Читать книгу Nira und der Kristall des ewigen Wassers - Elchen Liebig - Страница 9

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Nira

Nira biss schweigsam von ihrem Brot ab und blickte in die Tischrunde in der Hoffnung, ihre Eltern würden ihre Meinung ändern. Noch einmal zwinkerte sie ihren Papo bittend an, doch sein Blick verriet ihr, dass er standhaft bleiben würde. Ihre Mamo senkte die Augen und ihr großer Bruder Jonathan, den alle Jo nannten, zuckte kurz mit den Schultern. Was war denn nur los? Soeben teilten ihre Eltern ihr mit, dass sie mit Jo zur späten Abendstunde zu Großpapo, der der Bürgermeister des Dorfes war, gehen würden und Nira zu Hause im Bett bleiben müsse. Sie hätten was Wichtiges zu bereden, hatten sie gesagt. Nira traute ihren Ohren nicht. Ohne sie? Sie war noch nie ausgeschlossen worden. Und nur weil sie sich diesmal zur nächtlichen Zeit treffen mussten, durfte sie nicht mit. Dabei fällt die Schule aus und was noch viel wichtiger war … Morgen ist ihr Geburtstag und sie wird 10 Jahre alt! Alt genug, um auch mal länger wach zu bleiben. Nira verstand die Welt nicht mehr. So eine Gemeinheit. Ob Großpapo das auch wollte? Aber Nira, wagte es nicht zu fragen, zu widersprechen oder sich lauthals zu beschweren. Sie wusste, dass es keinen Sinn machte, und schmollte kauend vor sich hin. Hinzu kam ihr der Gedanke, dass sie gern ihren Großpapo getröstet hätte. Immerhin war es für ihn heute nicht einfach gewesen, vor der versammelten Gemeinde zu sprechen. Sie waren alle so wütend auf ihn. Armer Großpapo! Nira stöhnte kurz auf und hing ihren Gedanken weiter nach. Ob sie sich beratschlagen werden, wie und woher Großpapo einen neuen Wasserkristall herbekommt? Aber was hatte das mit ihren Eltern und ihrem Bruder Jo zu tun. Großpapo entschied wichtige Dinge immer für sich allein, hatte Mamo einmal gesagt. Nira trank ein Schluck Milch, während sie weiter nachdachte. „Und, wenn ich einfach wach bleibe und ihnen heimlich nachgehe? Mit Sicherheit werden sie das Fenster in Großpapos Besprechungszimmer auflassen, sodass man von draußen gewiss hören kann, worüber sie sich unterhalten. Ha … und dann werde ich wissen, was sie ohne mich vorhaben“, dachte sie trotzig und schmunzelte über ihren heimlichen Plan vor sich hin.

Nach dem Abendbrot verabschiedete sich Nira beleidigt von ihrer Familie und kraxelte die Holzleiter hoch, die zu ihrem Zimmer führte. Mamo rief Nira nach, dass sie mit Sicherheit das nächste Mal wieder mitkommen dürfe. Nira war es in dem Moment egal und sie reagierte nicht auf die Worte ihrer Mutter. Sie war stinksauer. In ihrem kleinen Reich, was unter dem Dach des Hauses lag, hatte ihr Bett unter einer runden Dachluke seinen Platz. Links davon stand eine kleine Kommode mit einer bunten Kerze drauf, in dessen Schublade sich allerlei Krimskrams befand, wovon Nira sich nicht trennen konnte. Schräg gegenüber stand ein schmaler Kleiderschrank und ein kleiner Tisch passte noch genau in die Ecke, worauf eine Waschschüssel mit einem Wasserkrug platziert war. Nira fand ihr Zimmer gemütlich und ausreichend, denn die meiste Zeit des Tages verbrachte sie draußen. Sie sprang auf ihr Bett und kramte vorsichtig ihr kleines, gezacktes Tröpfelblatt aus ihrer Hosentasche und platzierte es auf die Kommode. Sie war drauf und dran, es sich unter die Zunge zu legen, weil sie Durst verspürte. Doch durch die Kräuterschule wusste sie, dass man das Tröpfelblatt nur wenige Male verwenden konnte, somit hob sie es sich lieber für einen späteren Zeitpunkt auf. Sie zog ihre Schuhe und ihre Hose aus und krabbelte unter ihre Bettdecke, die ihre Mamo vor Kurzem aus vielen bunten Stoffresten genäht hatte. Geduldig und munter wartete sie darauf, dass ihre Eltern und ihr großer Bruder das Haus verließen, um sich auf den Weg zu Großpapo zu machen. Währenddessen grübelte sie darüber nach, wo ihr kleiner Hund Berry wohl steckte. Denn er war nach der Versammlung auf dem Dorfplatz plötzlich verschwunden. Das war sehr ungewöhnlich, denn ihr kleiner Freund war immer in ihrer Nähe. Musste sie sich um ihn Sorgen machen? „Ach, ich glaube nicht“, murmelte sie leise vor sich hin. Sie schmunzelte, als sie ihn gedanklich vor Augen sah. Er ging ihr bis zu den Knien und sie liebte sein kurz gelocktes, weißbraunes Fell, was sich kuschelig anfühlte. Seine kleinen Schlappohren, wovon das rechte Schwarz war und sich aufstellte, wenn er sich besonders viel Mühe gab, um etwas zu erlauschen, sahen immer lustig aus. Nira kicherte leise vor sich hin, weil sie auch daran denken musste, dass Berry oftmals die Wörter verdrehte und dabei die witzigsten Sätze herauskamen. „Vielleicht ist es ja gut so, dass er nicht weiß, was ich heute Nacht noch vorhabe. Er wäre bestimmt nicht damit einverstanden gewesen.“ Nira wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie die Haustür zuklappen hörte. „Ja … haha. Sie sind weg!“, murmelte sie erfreut. Sie wartete eine Weile und horchte, ob nicht doch jemand im Haus war. Nein, es herrschte absolute Ruhe und sie konnte sich jetzt auf den Weg machen. Nira sprang aus ihrem Bett und zog sich für ihren nächtlichen Ausflug an. Im Dunkeln hüpfte sie in ihre geliebte kurze braune Hose, denn Röcke, wie sie alle Mädchen trugen, waren ihr ein Graus. Sie schlüpfte in ihre weichen Schuhe und zog ihren dunkelgrünen Kapuzenwollpullover über, damit sie eine Kopfbedeckung für ihren auffälligen Lockenschopf hatte. Oft genug hatte sie sich über ihre störrischen Haare aufgeregt. Egal wie sie sie kämmte, die dichten Locken wanderten immer dahin, wo sie nicht liegen sollten. Als ob das allein nicht schon reichte, denn alle Snowlies hatten rote Haare, nur sie war die Einzige im Dorf, die durch ihren weißblonden Lockenschopf auffiel, sodass man sie von Weitem sah. Sie hatte sie von ihrem Großpapo geerbt, seine waren jedoch mittlerweile hell ergraut. Sie nahm es in Kauf, dass es natürlich viel zu warm unter der selbst gestrickten Wolle werden würde, aber sie befürchtete, vielleicht erkannt zu werden, sollte sie jemandem begegnen. Sie kletterte leise die Holztreppe herunter und verließ das Haus. Unwohlsein spürte sie in ihrer Magengegend, als sie auf der lautlosen Straße stand. Ihr war mit einem Mal klar, dass sie sich bisher noch nie allein getraut hatte, nachts durch das Dorf zu ziehen. Und mit dem Bewusstsein, dass unter der Gemeinde wohl ein Dieb weilte, wurde das Gefühl im Magen nicht besser. Sie schaute zum Himmel hoch und stellte erleichtert fest, dass der Mond wie eine helle, gelbe Laterne herab schien, als wäre das letzte Strahlen der Sonne an ihm haften geblieben und somit die Dunkelheit ihr eigenes Licht bekam. Sie machte sich auf den Weg und während sie die Straße schleichend hinter sich ließ, hörte sie aus den halb geöffneten Fensterläden hier und da schlummernde Geräusche. Besonders aus dem Haus der dicken Frau Gresselhüpf ertönte so ein unüberhörbares Schnarchen, dass man annehmen konnte, sie würde in dieser Nacht einen Pokal für die lauteste Schnarchmusik bekommen. Nira musste sich sehr zusammen reißen, um nicht laut zu kichern, und hielt sich vorsichtshalber die Hand vor den Mund. Gleich hatte sie es geschafft. Es waren nur noch ein paar Schritte, um links in die Süd-Ost-Straße abzubiegen, ein kurzes Stück geradeaus, bis die Südstraße begann und dann war es nicht mehr weit, um zum Haus ihres Großpapos zu gelangen. Nira versuchte, sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal bei ihm war und stellte fest, dass es schon viele Tage her sein musste. Sie nahm sich vor, öfter ihren Großpapo zu besuchen. Ihr Magen begann wieder vor Unbehagen zu drücken und ihr Atem kroch laut in ihre Ohren. War es die Stille um sie herum? Nira schaute etwas ängstlich zurück. Niemand war weit und breit zu sehen. Sie zog die Kapuze vorsichtshalber noch tiefer ins Gesicht, obwohl ihr die Wärme unter ihrem Pullover bereits einen feuchten Rücken bescherte. Nira überquerte die schmale Südstraße und lief geduckt auf das Haus ihres Großpapos zu. Ein breiter Rosenbogen lud zum Betreten seines Grundstückes ein. Sie ging hindurch und folgte den schmalen und von kleinen Buchsbäumen umsäumten Gehweg, welcher geradewegs zur Haustür führte. Rechts davon begrüßte ein prachtvoll ovales Holzschild auf einem Pflock die Besucher. Der leuchtende Schein des Mondes ließ darauf mittig den Buchstaben „B“ und die geschwungenen Verzierungen drumherum goldig glänzen, was jeden wissen ließ, dass hier der Bürgermeister wohnte. Niras kleine Hand strich mit Stolz flüchtig über das Schild. Sie liebte und bewunderte ihren Großpapo. Er wirkte beruhigend auf sie, obwohl er mit Disziplin und einer gewissen Strenge das Dorf regieren musste. Für Spiele und Streiche war er für Nira immer zu haben und so manch gemeinsamer Unfug blieb für sie beide geheim. Nira sah auf, als sie seine vertraute Stimme aus einem geöffneten Fenster hörte. Sie erkannte sofort, aus welchen Räumen es kam. „Aha! Sie sitzen wie immer in seinem Besprechungszimmer. Dachte ich's mir doch“, sagte sie kaum hörbar. Sie schlich geschwind an der Hauswand entlang und sah dabei im Mondlicht die Umrisse der Blumen im Garten, die vertrocknet ihre Köpfe bis zum Boden hängen ließen. Nira schaute zu den hohen Gräsern, die sich seitlich des Hauses zierten und sich immer im Wind wogen. Auch sie bogen sich kraftlos der Erde entgegen. „Oh… Großpapo, wie traurig. Dein Garten ist auch so vertrocknet“, flüsterte Nira. Sie fragte sich kurz, wie lange die Wassernot wohl noch andauern würde, während sie lautlos ans geöffnete Fenster ging. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und als sie mit ihren blauen Kulleraugen ins Innere des Raumes Luschen wollte, erschrak sie, als sie plötzlich den Rücken ihres Großpapos vor sich sah. Unruhig hatten sich seine Arme auf dem Rücken niedergelassen, die rechte Hand hielt die linke und seine Finger gingen immer hin und her. Nira mochte kaum atmen. Damit hatte sie eben nicht gerechnet. Sie blieb regungslos am Fenster stehen, aus Angst ihr Großpapo könnte sie bemerken. Dabei lauschte sie gespannt seinen Worten, die sehr erregt klangen. „Ihr wisst genau, dass ich das Kind ungern auf so eine gefährliche Reise schicke, aber Nira ist nun mal die Einzige aus dem Dorf, die es schaffen könnte!“ Großpapo entfernte sich vom Fenster und Nira hatte jetzt freie Sicht über das ganze Zimmer, das spärlich mit ein paar Kerzen beleuchtet war. „Hä? Wieso sprechen sie über mich? Was soll ich schaffen?“, fragte Nira sich verwundert. Sie sah ihre Mamo, ihren Papo, ihren Bruder Jo und ihre Tante Nele an Großpapos großen, runden Holztisch sitzen. „Diese Reise ist viel zu gefährlich, Großpapo“, redete Jo dazwischen. „Lass mich anstelle von Nira gehen. Sie ist viel zu jung und unerfahren. Sie weiß nichts von dieser fremden Welt!“ Niras Mamo schluchzte ständig und schnäuzte laut in ihr Taschentuch. „Jo hat recht. Ich bitte dich, lass ihn lieber gehen. Er ist groß und kräftig und Nira? Sie ist doch noch ein Kind!“, flehte Mamo und schnäuzte wieder weinend in ihr Taschentuch. Tante Nele, die links von ihr saß, ergriff tröstend ihren Arm. Großpapo stützte sich mit seinen Händen am Tisch ab und holte tief Luft. Er nickte verständnisvoll mit seinem Kopf, bevor er wieder zu seiner Familie sprach. Es war schwierig für ihn, ihnen zu erklären, dass es keine andere Lösung geben würde. „Ja, ich weiß, aber ihr wisst doch, dass nur Auserwählte dorthin gelangen können.“ Er blickte zu seinem Enkel. „Mein lieber Jo, ich finde es sehr ehrenvoll von dir, dass du anstelle von Nira gehen möchtest. Mir wäre es auch lieber, aber der Wald wird sich für dich nicht öffnen und einen anderen Weg gibt es nicht zur nördlichen Welt.“ Großpapo machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach, und Jo schaute ihn etwas aufmüpfig an. „Jo, lass mich es erklären“, fuhr Großpapo fort. „Ich erzählte dir mal von dem Ereignis, was sich in deinem Elternhaus zutrug, damit du weißt, warum ich jetzt so handeln muss!“ Jo nickte und senkte den Blick. Er hatte die Geschichte nie ernst genommen, die sein Großpapo ihm jüngst offenbart hatte. Und ausgerechnet jetzt sollte sie wahr sein? „Ich weiß Jo, du hast mir nicht wirklich geglaubt. Aber deine Eltern sind Zeugen und können es dir bestätigen. Das alte Weib verkündigte in jener Schneenacht, dass nur Nira nach meiner Amtszeit als Auserwählte die vier Welten betreten darf, wenn wir hier in Not sind. Auch gab sie ihr die Gabe, mit Tieren und Pflanzen zu sprechen, was für die Reise sehr wichtig ist. Ja … die Alte kommt immer, wenn es an der Zeit ist. Jo, es tut mir leid. Nur Nira ist in der Lage, uns einen neuen Wasserkristall aus der nördlichen Welt zu holen“, sagte Großpapo und seufzte tief. Jo stützte sein Gesicht in seine Hände und sein Papo, der neben ihm saß, klopfte ihm sacht auf den Rücken. „Wir brauchen dich hier mehr als je zuvor, mein Sohn“, sagte Papo. Nira, die wie angewurzelt draußen am Fenster alles mithörte, wusste nicht, was sie denken sollte. Sie verstand überhaupt nicht, worüber ihr Großpapo sprach, aber sie hatte jetzt auch keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ihr war sehr heiß unter ihrem Wollpullover und er begann auf ihrer Haut zu kratzen. Sie merkte, wie ihr die Hitze in den Kopf schoss, und ihre Wangen anfingen zu glühen. Nira verfolgte mit ihren Augen die Schritte ihres Großpapos, der nachdenklich im Zimmer hin und her ging und sich dabei an seinen grauen Bart kratzte. Er blickte kurz zum Fenster, und obwohl Nira sich schnell duckte, hatte sie das Gefühl, dass ihr Großpapo sie bemerkt hatte. In diesem Moment war es sehr still in dem Zimmer und Verzweiflung und Wut hingen in der Luft. Keiner sagte ein Wort, bis Großpapo weitersprach. „Glaubt mir, Nira ist ein kluges Kind. Sie ist schon sehr reif für ihre zehn Jahre und außerordentlich mutig und sie lässt sich nicht so schnell beirren wie andere Kinder ihres Alters!“ Großpapo nahm auf seinem Stuhl Platz und redete weiter. „Sie ist meine Enkelin, mein ein und alles und ich werde alles dafür tun, dass sie heil nach Hause kommt.“ Nira, die sich wieder traute, in das Zimmer hinein zu schauen, sah zu ihrer Mamo, die sich einfach nicht beruhigen konnte und unentwegt in ihr Taschentuch schnäuzte. Papo, der rechts neben ihr saß, nahm seine Frau liebevoll in den Arm. „Unser Kind wird es schaffen. Habe Vertrauen. Er weiß, was er tut“, sagte Niras Papo mit einer ruhigen Stimme. Großpapo klatschte kurz mit der flachen Hand auf den Tisch. „Damit ist das jetzt beschlossen. Ich werde morgen alle Vorkehrungen unternehmen und mit dem Kind am Abend reden.“ Großpapo stöhnte leise. Auch ihm war seine Entscheidung nicht recht, seine kleine Nira für das Wohl des Dorfes wegzuschicken. Was hätte er alles getan, um selbst zu gehen. Jo räusperte sich und schaute seinem Großpapo tief in die Augen. „Diese Nachricht wird mit Sicherheit morgen das tollste Geburtstagsgeschenk für Nira sein“, sagte Jo ironisch. Er war so wütend auf seinen Großpapo. „Und was ist, wenn sie gar nicht will? Hast du dir darüber mal Gedanken gemacht? Wie willst du dafür Sorge tragen, dass Nira wieder gesund nach Hause kommt? Auch wenn du hier der Bürgermeister bist und das Sagen hast, glaube ich nicht, dass du jetzt gerade weißt, ob oder welche Gefahren dort lauern! Kannst du es verantworten, ein kleines Mädchen in eine fremde Welt zu schicken, die keiner von uns kennt? Kannst du ihr sagen, wo sie genau den Kristall des ewigen Wassers findet? Und bist du dir ganz sicher, dass du die vier Welten nicht mehr betreten darfst?“ Seine Lippen zitterten vor Aufregung. Jo hatte Angst um seine geliebte Schwester. Mit seinen achtzehn Jahren war es das erste Mal, dass er es wagte, seinem Großpapo zu widersprechen und schaute erst zornig und dann verlegen zur Seite. Großpapo lehnte sich gelassen in den Stuhl zurück und sah seinen Enkel an. „Ja, du hast recht mein Junge und deine Sorge ist berechtigt. Ich will dir kurz etwas erzählen. Es herrschte vor vielen Hundert Jahren schon einmal eine Wassernot. Auch damals war der wertvolle Wasserkristall auf geheimnisvolle Art verschwunden und man wusste nicht, warum. Meine Vorfahren schickten meinen Ururgroßvater in die nördliche Welt. Er kam zwar nicht ganz unversehrt, aber nach einigen Tagen mit einem der kostbaren Steine zurück. Nun, wie ihr wisst, wurde bisher nicht viel darüber gesprochen, wenn ein Auserwählter meist war es der Bürgermeister, der in eine der vier Himmelswelten reiste. Aber jeder Auserwählte gab sein Wissen an den Nachfolger weiter. Und somit weiß ich, dass es die Wasserkristalle in der nördlichen Welt gibt. Dort im - Reich der tausend Lichter - wird Nira sie finden. Und das ist schon ein wichtiger Anhaltspunkt, an den sie sich halten kann.“ „Pah … Hoffentlich ist es nicht einer der erfundenen Geschichten von damals. Du glaubst ja gar nicht, wie viele es davon gibt, Großpapo“, antwortet Jo. Er verschränkte die Arme und schüttelte ungläubig den Kopf. „Na, ich denke schon, dass es seine Richtigkeit hat, mein Junge. Denn innerhalb der Familie wird sich immer die Wahrheit gesagt. So glaube mir auch, dass alle fünfzig Jahre die vier Mächte der Himmelsrichtungen eine Person aus unserer Mitte auserwählen, die diese Welten betreten darf, wenn wir hier Hilfe benötigen. Ich wusste schon damals in der Schneezeitnacht, dass das alte Weib die Wahrheit sprach, denn ich hatte nur noch wenige Jahre als Auserwählter vor mir. Ich hoffte für unsere Kleine, dass sie viel Zeit haben würde, zumindest bis sie erwachsen wäre. Doch nun wird Nira früher gebraucht, als ich erwartet habe, und ich versichere dir, meine Dauer als Auserwählter ist leider vorbei.“ Großpapo stieß einen tiefen Seufzer aus und sprach weiter. „In diesen vielen Sonnenmonaten gab es nie Regen und wir können auch nicht darauf hoffen. Die Dürre der Felder und das fehlende Trinkwasser lässt uns keine Zeit noch länger zu warten. Nira wird im Norden auf alles eine Antwort bekommen und ihr wird dort auch geholfen. Da bin ich mir ziemlich sicher, denn die Himmelsmächte werden es nicht zulassen, dass wir hier alle verenden.“ Großpapo holte tief Luft. „Ich habe noch eine Bitte an euch. Weint nicht, wenn sie geht. Sprecht ihr Mut und Vertrauen zu. Und seid auch selbst voller Zuversicht, dass sie es schaffen wird, das Dorf zu retten.“ Eine kurze Pause entstand, bevor Großpapo ein letztes Wort an seine Familie richtete. „Nun, ich denke, es ist alles gesagt. Wir sollten uns jetzt schlafen legen, denn wir haben morgen alle einen anstrengenden Tag vor uns.“ Die Familie musste sich damit abfinden, dass es der letzte Ausweg war, Nira in die nördliche Welt zuschicken. Bis auf Großpapo erhoben sich alle vom Tisch und verabschiedeten sich bei ihm mit einem „Gut Nachtwohl“ und langer Umarmung. Nira, die draußen am offenen Fenster alles mitbekommen hatte, glitt die Hauswand herunter. Sie war schweißgebadet und ihr Wollpullover pikste unangenehm auf ihrer Haut. Sie war völlig durcheinander und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Großpapo wollte sie wegschicken? Sie ganz allein sollte einen neuen Wasserkristall herholen? Und wie war das mit der Alten, dem Weib? Nira bereute es in diesem Augenblick, nicht einfach im Bett geblieben zu sein. Vielleicht war es nur ein Traum? Nein, im Traum pikst und kratzt kein Pullover so fürchterlich auf der Haut. Nira schüttelte mit ihrem Kopf hin und her, als wenn sie sich wachrütteln wollte, und war schnell wieder bei Verstand. „Ich muss sofort hier weg, bevor sie mich entdecken“, dachte sie. Sie richtete sich wieder auf und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie war enttäuscht und wütend zugleich. „Wie können sie nur über mich bestimmen? Ich hätte genauso gut heute Abend bei dem Gespräch dabei sein können und dann hätte ich von vornherein gesagt, dass ich niemals in so eine komische Welt reisen will. Ich will hier nicht weg!“, schrie Nira innerlich. Sie erschrak, als plötzlich etwas Feuchtkaltes sie am Bein berührte, und sie erkannte ihren kleinen Freund Berry. „Berry, was machst du denn hier? Du hast mich eben ganz schön erschreckt!“, flüsterte sie schniefend und scheuerte sich dabei an den Armen. Der Pullover war durch die Wärme kaum auszuhalten. Berry wedelte vor Freude mit seiner Rute hin und her. „Da bist du ja. Sehe ich richtig? Du hast gelaust? Das tut man doch nicht und außerdem bist du ohne mich weggegangen. Warst nicht in deinem Zimmer. Mittig in der Nacht“, knurrte Berry etwas vorwurfsvoll. „Berry, das heißt gelauscht. Ja, ich weiß, aber du warst nicht da! Ich hätte dir sonst erzählt, dass … Ach egal. Ich bin froh, dass du mich gefunden hast. Aber jetzt komm erst mal mit. Wir müssen schnell hier weg, bevor sie uns erwischen. Ich erzähle dir gleich alles unter meiner Bettdecke in Ordnung?“, flüsterte Nira panisch. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ihre Familie aus dem Haus ihres Großpapos kommen würden. Berry guckte sie belustigt an. „Aha … Uns erwischen, sagst du? Eher dich als mich. Ich bin mal gespannt, was du zu deiner Verteidigung zu sagen hast. Außerdem, warum hast du denn dein Schneekaltzeitpullover übergezogen? Deine Nase glüht ja bis zum Himmel. Dass kann ich sogar im Mondlicht sehen. Das wirst du mir alles gleich erklaren müssen! Ich bin sehr gespannt. Aber gut, dann mal losdilos!“ „Losdilos? Was ist das denn für ein neues Wort von dir?“ Nira schüttelte mit dem Kopf. Hätte sie bessere Laune gehabt, hätte sie bestimmt darüber gekichert. „Ich werde dich nachher erst mal verbessern!“, sagte Nira trotzig. Sie hatte keine Lust dazu, sich von Berry eine Standpauke anhören zu müssen. Jetzt galt es, sich so schnell wie möglich von Großpapos Haus zu entfernen. Im Hintergrund hörte Nira schon die Stimmen ihrer Familie und sie lief mit Berry, ohne sich umzudrehen, schnellstens zu ihrem Elternhaus zurück. Geschwind kletterte sie mit Berry die Holztreppe zu ihrem Dachzimmer hoch. Durch die runde Dachluke fiel der helle Mondschein ins Zimmer. Verschwitzt schmiss sie ihre Schuhe und ihre Kleidung in die Ecke und zog sich ein leichtes Nachthemd über. Nira hüpfte in das gemütliche Bett und kroch unter ihre bunte Schlafdecke, wo Berry bereits auf sie wartete. Sie war ganz außer Atem. Ihr Mund war trocken und sie hatte furchtbaren Durst, was Berry sofort bemerkte. „Hier meine Kleine, ich habe dir mein Tröpfelblatt aufs Bett gelegt. Leg es dir gleich unter die Zunge und es wird dir sofort besser gehen“, sagte Berry fürsorglich. „Danke Berry, aber du brauchst es selbst. Ich habe doch meins auf meiner Kommode liegen.“ „Keine Widerrede. Deins musst du dir aufheben. Ich kann noch welche besorgen. Ich weiß nämlich, wo die Kräutermillie den Rest der Tröpfellis aufgehoben hat“, kicherte er. „Dir entgeht aber auch gar nichts, Berry. Nimm ihr nicht alle weg, hörst du?“, ermahnte Nira ihn. Sie nahm sich sein Tröpfelblatt und legte es sich unter die Zunge. „Berry weiß von nichts“, lachte Berry und schüttelte mit dem Kopf. „Was hatten wir eben für ein Glück, das wir nicht erwischt worden sind“, sagte Nira immer noch etwas außer Atem. „Du meinst wohl, dass du nicht gewischt wurdest. Was treibst du dich um diese Zeit heimlich bei deinem Groschpapo herum und laust?“, brummte Berry noch immer vorwurfsvoll. „Wie gut, dass du wegen zu doller heißer Luft und Wassernot morgen schulfrei hast“, fügte er hinzu. „Ja ich … pscht…!“ Nira kam nicht mehr dazu, Berry eine Antwort zu geben, denn sie hörte ihre Eltern und Jo in Haus hereinkommen. Die drei unterhielten sich leise in der Küche. Berry kroch aus der Schlafdecke hervor und sein schwarzes Schlappohr schoss in die Höhe. Auch Nira setzte sich kerzengerade in ihrem Bett auf. Beide bemühten sich sehr etwas, von dem Gespräch ihrer Familie mitzuhören, aber außer dem Schnäuzen ihrer Mamo verstanden sie kein einziges Wort. Es kam Nira wie eine Ewigkeit vor, bis Tante Nele sich verabschiedete und sich ihre Mamo, ihr Papo und ihr Bruder Jo zur Ruhe begaben. „Es ist still unten im Haus. Ich glaube, sie sind ins Bett gegangen. Jetzt können wir reden, Berry. Aber warte mal, ich mach uns noch ein Kerzenlicht an“, flüsterte Nira aufgeregt. Schnell nahm sie ihre Streichholzschachtel aus der Schublade ihrer Kommode und zündete die Kerze an. Berry legte seinen Kopf auf Niras Beine. „Also, nun erklare mir mal, warum du deiner Familie heimlich nachgeschnüffelt hast. Du hättest auf mich warten müssen. Was wäre bloß passiert, wenn der Dieb auch dich gestohlen hätte?“ Nira streichelte ihren kleinen Freund hinter den Ohren. „Ja, ich weiß, aber du warst vorhin einfach verschwunden. Und da du auch nicht hier warst, konnte ich dir nicht erzählen, dass Mamo, Papo, Jo und Tante Nele heute Abend noch zu Großpapo gehen mussten. Und stell dir vor Berry, ich durfte nicht mit!“ Nira regte sich schon wieder innerlich darüber auf. „Dabei werde ich morgen schon 10 Jahre alt! Was sollte ich also tun? Einfach hier herumliegen und darüber nachgrübeln, warum das so ist? Das hätte ich nicht ausgehalten. Das kannst du doch verstehen, oder?“ Berry stieß einen kleinen Seufzer aus und hörte Nira weiter zu. „Darum beschloss ich, ihnen hinterherzugehen, um heraus zu bekommen, was sie vor mir verheimlichen. Und wo hast du überhaupt die ganze Zeit gesteckt?“ Berry setzte sich auf, um Nira ins Gesicht zu sehen. „Ich habe versucht, den Dieb zu finden. Um jedes Haus, ach was sage ich … überall im ganzen Dorf schnüffelte ich herum. Mein Ohr habe ich gespitzt, aber nichts, aber auch gar nichts war zu hören oder zu finden, außer traurige Gesichter. Eine Schande ist das. Na ja, dann war ich zufällig bei der Kräutermillie und da sah ich, wo sie die übrigen Tröpfellis versteckt hält. Ich glaube, die will sie alle für sich haben. So eine Frechelichkeit! Aber da mach ich ihr einen gehörigen Schitt drauf … äh … oder so ähnlich“, sagte Berry und schüttelte verständnislos mit dem Kopf. „Frechheit heißt es, Berry!“, unterbrach Nira ihn. „In Ordnung, aber nun, meine Kleine, erzähle mir, was du am Fenster erlausen konntest. Ich bin schon sehr gespannt.“ „Oh Berry! Viel konnte ich hören, aber verstanden habe ich nicht wirklich etwas. Ich hatte es schon erahnt, dass sie von dem gestohlenen Wasserkristall sprechen werden. Aber dass ich die Einzige bin, die einen neuen Kristall beschaffen kann oder eher gesagt muss, kann ich wirklich nicht glauben. Großpapo will mit mir morgen Abend darüber reden. Aber wieso ausgerechnet ich?“ Nira schossen Tränen in die Augen und sie wurde immer aufgeregter. Stück für Stück fiel ihr alles wieder ein. „Berry, ich muss in den Wald, wo es doch bestimmt sehr dunkel und gruselig sein wird. Stell dir vor, Großpapo sagte, ich müsse in die nördliche Welt reisen. Nur ich sei in der Lage, das Dorf zu retten! Und dann … Und wie gut es ist, dass ich mit allen Tieren sprechen kann. Das stimmt ja auch, und ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht. Ach Berry, wäre es nicht so, dann hätte ich dir das alles gar nicht erzählen können.“ Nira wurde es in dem Moment bewusst, wie dankbar sie dafür war und gab Berry einen Kuss auf die Nase. „Berry, stell dir mal vor, sie wollen mich allein in die nördliche Welt gehen lassen und ich weiß überhaupt nicht, was mich da erwartet. Ist es sehr gefährlich? Und wer bitte schön ist das alte Weib, die die …!“ Nira fing an zu schluchzen. „Ich verstehe das alles nicht. Nie hat mir irgendjemand etwas darüber erzählt, dass ich eine Auserwählte bin. Wenn ich Großpapo oder die anderen fragte, was ein Auserwählter des Dorfes zu tun hat, sagten sie immer, ich sei noch zu klein, um darauf eine Antwort zu bekommen. Und jetzt fragen sie mich nicht einmal, ob ich es überhaupt sein will!“ Niras Stimme versagte und große Kullertränen rollten über ihre glühenden Wangen. Berry legte tröstend eine Vorderpfote auf ihre Schulter. „Och … Kleines, du bist ja ganz durchgewirbelt. Ich kann deine Aufregung gut verstehen, drum lass mich mal erklaren das Ganze.“ „Erklären, meinst du wohl!“, schniefte Nira und wischte ihre Tränen an der Bettdecke ab und wurde plötzlich hellhörig. „Oh, du kannst mir das alles erklären, Berry? Du weißt von alledem? Und wieso ich nicht?“ Nira war verblüfft und wunderte sich. Eigentlich hatte Berry ihr doch immer alles erzählt. Berry versuchte sie zu beruhigen. „Nira, du warst bisher zu jung. Dein Groschpapo hätte dir alles anvertraut und dich auf alles vorbereitet, aber er wollte eben noch ein paar Jahre damit warten. Die Zeit als Auserwählter ist für deinen Groschpapo erst seit Kurzem beendet. Und so oft kommt es nicht vor, dass wir hier in einer geklemmten Patsche sitzen. Deshalb sei ihm nicht bös darüber.“ Berry stupste sie kurz mit seiner Schnauze. „Beruhigst du dich jetzt, Nira? Und soll ich weiter erklaren?“ Nira nickte und wischte sich mit ihrem Handrücken die letzten Tränen ab. „Also gut, fangen wir damit an, als du noch ein Baby warst und von den vier Himmelsmächten auserwählt wurdest, um unser Dorf vor Unheil zu schützen. Deshalb kannst du auch mit uns Tieren und den Pflanzen sprechen. Wie dein Groschpapo. Du musst mit den Blumen und mit den Bäumen mal ein Pläuschchen halten. Das ist sehr luschtig, hähähö.“ Berry prustete in seine Pfote vor Vergnügen. „Sehr lustig, Berry. Mir ist gerade gar nicht zum Lachen. Aber na ja … Kann schon sein. Fand sie immer nur sehr schön“, antwortete Nira. Berry sprach weiter. „Da kommst du auch noch dahinter. Alles braucht eben seine Zeit. Und jetzt zum Wasser, was wir bald nicht mehr haben werden, wenn wir nicht so schnell wie möglich einen Wasserkristall bekommen. Wie du ja weißt, haben wir alle schon seit längerer Zeit das Wasser gepaart, aber jetzt ist eben Schluss.“ „Du meinst gespart“, unterbrach Nira ihn. Berry rollte genervt mit den Augen. „Nun ja, wie dem auch sei. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir hier so eine getrocknete Zeit hatten und der Dorfbrunnen, wie du weißt, fast geleert ist. Wenn wir bald kein Wasser mehr haben, müssen wir alle austrocknen.“ „Du meinst Verdursten. Oh … Berry, wie schrecklich!“, redete Nira dazwischen. „Habe ich doch gesagt“, wuffte Berry leise und fuhr fort. „Die Felder verdröhen, das Gemüse ist geschrumpelt und der Bäcker kann mir keine Kekse mehr packen und das nur, weil unser Kristall des ewigen Wassers verdiebt wurde“, seufzte Berry. Nira überlegte kurz. „Backen und gestohlen meinst du wohl“, verbesserte sie ihn wieder und stöhnte. „Mmh … Das stimmt. Die Wiesen und Felder sind mittlerweile so trocken, dass es sehr unangenehm ist, wenn man barfuß darüber läuft. Was soll denn nur jetzt werden?“ Nira seufzte und ihr stiegen erneut die Tränen hoch. „Nicht weinen meine Kleine. Aber du siehst jetzt deutlicher, wie dringend wir dich brauchen, auch wenn es dir zu schnell geht, weil alles neu ist. Es wird höchste Zeit, dass wir handeln. Bis es zwischen der Sonnenzeit und der Schneezeit regnet, ist es noch lange hin, zumal es nur von kurzer Dauer ist.“ Berry stupste sie liebevoll. „Na und außerdem bin ich immer bei dir. Wird alles gut versprochen!“ Nira umarmte ihren kleinen Freund. Sie war so froh, mit diesen vielen Neuigkeiten nicht allein zu sein. „Du begleitest mich? Danke, Berry. Aber wie geht es denn jetzt weiter?“ „Dazu komme ich gleich. Ich will dir jetzt erst einmal erklaren, was das alte Weib damit zu tun hat“, sagte Berry und gähnte. „Ach ja … wer ist sie?“, fragte Nira. Sie wischte sich mit ihrem Handrücken eine Träne weg und hörte Berry gespannt zu. „Das weiß ich auch nicht so genau. Ich denke aber, dass sie eine von den vier Himmelsmächten ist. Also, es war an einem kalten Schneezeitabend. Du warst noch ein Baby und lagst eingekuschelt in deiner Wiege. Ein Schneesturm fegte pfeifend ums Haus. Deine Eltern und dein Groschpapo saßen gemütlich in der Küche am warmen Ofen, als es an der Tür klopfte. Verwundert ging dein Groschpapo zur Tür und ließ eine fremde, häschliche alte Frau herein, die darum bat, sich nur ein bisschen aufwärmen zu dürfen. Dein Groschpapo wusste wohl gleich Bescheid und hat ganz erschrocken geguckt. Ein langes schwarzes Kleid trug sie und darüber einen dunkelroten Umhang, der den Fußboden der Küche sauber wischte. Hihihihö.“ Berry wackelte mit seinem Kopf hin und her vor Lachen und seine Pfote lag auf seiner Schnauze, damit er nicht zu laut wurde. Nira kicherte leise mit. Es tat ihr gut, von ihm aufgeheitert zu werden. Berry räusperte sich kurz und erzählte weiter. „Sie hatte ganz langes silberglitzerndes Haar und ohh … Wei, oh Wei! Ihre großen gelben Augen quollen aus ihrem hageren, eingefallenen Gesicht hervor. Ich bellte laut, weil ich gleich wusste, die Alte piept nicht ganz richtig. Aber es hörte ja keiner auf mich. Ich hatte mich sofort neben deine Wiege gelegt und für dich geknurrt. Ich sah ihre grässlichen langen Schrumpelfinger, deren Nägel so schwarz waren wie die Nacht. An ihrem rechten Mittelfinger trug sie einen großen goldenen Ring, auf dem winzige grüne Steine vier Schlüssel formten. Oh man, die war so häschlich, die Alte!“ Berry schüttelte sich und legte seine linke Pfote auf Niras Arm. „Und, dann sah sie dich in der Wiege liegen. Trat dort hin und schaute dich an. Zum Glück hast du geschlafen. Deine Mamo und dein Papo wollten sie von dir fernhalten, aber dein Groschpapo sagte ihnen, es sei alles in Ordnung. Dann sah ich, dass sie einen Holzstab aus ihrem Umhang hervorholte, aus dem Tausende funkelnde Sterne herausschossen. Das alte Weib starrte mich an, bückte sich zu mir herunter und tippte mit ihrem Funkelstab auf meinen Kopf. Mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme nannte sie mich Vierbein. Ja ja, so hatte sie mich genannt, die palöde Alte“, grunzte Berry beleidigt und Nira kicherte. „Ja wirklich, Nira. Erst hatte ich mich ganz schön erschreckt bei ihrem Anblick und dann besaß sie die ungeschämte Frechelichkeit mich Vierbein zu nennen. Na, ist auch egal. Ich musste ihr dann versprechen, immer auf dich Acht zu geben, und dich behüten wie wie …!“ Berry überlegte kurz. „Wie, mein Fressteller oder so ähnlich. Als wenn ich das nicht immer hätte tun wollen. Und dann sagte sie, es wird der Tag kommen, an dem ich es dir aufsagen muss.“ „Was aufsagen, Berry?“, fragte Nira. „Na, ich wusste auch erst nicht, was sie meinte. Aber dann … Dann mit einem Mal kroch grüner Rauch statt der schönen Sterne aus ihrem Stab, der direkt in meine Ohren und in meinen Kopf drang. Ich hörte viele Worte, die wie ein Gedicht klangen, was ich aber nicht so schnell verstand.“ Berry kratzte sich kurz an seinem schwarzen Ohr und legte dann seine Pfote auf Niras Bein. „Das klingt ja unheimlich“, flüsterte Nira ganz aufgeregt. „Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich habe mich geschüttelt und geschüttelt, bis sich alles drehte, aber die Worte gingen bis heute nicht mehr aus meinem Hirn.“ Berry tippte sich mit seiner Pfote an den Kopf.

„Wie, wie ein Gedicht klang das. Danach ist das alte Weib wieder hinfort gegangen. Deine Eltern waren ganz verangstlicht und dein Groschpapo hoffte, dass dem Dorf niemals ein Leid zugefügt werden würde, wenn du einmal die Auserwählte bist.“ Berry gähnte, denn allmählich wurde er müde. „Hat Großpapo auch schon einmal das Dorf retten müssen?“, fragte Nira. Berry nickte. „Ja, das hat er und er wird dir eines Tages bestimmt davon erzählen“, antwortete Berry. „Aach, da bin ja mal gespannt. Aber Berry, warum muss ich denn ausgerechnet die Auserwählte sein? Es hätte genauso gut auch Jo sein können“, fragte Nira. „Das weiß gar niemand und dein Groschpapo hat keinen Einfluss darauf, wer der Nachfolger ist. Ich weiß nur, dass es noch nie ein Mädchen war.“ „Und, du hast das Gedicht nach wie vor im Kopf, Berry?“ „Oh ja, es schwirrt immer noch da oben drin“, antwortete Berry und tippte sich wieder mit der Pfote an die Stirn. „Kannst du es mir aufsagen?“, fragte Nira leise. Berry stöhnte. „Ich habe es befürchtet, dass du mich das jetzt fragst.“ Berry legte seinen Kopf schräg zur Seite und seufzte tief. Er schaute Nira in die Augen und robbte dichter an sie heran. „Meine kleine Nira, jetzt ist die Zeit gekommen, an dem du alles erfahren sollst. Ich muss mich aber sehr kotzschtruieren, um die Worte in der richtigen Reihenfolge aufzusagen!“ Nira kicherte. „Hihi … Berry, das heißt konzentrieren. Komm, das schaffst du schon“, flüsterte Nira ungeduldig. „Na gut, aber nicht erschrecken. Ich weiß nämlich nicht, was mir dabei passiert. Und bitte versuche dir das Gedicht so gut es geht, zu merken. Das ist sehr wichtig für dich!“, sagte Berry und Nira nickte. „Mache ich, Berry.“ Berry stöhnte. Ihm war gar nicht wohl zumute. „Mir ist schon ganz grummelig im Bauch. Aber egal, dann leg ich los. Es geht so!“ Berry hob seinen Kopf hoch. Seine Augäpfel rollten sich und dann schloss er seine Lider. Er öffnete sein kleines Maul und hellgrüne, linienförmige Nebelschwaden krochen langsam daraus hervor. Nira erschrak und hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzukreischen. Sie hatte Angst um ihren kleinen Freund und ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Eine tiefe, raue Stimme, die das Gedicht aufsagte, erklang aus Berrys Maul. Auch war es zittrig, im grünen Nebel zu lesen.

„Die vier Welten der Himmelsmächte öffnen dir die Tore, mein Kind!

Zu holen sind dort Schätze der Natur!

Heilung und Kraft, Seele und Herz,

nur sichtbar und kostbar für dich,

für andere nur Wind und Schmerz!

So sprich ab heut auch mit Pflanz und Tier, die zu dir stehen mit Rat und Tat.

Sei herzlich bei uns und verfall nicht der Gier, nur so erhältst du unsere Saat!

Doch sei auf der Hut das Böse schläft nie,

nur mit Liebe und Wehr erschreckst du sie!

Begrüßt seist du in unseren Welten und nehme sie an unsere helfende Hand,

ab heut hast du mit uns ein ewiges Band!“

Kaum waren die Worte und der grüne Nebel aus Berrys Maul erloschen, flatterte wie aus dem Nichts ein hellgrünes Blatt Papier auf Niras Bett. Wo kommt das denn plötzlich her? Noch sehr aufgeregt von dem, was eben mit Berry passiert war, nahm Nira es staunend an sich. Wie Sonnenstrahlen erhellten sich die Buchstaben, die auf dem Blatt Papier zu sehen waren. Sie las sie hastig und stellte fest, dass es genau das gleiche Gedicht war, was sie aus Berrys Maul hörte. Schnell legte sie es auf ihre Kommode, als Berry seine Augen wieder öffnete und fürchterlich zu husten anfing. „Donnergeschrei, was für ein genebelter Kram aus meinem Maule. Puhha … päh … päh …!“ Berry keuchte fürchterlich. „Du armer, armer Berry.“ Nira klopfte sachte mit ihrer Hand auf seinen Rücken. Nachdem sein Husten sich beruhigt hatte, legte Berry seinen Kopf wieder auf Niras Beine und stöhnte laut. „Mmh… puh. Das hätte mir die häschliche Alte ersparen können. Aber für dich tu ich alles, Nira. Hast du denn alles gehört und auch lesen können?“, fragte Berry, der völlig erschöpft war. „Ja habe ich, Berry. Ist mit dir alles in Ordnung? Ich habe mir eben ganz schön Sorgen um dich gemacht.“ „Das brauchst du nicht. Mir geht es gut, aber können wir morgen weiterreden? Ich bin so müde!“, gähnte Berry laut. „Ja natürlich“, antwortete Nira besorgt und kraulte ihn sanft hinter den Ohren. Der arme Berry, was für eine Anstrengung musste das eben für ihn gewesen sein. Als er seine Augen zum Schlafen schloss, legte Nira seinen Kopf vorsichtig zur Seite. Sie hatte gar keine Gelegenheit mehr gehabt, Berry von dem angeflogenen Blatt Papier zu erzählen, weil er so schläfrig wurde. Wie konnte das angehen, dass ein beschriebenes hellgrünes Papier einfach in das Zimmer geflogen kam. Nira schüttelte verwundert den Kopf. Sie nahm es noch mal an sich und las es sich mehrere Male durch. Sie fragte sich, ob es wichtige Regeln seien, wie man sich in den vier Welten zu verhalten hatte und was war damit gemeint, das Böse schläft nie. Hört sich nicht gerade erfreulich an. „Es scheint ja so, dass ich wenigstens bei denen willkommen bin“, murmelte sie leise. Am liebsten hätte sie Berry geweckt, um ihn danach zu fragen. Nira nahm sich für den nächsten Tag vor, mit Berry und auch mit Großpapo darüber zu sprechen. Wenn das Gedicht von so einer Wichtigkeit war, würde ihr auf jeden Fall Großpapo etwas dazu sagen können, sofern Berry keine genaue Antwort darauf wusste. Auch fragte sich Nira, in welcher Welt das alte Weib wohnte. Hoffentlich nicht in der Nördlichen, denn wenn sie so grässlich aussah, wie Berry sie beschrieben hatte, wollte sie ihr nur ungern begegnen. Nira legte das Blatt Papier in die Schublade ihrer Kommode und pustete die Kerze aus. Ihr bester Freund schlief bereits fest und sie hörte ihn gleichmäßig schnorcheln. Dem Mondlicht zugewandt, kuschelte sie sich fest in ihre Decke. Aufgeregt von dem, was sie erwartete, lag Nira lange wach. Ständig musste sie über das Gesagte ihres Großpapos und über das Gedicht nachdenken. Und niemals hätte sie gedacht, dass sie eines Tages so eine große Verantwortung übernehmen musste. Ihr wurde schwer ums Herz. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich nicht auf ihren Geburtstag freute. Ihre Müdigkeit wurde stärker als ihre Angst und ihre Ungewissheit und so schlief auch sie tief und fest ein.

Nira und der Kristall des ewigen Wassers

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