksal des entführten Impresario auf und sofort war sie Feuer und Flamme in dieser Sache auf der Stelle etwas zu unternehmen.

„Ich wollte schon immer einmal wieder den Frühling in der Hauptstadt genießen. Die Parks, die Boulevards, das Theater, die fröhlichen Aufführungen in den Klostergärten!“, schwärmte nun die Witwe. „Das ist doch eine einmalige Gelegenheit, wer weiss denn schon wie lange es mir noch vergönnt ist, auf dem großen Pfannkuchen zu verweilen?“

Weder Fribbeldropp, noch der Schmied und auch nicht Athanasius hatten den Eindruck, dass die Witwe Zimmerschreck wirklich schon an ihren Tod denken würde, ganz im Gegenteil war durchaus herauszuhören, dass dies nur ironisch gemeint war.

„Aber Witwe“, versuchte nun Pampfnagel einzuwenden. „Eine solch weite Reise, in deinem Alter! Außerdem, wer weiß, mit wem ihr es zu tun bekommt? Eine Entführung! Die kriminellen Elemente in der Hauptstadt könnten von einem anderen Kaliber sein, als du es gewohnt bist!“

„Ach papperlapapp“, erwiderte die Witwe lächelnd, und dieses Lächeln war atemberaubend. Wenn sie lächelte, wirkte die Witwe Zimmerschreck von einer Sekunde zur anderen auf einmal wieder wie ein blutjunges Mädchen, das sich ihrer eigenen Schönheit sehr wohl bewusst war. „Do hob i scho ganz andre Haderlumpen aufs Kreiz glegt!“, brummte sie dann mit Grabesstimme und verfiel dabei in ihren eigenartigen, alpenninnischen Dialekt, welchen zu verstehen, Fribbeldropp immer noch einige Mühe bereitete. „Außerdem würde ich gerne auch dem Reichsverweser meine Aufwartung machen“, bei diesen Worten kicherte sie jetzt wie ein kleines Mädchen.

Nicht von Ungefähr

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