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Kapitel 1 – Zweifel

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Ein paar Monate zuvor :

Die Schulglocke ertönte und ein erleichtertes Seufzen ging durch das Klassenzimmer. Luisa packte ihre Schulsachen zusammen und wollte gerade den Stuhl unter ihr Pult schieben, als sie plötzlich etwas Hartes am Kopf traf.

Hinter ihr hörte sie johlendes Gelächter. Sie drehte sich um und sah James Cooper, von dem sie tagtäglich schikaniert wurde. James Cooper ging in Luisas Klasse, sie kannten sich seit dem Kindergarten und waren für lange Zeit beste Freunde gewesen, bis er schließlich Kapitän der Basketball-Schulmannschaft wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde er unerträglich. James war Luisas einziger Freund gewesen, aber mittlerweile wurde sie auch von ihm zurückgewiesen.

»Hey Mrs. Piggy, heute schon in den Spiegel gesehen«, rief James ihr breit grinsend zu. Luisa schossen Tränen in die Augen. »Mrs. Piggy« war ihr Spitzname bei den »beliebten« Kindern. James hatte ihn ihr gegeben, nachdem er sich von ihr abgewandt hatte und im Rampenlicht stand. »Halt die Klappe«, erwiderte Luisa leise und schluckte ihre Tränen hinunter. Nach den ganzen Demütigungen, die sie über sich ergehen lassen musste, war sie mittlerweile abgehärtet.

Anfangs kam sie weinend nach Hause, ging weinend ins Bett und hatte in der Früh Bauchschmerzen, bevor sie in die Schule ging. Doch mittlerweile prallten die gehässigen Bemerkungen an ihr ab, obwohl diese sie tief im Inneren verletzten.

Sie sah zu Boden, auf der Suche nach dem Ding, das ihren Kopf getroffen hatte. Es war ein angebissener Apfel, bei dem nun eine eingedrückte Delle auf der Unterseite zu sehen war. Luisas Hinterkopf pochte, doch sie befahl sich, Ruhe zu bewahren. Erneutes Gelächter erklang. Ein Freund von James, Jack Boltymore, grölte: »Hey Mrs. Piggy, Schweine mögen doch Äpfel, oder etwa nicht?« Luisa stürmte aus dem Raum und das Gelächter hinter ihr wurde endlich leiser. Als sie das Schulgebäude verlassen hatte, öffnete sie ihren Rucksack und holte ein Päckchen Zigaretten heraus.

Das Rauchen nach der Schule beruhigte sie, es war mittlerweile zum Ritual geworden. Kurze Zeit später stieg Luisa in den Bus nach Hause, setzte sich auf einen freien Platz und lehnte ihren Kopf an die Fensterscheibe. Nur noch ein halbes Jahr, dann kommst du aufs College. Dort wird ein neuer Lebensabschnitt beginnen, dort wird man dich schätzen, dachte sie. Bei der nächsten Haltestelle stieg eine Gruppe Mädchen ein. Luisa wollte sich gerade wegducken, aber es war zu spät. Sie hatten sie entdeckt. Luisa kannte diese Mädchen. Die Clique aus der Nebenklasse, deren Anführerin Kim Masters war. Ein anderes Mitglied in der Gruppe rief laut, sodass der ganze Bus es hören konnte: »Hey, wen haben wir denn da?« Sie sahen Luisa abschätzig an, steckten ihre Köpfe zusammen und kicherten. Ohne dass ihre Freundinnen etwas davon bemerkten, war Kim blitzschnell an Luisa herangetreten und flüsterte in ihr Ohr: »Du schuldest mir etwas. Ich hoffe, du hast das nicht vergessen.«

Als Luisa aus dem Bus ausstieg, dachte sie über Kims Worte nach. Wie hätte sie es je vergessen können. Niemals würde sie diesen Tag aus ihrem Gedächtnis verdrängen können.

Luisa überquerte die Straße, ging die Einfahrt ihres Hauses hinauf und stellte fest, dass sie das ganze Haus für sich allein hatte. Wie fast jeden Tag war ihr Vater länger in der Arbeit. Eine Mutter hatte Luisas nicht mehr, sie war bei ihrer Geburt gestorben. David hatte seine Trauer und die Schuld, die er seiner Tochter dafür gab, nie überwinden können. Luisa verspürte Hunger und durchsuchte den Kühlschrank. Nach kurzem Abwägen, ob sie sich für die Reste von vorgestern oder eine Dosensuppe zum Aufwärmen entscheiden sollte, fiel ihre Wahl auf Letzteres. Als sie die Dose auf der Anrichte abstellte, entdeckte sie die Dienstmarke ihres Vaters.

Queen's Mill Police Department

Polizeichef

David Reed


David Reed, groß gewachsen, blond, braun gebrannt und muskulös. Genau das Gegenteil von Luisa. Sie war nicht mal ein Meter sechzig groß. Sie hatte lange schwarze Haare, und von jeglicher Muskulatur konnte kaum die Rede sein.

Während die Suppe in der Mikrowelle aufwärmte, dachte Luisa wieder an Kims Worte. Vor etwa zwei Wochen hatte Luisa von der Schule eine Mahnung mit nach Hause bekommen. Sie hatte schreckliche Angst gehabt, sie ihrem Vater zu zeigen. Doch Luisa hatte keine andere Person in ihrem Leben, die die Mahnung hätte unterschreiben konnte, also blieb ihr keine Wahl. Als sie sie ihrem Vater vorlegte, herrschte zunächst eisige Stille. Er stellte sein Weinglas beiseite und musterte den Bescheid lange. Sie wusste, dass sie eine Enttäuschung für ihren Vater war, aber das Folgende konnte nicht einmal sie vorhersehen. Mit einem Mal sprang ihr Vater aus seinem roten Ledersessel hoch, holte mit der Hand aus und schlug Luisa so fest ins Gesicht, dass sie zu Boden stürzte. Sie hielt sich die brennende Wange und atmete schwer. Innerhalb von Sekunden wandelte sich der Schock in Zorn um. Sie rappelte sich auf und sprach mit ruhiger, fester Stimme: »Du solltest dich schämen, deine eigene Tochter zu schlagen. Und dabei ist es doch deine eigene Schuld! Du warst nie für mich da, du hast nie mit mir gelernt. Ich musste mir alles selbst beibringen. Dir war es egal, ob ich ohne Essen im Kühlschrank für drei Tage alleine zu Hause war. Es dreht sich immer alles nur um dich. Ich würde jetzt gerne Mums Gesicht sehen.«

»Deine Mum ist tot!«, schrie David. »Sie ist deinetwegen gestorben. Wenn ich dich ansehe, erinnerst du mich an sie! Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dich nicht in ein Heim gesteckt habe, du hast mir das weggenommen, was ich am meisten geliebt habe.« Er packte Luisa grob am Arm. »Zuerst tötest du mein Ein und Alles, und jetzt kommst du nach Hause mit lauter schlechten Noten und besudelst meinen guten Ruf. Wieso konntest nicht einfach du an ihrer Stelle sterben! Deine Mutter war ein so viel besserer Mensch, als du es je sein wirst.« Davids Griff verstärkte sich, und er verdrehte Luisa den Arm. Sie schrie auf vor Schmerz. Ihr Vater holte erneut aus und schlug ihr ins Gesicht. Wie oft, an das konnte sich Luisa später nicht mehr erinnern, sie wusste nur noch eines: Plötzlich stand Kim im Wohnzimmer und schlug David mit einer Vase zu Boden.

»Mister Reed, ich denke, Sie können sich noch an mich erinnern. Fassen Sie Ihre Tochter nie mehr an!« So schnell, wie Kim aufgetaucht war, so rasch war sie auch wieder verschwunden, doch seit diesem Tag redete ihr Vater nicht mehr mit Luisa. Auf der einen Seite war das ganz gut, denn so musste sie sein ewiges Gezeter nicht mehr ertragen. Luisa konnte sich jedoch einfach nicht erklären, warum ihr Vater, ein erfahrener Polizist, sich von Kim hatte einschüchtern lassen. Luisa hatte so viele Fragen: »Was hatte Kim in unserem Haus verloren?«, »Wie kam sie ins Haus?«, und die wichtigste: »Was hat sie gegen meinen Vater in der Hand?« Doch Luisa bekam keine Antworten. Weder von ihrem Vater noch von Kim. Als sie am nächsten Tag in die Schule ging und Kim auf den Vorfall des gestrigen Abends ansprach, lautete ihre Antwort: »Ich werde eines Tages einen Gefallen von dir einfordern. Bis es so weit ist, sprich nicht mit mir.«

Luisa wurde ins Hier und Jetzt zurückgerufen, als die Dienstmarke ihres Vaters zu Boden fiel. Luisa hasste es, jemandem etwas schuldig zu sein. Sie hob die Marke auf, und augenblicklich überfiel sie eine Art von Unbehagen. Es war unter der Woche, aber die Dienstmarke ihres Vaters lag zu Hause. Normalerweise musste ihr Vater sie immer in seiner Tasche mitführen, wenn er dienstlich unterwegs war. Aber auch sonst würde er ohne sie nie aus dem Haus gehen, da er die Sorte Mensch war, die gerne damit prahlte, wie weit sie es in ihrem Leben gebracht hatte.

Hatte ihr Vater heute frei? Hatte er Urlaub, oder war er früher nach Hause gekommen? Luisa verließ die Küche und ging langsam den Flur entlang. Von beiden Seiten lachten Gesichter aus Gemälden zu ihr herab. Sie hasste diesen Flur, er war dunkel trotz der Deckenlampen, und jedes Mal, wenn sie ihn entlangging, hatte sie das Gefühl, dass die Menschen in den Gemälden sie beobachten. Sie wanderte weiter bis zum Zimmer ihres Vaters und lauschte. Doch nichts, nur unheimliche Stille. Luisa bekam Gänsehaut. Sie lief zurück in die Küche, um zu sehen, ob die heutige Zeitung wie immer auf dem Küchentisch lag. Doch fand sie weder die Zeitung noch eine Kaffeetasse in der Spüle. Inzwischen war ihr der Appetit vergangen, sie füllte den Inhalt der Dosensuppe in eine Plastikbox und stellte sie zurück in den Kühlschrank. Stattdessen goss sie sich ein Glas Orangensaft ein und trank den Inhalt in einem Zug aus. Die Müdigkeit überkam sie urplötzlich. Sie legte sich in ihr Bett und zappte durch ein paar Fernsehkanäle, fand jedoch nichts, was sie aufgemuntert hätte. Ihr Bett war weich und warm, und sie zog die Decke bis ans Kinn. Sie wollte den heutigen Tag einfach vergessen. Luisa schaltete den Fernseher aus, drehte sich auf die Seite und war kurze Zeit später eingeschlafen.

-

Als Luisa die Augen aufschlug, war es halb fünf Uhr früh. Da heute Samstag war, konnte sie ausschlafen und musste sich keine Sorgen wegen der Gemeinheiten von James Cooper und seiner Freunde machen. Sie schüttelte ihr Kopfpolster auf, um bequemer liegen zu können, und schlief erneut ein. Als Luisa schließlich am späten Vormittag wieder aufwachte, hatte sie Mühe, aus dem Bett zu kommen. Verschlafen tapste sie ins Badezimmer, um sich frischzumachen. Während sie ihre Zähne putzte, fiel ihr Blick auf den Wäschekorb, der zu ihrer Linken am Boden stand. Sie spuckte die restliche Zahnpaste aus und sah verwundert in den Korb. Normalerweise lag die Uniform ihres Vaters darin, denn ihr Vater war ein sehr penibler Mensch und wusch seine Kleidung, vor allem seine Arbeitskleidung, jeden Tag. Doch eine Polizeijacke oder Polizeihose war nicht zu sehen. Luisa spürte ihr Herz schneller klopfen. Sie machte sich jetzt ernsthaft Sorgen, ob ihrem Vater etwas zugestoßen war.

Sie huschte die Treppe hinunter in die Küche und aß im Esszimmer einen Joghurt, während sie überlegte, wo ihr Vater sich aufhalten könnte. Die Handyvibration riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah aufs Display, erkannte die Nummer, und all ihre Sorgen waren wie weggeblasen. »Dad!«, rief sie ins Telefon.

»Nein, hier ist Joe. Hallo Lissy.«

»Oh, hey Joe.«

»Luisa, wir auf dem Revier machen uns Sorgen um deinen Vater, er war seit zwei Tagen nicht in der Arbeit, normalerweise faxt er uns die Bescheinigung von seinem Arzt, wenn er krank ist. Er geht auch nicht an sein Handy. Das ist gar nicht seine Art, könntest du ihn bitte ans Telefon holen, weil …«

»Mein Vater war seit vorgestern nicht mehr in der Arbeit?«, unterbrach ihn Luisa. »So lange habe ich ihn auch schon zu Hause nicht mehr gesehen. Ich dachte, er wäre ganz früh zur Arbeit gegangen und erst tief in der Nacht nach Hause gekommen, sodass wir uns immer verpasst haben.« »Willst du mir damit sagen, dass du deinen Vater seit zwei Tagen nicht mehr gesehen hast und nicht misstrauisch wurdest?«, rief Joe aufgebracht in den Hörer.

»Nein, wurde ich nicht, es wäre ja nicht das erste Mal, dass er länger von zu Hause weggeblieben ist«, fauchte Luisa zurück.

»Alles klar, entschuldige, ich wollte dich nicht anschnauzen.« Eine Spur Scham lag in Joes Stimme. »Ich werde unserem Oberhaupt die Angelegenheit melden und er wird sich darum kümmern. Mach dir keine Sorgen, vielleicht ist dein Vater nur in der Nachbarstadt Foxwood auf dem Revier und überprüft dort einen Fall«, sagte Joe mit Nachsicht. »Ich melde mich, sobald ich etwas Neues weiß. Falls du etwas von ihm hörst, rufst du mich bitte umgehend an.«

»Natürlich, das mache ich«, versprach Luisa. Als sie aufgelegt hatte, wurde sie stutzig. Ihr Vater war der Polizeichef und Joes bester Freund. Wieso hatte sich Joe erst jetzt nach ihm erkundigt? Ohne David Reed wurde auf der Polizeistation nichts beschlossen, weswegen sie bereits an seinem ersten Fehltag hätten anrufen müssen. Aber Joe hatte so ruhig am Telefon geklungen, als würde es ihn kaum interessieren, dass David nicht zur Arbeit erschienen war. Wollte er mir vielleicht einfach keine Angst einjagen?, überlegte Luisa. Oder weiß Joe etwas über das Verschwinden meines Vaters, das er mir nicht mitteilen wollte? Luisa nahm sich vor, Joe nicht mehr blindlings zu vertrauen. Zuerst musste sie herausfinden, ob er ihr auch wirklich die ganze Wahrheit erzählt hatte. Nach diesem merkwürdigen Telefonat dachte Luisa angestrengt nach. Doch nichts ergab einen Sinn. Vielleicht steigerte sie sich nur in etwas hinein, das in Wahrheit völlig harmlos war. Möglicherweise bezichtigte sie Joe zu Unrecht, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass mit ihm etwas nicht stimmte, und auf ihr Bauchgefühl war normalerweise Verlass.

Sie sah aus dem Fenster in den wolkenlosen Himmel. Vor einigen Jahren wäre sie jetzt um diese Zeit mit James im Park spaziert. Dort waren sie bei schönem Wetter fast jeden Tag gewesen, doch jetzt war natürlich alles anders, und ihre Wege hatten sich getrennt. Sie verdrängte die Gedanken an James. Für sie war nun wichtig, ihren Kopf freizubekommen und ihren Vater zu finden. Luisa zog sich eine Weste über ihr Shirt und verließ das Haus.

Gedankenverloren schlenderte sie durch die Stadt hinaus aufs Land. Nachdem sie lange gelaufen war, stand sie plötzlich vor dem alten Bauernhof von Old Max. Luisa war tief in den Wald gegangen, ohne es wirklich wahrzunehmen. Old Max war ein alter Mann, der früher hier gelebt hatte. Vor zwölf Jahren war er an Herzversagen gestorben. Old Max war ein komischer Kauz gewesen, er mochte keine anderen Menschen, nur seine Tiere liebte er über alles. Seit seinem Tod standen das Bauernhaus und der dazugehörige Schuppen leer. Luisa ging auf die alte, aber robuste Scheune zu, zog das Eisenschloss zur Seite und ging vorsichtig hinein. Wie lange war sie schon nicht mehr hier gewesen, vier oder fünf Jahre? In der Hütte war es dunkel, alles war verstaubt, Spinnweben spannten sich vom Dachbalken bis hinunter zum Boden. Es roch modrig. Früher, als sie noch jünger war, schien diese Scheune geheimnisvoll, doch heute war sie für Luisa nicht mehr als eine alte, verwahrloste Hütte. Sie trat wieder hinaus auf eine Lichtung, die mit Hunderten von Blumen übersät war. Sie ließ sich im Schatten eines großen Baumes nieder und dachte an vergangene Tage. Die Leute in der Stadt erzählten sich, dass Old Max, kurz bevor er starb, in der Nähe dieser Scheune sein ganzes Erspartes vergraben hätte. James und Luisa hatten oft danach gesucht, doch nach einer Weile hielten sie es nur mehr für ein Gerücht, das die alten Leute in der Stadt immer wieder hervorholten, wenn es gerade keinen neuen Tratsch gab. Luisa dachte über die letzten fünfzehn Stunden nach und was in der Zwischenzeit alles geschehen war. Sie konnte einfach nicht verstehen, wieso die Kollegen auf dem Revier so entspannt mit der Situation, dass ihr Vater verschwunden war, umgehen konnten. Immerhin wurde der Polizeichef vermisst. Doch Luisa konnte nur abwarten und hoffen, dass sich Joe bald wieder bei ihr melden würde. Sie bereute, ohne Essen und Trinken aus dem Haus gegangen zu sein. Inzwischen knurrte ihr Magen, denn ihr Frühstück war nur ein halber Joghurtbecher gewesen. Eine halbe Stunde noch, dann geh ich zurück, dachte sie. Vor ihr flatterte ein Schmetterling, Luisa glaubte, sich zu erinnern, dass diese Art Schmetterling ›Kleiner Fuchs‹ hieß. Sie folgte ihm mit den Augen, bis er nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne war. Sie überlegte, wieso sie eigentlich nicht öfter hierherkam, denn dies war ein wundervoller Ort, um nachzudenken, und außer einzelnen Wanderern kam hier keine Menschenseele vorbei. Sie legte sich ins Gras und fuhr mit der Hand durch das Blumenmeer. Der Duft von den Bäumen und dem frischen Gras war überwältigend. Kurz darauf war sie eingenickt. Am späten Nachmittag wurde Luisa durch ein Rascheln in den Büschen geweckt. Bestimmt nur ein Kaninchen, sagte sie sich, doch vorsichtshalber blieb sie noch ruhig im hohen Gras liegen. Kein Mensch würde hier seine Freizeit verbringen, bis auf sie. Es musste jetzt circa fünf Uhr sein. Die Sonnenstrahlen ließen allmählich nach, doch in der Lichtung hatte sich ordentlich Hitze angestaut. Luisa beabsichtigte, zu verschwinden, bevor es dunkel wurde, doch plötzlich hörte sie hinter sich das gleiche Rascheln, welches sie Sekunden davor schon vernommen hatte. Sie wirbelte herum und erschrak heftig. Ein junger Mann stand vor ihr. Luisa fand, dass er sehr attraktiv aussah. Athletischer Körperbau, schwarze Haare und braune Augen, die ihr direkt in die Seele zu blicken schienen. Obwohl er keinen gefährlichen Eindruck machte, wich Luisa zurück, um den Abstand so groß wie nur möglich zu halten.

»Keine Angst, mein Name ist Riley Masters, Kims Bruder, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.«

Luisa dämmerte plötzlich, was jetzt gleich passieren würde. Luisa sollte nun endlich ihre Schuld bei Kim begleichen, aber wieso schickte sie dazu ihren Bruder?

»Tut mir leid, du bist Luisa, oder?«

Luisa rappelte sich auf und sah ihrem Gegenüber misstrauisch ins Gesicht. »Warum willst du das wissen und woher weißt du, dass ich hier oben bin? Hast du mich etwa verfolgt?« Riley lächelte sie an und Luisa wurde rot. Verlegen strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht.

»Ja, ich bin dir gefolgt, auch wenn das sonst nicht meine Art ist«, sagte er belustigt.

Luisa fand das alles gar nicht komisch. »Will Kim ihren Gefallen einfordern? Bist du deswegen hier?«

»Gut, dann weißt du also, was ich hier mache, das erspart uns einiges an Zeit.«

»Warum schickt sie dich?«, hakte Luisa nach.

»Dafür, dass du Kim etwas schuldest, stellst du ziemlich viele Fragen«, sagte Riley gedehnt. »Wenn du noch Zeit hast, erkläre ich dir alles, aber wenn du gehen willst, dann geh, nur werde ich dir wieder folgen, so lange, bis du mir zuhörst. Also, du kannst dich entscheiden, willst du es heute hinter dich bringen, oder soll ich morgen wiederkommen?«

Luisa war drauf und dran zu verschwinden, aber am Ende siegte die Neugierde. Sie wollte unbedingt erfahren, um was es sich handelte, und Riley würde sie sowieso nicht in Ruhe lassen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu bleiben und ihm zuzuhören.

»Punkt eins, du hattest recht, ich bin hier, weil Kim den Gefallen einfordert, den du ihr schuldest. Sie war heute verhindert, deswegen hat sie mich geschickt, und bevor du irgendwelche Fragen stellst, lass mich dir alles ganz genau erklären. Ach ja, und dieses Gespräch bleibt unter uns, versteht sich.« Riley sah sie mit durchdringendem Blick an. »Vor etwa drei Wochen verdonnerten meine Eltern Kim dazu, den Dachboden zu säubern, da sie die Ausgangssperre nicht eingehalten hatte. Als sie widerwillig mit dem Putzen anfing, fand sie nach einiger Zeit etwas in einem Karton, das sie für unmöglich hielt. Es hat etwas mit deiner Familie zu tun, Luisa.«

Luisa zuckte zusammen. »Was?«

»Keine Fragen«, zischte Riley und fuhr fort: »Mit diesem Fund erpresst sie deinen Vater. Ich selbst weiß nicht, um was es sich handelt, sie sagte mir einfach nur, ich solle dir ausrichten, dass du das wahre Gesicht deines Vaters enthüllen sollst. Ich habe versucht, es aus ihr herauszuquetschen, doch Kim kann extrem stur sein. Kein Sterbenswörtchen hat sie mir darüber verraten.«

Luisa sah ihn verständnislos an.

»Mir kam zu Ohren, dass dein Vater verschwunden ist? Leider kann ich dir auch nicht sagen, wohin oder wieso. Kim will, dass ich dir ausrichte, du sollst dem Verschwinden deines Vaters auf den Grund gehen. Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie den Grund kennt, aber du würdest es ihr nicht glauben, da er dein Vater ist. Deshalb sollst du selbst nach der Wahrheit graben. Ich konnte herausfinden, dass dein Vater Dinge getan hat, die Kim sehr verletzt haben, und nun fordert sie Gerechtigkeit. Sie sagt auch, dass es vieles gibt, was du nicht über deinen Vater weißt, Sachen, die er vor dir geheim hält. Ich glaube nicht, dass Kim dir damit schaden will. Sie ist kein böser Mensch, sie hat Mitleid mit dir und will, dass du endlich erfährst, was du wissen solltest.« Damit war Rileys Vortrag beendet.

Luisa sah ihn entsetzt an. »Das hier ist doch alles nur ein übler Scherz, oder? Hat er sie körperlich verletzt? Ich weiß, dass mein Vater vieles vor mir verheimlicht und dass er mich nicht in seinem Leben haben will, was mir mittlerweile ehrlich gesagt ziemlich egal ist, und außerdem glaube ich kaum, dass es etwas herauszufinden gibt, was mich interessieren würde.«

»Glaube mir, diese Sache interessiert dich brennend, sie hat mit deiner Mutter zu tun«, sagte Riley, ohne auf ihre Fragen einzugehen.

»Wenn Kim über all das hier Bescheid weiß, wieso will sie dann, dass ich es herausfinde, wieso sagt sie es mir nicht einfach? Und was zur Hölle ist mit meiner Mutter?« Luisa war vollkommen verwirrt.

»Wie schon gesagt, dein Vater hat Kim sehr wehgetan, doch um ihn bloßzustellen, hat sie zu wenig Beweise, und sie will, dass er seine gerechte Strafe bekommt. Du hast die Wahl, entweder du revanchierst dich bei Kim und wühlst in der Vergangenheit deines Vaters, oder du wirst es mit ihr zu tun bekommen. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass dies alles andere als angenehm für dich sein wird.«

»Woher weiß ich, dass du mich nicht einfach nur anlügst, um dich über mich lustig zu machen? Ich will Beweise, ob ich dir vertrauen kann«, verlangte Luisa.

»Ich habe mir schon gedacht, dass du diese Frage stellen wirst. Der Beweis existiert, und überhaupt bin ich zurzeit der Einzige, dem du vertrauen solltest. Falls du Hilfe brauchst, kannst du dich gerne an mich wenden, unter einer Bedingung: Kim darf davon nichts erfahren.« Riley griff in die Innentasche seiner Jeansjacke und zog ein Foto hervor. An den Ecken war es bereits leicht gelblich und eingeknickt, so, als hätte er es schon länger in seiner Tasche aufbewahrt. Er reichte Luisa das Bild. Sie nahm es entgegen und sah darauf eine Frau, die sie nicht kannte. Sie hatte dunkelbraune Haare, welche streng zu einem Dutt gebunden waren. Das Gesicht der Frau war freundlich, und doch wirkte sie irgendwie abwesend. In ihren Augen lag ein bestimmter Glanz, der sie verträumt wirken ließ. »Wer ist das?«, fragte Luisa interessiert.

»Das hier ist deine Mutter, Sophia«, entgegnete er.

»DAS ist meine Mum?«

»Genau«, wiederholte Riley. »Doch eigentlich spielt die größte Rolle das Datum. Dreh das Foto um.«

Luisa wendete es und las leise 18.01.2001. »Das kann nicht sein, meine Mum ist bei meiner …«

»… bei deiner Geburt gestorben. Ja, das erzählt man sich, so wie man sich erzählt, dass Old Max hier oben sein Erspartes vergraben hat.«

»Willst du mir damit sagen, dass meine Mutter noch am Leben ist?«

»Jetzt hör mir ganz genau zu, Luisa, der Tod deiner Mutter war vorgetäuscht, ich sagte doch, es gibt vieles, was du nicht weißt, und du solltest es herausfinden, bevor es zu spät ist.« Riley sah sie eindringlich an. Er erhob sich. »Wenn du Fragen hast oder jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da. Samstagvormittags, denn da hilft Kim im Café unserer Mutter aus.« Dann war er verschwunden.

Luisa wusste nicht, was sie denken sollte, sie wusste gar nichts mehr, ihr Kopf war leer. Sie starrte auf das Bild, aus dem ihre Mutter sie anlächelte. Sie hatte eine Stupsnase, genauso wie Luisa, doch das Außergewöhnlichste an ihr waren ihre Grübchen. Alles in allem fand Luisa, dass ihre Mutter sehr hübsch war. Ihr fiel auf, dass Sophia auf diesem Bild glücklich aussah, was ihr einen Stich versetzte. Wie konnte jemand glücklich sein und ohne Schuldgefühle leben, wenn er bewusst Ehemann und Kind zurückgelassen hatte? Sie hatte ihr hilfloses Baby im Stich gelassen, ihren Mann, der seit diesem Tag nicht mehr er selbst war. Aber wieso? Wie hatte sie es geschafft, ihren eigenen Tod vorzutäuschen, ohne irgendwelche Hinweise, die auf ihr Überleben hindeuteten, zu hinterlassen? Die Gedanken rasten durch Luisas Kopf, in diesem Moment hätte sie gerne ihren Vater an ihrer Seite gehabt, denn er könnte ihr bestätigen, ob die Frau auf diesem Foto wirklich seine »verstorbene« Frau war. Vielleicht würde auch er wieder Hoffnung schöpfen können und sich von Grund auf verändern. Luisas Schuldgefühle hatten sie ihr ganzes Leben lang begleitet, denn laut den Ärzten hatte ihre Mutter ihr Leben geopfert, damit Luisa leben konnte. Doch jetzt waren alle traurigen Gefühle wie weggeblasen. Luisa war wütend und enttäuscht. Die letzten Jahre war sie durch die Hölle gegangen, sie hatte keine Freunde, wurde von ihrem Vater geschlagen und missachtet, und wozu? Das konnte sich Luisa selbst nicht erklären, doch eines wusste sie ganz bestimmt: Wäre ihre Mutter geblieben, hätte sie ein anderes, kein so sorgenvolles Leben geführt. Sie wandte ihren Blick von dem Foto ab und steckte es in ihr Portemonnaie. Riley hatte ihr geraten, als Erstes herauszufinden, wohin ihr Vater verschwunden oder möglicherweise auch bewusst abgetaucht war. Luisa jedoch hatte andere Pläne. Für sie war im Augenblick die Frage am wichtigsten, ob die Frau auf dem Foto wirklich ihre Mutter war. Da Luisas Großeltern verstorben waren und ihr Vater verschwunden war, musste sie sich eben selbst behilflich sein.

Bis in die Nacht dachte sie über Rileys Worte nach: »Kim hat Fotos auf dem Dachboden gefunden.« Wollte er ihr damit vielleicht einen Tipp geben, wo Luisa nach weiteren Hinweisen oder Antworten suchen konnte? Versuchen kann ich es zumindest. Ich habe nichts zu verlieren, dachte sie. Luisa lief die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal, und holte hinter einer Kommode im ersten Stock den Stab hervor, mit dem man die Dachbodenluke öffnen konnte. Nach mehreren Fehlversuchen schaffte sie es, den Haken in den Karabiner der Dachbodentür zu hängen. Bald schon stand sie auf der ersten Sprosse der Leiter, die hinaufführte. Sie kletterte weiter und fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Nach einigen Minuten gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis, und sie konnte den Lichtschalter ausfindig machen. Sie drückte ihn, und es wurde hell. Hier oben war alles verstaubt und dreckig, und Luisa fröstelte leicht. Der Dachboden war vollgestellt mit Kisten, alten Büchern, Fotoalben und Spielsachen aus ihrer Kindheit, außerdem waren noch ziemlich viele andere Sachen hier aufgestapelt, die Luisa noch nie gesehen hatte. Sie schätzte, dass in diesem Durcheinander drei Jahrzehnte verstreut lagen. Bei einigen Büchern konnte sie erkennen, dass die Seiten stark vergilbt waren, und auf manchen Kartons war eine zwei Zentimeter dicke Staubschicht. Luisa war klar, wenn sie zwischen all diesen alten Sachen etwas finden wollte, würde sie länger als ein paar Stunden suchen müssen, aber der Aufwand war es ihr wert, denn ihr ganzes Leben lang war ihr kein einziges Bild ihrer Mutter untergekommen, bis zum heutigen Tag.

-

Luisa wusste nicht genau, wonach sie eigentlich suchen sollte oder was sie zu finden erwartete. Am hilfreichsten wäre ein Lichtbildausweis. Doch aus welchem Grund sollte man einen Reisepass oder einen Personalausweis in Kisten aufbewahren, wenn die Person, der er gehörte, schon lange »tot« war? Luisa seufzte und begann mit ihrer Suche. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ihre Mutter am Leben sein sollte.

Zwei, vielleicht aber auch drei Stunden waren vergangen. Mittlerweile beugte Luisa sich über den achten Karton, aber bisher hatte sie noch nichts gefunden, was ihr irgendwie weitergeholfen hätte. Zwar stieß sie auf alte Familienalben, jedoch war auf keinem einzigen Foto die Frau mit den niedlichen Grübchen abgelichtet. Doch aufgeben kam für Luisa nicht infrage. Sie wollte die Wahrheit wissen und sie würde sie auch herausfinden, das schwor sie sich. Plötzlich meldete sich ihr Bauch mit einem deutlichen Grummeln. Luisa stemmte sich ächzend hoch, das lange Sitzen und Hocken hatte ihre Beine steif werden lassen. Kurz bevor sie die Luke erreichte, um hinunterzusteigen, stieß sie mit dem Fuß gegen eine weitere Kiste. Sie packte den Karton und stellte ihn hinüber zu den übrigen Schachteln, die sie noch nicht durchsucht und ausgepackt hatte. Ihr fiel auf, dass dieser Karton größer war als die anderen, noch dazu war er um einige Kilos schwerer. Vorsichtig setzte sie ihn ab und bemerkte, dass es der einzige Karton war, den jemand beschriftet hatte. Luisa entzifferte die Handschrift. Mai 1999. Damals war Luisa sieben Jahre alt gewesen. Sie strengte ihr Gehirn an, doch sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was in diesem Sommer passiert war. Vermutlich war sie mit James unterwegs gewesen, denn zu dieser Zeit waren sie noch ein Herz und eine Seele. In den Sommerferien waren sie oft im Wald zelten gewesen, hatten kleine Lagerfeuer gemacht oder einfach nur nebeneinander gelegen und die Sterne am Himmel beobachtet. Damals waren sie noch Kinder gewesen und sie hatte keine romantischen Gefühle für James gehegt, aber im Laufe der Jahre verstärkte sich der Drang, mehr als nur seine beste Freundin zu sein. Aus diesem Grund war es für Luisa nahezu unerträglich, mit ihm in einer Klasse zu sitzen und seine Sticheleien zu ertragen. Doch seit geraumer Zeit waren ihre Gefühle für ihn verschwunden, denn sie hatte begriffen, dass es nie mehr so sein würde wie früher. Sie wollte sich einzig und allein auf die Schule konzentrieren, um danach auf ein gutes College zu kommen. Ihr war jedoch klar, dass sie die Schule vollkommen vernachlässigen würde, sollte sie wirklich Indizien finden, die den vorgetäuschten Tod ihrer Mutter beweisen konnten. Luisa verdrängte James und die Schule schnell aus ihrem Kopf und verließ den Dachboden. In der Küche holte sie eine Packung Lasagne aus dem Kühlschrank. Soweit sie sich erinnern konnte, hatten ihr Vater und sie, bis auf die großen Feiertage oder wenn sie Besuch erwarteten, nur Fertigessen gegessen. Luisa zog die Plastikfolie von der Packung und steckte ihre »Mahlzeit« in die Mikrowelle. Jetzt hieß es warten. Während die Lasagne von allen Seiten aufgeheizt wurde, überflog Luisa die Klatschspalten in der Tageszeitung. Als die Mikrowelle piepste und Luisa die fertige Lasagne herausholte, fiel ihr Blick erneut auf die Dienstmarke ihres Vaters. Über die Neuigkeit, dass ihre totgeglaubte Mutter allem Anschein nach immer noch lebte, hatte sie ihren Vater komplett vergessen. Kurz wurde sie von Gewissensbissen geplagt, aber dann wurde ihr wieder bewusst, wie ihr Vater mit ihr umgegangen war. Sie kontrollierte ihr Handy, ob sie vielleicht einen verpassten Anruf von Joe hatte. Doch sie wurde enttäuscht. Mittlerweile hätte sich Joe doch schon bei mir melden müssen, überlegte sie. Wenn sie bis morgen um zehn Uhr vormittags nicht von ihm hören würde, musste sie eben selbst auf der Polizeistation nachfragen. Sie schnitt ein Stück der Lasagne herunter und führte es zum Mund. Es schmeckte köstlich, soweit Tiefkühlnahrung köstlich schmecken konnte. Plötzlich vernahm sie Geräusche, die vom oberen Stockwerk kamen. Sie ließ die Gabel sinken und spürte, wie ihr Puls beschleunigte. Leise schob sie ihren Stuhl zurück und schlich geräuschlos die Treppe hinauf, um nachzusehen, woher das Kratzen kam. Oben angekommen, duckte sie sich hinter einem Regal. Sie spähte zur Seite hinaus, konnte aber nichts sehen, da ihr eine Topfpflanze die Sicht versperrte. Auf allen vieren kroch sie ein kleines Stück weit aus ihrem Versteck und lauschte. Sosehr sie aber auch die Ohren spitzte, sie hörte keine weiteren Geräusche. Luisa sah sich um, hier war alles wie immer, nichts wies darauf hin, dass sich in diesem Zimmer irgendetwas ereignet hatte. Schlimm war nur, dass Luisa nicht wusste, ob sie überhaupt Grund hatte, sich zu verstecken. Möglicherweise war nur ein Bild vom Nagel gerutscht und zu Boden gefallen. Aber das Geräusch war ihr bekannt vorgekommen. Zuerst wusste sie nicht, wo sie es einordnen sollte, doch dann erinnerte sie sich: Im letzten Schuljahr war im Turnsaal der Schule eine Übernachtungsparty organisiert worden. Alle Schüler und Lehrer waren eingeladen, am Abend mit ihren Schlafsäcken in die Sporthalle zu kommen. Luisa hatte eigentlich nicht vor, hinzugehen, doch am Vormittag dieses Tages kam Joana Lane im Chemieunterricht auf Luisa zu und fragte, ob sie mit ihr und ihren Freundinnen zur Party gehen wolle. Luisa traute ihren Ohren nicht, Joana wollte sie als Freundin haben? Fragend sah sie sie an. Joana lächelte und flötete mit süßlicher Stimme: »Möchtest du nun oder nicht?« Natürlich wollte Luisa, sie nickte. »Fantastisch, dann hole ich dich um neunzehn Uhr von zu Hause ab«, sagte Joana.

»Toll, ich freu mich«, wollte Luisa lässig antworten, doch sie hörte sich eher an wie ein winselnder Hund, der zu wenig Zuwendung bekam. Luisa war völlig aus dem Häuschen. Als die Schule vorbei war und sie zu Hause ankam, packte sie sofort alles zusammen und war einfach nur glücklich. Zusätzlich stibitzte sie noch Chips und Schokolade, denn sie wollte alles richtig machen, um Joanas Freundin zu werden. Um Punkt neunzehn Uhr wurde Luisa zur Party abgeholt. Alle Mädchen im Auto begrüßten sie freundlich und ließen sie ein Teil ihrer Gruppe sein. Als sie endlich den Turnsaal erreichten und ihre Schlafsäcke ausgebreitet hatten, spielten sie »Wahrheit oder Pflicht«. Sie spielten so lange, dass es in der Zwischenzeit schon dunkel geworden war. Bisher hatte Luisa noch nichts Schlimmes oder Peinliches machen müssen. Jetzt war gerade Amber, eine sehr gute Freundin von Joana, an der Reihe und musste durch die Turnhalle rennen. Nachdem sie atemlos wieder zur Gruppe stieß, wählte sie Luisa, und da Luisa nur noch Pflicht zur Auswahl hatte, würde sie tun müssen, was Amber von ihr verlangte. Amber flüsterte »Keine Sorge, ich werde nett sein« und zwinkerte ihr zu. »Du musst nur in die Dusche der Jungs gehen, natürlich ohne dass dich die Lehrer sehen, und dann wieder zurückschleichen. Als Beweis dafür, dass du dort warst, bringst du uns ein Handtuch mit«, erklärte sie. Und es ging los. Luisa schlich sich an den Lehrern vorbei und huschte in die Dusche der Jungs. Drinnen war es dunkel, und man konnte kaum etwas erkennen. Ohne das Licht einzuschalten, ging Luisa leise durch den ganzen Duschraum, um ein Handtuch zu finden, als plötzlich ein kratzendes Geräusch zu hören war. Es fuhr ihr durch Mark und Bein. Jemand war hier und kratzte mit etwas Spitzem die Wand entlang. Sofort wollte Luisa zur Tür zurück, doch diese wurde vor ihrer Nase zugeknallt und von außen abgeschlossen. »Hey, wer ist da? Lasst mich sofort raus!«, rief Luisa panisch, aber niemand antwortete ihr. Ganze zehn Minuten schrie sie sich die Seele aus dem Leib, bis sie endlich jemanden den Flur entlangkommen hörte. »Ich bin hier, hier drinnen«, keuchte sie. Die Tür wurde aufgeschlossen und ihre Lehrerin stand vor ihr. Für Sekunden starrten sie sich an, dann polterte die Lehrerin los: »Was fällt dir ein, mitten in der Nacht wegzuschleichen und in die Jungendusche zu gehen?«

»Ich … ich wurde hier eingesperrt«, wollte sich Luisa verteidigen.

»Und wer bitteschön hat dich hier eingeschlossen? Kein Schüler besitzt einen Schlüssel, wie zum Teufel bist du hier reingekommen?«, keifte die Lehrerin. Luisa wollte alles erklären, doch man ließ sie nicht ausreden. Zum krönenden Abschluss musste ihr Vater sie um Mitternacht vor den Augen ihrer lachenden Mitschüler abholen. Was hatte sich Luisa nur gedacht, als sie glaubte, dass Joana sie in ihrer Gruppe haben wollte? In diesem Moment hasste sich Luisa selbst. Sie hatte Angst, nach dem Wochenende in die Schule zu gehen und Joana gegenüberzutreten, denn sie wusste mit Sicherheit, dass jemand von Joanas Freundinnen sie dort eingesperrt hatte. Ja, so sahen Luisas Tage in der Schule aus.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als das Geräusch erneut ertönte. Es war eindeutig dasselbe Geräusch, welches sie damals in der Dusche der Jungs gehört hatte. Bildete sie es sich nur ein? Schließlich war heute ein ziemlich aufwühlender und anstrengender Tag gewesen. Konnte es sein, dass ihre Fantasie ihr einen Streich spielte? Luisa kroch nun gänzlich hinter dem Regal hervor. »Ist hier jemand?«, rief sie, und im gleichen Moment lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Wenn tatsächlich jemand ins Haus eingedrungen war, wusste er spätestens jetzt, dass er nicht allein war. Luisa stand auf und schnappte sich den Dachboden-Luken-Öffner, nahm den Gang zu ihrer Linken und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie ließ ihren Blick durchs Zimmer schweifen und stellte fest, dass es keine Anzeichen dafür gab, dass jemand im Zimmer war. Als Nächstes öffnete sie die Tür zum Badezimmer. Langsam ging sie hinein und sah in jede Ecke, doch auch hier war alles wie immer. Gerade als sie gehen wollte, fiel ihr auf, dass der Duschvorhang der Badewanne zugezogen war. Luisa rannte darauf zu und stieß ihre »Waffe« mit voller Wucht in den Vorhang. Doch sie schlug ins Leere. Luisa zog den Vorhang beiseite und sah, dass dahinter nichts war bis auf die Badewanne. Anscheinend war wirklich niemand hier oben. Sie ließ den Lukenöffner sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Da fühlte sie einen Luftzug, der die Hintertür des Hauses zuschlagen ließ, und wenige Sekunden später darauf auch die Badezimmertür. Luisa rannte aus dem Bad, zurück in die Vorhalle, wo sie sich zuvor versteckt hatte, und nahm nun den anderen Gang. Dort befand sich ihr Zimmer, sie öffnete die Tür, stürzte ans Fenster und sah hinaus. Wenn jemand das Haus durch die Hintertür verließ, sah man diese Person von ihrem Fenster aus, doch sie konnte keine Menschenseele erspähen. Nach einigen Minuten verließ sie ihr Zimmer, tippte die Nummer der Polizei in ihr Handy ein und drückte »Anrufen«. Eine fremde Stimme meldete sich mit »Police Department Queen's Mill, Pete Logan, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Hallo, mein Name ist Luisa Reed, ich würde gerne einen Einbruch melden.«

»Sind Sie die Tochter von David?«, fragte der Polizist am anderen Ende der Leitung.

»Ja.«

»Nun gut, Ms. Reed, haben Sie gesehen, wer bei Ihnen eingebrochen ist?«

»Nein, leider nicht«, sagte Luisa und schilderte das Geschehene.

»Also haben Sie keine stichhaltigen Beweise, dass bei Ihnen wirklich eingebrochen wurde. Wissen Sie, Ms. Reed, wir können Ihnen nur helfen, falls etwas gestohlen wurde, oder wenn Sie von jemandem bedroht wurden, aber in Ihrem Fall könnte es auch nur ein Luftzug gewesen sein, weil Sie Ihre Tür nicht richtig verschlossen haben«, erwiderte Pete. Damit war das Gespräch beendet.

Luisa war sich sicher, dass die Polizisten wegen ihres Alters nichts unternahmen. Jugendliche spielten der Polizei oft Streiche, dies hatte Luisa schon mehrmals mitbekommen, als ihre Klassenkameraden darüber redeten und damit prahlten. Zumindest war Luisa davon überzeugt, dass niemand mehr im Haus war. Nach und nach beruhigte sie sich wieder, obwohl sie noch ziemlich wütend auf diesen Pete war. Mittlerweile war es halb elf abends, und obwohl Luisa müde war und kaum noch ihre Augen offenhalten konnte, stieg sie erneut die Stufen, die auf den Dachboden führten, hinauf. Luisa ließ sich auf den Platz zwischen all den Kartons nieder. Sie hatte sich vorgenommen, als Nächstes den Karton mit der Beschriftung 1999 zu durchwühlen. Sie beugte sich über ein paar Schachteln, um nach der 1999 zu greifen, doch die Schachtel war verschwunden. Luisa suchte den ganzen Dachboden ab. Jeder Karton wurde drei Mal von ihr im Kreis gedreht, und dann, bei der letzten Schachtel, entdeckte sie die Schrift auf der Vorderseite. Beruhigt ließ sie sich auf die Knie fallen und wollte gerade damit beginnen, den Inhalt zu inspizieren, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Das war nicht die gleiche Schachtel, über welche sie erst vor Kurzem gestolpert war. Diese hier unterschied sich nicht im Geringsten von den anderen. Sie hatte die gleiche Farbe und die gleiche Größe. Luisa wusste nicht, was sie denken sollte. War heute wirklich jemand ins Haus eingebrochen? Hatte derjenige den Karton mitgenommen? Doch Luisa konnte sich die Fragen nicht beantworten. Weshalb sollte jemand ins Haus einbrechen und einen staubigen alten Karton stehlen, wenn der Rest des Hauses mit Antiquitäten vollgestopft war? Plötzlich fühlte sich Luisa unwohl in dem großen Haus, so ganz allein gelassen. Erneut blickte sie sich nach dem echten Karton um, doch der war unauffindbar. Sie gab die Suche auf und stieg die Stiege hinunter, benutzte den Metallstab und schloss die Luke. Wieder holte sie ihr Handy aus ihrer Hosentasche und drückte Wahlwiederholung.

»Queen's Mill Police Department, Joe Morring am Apparat, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Hallo Joe, ich bin es, Luisa.«

»Hey, wie geht's dir? Alles in Ordnung, hast du neue Informationen für mich?«, fragte Joe.

»Nein, leider nicht, aber ich habe heute auf dem Revier angerufen, ich wollte einen Einbruch melden, aber dein Kollege sagte mir, dass er nur kommen könne, wenn etwas gestohlen wurde oder wenn mich jemand bedroht hätte«, sagte Luisa.

»Das stimmt auch. Hast du mich jetzt angerufen, weil du dich bei mir beschweren willst?«

»Nein, da gibt's noch was, das ich gerne melden würde. Bei mir wurde etwas gestohlen, als ich es bemerkte, habe ich sofort angerufen.«

Eine kurze Pause entstand, dann fing Joe an zu reden. »Und was wurde gestohlen?«

»Ein Karton, der auf dem Dachboden verstaut war«, stieß Luisa aus. Ihr war klar, dass sich das seltsam anhören musste.

»Aha, eine Kiste vom Dachboden also, und wie ist dir das aufgefallen, wenn ich dich fragen darf«, hackte Joe nach. »Na ja, ich war gerade dabei, den Dachboden aufzuräumen«, log Luisa, »und als ich mir wieder sicher war, dass niemand mehr im Haus war, wollte ich weitermachen, und da fiel mir auf, dass ein bestimmter Karton fehlte. Die Dinge darin waren sehr wichtig für mich«, fügte sie schnell hinzu.

»Was für Dinge waren in diesem Karton?«

»Zeugs aus meiner Kindheit«, log Luisa weiter. »Und da wir gerade reden – hast du was von meinem Vater gehört oder etwas über ihn herausgefunden?«

»Über dieses Thema will ich nicht am Telefon sprechen. Um Mitternacht haben wir Schichtwechsel, wenn du willst, komme ich vorbei und wir reden ein bisschen. Auch über den Einbruch«, schlug Joe vor.

»Ja gerne, ich möchte im Moment sowieso nicht allein im Haus rumsitzen.«

»Okay, dann bin ich gegen zehn nach zwölf bei dir«, verabschiedete er sich.

Nun gut, es war jetzt dreiundzwanzig Uhr dreißig, sie war müde, doch sie wusste genau, dass sie nicht schlafen konnte, und außerdem würde es ihr guttun, mit jemandem zu reden, da war sich Luisa sicher. Sie dachte über den heutigen Tag nach, er war voller Ereignisse gewesen, und sie wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Die Zeit verging langsam, doch um sieben nach zwölf stand Joe vor ihrer Eingangstür. »Hey Lissy«, begrüßte er sie.

»Hallo«, grinste Luisa.

»Hast du vielleicht eine Tasse Tee für mich? Ich habe dir Kekse mitgebracht« sagte er und hielt die Packung in die Höhe. »Die hab ich dir heut Früh gekauf.«

»Sind das etwa die aus meiner Lieblingsbäckerei?« fragte Luisa begeistert

»Eigentlich wollte ich sie dir morgen vorbei bringen, aber wenn ich schon mal hier bin.«

Während Luisa in die Küche ging, um Joe einen Tee zu kochen, nahm dieser im Wohnzimmer Platz. Sie setzte das Wasser auf und kam zurück ins Wohnzimmer. Er hielt ihr die Plätzchen entgegen.

»Lass sie ruhig auf dem Tisch stehen, zum Tee schmecken die Dinger einfach herrlich.«

»Erzähl mir, was du über den heutigen Einbruch weißt und über diesen Karton«, forderte Joe sie auf.

»Na ja, wie gesagt, ich war gerade dabei, den Dachboden zu säubern, um mich von Dad abzulenken. Als ich eine kurze Pause einlegte, um etwas zu essen, hörte ich im oberen Stock merkwürdige Geräusche. Ich schlich hinauf, konnte aber niemanden entdecken. Als ich dachte, keiner wäre im Haus, spürte ich einen heftigen Luftzug. Zuerst wurde die Hintertür zugeschlagen, dann flog die Badezimmertür zu. Ich dachte schon, ich hätte mir das alles nur eingebildet, da ich niemanden sehen konnte, der durch die Hintertür verschwand. Danach bin ich wieder auf den Dachboden hinauf, um weiter zu putzen, da fiel mir auf, dass jener Karton fehlte, den ich kurz vorher zur Seite geräumt hatte«, berichtete Luisa.

»Also hast du niemanden gesehen? Woher wusstest du, dass es die Hintertür war?«, fragte Joe nach.

»Ich wohne schon seit meiner Kindheit in diesem Haus, mit der Zeit weiß man einfach, wie sich bestimmte Sachen anhören, unsere Haustür zum Beispiel fällt sehr leise ins Schloss, weil sie sehr schwer ist. Die Hintertür dagegen ist ziemlich leicht und deswegen auch lauter«, erläuterte Luisa.

»Oh, das Wasser kocht«, bemerkte Joe. Luisa sprang auf und lief in die Küche, doch als sie in den Topf blickte, kochte darin kein Wasser, es dampfte noch nicht einmal. Merkwürdig, dachte Luisa. Als sie sich gerade umdrehen wollte, packte sie eine Hand an ihrer Schulter. »Oh mein Gott, hast du mich erschreckt«, rief Luisa erleichtert, als sie merkte, dass es nur Joe war.

»Keine Angst, ich wollte dir nur mitteilen, dass ich jetzt nach Hause fahren werde.«

»Aber ich habe dir gerade einen Tee kochen wollen, wieso willst du so schnell verschwinden?« Luisa war verwirrt.

»Es war ein anstrengender Arbeitstag, ich bin müde und möchte eigentlich nur noch nach Hause in mein Bett«, erwiderte Joe.

»Aber was ist mit meinem Vater? Ich dachte, du wolltest mit mir über alles reden.«

»Natürlich, ach ja, das Wichtigste hätte ich fast vergessen. Dein Vater wird nun schon über achtundvierzig Stunden vermisst, das heißt, dass es für uns Zeit wird, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, und vermutlich wird es morgen in allen Zeitungen zu lesen sein. Falls dir noch Details über den Einbruch einfallen sollten, scheu dich nicht, mich anzurufen«, fügte er schnell hinzu.

»Keine Sorge, ich melde mich sofort bei dir. Eine Frage habe ich aber noch«, sagte Luisa. »Wie soll ich mich verhalten, falls Journalisten mit mir reden wollen, denn es passiert ja nicht jeden Tag, dass der Polizeichef verschwindet.«

»Mach dir wegen denen keine Sorgen, öffne einfach nicht die Tür, und falls sie dich auf der Straße ansprechen sollten, sagst du einfach, dass du dazu keinen Kommentar abgeben möchtest«, erklärte ihr Joe.

»In Ordnung. Bitte berichte mir sofort, wenn ihr etwas über meinen Vater herausfindet, ich mache mir wirklich Sorgen, und ich bitte dich als Freund, gib mir Bescheid, egal um welche Uhrzeit«, bat Luisa.

»Klar doch, du bist eine der Ersten, die alles erfährt, sobald wir Hinweise für sein Verschwinden haben«, nickte Joe. Luisa begleitete ihn zur Tür und schloss anschließend sorgfältig ab. Ihre Füße waren schwer wie Blei, sie wollte nur noch in ihr Bett und schlafen.

-

Am Sonntagmorgen saß Luisa auf ihrer Fenstercouch und beobachtete, wie die Regentropfen gegen die Scheibe prasselten und sich auf dem Fenstersims zu einer kleinen Pfütze vereinten. Dicke graue Wolken hingen am Himmel, und leichter Nebel senkte sich auf die gesamte Siedlung. Traurig wendete Luisa ihren Blick ab und las zum vierten Mal einen kleinen Zeitungsartikel im QUEEN'S MILL NEWSPAPER.


POLIZEICHEF VON QUEEN'S MILL VERMISST!

David Reed, Polizeichef aus der Gemeinde Queen's Mill, wird seit einigen Tagen vermisst. Kollegen auf dem Revier bestätigen, dass sie seit seinem Verschwinden weder mit ihm gesprochen noch von ihm gehört haben. Nach ersten Meldungen wurde bekannt, dass momentan eine groß angelegte Suchaktion im Gange ist. Dazu zählen eine Hubschrauberbesatzung, Rettungshunde sowie die Polizei selbst. Auch beteiligt sich eine große Zahl von Aktiven der Freiwilligen Feuerwehr Queen's Mill und der Nachbarstädte Farston und Foxwood. Aus sicherer Quelle wissen wir, dass die bisherige Suche ergebnislos verlief, doch sie wird im Anschluss in der näheren Umgebung der Gemeinde fortgesetzt.Die Polizei von Queen's Mill hofft nun verstärkt auf Hinweise aus der Bevölkerung. David Reed ist 183 cm groß, hat eine kräftige Statur und wurde als Letztes in einem gelben Polo-Shirt und dunkler Jeans gesichtet. Wer Hinweise zum Aufenthalt von Mr. Reed hat, wird gebeten, sich mit der örtlichen Polizei in Queen's Mill in Verbindung zu setzen.Tel.: 0482/93662 Neben dem Text war ein Bild ihres Vaters abgedruckt. Er trug seine Polizeiuniform und strahlte selbstsicher in die Kamera. Luisa fand, dass dieses Foto wie ein Fahndungsfoto von Verbrechern aussah. Der Blick ihres Vaters war starr, er stand schnurgerade da, die Hände waren in die Hüften gestemmt, und obwohl er auf dem Foto lachte, sagten seine Augen etwas anderes. Das Bild war gestellt, da war sie sich sicher.

Luisas Augen waren glasig, und ihr Blick war leer. Sie fühlte sich plötzlich verwundbar, als könnte ein kleiner Stich mit einer Nadel Höllenqualen bei ihr verursachen. Erst jetzt wurde ihr wirklich bewusst, dass ihr Vater verschwunden war, als sie es schwarz auf weiß las. Nicht einmal der Gedanke daran, dass ihre Mutter noch leben könnte, tröstete sie.

Luisa bekam früh am Morgen einen Anruf aus ihrer Schule. Sie wunderte sich, denn normalerweise war am Wochenende niemand dort. Sie nahm den Anruf entgegen und war wie versteinert. Der Direktor persönlich war am anderen Ende der Leitung. Er teilte ihr mit, dass es ihm sehr leid täte, und drückte sein tiefstes Mitgefühl aus. Anschließend fügte er hinzu, dass sie für die nächste Woche freigestellt sei. Dies ist ein kleiner Lichtblick, dachte sich Luisa, denn sie konnte die Zeit nutzen, um der Sache wegen ihrer Mutter auf den Grund zu gehen.

Das Verschwinden ihres Vaters war ein großer Schock für alle Einwohner in Queen's Mill, denn vor nicht gar allzu langer Zeit hatte es bereits einen ähnlichen Vorfall gegeben. Ein Jugendlicher war verschwunden, der Junge hieß Martin Forengo. Bis heute war die Suche nach ihm ergebnislos geblieben. Die Polizei beschäftigte sich intensiv mit diesem Fall, weswegen ihr Vater oft Überstunden machen musste. Martin Forengo ging in die gleiche Schule wie Luisa, war aber ein paar Stufen über ihr. Damals hatte sein Verschwinden für allgemeine Unruhe und Entsetzen gesorgt, denn Queen's Mill war normalerweise eine friedliche Ortschaft. Hier und da wurden mal Betrunkene festgenommen, wegen Vandalismus oder sonstigen Verstößen. Aber ansonsten hatte es nie vermisste Personen in Queen's Mill gegeben. Sie fragte sich, ob es vielleicht einen Zusammenhang zwischen den zwei Menschen gab. Aber soweit sie wusste, hatte ihr Vater mit Martin privat nichts zu tun gehabt. Sie kannten sich zwar, doch das war nicht erwähnenswert, denn in so einer kleinen Stadt kannte jeder jeden. Luisa hatte keine Ahnung, wie sie die Geschehnisse der letzten drei Tage ausblenden konnte. Natürlich waren auch schon Reporter an der Tür gewesen, doch Luisa hatte Joes Rat befolgt und das aufdringliche Läuten der Hausglocke ignoriert. Sie sah auf und ihr Blick blieb an einem gerahmten Bild auf ihrem Schreibtisch hängen. Abgebildet waren ihre Großeltern und sie selbst. Ihre Großmutter und ihr Großvater hatten früher, als sie noch lebten, in der gleichen Siedlung wie sie gewohnt. Zudem besaßen ihre Großeltern ein Haus am See, dort war das Bild aufgenommen worden. In ihrer Kindheit hatte sich Luisa oft dort aufgehalten, denn wenn ihr Vater arbeiten musste, kümmerte sich ihre Großmutter liebevoll um sie. Das Haus am See war Luisas Lieblingsplatz auf dem Planeten Erde gewesen. Dort hatte es alles gegeben, was man für eine glückliche Kindheit benötigte. Abgesehen von den fürsorglichen Großeltern hatte es dort mehrere Katzen gegeben, einen Hund und natürlich den See, in dem Luisa ihre ersten Schwimmzüge gemacht hatte. Das Haus umgab ein kleiner Nadelwald, in dem man sich so schön verstecken konnte. Als Kind baute sie sich oft ihre eigenen Verstecke, in denen sie manchmal den ganzen Tag verbrachte. Und dann gab es da noch die Schaukel. Wenn man vom Haus Richtung See ging, standen am Ufer zwei große Bäume, die dort schon vor langer Zeit gepflanzt worden waren. An deren dicken Ästen befestigte ihr Opa zwei Seile und baute mithilfe eines Bretts eine Schaukel. Mit dieser konnte man so hoch schaukeln, dass man im See landete, wenn man absprang. Bei ihren Großeltern war Luisa immer willkommen gewesen, doch als sie starben, wurde das Haus verkauft, und somit gab es einen Platz weniger in Luisas Leben, den sie liebte. Sie wurde aus ihren Tagträumen gerissen, als sie ihr Handy läuten hörte. Voller Hoffnung, dass es Neuigkeiten über ihren Vater geben könnte, fischte sie das Handy aus ihrer Handtasche und musterte den Bildschirm. Es war nicht Joe oder ein anderer Kollege vom Revier, es war eine SMS von einer fremden Nummer. Luisa war enttäuscht. Sie seufzte schwer und drückte auf »Öffnen«, dann begann sie zu lesen …

» Hallo, ich habe gerade den Artikel über deinen Vater in der Zeitung gelesen, ich wollte nur sagen, dass es mir sehr leidtut , und ich möchte mich auch für alle anderen Dinge entschuldigen, die ich dir in den letzten Jahren angetan habe. Wenn du reden willst, schreib zurück , und ich komme sofort rüber. James «

Luisa traute ihren Augen nicht, träumte sie? Sie zwickte sich fest mit der linken in die rechte Hand und stellte unter Schmerzen fest, dass sie nicht träumte. War der James, von dem sie die SMS bekommen hatte, der gleiche James, den sie kannte? Nun, er musste es sein. Offensichtlich wollte er sich bei ihr entschuldigen und ihr beistehen. Luisa war sich nicht sicher, ob es nur ein Versuch war, Salz in die Wunde zu streuen, oder ob er es aufrichtig ernst meinte. Doch wenn sie ihn jetzt ignorierte, würde sie es nie herausfinden. Sie schluckte ihren Stolz hinunter und antwortete ihm:

»Ich will mal eins klarstellen: Falls das wieder einer von deinen Scherzen sein sollte, kannst du's dir gleich sparen. Ich will nichts mit dir zu tun haben. Luisa« Keine Minute war vergangen, als seine Antwort kam: »Dieses Mal meine ich es ernst, gib mir eine Chance, alles wiedergutzumachen, was ich verbockt habe. Ob du willst oder nicht, ich bin schon unterwegs zu dir. P.S.: Ich komme zur Hintertür. Die Vorderseite eures Hauses wird von Reportern belagert. Bis gleich – James« Zehn Minuten später hörte sie ein Klopfen an der Hintertür. Luisa eilte ins Erdgeschoss und lugte zwischen den Vorhängen durch. Draußen stand James, allein, und lächelte sie an. Sie öffnete ihm die Tür.

»Hey«, begrüßte James sie vorsichtig.

»Hallo«, erwiderte Luisa kühl.

»Ähm …« James räusperte sich. »Wie geht's dir? Okay, blöde Frage, streich das.«

»Ging schon mal besser, aber komm doch rein … willst du was trinken?«, bot ihm Luisa an.

»Es tut mir wirklich sehr leid, ich meine das mit deinem Vater.« Er blickte zu Boden. »Und auch alles andere, ich wollte dich nie wirklich verletzen, das war eher alles nur … Spaß«, sagte er versöhnlich.

Luisa hatte das Gefühl, gleich zu explodieren. »Spaß? Das hast du für Spaß gehalten? Wie blöd bist du eigentlich? Du hast mich allein gelassen! Du warst auch mal in meiner Lage und genauso unbeliebt wie ich. Du müsstest am besten wissen, wie man sich in solch einer Situation fühlt. Auch als du nicht mehr mein Freund warst, ich hätte von dir erwartet, dass du mich zumindest in Ruhe lässt, doch du hast wie alle anderen auf mir rumgehackt und mich gedemütigt.« Luisa zitterte vor Wut.

»Es tut mir ja alles leid, aber es ist ziemlich schwer zu erklären, wie hättest du dich entschieden, wenn du in meiner Lage gewesen wärst? Ich wünsche mir, dass du mir verzeihst, ich kenne dich, ich bin mir sicher, du brauchst jemanden zum Reden. Ich will wieder dein Freund sein, und ich kann auch alle in der Klasse davon überzeugen, dich in Ruhe zu lassen.«

»Mir ist egal, was alle anderen in der Klasse über mich denken. Die Highschool ist bald vorbei und ich werde ganz sicher nicht zurückblicken. Ich will einzig und allein wissen, wieso du mich einfach links liegen gelassen hast! Ich hätte dich sicher nicht so abserviert. Besser, ich habe einen guten Freund als hundert falsche Freunde.« Sie atmetet tief durch und sah ihn aufmerksam an.

»Es tut mir leid, ich kann dir jetzt nicht versprechen, dass ich alle meine Kontakte abbreche, um wieder dein Freund zu sein, aber ich möchte auch dich zur Freundin haben, wie früher. Wir waren doch immer ein tolles Team, wir zwei. Bitte, denk wenigstens darüber nach«, bat James.

»Ich weiß, wir waren ein tolles Team, aber das war früher. Ich bin nicht auf dich angewiesen, ich habe die letzten Jahre ohne dich überstanden, also werde ich auch noch das restliche Schuljahr alleine zurechtkommen. Aber danke fürs Angebot«, zischte Luisa.

»Hey, komm schon, ich habe mich doch entschuldigt«, rief James und hob verständnislos die Hände.

»Und du glaubst wirklich, dass das alles wieder gut macht? Du hast mir einen Apfel mit voller Wucht an den Kopf geworfen, du warst nach dem Sport in der Mädchenumkleide und hast meinen Sport-BH geklaut und ihn der gesamten Klasse gezeigt, du hast mir nicht geholfen, als mich damals Joana Lane mitten in der Nacht in der Dusche der Jungs eingesperrt hat. Du hast immer nur gelacht. Ach ja, und das Wichtigste, was ist mit Mrs. Piggy?« Luisa durchbohrte ihn mit ihrem Blick.

»Okay, ich hab großen Mist gebaut, aber ich will es jetzt wieder gutmachen, das mit dem Apfel und dem Sport-BH tut mir wahnsinnig leid. Komm schon, Luisa, früher warst du auch nicht so stur und warst auch nicht lange böse.« James lächelte sie versöhnlich an.

»Früher warst du aber auch kein Idiot und warst nicht wie alle anderen. Aber bitte, ich gebe dir eine allerletzte Chance und hoffe, dass du inzwischen erwachsen geworden bist. Versau sie nicht«, gab Luisa großzügig nach. »Willst du jetzt was zu trinken oder nicht?«, fügte sie schroff hinzu.

»Ein Glas Wasser bitte. Ich habe gehört, du wirst eine Woche von der Schule befreit, ziemlich cool, oder?«, probierte James das Eis zu brechen.

»Mhm, ich würde es cooler finden, wenn mein Vater endlich wieder auftauchen würde, aber ja, ich werde schon über ihn hinwegkommen, denn eine Woche schulfrei lässt mich ihn sicher vergessen«, sagte Luisa sarkastisch.

James blickte beschämt zu Boden. »Ich hab wohl die falschen Worte benutzt, Entschuldigung«, sagte er leise.

Luisa reichte ihm ein Glas Wasser und ließ sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen. James setzte sich neben sie, und als Luisa plötzlich anfing, zu weinen, legte er vorsichtig seinen Arm um sie. Alle Ereignisse des Wochenendes sprudelten aus ihrem Mund. Die Tatsache, dass ihre Mutter noch lebte, ihre Vereinbarung mit Kim, das Gespräch mit Kims Bruder, der Einbruch, der gestohlene Pappkarton auf dem Dachboden, die Besuche von Joe bei ihr zu Hause und die Anrufe bei der Polizei.

»Wow, das nenn ich mal ein Wochenende«, sagte James, als Luisa fertig war.

»Das kannst du laut sagen«, entgegnete sie und musste lächeln. James grinste zurück. Er nahm sie in seine Arme und versuchte, sie zu trösten. »Wenn du willst, helfe ich dir bei der Suche nach deiner Mutter, oder an welcher Sache du gerade dran bist. Brauchst du vielleicht noch einen Freund, der dir dabei hilft?«, fragte James unsicher.

»Ja, ich könnte jetzt wirklich jemanden gebrauchen, dem ich vertrauen kann. Riley hat zwar gesagt, ich kann zu ihm kommen, doch ich bin mir seinetwegen nicht so ganz sicher. Wenn du willst, kannst du mir helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aber du musst mir versprechen, keiner Menschenseele etwas darüber zu erzählen. Es muss unter uns bleiben«, antwortete Luisa.

»Klar doch, du kennst mich, also hast du das Bild von deiner Mutter dabei? Wir können es meinen Eltern zeigen, die haben deine Mutter gekannt, oder wie es aussieht, kennen sie noch. Wir könnten sofort zu ihnen rübergehen und …«

Luisa unterbrach ihn. »Nein, keiner darf etwas erfahren, das ist die einzige Regel, die du befolgen musst, wenn du mir helfen willst. Ich glaube, Riley weiß mehr, als er zugibt, denn als er mir sagte, ich dürfte mit niemandem darüber reden, klang es so ernst. Vielleicht steckt mehr hinter der Sache.«

»Na schön, und wie sieht dein Plan aus, was willst du als Nächstes tun?«, fragte James.

»Riley meinte, ich solle zuerst herausfinden, wo mein Vater ist und wieso er verschwunden oder abgetaucht ist. Aber wie soll ich weiter vorgehen, schließlich bin ich keine Ermittlerin«, seufzte Luisa.

James überlegte. »Also wenn mein Vater verschwunden wäre, würde ich als Erstes nach Hinweisen suchen, welche Termine er an diesem Tag hatte, denn vielleicht ist er ja auf dem Weg dorthin entführt worden.«

»Denkst du allen Ernstes, dass mein Vater gekidnappt wurde? Immerhin ist er über ein Meter achtzig groß und nicht gerade schwach. Aber einen Versuch ist es allemal wert«, meinte Luisa.

James trank sein Wasser aus, und sie gingen zusammen zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Luisa drückte die Türklinke vorsichtig hinunter und öffnete so langsam die Tür, dass man meinen könnte, ein Monster würde dahinter auf sie warten. Sie inspizierte den Schreibtisch ihres Vaters, während James sein Glück bei den Bücherregalen versuchte. Vielleicht würde er zwischen den dicken Wälzern auf etwas stoßen. James war ein kleiner Verschwörungsfanatiker, und ihm war klar, sollte es Hinweise geben, waren sie mit Sicherheit schwer auffindbar. Luisa öffnete die erste Schublade und zog eine dicke, gelbe Mappe heraus. Sie setzte sich auf den Schreibtischsessel und schlug sie auf. Es war die Dokumentenmappe ihres Vaters. Geburtsurkunde, Staatsbürgerschaftsnachweis und alles Mögliche. Sie ließ den Ordner zuklappen und steckte ihn wieder in die Lade. »Hast du schon etwas gefunden?«, rief sie James zu.

»Nein, aber ich habe ja noch nicht einmal ein halbes Bücherregal durchsucht«, antwortete er belustigt angesichts Luisas Ungeduld. Luisa wandte sich kopfschüttelnd von ihm ab und öffnete die zweite Schublade, doch dort waren nur Schreibwaren wie Kugelschreiber, Bleistifte, Radiergummi und Büroklammern. Auch bei der nächsten Lade hatte sie kein Glück, nur Kreditkartenabrechnungen, welche sie jedoch auf den Schreibtisch legte, um sie nachher genauer zu betrachten. Plötzlich drehte sich James zu ihr um. »Ich weiß nicht, ob das eine Bedeutung hat, aber komm mal her«, rief er aufgeregt. Luisa sprang aus ihrem Sessel und lief zu ihm. James hielt ein Blatt Papier in seinen Händen. Die rechte obere Kante war abgerissen worden, doch sonst sah der Zettel ziemlich neu aus.

»Wo hast du den gefunden?«, wollte Luisa wissen.

»Ich habe durch Zufall ein Buch herausgenommen und diesen Zettel darin entdeckt«, erklärte ihr James. »Sagt dir das irgendwas?«

»Das ist eine Nachricht an mich.« Verblüfft starrte sie den Zettel an. »Früher, als ich klein war, hat mein Vater mir diese Geheimschrift beigebracht.« Luisa musste schmunzeln, James hingegen sah verwirrt aus, er konnte auf diesem kleinen Zettel nur Symbole erkennen, die für ihn keinerlei Bedeutung hatten. Er gab Luisa den Zettel, und als sie ihn in die Hand nahm, zitterte diese leicht. Sie wusste genau, wie es sich angefühlt hatte, als ihr Vater ihr diese geheime Schrift beibrachte. Sie rief sich den Tag in ihr Gedächtnis, und wie durch Trance erlebte sie ihn ein zweites Mal.

Es war Luisas sechster Geburtstag, ihr Vater hatte Urlaub und ausgesprochen gute Laune. Keine einzige Wolke war damals am Himmel zu sehen. Man konnte es nicht anders beschreiben, es war ein Bilderbuchwetter. Zu ihrem Geburtstag hatte sie von ihrem Vater ein Buch geschenkt bekommen, »Die kleine Meerjungfrau« hieß es. Luisa schleppte das Buch noch monatelang mit sich herum. Egal, ob sie am Spielplatz war oder zu Hause. Das Buch war ein Geschenk ihres Vaters, und nichts und niemand würde ihr es jemals wegnehmen. Ihre Großmutter hatte eine Torte für sie gebacken, die auf dem Esstisch im Wohnzimmer platziert war. Sie war wunderschön, geschmückt mit kleinen Engeln aus Marzipan. Es war einer der schönsten Tage in Luisas Leben. Ihr Opa und ihr Vater unterhielten sich gerade auf der Terrasse über die neuesten Sportnachrichten, als Luisa zusammen mit ihrer Oma die Torte anschnitt. Als jeder sein Stück davon auf einem kleinen Porzellanteller gereicht bekam, wurde viel geredet und gelacht. Damals waren sie noch eine Familie, so fühlte es sich zumindest für Luisa an. Am späten Nachmittag, als ihre Großeltern aufbrachen, um nach Hause zu gehen, sagte Luisas Vater zu ihr: »Eine kleine Überraschung habe ich noch für dich«, und zwinkerte ihr zu. Er nahm sie bei der Hand, und sie spazierten in Luisas Zimmer. Beide setzten sich auf den weichen Teppich, und dann fing ihr Vater an zu erzählen. »Weißt du, Lissy, als ich so alt war, wie du jetzt bist, hat mir mein Vater auch noch eine kleine Überraschung zum Geburtstag gemacht, und zwar die gleiche, die ich dir jetzt machen werde.«

»Was denn für eine?«, hatte Luisa neugierig wissen wollen. Ihr Vater richtete sich auf und holte aus seiner Hosentasche ein bläuliches Papier heraus. Er hielt es Luisa hin, und sie nahm es entgegen. Wissbegierig starrte sie auf den Zettel, doch sie konnte nur verschiedene Symbole darauf erkennen. Sie dachte schon, es sei eine Überraschung, die ihr nicht gefiel, doch dann hielt ihr Vater ihr einen weiteren Zettel vor die Nase. Auf diesem war das ganze Alphabet aufgelistet, und neben jedem Buchstaben stand ein Symbol. Plötzlich verstand Luisa. Ihr Vater hatte ihr auf den ersten Zettel eine verschlüsselte Botschaft geschrieben. Luisa verspürte ein Gefühl, das sie bisher nur an wenigen Tagen auskosten durfte. Es war Glück, pures Glück. Sie konnte es kaum glauben, ihr Vater, ihr eigener Vater, zeigte ihr eine Geheimschrift, die nur sie entschlüsseln konnte. Es war wie ein unsichtbares Band, das ihren Vater und sie miteinander verband. Sie wirbelte hoch und umarmte ihn, nicht, weil es toll war, auf verschlüsselte Art mit ihm zu kommunizieren, sondern weil er ihr seine Zuneigung schenkte. Das war das Einzige, was sich Luisa jemals von ihrem Vater gewünscht hatte. Sie war überglücklich, den restlichen Tag schickten sie sich gegenseitig Botschaften, und abends las er ihr aus dem Buch vor, welches er ihr geschenkt hatte. Zufrieden schlief Luisa ein, doch schon am nächste Morgen war ihr Vater wieder der Alte, denn an diesem Morgen gab es kein Gelächter, und als Luisa versuchte, zu ihm in den Ledersessel zu klettern, schob er sie von sich weg wie ein lästiges Insekt. Es folgten zwar weitere schöne Tage in Luisas Leben, doch ihr Vater war meistens kein Teil davon.

»Hallo? Luisa?« Sie schreckte hoch, James stand vor ihr und wedelte mit seiner Hand vor ihrem Gesicht herum. »Alles klar, geht's dir gut?«, fragte er besorgt.

»Ja, alles klar.«

»Du hast gesagt, dass das eine Nachricht für dich ist, woher weißt du das?«, hakte er nach.

»Mein Vater hat mir an meinem sechsten Geburtstag diese Geheimschrift beigebracht«, sagte sie leise.

»Wow, das ist schon ziemlich lange her, kannst du dich noch daran erinnern, wie man sie entschlüsselt?«

»Ja doch, jedes Symbol steht für einen Buchstaben, insgesamt gibt es also neunundzwanzig, Ä,Ö,Ü mitgezählt«, erklärte ihm Luisa. »Ich kann zwar mittlerweile nicht mehr alle Zeichen auswendig, aber ich habe den Lösungszettel nie weggeworfen.« Sie hastete aus dem Arbeitszimmer, lief in ihr Zimmer und zu ihrem Schreibtisch. Sie durchkramte ein paar Schubladen, bis sie endlich das Stück Papier zwischen den Fingern hielt. Luisa schob die Lade zu und rannte zurück zu Sam. Ihr Herz raste, als sie sich auf den Boden setzte und die zwei Zettel nebeneinander legte. Sie verglich die Botschaft ihres Vaters mit dem Lösungszettel. Das erste Wort bestand aus zwei Buchstaben. Das erste Symbol war ein Dreieck. Also der Buchstabe E, das zweite Zeichen war ein Kreis mit Spiralen darin, dieses Zeichen stand für ein S. Nach ungefähr zehn Minuten hatte sie die Botschaft entschlüsselt. Luisa verstand die Welt nicht mehr. In der Zwischenzeit hatte sich James zu ihr gesetzt und las die Worte laut vor:

» Es gibt einen Ort, an dem niemand wohnt, geh dorthin, dann bleibst du verschont. Doch zuerst finde den Gang mit dem dunklen Licht und suche vor allem in jedem Gesicht.Wirst du auf deinem Weg auch mehrmals geblendet, gib nie auf und sorge dafür , dass es bald endet. «

Luisa starrte auf den Zettel, doch sie wurde nicht schlau daraus.

»Das gibt's nicht«, hörte sie James neben sich murmeln.

»Was meinst du?«

»Dein Vater ist nicht entführt worden, sonst hätte er keine Zeit mehr gehabt, diese Nachricht zu schreiben«, sagte er voller Begeisterung.

»Was, wenn er diese Nachricht schon vor längerer Zeit geschrieben hat?«, konterte Luisa.

»Dann hätte er doch mit dir selbst geredet und keine geheime Botschaft hinterlassen, die du nur durch Zufall finden kannst. Dein Vater war doch nie ein Geheimniskrämer, oder?«, erwiderte James.

»Ich weiß, ich weiß, aber diese Botschaft beweist trotzdem nicht, dass er selbst untergetaucht ist. Es wäre doch auch gut möglich, dass er entführt wurde. Ich zumindest schließe diese Option nicht aus. Welchen Grund hätte mein Vater auch gehabt, um unterzutauchen«, sagte Luisa schnippisch. »Aber warum schickt er mir eine verschlüsselte Nachricht, und auch noch eine so komplizierte?«

»Vielleicht wollte er, dass nur du sie lesen kannst, denn falls sie in falsche Hände gerät, könnte keiner etwas damit anfangen«, meinte er. Sie starrten erneut auf den Zettel und lasen »Es gibt einen Ort, an dem niemand wohnt« – es gab ziemlich viele Orte, an denen niemand wohnte, da war sich Luisa sicher. »Gehe dorthin, dann bleibst du verschont.«

»Wieso sollte mir jemand etwas Böses wollen, ich habe doch mit Dads Angelegenheiten nichts am Hut«, dachte sie laut nach. Sie blickte in James' Gesicht, als hoffe sie, dort die Antwort zu finden.

»Wann hat dein Vater überhaupt angefangen zu dichten?«, fragte er Luisa.

»Ich hab keinen blassen Schimmer, wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich davon ausgehen, dass der Brief von jemand anderem verfasst wurde. Das Einzige, was ich an dieser Botschaft verstehe, ist, dass ich zuerst einen dunklen Gang finden muss, doch das nächste Problem ist – welche Gesichter?«, überlegte Luisa.

»Ich vermute, dass es sich um einen öffentlichen Ort handelt«, sagte James.

»Tja, da hast du möglicherweise recht, aber wo könnte dieser Gang sein? Vielleicht eine U-Bahn-Station, dort sind mit Sicherheit viele Leute, also auch viele Gesichter.«

»Es muss ein Ort sein, an dem dein Vater öfters war. Obwohl ich nicht denke, dass er eine U-Bahn-Station meint, denn dort sind immer wieder neue Gesichter, woher solltest du wissen, in welches du sehen musst«, sagte er zu Luisa.

»Das klingt einleuchtend, Queen's Mill ist zwar nicht groß, aber es gibt sicher mehr als nur einen dunklen Gang. Aber was, wenn sich ›dieser Gang‹ in der Polizeistation befindet, ganz unten, wo sich die untgelösten Fälle befinden«, schoss es Luisa durch den Kopf. »Im Revier sind schließlich immer die gleichen Gesichter, und mein Vater kannte alle sehr gut!«

»Keine schlechte Idee, doch welche Gesichter sollen dort unten sein?«, fragte James.

Luisa überlegte kurz. »Dort unten befindet sich auch der Pausenraum für alle Angestellten«, erklärte sie.

»Woher weißt du das?«

»Ich hab mal ein Gespräch zwischen meinem Vater und Joe mitgehört. Die beiden haben darüber nachgedacht, dort unten eine Bar einbauen zu lassen.«

»Redest du von Joe Morring?«, wollte James wissen.

»Ja, genau, den mein ich, er und mein Vater sind sehr gute Freunde«, antwortete sie.

Und dann sprach James die Frage aus, welche Luisa ebenfalls auf der Zunge lag. »Wie sollen wir dort runterkommen, ohne von jemandem gesehen zu werden?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung«, seufzte sie.

»Wir werden uns schon etwas einfallen lassen«, sagte James zuversichtlich. »Aber was steht noch im Brief von deinem Vater? Vielleicht ergibt sich daraus ein Zusammenhang, der mit der Polizeistation zu tun hat.«

»Wirst du auf deinem Weg auch mehrmals geblendet, gib nie auf und sorge dafür, dass es bald endet«, las Luisa vor.

»Okay, es macht nicht den geringsten Sinn«, schloss James daraus.

»Vielleicht gibt es in diesem dunklen Gang einen Spiegel, der mich blendet, und möglicherweise kann mir der weiterhelfen«, überlegte Luisa.

»Ich zweifle zwar deine Intelligenz nicht an, aber erhoffst du dir wirklich, dass dir der Spiegel antwortet, so wie bei Schneewittchen?«, fragte James spöttisch.

»Ja, ich schätze, du hast recht, das ist Humbug«, gestand sich Luisa ein. »Aber es war eine Überlegung wert«, fügte sie hinzu und lachte laut auf. James war froh, dass Luisa für wenige Sekunden von ihren Sorgen abgelenkt war, und lachte mit. Doch sie wurden unterbrochen, als die Hausglocke ertönte.

»Mein Gott, diese nervtötenden Reporter werden wohl nie Ruhe geben«, sagte Luisa verärgert.

»Ignorier es einfach, dann werden sie es irgendwann leid sein«, versuchte James sie aufzumuntern. Just in diesem Moment klingelte Luisas Handy. Sie sah aufs Display und erkannte Joes Nummer. »Hey Joe, was gibt's?«, begrüßte sie ihn.

»Hey Lissy, schön, dass du abhebst, bist du zu Hause? Ich hab gerade geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht«, erwiderte er.

»Ich dachte, das seien diese Reporter, die mich noch immer nicht in Ruhe lassen«, sagte sie.

»Die Journalisten hab ich schon vor anderthalb Stunden weggeschickt, hast du das nicht bemerkt?«

»Ich war gerade beschäftigt«, sagte Luisa schnell. Sie legte auf und erhob sich. »Versteck dich vorsichtshalber im Zimmer meines Vaters. Joe muss nicht wissen, dass wir beide wieder miteinander reden. Je weniger er weiß, desto besser.«

»Muss ich mich jetzt allen Ernstes im Schlafzimmer deines Vaters verstecken?«, protestierte James.

»Dann setz dich meinetwegen auf die Kellerstiege, von dort aus kannst du auch lauschen«, sagte Luisa. Gesagt, getan. Luisa ließ die Tür zur Kellerstiege zwei Fingerbreit offen und ging zur Haustür. Sie öffnete sie und bat Joe herein.

»Bringst du Neuigkeiten?«, fragte Luisa aufgeregt.

»Ja und nein«, antwortete Joe.

»Was meinst du mit ja und nein?«

»Wir vom Revier«, fing Joe an, »überwachen das Handy deines Vaters, ob sich jemand mit ihm in Verbindung setzt, oder ob er jemanden anruft. Außerdem werden wir sofort informiert, wenn er seine Kreditkarte benutzt.«

»Und habt ihr etwas herausgefunden?«, fragte Luisa.

»Wir wissen, dass mit der Kreditkarte deines Vaters gestern Nachmittag in einer Apotheke schmerzstillende Medikamente gekauft wurden. Wir dachten zuerst, dass dein Vater schwer verletzt durch die Gegend irrt, doch als einer meiner Kollegen die Apothekerin nach dem Mann fragte, der mit dieser Kreditkarte bezahlte, beschrieb sie ihn uns. Leider muss ich dir mitteilen, dass es sich dabei nicht um deinen Vater handelt. Sie beschrieb den Mann als groß und übergewichtig. Er hatte nur mehr einen Haarkranz, stahlgraue Augen, und er war etwa Mitte vierzig. Kennst du jemanden, auf den diese Beschreibung zutreffen könnte?«

Luisa dachte nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein, unter dieser Beschreibung kann ich mir niemanden vorstellen. Was, wenn dieser Mann die Kreditkarte gestohlen oder einfach nur gefunden hat?«, gab sie zu bedenken.

»Das dachten wir uns auch und haben ein Phantombild erstellen lassen, um ihn ausfindig zu machen, doch bisher tappen wir immer noch im Dunkeln, denn es scheint, als hätte niemand diesen Mann gesehen, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er unbemerkt geblieben ist.«

»Ein neues Gesicht erkennt man in Queen's Mill doch sofort«, stimmte ihm Luisa zu.

»Eben. Aber vielleicht meldet sich noch jemand, der diesen Fremden gesehen hat oder ihn möglicherweise persönlich kennt«, erwiderte Joe.

»Ich hoffe es«, sagte Luisa niedergeschlagen.

»Nun gut, Lissy, sobald ich weitere Neuigkeiten über deinen Vater habe, melde ich mich umgehend. Halt die Ohren steif und wenn du etwas brauchst, ich bin für dich da, vergiss das nicht. Bis dann, Lissy.« Freundlich nickte er ihr zu und wandte sich dann ab. Als Luisa die Tür hinter ihm geschlossen hatte, eilte sie zur Kellertür.

»Und? Was hältst du davon?«, wollte James wissen.

»Wie meinst du das? Was soll ich wovon halten?«

»Na ja, glaubst du, er sagt die Wahrheit?«

Luisa zuckte mit den Schultern. »Ich vertraue Joe zwar nicht hundertprozentig, aber wieso soll er mich deswegen belügen? Ich meine, ich kann mit diesen Informationen nicht besonders viel anfangen. Aber als Sicherheit habe ich oben die Mappe mit Dads Kreditkartenabrechnungen liegen, ich werde mir die neuen Belege zuschicken lassen, und dann sehen wir, ob Joe gelogen hat, was ich jedoch nicht denke.« Sie sah auf die Uhr. Obwohl erst später Nachmittag war, fühlte sie sich hundemüde und wollte ein Nickerchen machen. »James«, sagte sie, »ich bin fix und fertig, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir uns morgen wieder treffen könnten, um dann weiter über das Geschehene zu rätseln? Ich kann kaum noch meine Augen offenhalten.«

»Klar doch, ich hab aber morgen bis dreiviertel vier Schule und im Anschluss noch Training, doch wenn ich kann, schwänze ich es. Soll ich uns etwas vom Chinesen mitbringen?«, fragte er.

Luisa lächelte matt. »Ja, gerne. Also dann, bis morgen, James.« Zehn Minuten später lag sie in ihrem Bett, konnte jedoch nicht einschlafen. Zu viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum. »Wo bist du, Dad?«, »Lügt Joe mich an?«, »Was ist mit dem Karton passiert?«, »Wer ist die Person, die ins Haus eingedrungen ist?« Sosehr sie auch grübelte, sie fand dafür keine Antworten, und je länger sie darüber nachdachte, desto fragwürdiger wurde das Ganze.

-


Irgendwann war sie endlich eingeschlafen und träumte von einem dunklen Gang, einer Art Tunnel, der tief in die Erde hineinführte. Luisa stand direkt davor, jedoch war ihr die Umgebung fremd. Sie versuchte, herauszufinden, wo sie sich befand, doch alles um sie herum war verschwommen, bis auf den Gang, der von einem spärlichen Licht beleuchtet wurde. Luisa kniff ihre Augen zusammen, um schärfer sehen zu können. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, doch sie glaubte, den Stadtpark von Queen's Mill zu erkennen. Sie machte ein paar Schritte nach vorne, um den Gang zu untersuchen. Ein dunkler Tunnel mitten im Park, der in die Tiefe führte. Sie spürte, dass sie am anderen Ende des Ganges nichts Gutes erwarten würde, doch die Tiefe zog sie förmlich hinein. Im Inneren war es kühl und stickig. Plötzlich bekam Luisa Gänsehaut und wollte zurückgehen, zurück an die frische Luft. Sie drehte sich um und rannte beinahe in eine Holztür. Sie rüttelte daran, doch sie ließ sich nicht öffnen. Luisa blieb nichts anderes übrig, als den Tunnel weiterzugehen, um am anderen Ende den Ausgang zu finden. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, bis sie plötzlich in eine Pfütze trat. Sie sah auf den Boden und spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. War es das, wofür sie es hielt? Luisa ging in die Hocke und betrachtete die Pfütze. Blut, es war eindeutig Blut. Dunkelrot klebte es nun an ihrem Schuh, und just in diesem Moment hörte sie ein wehklagendes Jammern. Sie fuhr hoch. Tief in ihrem Inneren wusste sie, was sie am Ende des Ganges finden würde. Sie lief los. Es kam ihr vor, als wären Stunden vergangen, als sie in der Ferne schließlich ein Licht sah. Der Ausgang! Minuten später stand sie im Freien, mitten auf der East-Road-Autobahn. Erneut hörte sie das unheimliche Klagen eines Menschen. Sie folgte dem Geräusch und entdeckte schließlich den Ursprung des Stöhnens. Sie war jetzt am Rande der Autobahn angelangt. Dort lag ihr Vater, bäuchlings, mit dem Gesicht im Straßengraben. Das Gras neben ihm war voller Blut. Luisa kniete sich nieder und legte seinen Kopf in ihre Hände. Leise flüsterte sie ihm ins Ohr: »Bitte bleib bei mir. Kämpfe dagegen an und bleib hier.« Er rührte sich nicht, und der rote Fleck neben ihm wurde größer und größer. Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, fuhr jemand die Straße entlang. Luisa sprang hoch und fuchtelte wild mit den Armen, damit der Autofahrer sie bemerkte, doch das Auto bremste nicht ab und fuhr einfach an ihr vorbei. Lange sah Luisa dem grauen Mustang nach, bevor sie sich wieder ihrem Vater zuwandte. Sie vergrub ihr Gesicht in ihre Hände und fing an zu schluchzen, bis sie ein Stöhnen vernahm, das schlimmer war als jedes Geräusch, welches sie zuvor in ihrem Leben gehört hatte. Sie hob ihren Kopf und sah, wie die Hände und die Füße ihres Vaters sich verkrampften. Luisa wusste nicht, was mit ihm passierte, und schrie vor Entsetzen, doch aus ihrem Mund kam kein Laut. Nach einer Weile legte sich das Zappeln und ihr Vater lag leblos da, das Gesicht noch immer ins Gras gedrückt, der linke Fuß war auf merkwürdige Weise verdreht und seine Hände waren zur Seite gestreckt. Luisa sah ihren Vater voller Trauer an und flüsterte: »Ich liebe dich, Dad.« Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, sah sie, wie seine rechte Hand ein Grasbüschel packte. In diesem Moment erwachte Luisa aus ihrem Traum. Schweißgebadet setzte sie sich kerzengerade im Bett auf und starrte in die Dunkelheit. Für einen Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand, aber als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie das Bild von ihren Großeltern auf ihrem Schreibtisch und wusste, sie war in ihrem Schlafzimmer. Luisa erinnerte sich an ihren Traum, und sofort lief es ihr kalt über den Rücken. Nicht einmal ihrem schlimmsten Feind hätte sie diesen Traum gewünscht. Er hatte so real gewirkt, so detailliert. Luisa schwang ihre Beine aus dem Bett und schlurfte erschöpft ins Badezimmer. Sie angelte sich ein Handtuch aus dem Schrank und befeuchtete es an einer Ecke. Sie strich sich damit über die Stirn, und augenblicklich hörte das Glühen in ihrem Gesicht auf. Sie sah in den Spiegel. »Warum ich? Ich habe doch sowieso schon genug Probleme.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, es war erst halb drei in der Früh. Schaudernd dachte sie wieder an ihren Traum. Ihr Vater, der im Graben lag und langsam verblutete. Dieses Zucken, als würde er nur noch wenige Sekunden zu leben haben. Luisa hatte gehört, dass man bei einem Traum keine Emotionen oder Gefühle fühlen könne, doch dieses Mal, da war sie sich sicher, traf es auf ihren Traum nicht zu. Sie hatte den Kummer und den Schmerz gespürt. Abgesehen von der Angst, die sich in ihr breitmachte, war da noch die tiefe Trauer. Zwar glaubte James, dass ihr Vater aus eigenen Stücken untergetaucht war, doch Luisa war sich da nicht so sicher, sie hatte keine Beweise dafür. Sie zwang sich zurück in die Realität, schlüpfte wieder unter ihre Bettdecke und schloss die Augen. Sekunden später war sie eingeschlafen. Erst am späten Vormittag wachte Luisa wieder auf, erleichtert darüber, dass sie von keinen weiteren Albträumen geplagt worden war.

-

Da James in der Schule war und erst um dreiviertel vier nach Hause kommen würde, nahm sich Luisa vor, die restlichen Kartons auf dem Dachboden zu durchwühlen.

Nach ihrem Frühstück, welches aus einem Marmeladenbrot und einem Glas Milch bestand, stieg sie die Stufen in den Speicher hinauf. Sie machte das Licht an und widmete sich den Kartons, welche sie noch nicht untersucht hatte. Als Erstes war der Karton zu ihrer Linken an der Reihe. Sie fand alte Schulhefte, die ihr gehörten, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie noch existierten. Luisa schob die Hefte beiseite. Als Nächstes stieß sie auf eine Mosaikvase. Vorsichtig nahm sie sie heraus, da die Vase sehr wertvoll wirkte. Luisa staubte sie ab und untersuchte sie gründlich, doch weder auf der Unterseite noch in ihrem Inneren war etwas versteckt. Luisa stellte sie neben die Hefte, und ihre Hände langten erneut in den Karton. Diesmal holte sie ein Flaschenschiff hervor. Sie staunte. Wie alt das wohl sein mochte? Doch auch das Flaschenschiff war reine Zeitverschwendung. Als Letztes befand sich nur noch eine kleine Schatulle in dem Karton. Sie hob sie heraus und öffnete sie. Eine zarte Melodie erklang. Das ist eine Spieluhr, dachte sie überrascht. Luisa sah sie sich genauer an, betrachtete die Porzellanfiguren, welche wunderschön aussahen, wie sie sich im Takt der Musik bewegten. Das Lied, das dazu gespielt wurde, war Luisa bekannt, jedoch konnte sie es nicht zuordnen. Nach längerem Überlegen fiel ihr ein, woher sie diese Melodie kannte – aus der Kirche. »Ave Maria.«

Früher, als sie noch ein Kind war, hatte ihre Großmutter sie jeden Sonntag mit in die Kirche genommen. Seit ihre Oma jedoch verstorben war, war sie nicht mehr dort gewesen. Luisa schoss ein Gedanke durch den Kopf: Hatte diese Spieluhr vielleicht ihrer Mutter gehört? Sie legte sie neben sich, während sie das restliche Zeug in den Karton zurückräumte. Die kleine Schatulle wollte sie mit in ihr Zimmer nehmen. Luisa widmete sich dem nächsten Karton, dem mit der Beschriftung 1999. Die originale 1999er-Schachtel war verschwunden, trotzdem wollte sie einen Blick in diesen Karton werfen. Es waren bloß alte Zeitungen darin, sonst nichts. Luisa konnte sich nicht erklären, weshalb alte Ausgaben vom Queen's Mill Newspaper auf dem Dachboden lagen. Sie dachte an ihren Vater, der jeden Morgen seinen Kaffee trank und dabei die aktuelle Zeitung las. Luisa schlug eine Ausgabe auf und blätterte darin. Auf Seite sechs entdeckte sie einen Artikel, der mit gelbem Textmarker markiert war. Queen's Mill 01.06.2008

Martin Forengo, 17 Jahre alt, immer noch spurlos verschwunden.

Seit dem 27.05.2008 wird der sieb zehnjährige Martin Forengo vermisst. Bisher war die Suche nach ihm erfolglos. Die Beamten von Queen ' s Mill führen derzeit eine polizeiinterne Ermittlung durch. Mittlerweile ist bekannt, das s Mrs. Forengo die Polizei verständigt hatte, als ihr Sohn von seiner täglichen Joggingrunde nicht nach Hause gekommen war . Mr. u nd Mrs. Forengo bitten alle Einwohner von Queen ' s Mill, die Augen offenzuhalten und sofortigen Bericht zu erstatten, falls jemand Informationen über Martins derzeitigen Aufenthaltsorts hat.

Luisa schlug die Zeitung zu und nahm die nächste in die Hand. Erneut fand sie einen Bericht über Martins Verschwinden. Es war der gleiche Text, nur ein bisschen anders formuliert. Sie sah auf das Datum: 08.06.2008. Nie hatte Luisa eine Zeitung in die Hände bekommen, in der es um Martin ging. Alles, was sie über diesen Fall wusste, waren die Gerüchte, die sie in der Schule mitbekommen hatte. Welche davon wahr sein könnten, vermochte sie nicht zu sagen. Aus Neugierde suchte sie nach der Zeitung vom 29.05.2008, da Martin zu diesem Zeitpunkt schon achtundvierzig Stunden lang als vermisst galt. Nach ein paar Minuten hielt sie die Ausgabe in ihren Händen. Auf der Titelseite war Martin abgebildet.

Darunter, als Überschrift:

VERMISST, MARTIN FORENGO (17) In dem kleinen friedlichen Vorort Queen's Mill wird derzeit nach einem jungen Mann namens Martin Forengo gesucht. Martin ist ungefähr 175 cm groß, hat eine sportliche Figur und braunes Haar. Derzeit fehlt jede Spur von ihm. Die Eltern des Vermissten wollen zu diesem Zeitpunkt noch kein Statement dazu abgeben. Der Polizeichef, David Reed, teilte dem Queen's Mill Newspaper mit, dass die Polizei alles in ihrer Macht Stehende unternehmen wird, um Martin Forengo aufzuspüren. Außerdem will Mr. Reed anmerken, dass jeder Bewohner sofort Bericht erstatten soll, falls Martin mit jemandem in Kontakt treten sollte. Auch bei diesem Artikel waren wieder einige Wörter markiert.

»fehlt jede Spur«, »braunes Haar«, »in Kontakt treten«

Luisa konnte sich keinen Reim daraus machen. Was sollte an diesen Begriffen so besonders sein, dass man sie markieren musste? Sie legte alle Zeitungen zurück in die Kiste, da sie für sie keinen Wert hatten. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Ihr Vater nahm oft Arbeit mit nach Hause, um irgendwelche Unterlagen nochmals durchzugehen, und genau das hatte er auch bei dem Fall Forengo gemacht. Luisa verdrängte Martin aus ihrem Gedächtnis und wandte sich den letzten drei Schachteln zu. Nach gut anderthalb Stunden hatte sie alle gründlich durchsucht, jedoch ohne Erfolg. Luisa nahm die Schatulle an sich. Erschöpft knipste sie das Licht aus und verließ den Dachboden.Sie hatte es satt, im Haus zu sitzen und Trübsal zu blasen. Sie wollte an die frische Luft, an einen abgelegenen Ort, der weit weg von ihrem Zuhause war. Ihr fiel nur ein Platz ein, der sie jetzt glücklich machen würde, wo sie Zuflucht finden konnte, um alles um sich herum für einen Moment zu vergessen: das Haus am See. James hatte ihr zuvor eine Nachricht geschickt, er könne das Training nicht schwänzen und würde erst um sechs Uhr bei ihr vorbeischauen. Luisa hatte also noch gut vier Stunden Zeit für sich. Sie packte ein paar Sachen ein und lief zur Bushaltestelle, um den nächsten Bus in die Nachbarstadt Foxwood zu nehmen. Das Haus am See lag etwas abgelegen am Rande der Stadt. Sie wusste, dass sie das Grundstück des Hauses nicht betreten durfte, da es an jemand anderen verkauft worden war, doch Luisa hatte andere Pläne, sie wollte in den Wald, der nicht weit vom Haus entfernt war. Gerade noch rechtzeitig erwischte sie den Bus, kaufte ein Ticket und ließ sich in den hinteren Reihen auf einem leeren Platz nieder. Nach ungefähr einer Dreiviertelstunde hatten sie Foxwood erreicht. Mittlerweile war sie allein im Bus, abgesehen von dem Busfahrer, der laut zur Radiomusik mitsummte. Dann urplötzlich vernahm sie einen Schuss, ganz in ihrer Nähe. Reflexartig duckte sie sich unter ihren Sitz und gab keinen Laut von sich. Ihr Herz raste. Der Bus hatte angehalten, und Luisa verfluchte den Fahrer, dass er nicht weiterfuhr. Hundertprozentig war er einer dieser neugierigen Menschen, die auf keinen Fall etwas verpassen wollten. Dann fiel ihr auf, dass es im Bus leise geworden war, kein vertrautes Summen, kein Busfahrer, der sich nach dem Wohlergehen seines Fahrgastes erkundigte. Selbst außerhalb des Busses war alles leise. Luisa hörte kein Vogelgezwitscher, keine Autos und auch keine Menschen. Irgendjemand hätte den Schuss doch hören müssen. Sie wagte es endlich, unter ihrem Sitz hervorzukriechen und nach vorne zu schleichen. Was sie dort empfing, verursachte ihr Übelkeit, als hätte ihr jemand mit voller Kraft in die Magengrube geboxt. Ihr war egal, ob derjenige, der die Kugel abgefeuert hatte, sie hörte, Luisa schrie, sie schrie sich die Seele aus dem Leib, hämmerte gegen die Glastür des Busses, doch niemand hörte sie, niemand kam ihr zu Hilfe. Drei Minuten vergingen, dann fünf, doch keine Menschenseele ließ sich blicken. Sie wollte endlich aus dem Bus raus, doch die Türen waren verschlossen, sie drehte sich um und blickte erneut in das Gesicht des Busfahrers, welcher tot in seinem Sitz saß. Sein Kopf war seitwärts auf den Lenker gefallen. Sie sah ihm in die Augen, welche weit aufgerissen waren. Mitten auf seiner Stirn klaffte ein großes Loch. Dort war die Kugel eingedrungen, das Blut strömte ihm über das Gesicht. Sein Mund war geöffnet, aus welchem jetzt so heftig Blut drang, dass es Luisa den Magen umdrehte. Sie wollte helfen, doch sie wusste, es war zu spät, niemand konnte dem Busfahrer jetzt noch helfen. Abrupt hörte sie auf zu weinen und sah den Knopf, den der Busfahrer drücken musste, um die Türen zu öffnen. Er war der größte von allen … und voller Blut. Er befand sich auf der linken Seite des Toten. Um ihn erreichen zu können, müsste sie sich über die Leiche beugen, und das konnte sich Luisa beim besten Willen nicht vorstellen. Sie wollte sich bewegen, doch sie stand unter Schock und konnte nicht anders, als dem Busfahrer in seine toten Augen zu starren. Langsam drang in ihr Bewusstsein, dass sie etwas unternehmen musste. Sie musste jemanden finden und um Hilfe bitten. Während sie hier im Bus weinte und nichts unternahm, umso mehr Vorsprung bekam der Schütze. Sie nahm all ihren Mut zusammen und beugte sich über den toten Körper. Ihre Arme streiften die Schläfe des Busfahrers, und nach Sekunden voller Angst und Ekel erreichte sie endlich den Knopf und drückte ihn so fest sie konnte. Augenblicklich öffneten sich alle drei Doppeltüren des Busses, und Luisa stolperte hinaus, ohne noch einmal zurückzusehen. Ihr Shirt und ihre Hände waren blutverschmiert, ihr wurde schwindlig. Alles um sie herum wirkte verschwommen, und dann aus der Ferne hörte sie Stimmen und schnelle Schritte, die auf sie zukamen, doch bevor Luisa wusste, was passierte, gaben ihre Füße nach, sie knickte ein und fiel bewusstlos auf den harten Asphaltboden.

-

»Wird sie wieder gesund werden, Herr Doktor?«

»Ja, sie ist stabil, deine Freundin leidet unter einem Schockzustand, wir geben ihr zurzeit Sauerstoff, deshalb die Schläuche in ihrer Nase, wie du siehst. Dem armen Mädchen bleibt auch nichts erspart. Keine Mutter mehr, ihr Vater verschwindet spurlos, und dann gerät sie auch noch in eine Schießerei. Als sie heute eingeliefert wurde, zitterte sie am ganzen Körper, hatte Herzrasen sowie Schweißausbrüche. Das sind alles Anzeichen für einen psychischen Schock. Deine Freundin hat sich am Kopf verletzt. Im schlimmsten Fall könnte sie einen Gedächtnisverlust erleiden. Sobald sie aufwacht, können wir feststellen, ob es bei ihr zutrifft. Normalerweise hält ein psychischer Schock Minuten bis Stunden an, aber bei einem minimalen Prozentanteil kann es auch Tage dauern, bis die betroffene Person aus ihrer Trance wieder erwacht. Deine Freundin hatte sehr viel Glück im Unglück, viele Menschen, die Zeugen schwerer Unfälle sind, oder, wie in Luisas Fall, jemanden sterben sehen, irren verängstigt herum, um Hilfe zu suchen. Dabei blenden die meisten jegliche Gefahr aus, und sei es nur ein fahrendes Auto. Gott sei Dank blieb Luisa das erspart.«

»Wie geht es weiter, wenn sie wieder aufwacht«? »Vorübergehend wird sie Medikamente nehmen müssen, jedoch nur zur Überbrückung. Danach wird sie als Maßnahme eine psychotherapeutische Behandlung bekommen.«

»Das wird ihr gar nicht gefallen, wenn sie das erfährt.« »Das kann ich mir denken, allerdings wird sie nicht drumherum kommen, wenn sie wieder völlig gesund werden will.«

»Redet ihr gerade über mich?«, flüsterte Luisa heiser und öffnete ihre Augen.

Ein Mann in einem weißen Kittel lächelte sie an. »Hallo Luisa, ich bin Dr. Samora, dein behandelnder Arzt. Du bist hier im St. Kunis Hospital in Foxwood, wir werden uns gut um dich kümmern«, erklärte der Arzt Luisa mit ruhiger Stimme. Zu James gewandt sagte er: »Ich würde dich bitten, draußen zu warten, ich möchte jetzt gerne alleine mit Luisa sprechen und ihr einige Fragen stellen. Du kannst so lange im Wartesaal Platz nehmen.«

James warf Luisa ein schiefes Lächeln zu und verließ das Zimmer.

»Also, Luisa, wie geht es dir, hast du Schmerzen, ist dir noch schwindelig?«, wollte Dr. Samora wissen.

»Mein Kopf schmerzt ein wenig und mir ist noch etwas flau im Magen. Habe ich vorhin richtig gehört, dass ich eine psychotherapeutische Behandlung bekomme?«

»Das flaue Gefühl ist ganz normal. Am Hinterkopf hast du eine kleine Schramme, deshalb der Schmerz. Keine Sorge, die ist bald verheilt. Weißt du denn noch, wieso du eigentlich hier bist?«

»Wie könnte ich das vergessen … dem Mann konnte nicht mehr geholfen werden, oder?«, fragte Luisa.

»Nein, tut mir sehr leid, wir konnten nichts mehr für ihn tun. Du hattest in letzter Zeit mehrere traumatische Erlebnisse, weshalb du unbedingt zu einem Psychotherapeuten gehen musst, er wird dir helfen, dein Trauma zu verarbeiten, ihr werdet einige Gespräche führen müssen, auch über diesen Unfall. Natürlich erst dann, wenn du dich wieder bereit dafür fühlst. Dies nennen wir psychoanalytisches Verfahren, aber für dich heißt das nur, dass deine Traumatisierung untersucht und dir bei der Verarbeitung geholfen wird.«

»Ich habe wirklich keine Zeit, um zu einem Therapeuten zu gehen, ich muss mich um wichtige Dinge kümmern, da …« »Was ist dir wichtiger als deine Gesundheit?«, schnitt der Doktor ihr das Wort ab.

»Meine Familie«, sagte Luisa leise.

»Glaube mir, Luisa, zuerst musst du dich wieder völlig regenerieren, bevor du dich in dein nächstes Abenteuer stürzt. Wenn du diese Therapie nicht machst, könnte das weitreichende Folgen haben.«

»Die wären?«

»Du könntest dein ganzes Leben lang erinnernde Faktoren an dieses Trauma haben, die in Bildern, Gefühlen oder sogar in Gerüchen auftreten können. Sie würden Angstreaktionen auslösen, und diese können einen bleibenden, nachhängenden Schaden bei dir verursachen.«

Luisas Gesicht war angespannt. Sie wusste, dass der Doktor im Recht war und es ihr guttun würde, mit jemandem zu reden, also willigte sie ein.

»Heute wirst du dich auskurieren. Versuche, dich nicht zu überanstrengen, morgen werden dich einige Spezialisten besuchen kommen, um festzustellen, ob sich bei dir irgendeine Form von Amnesie nachweisen lässt. Keine Sorge, diese Tests werden dir keine Schmerzen zufügen. Wenn du willst, kann ich deinen Freund wieder hereinbeten.« Der Arzt lächelte Luisa aufmunternd an und wandte sich zum Gehen.

»Ja, ich würde ihn gerne sehen«, antwortete Luisa. Kurze Zeit später saß James neben ihrem Bett, hielt ihre Hand und redete beruhigend auf sie ein. Er fragte nicht nach, was passiert war. Er wusste genau, dass Luisa jetzt nicht darüber reden wollte. Anstatt sie auszufragen, erzählte er Geschichten aus ihrer gemeinsamen Kindheit. Luisa war ihm sehr dankbar dafür, sie hörte einfach nur zu und lächelte ihn an. »Weißt du noch, wie mir damals dieser Phil Baker mein Spielzeugauto geklaut hat und du ihm nachgerannt bist und ihm in die Hand gebissen hast, damit er das Auto fallenlässt?«, erinnerte er sich. Luisa schmunzelte vor sich hin.

Sie nickte. »Ja, aber du warst auch nicht gerade die Unschuld in Person. Du hast diesem kleinen Mädchen bei der Geburtstagfeier deiner Cousine Sand in die Augen geschüttet, weil sie mich an den Haaren gezogen hat.«

»Ja, das war lustig, sie hatte es aber auch nicht anders verdient«, gluckste James.

Luisa fand es schön, wieder mit James befreundet zu sein. Er hatte ihr so sehr gefehlt. Nach einer halben Stunde weiterer Geschichten aus ihrer Kindheit kam eine Krankenschwester herein und informierte James darüber, dass er nun gehen müsse, da die Besuchszeit vorbei sei. Er verabschiedete sich von Luisa, küsste sie auf die Wange, dann ging er zur Tür hinaus. Luisas Gesicht glühte. In ihrem Kopf drehte sich alles, ihr wurde schwindelig. Bis tief in die Nacht überlegte Luisa, ob dieser Kuss etwas zu bedeuten hatte, oder ob er nur freundschaftlich gemeint war.

Am nächsten Morgen erwachte sie durch einen stechenden Schmerz in ihrem Genick. Luisa versuchte, ihren Kopf nach rechts zu drehen, dann nach links. Langsam wich der Schmerz, und ihr wurde klar, dass sie sich bloß verlegen hatte. Dieses Krankenhausbett war sie nicht gewohnt, die Matratze war zu weich und das Kopfkissen zu hart. Sie klopfte es auf und sah, dass das Frühstück bereits auf ihrem Nachttisch stand. Luisa hatte jedoch keinen großen Hunger und schob das Tablett von sich weg.

»Schönen guten Morgen«, dröhnte es zur Tür herein. »Ist das Fräulein auch schon wach«, sagte eine Krankenschwester mit der nervigsten Stimme, die Luisa je gehört hatte.

»Gerade aufgewacht«, antwortete Luisa.

»Gut, denn es ist gleich Zeit für die Visite.« Damit war sie wieder verschwunden.

Zwanzig Minuten später stand Dr. Samora mit ein paar Assistenzärzten an Luisas Bett.

»Wie geht es dir denn heute?«, fragte er.

»Eigentlich ganz gut, nur mein Nacken schmerzt ein wenig, ich muss mich wohl verlegen haben«, antwortete sie.

»Das ist Luisa Reed, sie war gestern Zeugin eines Mordes«, erklärte er seinen Kollegen.

»Hattest du Albträume heute Nacht?«

»Nein … wenn, dann kann ich mich nicht daran erinnern«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

»Schmerzt deine Wunde am Kopf noch?«, fragte Dr. Samora.

»Ich fühle nur noch ein leichtes Pochen, mehr nicht«, antwortete sie ihm.

»Nun gut Luisa, Schwester Josy wird dir gleich deine Medikamente bringen, und am Nachmittag werden wir dich untersuchen und überprüfen, ob dein Gedächtnis genauso gut funktioniert wie vor diesem tragischen Vorfall.«

»Danke, Doktor«, sagte Luisa.

»Dann gehen wir weiter ins nächste Zimmer, kommt mit«, befahl Doktor Samora und schloss die Tür hinter sich. Kurz darauf erschien Schwester Josy mit Luisas Medizin. Schwester Josy war viel jünger als angenommen und ihre Stimme raubte niemandem den letzten Nerv.

»Hast du denn gar keinen Hunger?«, fragte sie besorgt. »Nicht wirklich, aber ein Glas Wasser würde mir guttun«, sagte Luisa.

Die Schwester füllte das Glas nach und reichte es ihr. »Du siehst müde aus, vielleicht solltest du noch ein wenig schlafen, die Untersuchungen finden erst am Nachmittag statt, ruh dich aus, wenn du etwas brauchst, komme ich sofort.« Mit diesen Worten war sie aus dem Zimmer verschwunden, und Luisa war wieder allein. Sie schüttelte abermals ihr Polster auf, dachte über einige Dinge nach, die ihr durch den Kopf schwirrten, und war nach kurzer Zeit eingeschlafen.

Verschlafen öffnete Luisa ihre Augen und blickte auf die Wanduhr in ihrem Zimmer, welche halb vier anzeigte. Mittlerweile verspürte sie Hunger. Sie blickte auf das Tablett, welches jetzt gegen ihr Mittagessen ausgetauscht worden war. Sie richtete sich auf und fing langsam an zu essen. Etwa eine Viertelstunde später öffnete sich erneut die Zimmertür und Dr. Samora trat herein. Er schob einen Rollstuhl vor sich her.

»Willst du erst fertig essen?«, fragte er.

»Nein, fangen wir gleich an, dann hab ich die Untersuchung schneller hinter mir«, erwiderte sie.

»Dann setz dich jetzt bitte in den Rollstuhl. Warte, ich helfe dir.« Er nahm Luisa an der Hand, stützte sie und half ihr in den Rollstuhl.

»Danke sehr«, murmelte Luisa, die sich noch nie so hilflos und zerbrechlich gefühlt hatte.

»Ich werde jetzt mit dir ins Erdgeschoss hinunterfahren, dort übergebe ich dich an einen Neurologen. Er wird dir einige Fragen stellen, und möglicherweise musst du ein paar Fragebögen ausfüllen. Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass dein Gedächtnis noch hervorragend ist. Trotzdem ist es ein notwendiges Übel, nur um sicherzugehen.«

Luisa nickte.

Unten im Parterre war es kühler als in ihrem Zimmer, wo sich die Hitze staute. Dr. Samora fuhr mit ihr einen langen Gang entlang und klopfte dann zweimal an eine blaue Tür. Gleich darauf ertönte ein elektrisches Surren und die Tür sprang von selbst auf. Luisa wurde in das Zimmer geschoben und dort einem Neurologen namens Dr. Forest vorgestellt. Er reichte ihr die Hand und half ihr aus dem Rollstuhl.

»Wenn Sie sich bitte auf die Behandlungsliege dort hinten setzen würden«, sagte er freundlich zu Luisa.

»Hier bist du in guten Händen, ich sehe am Abend noch einmal nach dir«, verabschiedete sich Dr. Samora und schloss die Tür.

»Hat Sie Dr. Samora bereits aufgeklärt, welche Tests ich mit Ihnen durchführen werde?«, fragte Dr. Forest Luisa. »Sie werden mit mir ein Gespräch führen und einige Fragen stellen«, antwortete ihm Luisa.

Er ging auf sie zu und stellte sich vor sie. »Korrekt, doch zuerst möchte ich Sie bitten, mit Ihren Augen meinem Finger zu folgen.«

Er fuchtelte mit seinem nach steriler Seife riechenden Zeigefinger vor Luisas Nase herum. »Sehr gut, jetzt würde ich Sie bitten, folgende Sätze für mich zu beenden: Ich heiße …«

»Luisa Reed.«

»Mein Vater heißt …«

»David Reed.« Weitere fünf Minuten musste Luisa Sätze beenden, bevor Dr. Forest ihr einen Fragebogen reichte. Ohne Probleme beantwortete Luisa alle Fragen und übergab ihre Ergebnisse dem Neurologen. »Dankeschön«, sagte er lächelnd. »Vor der Tür wartet eine Schwester auf dich, sie wird dich zurück in dein Zimmer begleiten. Dr. Samora wird dir später mitteilen, wie die Tests ausgefallen sind.« Er reichte ihr zum Abschied die Hand und half ihr in den Rollstuhl.

Wenige Zeit später war Luisa zurück in ihrem Zimmer, wo jemand auf sie wartete, mit dem sie nie im Leben gerechnet hatte.

»Bist du erstaunt, mich zu sehen? Du dachtest wohl, dass wir zwei uns nie mehr treffen würden, oder?«, fragte Riley belustigt.

»Was machst du hier?« Luisa rührte sich nicht vom Fleck. »Wollte nachsehen, wie es dir so geht. Hey, freust du dich nicht, Besuch zu haben?«

»Mir geht es wieder gut, danke«, sagte Luisa barsch. Sie durchquerte das Zimmer, ohne Riley weiter zu beachten, setzte sich auf ihr Bett und zog die Decke schützend bis zum Hals hoch. »Was willst du von mir?«, fragte sie schließlich.

»Nichts, ich war wirklich nur um dein Wohlergehen besorgt. Vielleicht wollte ich ein, zwei Dinge mit dir bereden, aber die sind nicht besonders wichtig.«

»Hab ich's doch gewusst, du kommst nicht nur aus reiner Nächstenliebe vorbei. Na los, spuck's aus, was ist so wichtig?«

»In diesem Ton redet man doch nicht mit seinen Freunden.« »Vielleicht kommt das davon, dass wir keine Freunde sind.«

»Na schön. Kommen wir zur Sache. Der erste Punkt ist: Wieso hast du James eingeweiht, wo ich dir doch ausdrücklich verboten habe, mit jemandem darüber zu sprechen?«

Luisa richtete sich auf, ihre Augen funkelten, und Angriffslust war darin zu erkennen. »Jetzt hör mir mal zu, mein Vater ist verschwunden, ich habe keine Ahnung, wo er stecken könnte, ich weiß nicht, ob es ihm gut geht, oder ob er, Gott behüte, schon tot ist. Dann kommst du und erzählst mir, dass meine Mutter noch lebt, was möglicherweise überhaupt nicht stimmt, und dass ich irgendeinen Gefallen für Kim erledigen muss. Ach ja, ich vergaß, zu guter Letzt wurde auch noch bei mir eingebrochen, also bitte verzeih, wenn ich dich nicht mit offenen Armen empfangen kann.« »Entschuldigung angenommen«, erwiderte Riley kühl.

Luisas Gesicht glühte. Ihre Augen verengten sich, und an ihrer Schläfe traten Adern hervor.

»Raus«, flüsterte sie. »Raus hier.«

»Nein«, sagte Riley bestimmend. »Halt einfach mal für ein paar Minuten deine Klappe und hör mir zu. Was passiert ist, ist passiert. Du hast es James erzählt und wir können es nicht mehr rückgängig machen. Dieses Thema wäre damit gegessen, nun zum Einbruch. Ich bin mir nicht sicher, wer bei dir eingebrochen ist, habe aber eine Vermutung. Ich gebe dir den weisen Rat, in deinen Schlüsselkasten zu sehen, wenn du wieder nach Hause kommst.«

»Was soll mir das bringen?«

»Dann siehst du, ob möglicherweise ein Schlüssel fehlt und wirklich bei dir eingebrochen wurde.«

»Wieso teilst du nicht einfach deinen Verdacht mit mir?«, wollte Luisa wissen und wurde ungeduldig.

»Wenn ich dir jetzt meine Vermutung mitteile, welche dir nachher versehentlich bei James rausrutscht und er sie weitererzählt, was vielleicht nicht einmal mit Absicht passiert, ist das Rufmord, verstehst du?«, erklärte er freundlich. Er musterte sie nachdenklich und stand auf. »Ruh dich aus, Luisa, du brauchst den Schlaf, du sieht nämlich ziemlich mitgenommen aus.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er.

Luisa dachte noch lange über dieses Gespräch nach, wurde jedoch nicht schlau daraus. Wieso hatte er so ruhig reagiert, als sie ihm von dem Einbruch erzählt hatte, wusste er bereits davon? Wenn ja, woher? Anscheinend hatte Riley seine Augen und Ohren überall. Weiter kam Luisa nicht, denn Dr. Samora betrat ihr Zimmer mit einer dicken Mappe unter seinem Arm. Er setzte sich auf einen der Besucherstühle neben Luisas Bett und fing an zu erzählen: »Ich habe zwei gute Nachrichten für dich: Deine Testergebnisse sind sehr gut ausgefallen, was bedeutet, du hast eindeutig keine bleibenden Schäden erlitten, dennoch musst du dich eine Zeitlang ausruhen, weshalb du zwei Monate lang vom Schulunterricht ausgeschlossen bist. Da der Direktor der Meinung ist, dass niemand diesen ganzen Stoff wieder aufholen kann, musst du zur Sommerschule gehen.« Bei dem Gedanken an die Sommerschule wurde Luisa übel.

»Dr. Samora, wissen Sie denn schon, wann ich entlassen werde?«

»Gefällt es dir bei uns nicht?«, fragte er.

»Doch, aber ich vermisse mein eigenes Bett«.

Er lächelte. »Wann genau, kann ich nicht sagen, jedoch wirst du morgen auf eine normale Station verlegt und wenn bei dir keine Verschlechterungen auftreten, wirst du voraussichtlich in vier Tagen entlassen. Freu dich aber nicht zu früh, etwas Genaueres kann ich erst in ein paar Tagen sagen. Du musst dich wohl noch ein bisschen gedulden, bis du wieder in deinem eigenen Bett schlafen kannst. Vergiss allerdings nicht, dass nach deiner Entlassung immer noch die Therapie auf dich wartet.«

-

Am nächsten Tag wachte Luisa früh am Morgen auf, noch nicht einmal eine Schwester war gekommen, um ihr Bett zu machen. Sie schlug die Decke beiseite, setzte sich auf und streckte sich ausgiebig. Sie sprang aus dem Bett und ging ins Bad. Insgeheim dachte sie, dass der Rollstuhl gestern überflüssig gewesen war. Luisa putzte sich die Zähne, wusch ihr Gesicht und ging zurück ins Zimmer. Ihr war langweilig, also verließ sie den Raum und spazierte den Krankenflügel entlang. Bisher war Luisa noch nie in ihrem Leben auf der Intensivstation gewesen. Sie war froh, dass sie heute verlegt werden würde, obwohl ein Einzelzimmer auch nicht gerade schlecht war. Weit hinter sich hörte sie Geschirr klappern. Das Frühstück wird also gerade angerichtet, dachte sie. Luisa konnte das Krankenhausessen nicht ausstehen. Früher, als ihre Großmutter noch lebte, bekam sie sonntags immer Frühstück ans Bett gebracht. Oft setzte sich ihre Oma zu ihr, und gemeinsam überlegten sie, was sie mit diesem angebrochenen Tag anfangen sollten. Sie gingen dann wandern oder jäteten den Kräutergarten hinter dem Haus, während ihre Großmutter ihr alles Mögliche über die Wirkung der Kräuter erzählte. Einmal wurde Luisa sogar gezeigt, wie man einen Marmorkuchen backt. Während ihr Großvater über vielen Bücher brütete, welche Informationen über das Haus am See enthielten, zeigte Luisas Großmutter ihr, wie man sich die Schuhe zubindet, wie man einen Knopf wieder annäht, wie man sich eine Mütze strickt. Ihr Großvater verbrachte immer viel Zeit mit seinen Büchern. Einst hatte er auf einem Flohmarkt mehrere Werke über den See und dessen Umgebung ergattern können.

Alles, was sich seit dem achtzehnten Jahrhundert bisher verändert hatte, war in dieser Lektüre vermerkt. Die Neuerrichtung der Kirche, die schlimme Überschwemmung in den frühen Achtzigern, alle Bauarbeiten und noch vieles mehr. Seitdem er diese Bücher besaß, war Luisas Großvater davon besessen, alles über die Umgebung wissen zu wollen. Als Luisa älter wurde und in der ersten Klasse war, verbrachte sie wieder einmal ein Wochenende im Haus am See. Am Sonntagabend sollte ihr Vater kommen und sie abholen, aber er tauchte nicht auf. Luisas Großmutter machte sich Sorgen um ihren Sohn. Sie rief ihn mehrmals an, erreichte ihn jedoch nicht. Ihre Großmutter ließ Luisa in ihrem Bett übernachten. Mitten in der Nacht läutete plötzlich das Telefon, Luisas Großvater, der längst geschlafen hatte, wurde dadurch unsanft aus dem Schlaf gerissen. Er sprintete zum Telefon und murmelte verschlafen irgendwelche Worte. Luisa wachte auf und tapste zu ihrem Großvater. Am anderen Ende des Hörers schrie ein Mann unverständliche Worte. Ihr Großvater sagte streng: »Jetzt beruhige dich, sie ist bei uns.« Mittlerweile war auch Luisas Großmutter aufgewacht, nahm ihre Enkelin in die Arme und ging mit ihr in die Küche, um ihr einen Kakao zu kochen. Ihr Opa telefonierte noch einige Minuten, bis er erzürnt den Hörer auflegte.

»Das ist eine absolute Frechheit!«, polterte er.

»Was ist los?«, fragte seine Frau. »Unser Sohn hat gerade angerufen, keine Sorge, es geht ihm gut, jedoch ist er sturzbesoffen und wollte wissen, wo Luisa ist«, beantwortete er ihre Frage. »Er wollte sie jetzt abholen, aber ich habe ihm gesagt, dass er mit seinen zwei Promille nicht mal in die Nähe unseres Hauses kommen braucht«, knurrte er. »Der Junge hat Probleme.«

»Ich werde morgen mit ihm reden und ihn mal richtig zurechtweisen«, meinte Luisas Großmutter.

Eine halbe Stunde später waren ihre Großeltern eingeschlafen, nur Luisa bekam kein Auge zu. Sie schlüpfte vorsichtig aus den Armen ihrer Großmutter und lief in den unteren Stock des Hauses. Ihr Großvater hatte ihr eingetrichtert, unter keinen Umständen in den Keller zu gehen. Luisa liebte ihre Großeltern und wollte sie auf keinen Fall enttäuschen. Bisher hatte sie sich auch immer vom Keller ferngehalten, jedoch wurde sie in dieser Nacht geradezu magisch davon angezogen. Sie wusste nicht warum, doch die Angst wurde durch ihre Neugierde verdrängt, und so fing sie an, die enge Wendeltreppe des Kellers hinunterzusteigen. Es roch muffig, sodass Luisa sich die Nase zuhalten musste. Sie dachte, die Treppe würde nie ein Ende nehmen, doch dann stand sie endlich auf der letzten Stufe. Hier unten war die Luft besser. Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter. Sie fand sich nicht in einem Keller wieder, sondern einfach nur in einem leeren Raum. Sogar ein Dachboden hätte mit einem Keller mehr gemeinsam gehabt als dieser Raum hier. Es wirkte, als würde er nicht zum restlichen Haus dazugehören. Von einem Keller konnte keine Rede sein, er erinnerte Luisa eher an einen Tunnel oder an eine Höhle. Vor ihr teilten sich drei Gänge in verschiedene Richtungen auf. Luisa nahm den mittleren. Sie ging ihn entlang, ohne zu wissen, wohin er sie führte. Plötzlich wurde der Gang enger, sodass sie sich seitlich vorwärtsbewegen musste. Nach einiger Zeit wurde ihr flau in der Magengegend.

Luisa überlegte, ob sie umkehren sollte. Nach einigem Hin und Her beschloss sie, dass es besser wäre, zurückzugehen. Sie kroch den Gang zurück, bis in den leeren Raum. Als sie sich wieder im gemütlichen Haus befand, war sie heilfroh. Sie kletterte ins Bett ihrer Großeltern und schwor sich, nie wieder in diesen gruseligen »Keller« zurückzukehren. Daran hielt sie sich auch, doch wie so häufig hatte das Schicksal andere Pläne.

Luisa wurde aus ihrem Tagtraum gerissen, als sie plötzlich einen Geistesblitz hatte. Die geheime Nachricht ihres Vaters! Die dunklen Gänge waren die Gänge im Haus ihrer Großeltern! Luisa war sich sicher und schwor sich, sobald sie das Krankenhaus verlassen konnte, würde sie einen Weg finden, um in das Haus am See zu gelangen und erneut in den Keller hinabzusteigen.






















Schachzug Rache

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