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Kapitel 2 - Verlust

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Am Nachmittag kam James ins Krankenhaus, um Luisa zu besuchen. »Hallo, wie geht es deinem Kopf?«, begrüßte er sie.

»Danke, schon etwas besser. Ich fühle mich eigentlich schon wieder fit. Und wie geht es dir?«

»Danke, auch nicht schlecht. Hier, ich habe dir ein paar Klamotten mitgebracht. Die sind zwar von meiner Mutter, aber ich denke, sie werden für die paar Tage reichen.«

»Ich danke dir«, sagte Luisa und erzählte ihm gleich darauf von den Gängen im Keller und von ihrem Vorhaben, sich dort ein wenig umzuschauen.

»Ich werde mitkommen«, sagte James prompt. Luisa freute sich darüber, denn sie fühlte sich sicherer, wenn jemand an ihrer Seite war, der sie auf ihrer Entdeckungstour begleiten würde.

Der restliche Tag verging wie im Flug. Um halb neun verabschiedete sich James und versprach ihr, sobald wie möglich wiederzukommen.

Am nächsten Morgen wurde Luisa von Dr. Samora geweckt. Er half ihr, ihre Sachen zu packen und es dauerte nicht lange, bis sie in ihrem neuen Bett lag, nun ein paar Stationen tiefer. In ihrem jetzigen Zimmer standen fünf Betten. Drei davon waren belegt, Luisas miteingerechnet. Sie stellte fest, dass es zu dritt viel amüsanter war als in einem Einzelzimmer. Ihre Zimmergenossinnen waren sehr nett, eine Frau war Mitte vierzig und litt unter einem Bandscheibenvorfall, die andere war etwa zwei Jahre älter als Luisa und hatte einen gebrochenen Fuß. Mit Gesellschaft würden die nächsten drei Tage vielleicht etwas schneller vergehen, dachte Luisa. Und sie hatte recht, die restlichen Tage im Krankenhaus waren lustig, trotzdem freute sich Luisa, zu hören, dass sie einen Tag früher das Krankenhaus verlassen durfte als geplant. In der Nacht vor ihrer Entlassung hatte sie einen sehr unruhigen Schlaf, wälzte sich von rechts nach links und wieder nach rechts. Schuld daran war der Traum, den sie hatte. Sie erlebte den Unfall und den Mord an dem Busfahrer ein zweites Mal. Luisa wachte schweißgebadet auf, heilfroh, als sie merkte, dass sie nur geträumt hatte. Diesen Albtraum würde sie Dr. Samora gegenüber nicht erwähnen, schwor sie sich. Die Therapie würde schon helfen.

Voller Tatendrang wurde Luisa am nächsten Vormittag munter. Endlich, endlich würde sie heute in ihr eigenes Haus zurückkehren können. Sie sprang aus dem Bett und verschwand für einige Minuten ins Badezimmer. Ihre Zimmergenossinnen hatte sie mittlerweile ins Herz geschlossen und war traurig, dass sie sie heute verlassen musste. Doch sie konnte und musste sich nun endlich wieder den wichtigen Dingen in ihrem Leben widmen. Plötzlich spürte sie das Vibrieren des Handys in ihrer linken Hosentasche. Luisa zog es hervor, warf einen Blick auf den Namen des Anrufers und wunderte sich, wieso diese Person nicht schon früher angerufen hatte. »Hey Joe«, begrüßte sie ihn.

»Hey Lissy, ich hab erfahren, dass du heute entlassen wirst, und dachte mir, du brauchst vielleicht jemanden, der dich abholt. Wir könnten einen Happen essen gehen und ein bisschen plaudern.«

»Können wir das verschieben, ich habe heute schon was vor, und ich werde auch von Ja…«, sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. Joe brauchte nicht zu wissen, dass sie wieder Kontakt zu James hatte.

»Ich bestehe aber darauf, dich abzuholen. Ich habe dich im Krankenhaus nie besucht und möchte mich jetzt revanchieren«, antwortete Joe.

»Danke, aber nein danke, ich habe heute wirklich etwas sehr Wichtiges vor, und ich komme schon alleine nach Hause.«

»Na gut, dann melde dich, wenn du Zeit für mich hast, bis dann, Lissy. Lass von dir hören«, verabschiedete sich Joe. Irgendetwas in Joes Stimme ließ sie aufhorchen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Luisa nach.

»Nein, nein, alles bestens, mach's gut, Lissy.« Damit war das Gespräch beendet. Verblüfft legte Luisa auf, im ganzen Trubel um die Geschehnisse der letzten Woche hatte sie Joe komplett vergessen. Er hatte sie kein einziges Mal besucht, was ziemlich merkwürdig war, denn schließlich war er der beste Freund ihres Vaters. So schnell, wie Joe in ihr Gedächtnis getreten war, so schnell hatte sie ihn auch wieder vergessen, denn heute wurde sie entlassen, und nichts, aber auch rein gar nichts konnte ihr diesen kleinen Lichtblick noch verderben. Luisa packte ein letztes Mal ihre Habseligkeiten zusammen und ging mit ihren Zimmerkolleginnen in die Cafeteria auf einen letzten Kaffee. Für Luisas Geschmack war er viel zu wässrig, doch in der letzten Woche hatte sie sich daran gewöhnt. »Vielleicht kommst du uns ja mal besuchen«, sagte Ashley, die das gebrochene Bein hatte.

»Klar doch, ich bin jetzt zwei Monate von der Schule befreit, wenn ich Zeit habe, komme ich vorbei und nehme richtigen Kaffee mit«, scherzte Luisa. Eine ganze Stunde saßen sie noch in der Cafeteria und plauderten, bis sie sich endlich dazu durchringen konnten, wieder auf ihr Stockwerk zu gehen. Kaum waren sie ins Zimmer zurückgekommen, trat auch schon Dr. Samora herein. Er überreichte Luisa die Entlassungspapiere und gab ihr ein Schreiben für den Therapeuten mit. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, rief sie James an und gab ihm Bescheid, dass er sie nun abholen könne. Gut eine halbe Stunde später verließ Luisa vollbepackt das Foyer. Sie sah hinauf in den wolkenlosen Himmel und freute sich nun umso mehr, endlich nach Hause zu können. Sie durchquerte den kleinen Park, in dem sie oft gesessen und die Sonne genossen hatte. Diese Grünfläche war das Schönste am Krankenhaus. Wenn man sich dort aufhielt, vergaß man die Krankenzimmer, in denen es nach Desinfektionsmittel und anderen chemischen Substanzen roch. Dort konnte man den Duft der Rosen einatmen, die an einem hölzernen Rankgitter emporwuchsen. Die Sitzbänke waren aus hellem Holz und an den Arm- und Rückenlehnen wunderschön verschnörkelt. Außerdem gab es ein kleines Marmorbecken, aus dem zwitschernd und piepsend kleine Vögel tranken oder darin badeten. Am besten gefielen Luisa aber die hohen Bäume, deren Knospen im Frühling rosarot blühten. Durch das dichte Blattwerk konnte man keinen einzigen Ast mehr entdecken. Luisa erwischte sich dabei, wie ihr ein Lächeln über die Lippen huschte. Sie kehrte dem Park den Rücken und folgte dem kleinen Kiesweg bis an die Straße, an welcher James auf sie warten wollte. Er war schon da. Er trug ein hellblaues T-Shirt, welches seinem gebräunten Teint schmeichelte. Als er sie ebenfalls sah, hob er die Hand und strahlte sie an. Während er eilig auf sie zulief, rief er schon von Weitem: »Luisa, ich habe die Lösung, ich weiß …« - weiter kam er nicht. Nie würde er diesen Satz beenden können, denn von Luisas linker Seite brauste ein Auto auf James zu. Weder Luisa noch James sahen es kommen, und das Auto stoppte nicht, es erhöhte nur die Geschwindigkeit und raste mit voller Wucht auf James zu. Als James es endlich bemerkte, war es schon zu spät. Schlagartig erstarrte das Lächeln in seinem Gesicht und er wurde von dem Auto erfasst. Luisa musste mitansehen, wie James in Sekundenschnelle von dem Auto mitgerissen wurde und darunter verschwand. Der Wagen hielt nicht an, sondern gab Gas und brauste davon. Luisa lief zu James, sie rannte, so schnell sie konnte, doch es kam ihr so vor, als würde sie nicht vom Fleck kommen. Als sie endlich bei ihm war, sah sie seinen leblosen Körper vor sich, völlig entstellt, das Gesicht blutverschmiert, auf der rechten Schläfe waren Reifenprofile zu sehen, rein gar nichts erinnerte Luisa an den gutaussehenden James, der sie erst vor Kurzem geküsst hatte. Seine Augen waren geschlossen und sein Mund war wie zu einem Schrei geöffnet. Seine Nase und sein Kiefer waren gebrochen, die meisten seiner Zähne fehlten, einige davon lagen verstreut neben ihm. Seine rechte Schulter war zertrümmert. Nicht das kleinste Lebenszeichen war zu erkennen. Luisa fiel auf die Knie, schlug sich die Hände ins Gesicht und schrie wie von Sinnen, sodass es bis in die Eingangshalle des Krankenhauses drang. Sie legte ihren Kopf auf James' Brust und versuchte, seinen Herzschlag zu spüren. Doch nichts. »Nein«, keuchte sie. »Hilfe, so helft mir doch!« Sie hörte, wie hinter ihr Menschen herbeigeeilt kamen. Einige stießen einen Schrei des Entsetzens aus. »Schnell, holt einen Arzt.« »Mädchen, geh weg von ihm.« Ein Mann versuchte, Luisa von James wegzuzerren, doch sie schlug seine Hand weg. »Helft ihm, was ist nur los mit euch, wir brauchen Hilfe!«, schrie Luisa, und dann wurde es schwarz um sie.

-

»Sie hat erneut einen Schock erlitten, diesmal allerdings um einiges schlimmer«, stellte Dr. Samora fest, während er Luisa mit einer kleinen Stablampe in die Augen leuchtete. »Das arme Mädchen, so etwas hat sie nicht verdient. Welcher Gott lässt zu, dass einem Menschen so viele schreckliche Dinge passieren«, sagte Josy, die Krankenschwester, die neben Dr. Samora stand. Sie hatte Tränen in den Augen und schüttelte den Kopf. Luisa tat ihr unendlich leid, und es gab nichts, was sie für sie tun konnte.

»Sie kann nicht hierbleiben, sie muss eingewiesen werden«, murmelte Dr. Samora.

»Was? Das nette Mädchen, sie kann nicht einfach weggesperrt werden, sie ist doch noch so jung, und in einer Psychiatrie sind Geisteskranke!«

»Ich weiß, Josy, doch wenn Luisa aufwacht, werden Sie sich selbst davon überzeugen können, wie schlimm es um sie steht. Sie wird sich sträuben, sie wird um sich schlagen, sie wird aggressiv werden und versuchen, sich selbst zu verletzen«, erklärte der Doktor.

»Woher wollen Sie das so genau wissen?«

»Mit Luisa sind vor ein paar Tagen einige Tests durchgeführt worden. Diese Tests sind nicht nur dafür da, dass wir ihr Gedächtnis überprüfen, ein Spezialist kann daraus lesen, wie ein Mensch tickt, und deswegen wird Luisa alles Mögliche versuchen, dass wir sie weder berühren noch fortbringen. Ich schätze, sie wird heute Abend aufwachen.« Dr. Samora warf einen Blick auf seine Uhr.

Es war fast halb zehn abends, wie Dr. Samora es bereits vorhergesehen hatte, als Luisa ihre Augen aufschlug. In ihrem Kopf war nichts außer Leere, dennoch war sie wütend. Luisa wusste nicht wieso, sie suchte den Grund, doch kam zu keinem Ergebnis. Der Hass in ihr stieg immer schneller, bald schon hatte Luisa ihre Hände zu einer Faust geballt, ihr Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse, und bevor sie irgendetwas dagegen tun konnte, brüllte sie in voller Lautstärke, sie konnte und wollte nicht mehr damit aufhören, und erst recht nicht, als Dr. Samora, einige Assistenzärzte und Schwester Josy ins Zimmer stürzten. Josy schlug sich die Hand vor den Mund. Wie konnte aus so einem netten Mädchen ein solch aggressiver Mensch werden?

»Luisa, weißt du, wer ich bin?«, fragte Dr. Samora. Doch Luisa schrie einfach weiter, sie brüllte ihre Aggressionen heraus, als würde ihr Leben davon abhängen. Sie spürte plötzlich, dass jemand ihren Arm berührte, und ehe die Assistenzärzte ihre Arme fixieren konnten, schlug sie jemandem ins Gesicht und kratzte ihn, doch da wurde sie auch schon fest auf die Liege gedrückt. Dr. Samora setzte die Spritze an ihrer Armbeuge an und injizierte ihr ein Beruhigungsmittel. Wenige Sekunden später war alles ruhig. Luisa lag schlaff in ihrem Bett, ihre Augen waren geschlossen, und sie schlief. Die Ärzte nutzten die Gelegenheit und streiften ihr eine weiße Zwangsjacke über, damit sie nicht noch mehr Menschen verletzen konnte. Dr. Samora war derjenige, der alles abbekommen hatte. Er blutete aus seiner aufgeplatzten Lippe und hielt sich einen Wattebausch auf seine Wunde. Minuten später wurde Luisa mit einem Krankenwagen Richtung Norden gebracht.

Die Psychiatrie lag verlassen am Rande von Foxwood, in ihrer Nähe gab es keine Anwohner. Zu oft waren trotz der dicken Mauern des Gebäudes Schreie nach draußen gedrungen, die den Menschen Unbehagen und Angst gemacht hatten. Seither standen die Häuser rings um die Psychiatrie leer.

Die Psychiatrie selbst war neu errichtet worden. Vor etwa zehn Jahren hätte man sie noch mit einer Festung aus dem Zweiten Weltkrieg vergleichen können, heute erinnerte nichts mehr daran, wie finster und unheimlich sie einmal gewesen war. Neben der Psychiatrie war ein Garten gepflanzt worden, ähnlich dem des Krankenhauses, nur kleiner. Die Auffahrt zur Psychiatrie war mit weißem Stein gepflastert und führte direkt vor die Glastür, durch die man ins Innere des Gebäudes gelangte. Obwohl sich die Klinik im Laufe der Zeit innerlich wie auch äußerlich veränderte und moderner wurde, hatte man sich nicht die Mühe gemacht, mehr Fenster in die Mauern einzulassen. Genau in diese Anstalt sollte Luisa untergebracht werden. Während die Rettungsmänner sie durch die doppelte Glastür brachten und den Ärzten der Psychiatrie übergaben, war Luisa immer noch weggetreten und bekam nicht mit, an welch grässlichem Ort sie sich nun befand.

In ihrem Unterbewusstsein nahm Luisa einen Schrei wahr, welcher ganz aus ihrer Nähe kam. Immer schriller und hysterischer wurde er. Luisa schlug die Augen auf und sah ein fremdes Zimmer. Kein Fernseher, kein Fenster und keine Bilder hingen an den Wänden. Und sie war allein. Sie wollte aufstehen, konnte sich jedoch nicht bewegen. Erst als sie den Kopf ein wenig anhob, sah sie, dass ihre Hände und Füße an das Bettgestell gefesselt waren. Sie versuchte, ihre Arme zu bewegen, aber das Ding, mit dem sie gefesselt worden war, wurde nicht lockerer. Luisa sah es genauer an. Es sah aus wie ein kurzer Ledergürtel mit einfacher Schnalle. Ihre Hände waren mit diesem Gürtel an eine der vielen Gitterstangen an ihrem Bett geschnallt worden. Nach minutenlangem Ziehen und Zerren gab Luisa schließlich auf. Der Versuch, sich zu befreien, war zwecklos. Diese Fesseln kannte sie nur aus dem Fernsehen und aus Büchern. Sie wurden dafür verwendet, Geisteskranke daran zu hindern, ihr Bett zu verlassen. Demzufolge befand sie sich gerade in einer psychiatrischen Anstalt. Luisa selbst schenkte dem keinen Glauben, denn sie wusste, dass sie nicht geisteskrank war. Bestimmt war alles nur ein Traum, und bald würde sie aufwachen. Doch sie irrte sich gewaltig. Noch dazu wusste sie nicht mehr, welches Schicksal James wiederfahren war. Nachdem sie in der Foxwood-Psychiatrie angekommen war, hatte man sie mit etlichen Medikamenten ruhiggestellt. Trotzdem wurden Luisas Gedanken allmählich nervös. »Warum bin ich gefesselt?«, »Wo bin ich?«

Kurze Zeit später öffnete sich die Zimmertür und eine Frau trat herein. Ihre Haare waren zu einem Dutt gebunden, der sie sehr streng wirken ließ. Die Frau trug einen Mantel, der an einen Arztkittel erinnerte, dennoch war etwas anders an ihr. Dieser Mantel war so weiß, dass er fast blendete, die Frau selbst wirkte leblos, sie hatte hohle Wangen, sah auch sonst ziemlich mager aus und wirkte dennoch gefährlich. Sie musste zwischen vierzig und fünfzig sein, Luisa konnte das Alter schwer schätzen. Kein Lächeln kam der Frau über die Lippen. Keine Spur von Mitgefühl. Als sie näher auf Luisa zukam, konnte sie ein kleines Namensschild entdecken, auf welchem »Dr. Jules Bancroft« stand. Also doch ein Doktor. Dr. Bancroft begrüßte Luisa nicht, sie sah sie eher abschätzend an. »Es ist Zeit für dein Essen. Ich schnall dich jetzt los, und du versprichst mir, dass du nicht losschreist, sonst bekommst du heute nur Brot«, fauchte sie.

»Ich verspreche es«, sagte Luisa kleinlaut. Sie hatte Angst vor dieser Frau.

»Fein.«

Als Luisa wieder ihre Arme und Beine bewegen konnte, überwand sie sich und stellte die Frage, die ihr schon die ganze Zeit über auf der Zunge lag: »Dr., könnten Sie mir bitte sagen, wo ich bin?«

»Oh, dass, wirst du noch früh genug herausfinden.«

Luisa wartete auf eine Antwort, doch musste sie sich mit dieser Auskunft zufriedengeben. Dr. Bancroft packte Luisa fest am Oberarm und zog sie aus ihrem Zimmer. Luisa traute sich nicht, gegen den schmerzhaften Griff zu protestieren. Gemeinsam gingen sie einen langen Gang entlang und bogen schließlich rechts ab. Luisa fiel auf, dass alles in diesem Gebäude weiß war. Alles wirkte so steril und unnatürlich. »Könnten Sie vielleicht Ihren Griff ein wenig lockern, Sie tun mir weh«, wagte Luisa nun doch zu sagen, und gleich darauf bereute sie ihre Worte.

»Wir haben hier wohl eine kleine Prinzessin! Gewöhn dich besser dran, sonst wirst du hier nicht lange überleben.« Das schockte Luisa, und sie hielt für die restlichen Minuten, die sie mit der furchtbaren Ärztin verbrachte, ihren Mund, war jedoch froh, als sich Dr. Bancrofts Griff ein wenig lockerte. Nach einigen Minuten waren sie bei einer weißen Flügeltür angekommen.

»Rein da, und benimm dich. Wenn du fertig bist, wirst du wieder auf dein Zimmer gebracht. Glaub nur nicht, ich würde nicht mitbekommen, wenn du dich auch nur in geringster Weise danebenbenimmst. Dann behüte dich Gott«. Mit diesen Worten ließ sie Luisa stehen. Mit gemischten Gefühlen betrat Luisa den Raum, und was sie darin vorfand, verschlug ihr den Atem.

Der Raum war wie eine Cafeteria eingerichtet, es gab eine Essensausgabe, viele runde Tische, drumherum zahlreiche Sessel – und, warum sollte es anders sein, natürlich alles in Weiß. Doch es war nicht die Einrichtung, die Luisa das Blut in den Adern gefrieren ließ, sondern die Menschen in diesem Raum. Die Personen darin waren eindeutig Patienten. Die meisten von ihnen starrten ins Leere, während sie in ihrem Essen herumstocherten. Andere wirkten wiederum normal, doch ehe man sich versah, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und sie wurden unruhig und murmelten irgendwelche Worte, die man nicht verstehen konnte. Viele unterhielten sich mit dem leeren Platz neben sich. Andere Personen wirkten sogar gefährlich. Sie hatten einen irren, wahnsinnigen Blick, wie Luisa es bislang nur aus Filmen kannte. Jetzt hatte sie diese Menschen real vor sich.

Einige Augenpaare richteten sich auf Luisa, als sie zur Tür hereinkam, schnell senkte diese ihren Blick und wurde prompt von hinten angerempelt. »Geh weiter, Mädchen, sonst bekommst du's mit mir zu tun.«

Luisa drehte sich um und sah in das schrecklichste Gesicht, welches sie je gesehen hatte. Es gehörte einem Mann, war völlig zerfurcht und voller Narben. Seine Augen waren schwarz und seine Arme komplett tätowiert. Schnell drehte sich Luisa wieder um und ging Richtung Essensausgabe. Sie nahm sich ein Tablett und stellte sich in die Reihe. Als sie einen kurzen Blick über die Schulter warf, stellte sie fest, dass der Mann noch immer hinter ihr war. Sie hörte ihn atmen und konnte seinen Blick in ihrem Nacken fühlen. Luisa wagte es nicht, sich noch ein weiteres Mal umzusehen. Die Schlange war lang, und Luisa kam nur langsam vorwärts. Nach etwa einer Viertelstunde war sie endlich an der Reihe. Die Köchin hinter dem Tresen fuhr mit einem großen Schöpflöffel in einen riesigen Kochtopf und klatschte eine übelriechende Brühe auf Luisas Teller. »Danke«, sagte Luisa und verzog die Miene. Solch ein Essen hatte sie noch nie vorgesetzt bekommen. Es genügte ein einziges Wort, um es zu beschreiben: undefinierbar. Luisa versuchte, das Tablett gerade zu halten und suchte nach einem freien Platz. Sie überlegte, ob sie das Essen, falls man dies Essen nennen konnte, überhaupt probieren sollte. Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter, Luisa erschrak, und der Teller rutschte gefährlich nah an den Rand des Tabletts. Vorsichtig drehte sie sich um und sah ein Mädchen vor sich, welches etwa in ihrem Alter war. Das Mädchen war kleiner als Luisa und hatte ein hübsches Gesicht, welches von braunen Locken umrahmt war. Die Augen des Mädchens waren haselnussbraun, und sie hatte die längsten Wimpern, die Luisa je gesehen hatte. Sie war Luisa auf Anhieb sympathisch. »Du bist neu hier, oder?«, fragte das Mädchen. »Ja … kannst du mir vielleicht sagen, wo ich bin?« Luisa hoffte so sehr auf eine Antwort, die etwas Klarheit in ihre Situation bringen würde.

»Komm mit, essen wir doch erst mal etwas.«

Die zwei schlängelten sich durch die Menge der Patienten, bis sie endlich zwei freie Plätze fanden. Luisa beobachtete neugierig die Leute in ihrer Umgebung, doch sobald jemand aufblickte und zurückstarrte, senkte sie schnell den Blick und sah auf ihren Teller.

»Mein Name ist Caitlin Lansbury, aber nenn mich bitte Caty. Ach, und übrigens bist du in der Foxwood-Psychiatrie gelandet. Herzlich willkommen.«

»Wo bin ich?«, fragte Luisa und verstand die Welt nicht mehr.

»In der Foxwood-Psychiatrie«, wiederholte das Mädchen nachsichtig.

»Ich bin Luisa Reed. Kannst du mir sagen, weshalb ich hier bin?«

»Na ja, normalerweise kommt man in eine Psychiatrie, weil man ernsthafte Probleme hat«, sagte Caty.

»Ich kann mich aber nicht daran erinnern, Probleme zu haben«, antwortete Luisa niedergeschlagen.

»Das liegt an den Medikamenten, die sie dir geben, du bist wahrscheinlich noch ein bisschen benommen und hast möglicherweise auch einen Schock erlitten. Ich habe das Gleiche durchgemacht, ich konnte mich auch an nichts mehr erinnern, als ich hier ankam.«

Luisa seufzte tief und stocherte mit dem Löffel in der Brühe. »Weißt du, ich bin gerade echt überfordert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich keinerlei Probleme habe. So was würde man doch nicht einfach vergessen … und warum bist du eigentlich so normal, im Gegensatz zu den anderen hier?« Den letzten Satz hatte sie nur geflüstert.

»Ich hab da so meine Tricks«, antwortete Caty und zwinkerte Luisa zu. Sie lächelte automatisch zurück. Beim besten Willen konnte sie sich nicht erinnern, was geschehen war. Warum war sie plötzlich in einer Psychiatrie? Mit Sicherheit war ein Fehler unterlaufen, und sie wurde versehentlich hierhergebracht. Luisa schwor sich, dass sie, sobald sie auf freundliches Personal treffen würde, sich darüber beschweren würde.

»Ich hab mal ne Frage, du wurdest doch zum Speisesaal begleitet, hast du nicht die Schwester gefragt, wo du bist?«, wollte Caty wissen.

»Klar hab ich sie gefragt, doch die hat mir nur gesagt, dass ich das noch früh genug selbst herausfinde.«

»Hm, weißt du, welche Schwester das war?«, fragte Caty neugierig.

»Jules Bancroft oder so ähnlich, keine Ahnung, aber sie war Doktorin.«

»Oh ja, an die musst du dich erst gewöhnen, sie ist die Schlimmste hier, spielt sich auf, als sei sie der Chef. Sie hat zwar einen Doktortitel, aber springt nur ein, falls ein anderer Doktor mal krank ist, sonst wird sie wie eine einfache Schwester behandelt, und deshalb ist sie vermutlich auch so wütend. Keine Sorge, die ist den meisten Patienten gegenüber abweisend und kalt. Ich gebe dir einen Tipp, unterbrich sie nie, wenn sie gerade spricht, das könnte nämlich übel enden. Versuche, dich einfach von ihr fernzuhalten, dann kann sie dir auch nichts antun.« »Danke«, sagte Luisa. »Was passiert denn jetzt eigentlich mit mir?«

»Tja, du wirst jetzt erst mal wieder auf dein Zimmer gebracht, und dann kommt irgendwann ein richtiger Doktor, der dich aufklärt, und wenn du Glück hast, darfst du heute schon in den Aufenthaltsraum kommen. Wir dürfen heute basteln«, sagte Caty sarkastisch und verdrehte die Augen. Plötzlich ertönte ein Gong und in der Cafeteria wurde es laut. Stühle wurden zurückgeschoben, Tabletts wurden abgestellt. Hie und da zerbrach ein Glas, und alle drängelten so rasch aus dem Speisesaal, als sei der Feueralarm angegangen. Luisa und Caty ließen sich Zeit und bildeten das Schlusslicht. Vor der Tür wartete eine Schwester auf Luisa, die sie zurück auf ihr Zimmer führen sollte. Luisa rief Caty eine Verabschiedung zu, erhielt jedoch keine Antwort. Während Caty nach rechts abbog, spazierte die Schwester mit Luisa nach links. »Ich werde dich jetzt ein bisschen rumführen, damit du dich hier zurechtfindest.« Luisa wollte gerade erklären, dass sie nicht hierhergehörte, beschloss aber, das lieber mit dem Arzt zu besprechen. Zuerst wurde Luisa in eine kleine Bibliothek geführt, danach in den Aufenthaltsraum, von dem Caty gesprochen hatte, und zu guter Letzt besuchten sie den Garten. »Hier ist es schön«, sagte Luisa.

»Ja, hier dürfen die Patienten raus, wenn sie ein gutes Benehmen an den Tag legen«, antwortete ihr die Schwester. Im kleinen Garten standen große Kastanienbäume, darunter ein paar Sitzbänke mit einem Schachtisch.

»Wenn du willst, können wir uns ein bisschen hinsetzen.« »Gerne«, antwortete Luisa.

»Ich bin übrigens Schwester Lydia, und ich erkläre dir jetzt mal den Tagesablauf. Bei uns ist es so ähnlich wie in einem Krankenhaus.«

»Stopp«, unterbrach Luisa die Krankenschwester. »Ich gehöre nicht hierher. Ich habe keine Probleme, bei mir muss ein Fehler unterlaufen sein. Sie brauchen mir nicht den Tagesablauf zu erklären, da ich nicht hier bleiben werde.« Traurig sah die Schwester Luisa an. »Ich denke, du solltest dies mit deinem Arzt besprechen. Auf jeden Fall wurde mir aufgetragen, dich über den Tagesablauf hier zu informieren.«

Luisa sah sie ungläubig an. »Aber …«, versuchte sie zu protestieren.

»Ms. Reed, bitte klären Sie das mit Ihrem Arzt ab.« Ohne weitere Diskussion gab sich Luisa geschlagen, und die Schwester fuhr fort. »Du bekommst dein Frühstück ins Zimmer, nach dem Frühstück wirst du wahrscheinlich von einem Arzt untersucht, doch Genaueres kann dir erst der Doktor heute Nachmittag mitteilen. Zum Mittagessen gehst du wieder in die Cafeteria, in welcher du gerade warst, und am Nachmittag wirst du entweder im Aufenthaltsraum sein oder du wirst mit einem Experten über die Gründe sprechen, weswegen du hier bist. Dir wird ein Psychiater zugeteilt, mit welchem du etwa zwei bis drei Stunden täglich sprichst. Das Abendessen findet wieder in der Cafeteria statt und danach kannst du entweder in die Bücherei gehen, in den Garten – sofern der Tag störungsfrei verlaufen ist –, oder du kannst auch auf deinem Zimmer bleiben. Um zwanzig Uhr dreißig ist Bettruhe! Wie ich vorher schon sagte, wenn du ein gutes Verhalten an den Tag legst, kannst du jederzeit hier raus, außer natürlich, wenn du Termine hast. Siehst du die Frau da drüben, das ist Ms. Badham, sie kommt so oft sie kann in unseren Garten. Mittlerweile hat sie gelernt, dass sie es hier besser hat, wenn sie sich ruhig und unauffällig verhält. Gut, das wäre eigentlich alles, ich bringe dich jetzt zurück auf dein Zimmer, hast du noch Fragen?«

»Nein, ich habe keine Fragen«, sagte Luisa und schüttelte den Kopf. Schwester Lydia war ihr um einiges sympathischer als diese Bancroft. Sie gingen durch den Garten und kamen schließlich an der Frau vorbei, die Ms. Badham hieß. Luisa begrüßte sie, doch die Frau sah nur mit geistesabwesendem Blick auf, dann drehte sie den Kopf und sah Luisa ins Gesicht. Die Frau fixierte sie und ließ Luisa nicht mehr aus den Augen.

»Komm weiter, Luisa«, sagte Schwester Lydia sanft. Luisa gehorchte. Sie dachte über Ms. Badham nach. Die Frau erinnerte sie an jemanden, den sie schon einmal gesehen hatte, doch sie wusste nun auch, dass ihr Verstand durch Medikamente beeinflusst wurde, weswegen sie sich mit Sicherheit täuschte. Sie verdrängte die Frau aus ihrem Kopf und folgte Schwester Lydia in das Gebäude.

-

Am frühen Nachmittag trat ein Mann mit weißem Kittel an Luisas Bett. Luisa musste nicht zweimal überlegen, ob dieser Mann ein Doktor war oder nicht. Er war klein, hatte wenig Haare und eine Brille auf der Nase, die ihn schlau wirken ließ. »Hallo, ich bin Dr. Caviness.«

»Ich bin Luisa Reed«, sagte sie vorsichtig, denn seit Dr. Bancroft wollte sie niemanden hier verärgern.

»Also, Luisa, weißt du, weswegen du jetzt hier bist?« »Nein, da ich denke, dass jemandem ein Fehler unterlaufen sein muss«, antwortete sie.

»Hm, also, ich erkläre dir hier den Ablauf, wie wir dich wieder aufpäppeln werden«, sagte Dr. Caviness, ohne auf Luisas Bemerkung einzugehen. »Zuerst solltest du wissen, dass du das Recht hast, die Behandlung abzulehnen, was ich nicht gerade empfehlen würde, denn das Ziel einer psychiatrischen Behandlung ist es, dich zu heilen. Wir versuchen, deine Lebensqualität zu verbessern. Das bedeutet, dass wir dir helfen werden, damit du in deinem weiteren Leben mit den Dingen umzugehen lernst, welche dir wiederfahren sind«, erklärte der Arzt.

»Welche Dinge sind mir wiederfahren, bitte Dr., klären Sie mich auf«, bat Luisa flehentlich.

»Das kann ich nicht so einfach machen, du wirst zu einem Psychiater geschickt, der dir nach und nach hilft, dich daran zu erinnern. Wenn du jetzt mit allem konfrontiert wirst, wird es ewig dauern, bis deine Behandlung erfolgreich wird, und du bist doch ein junges Mädchen, welches noch sein ganzes Leben vor sich hat und nicht den Großteil davon hier drin verbringen sollte. Außerdem könnte es sein, dass du dich selbst verletzen würdest, deswegen wurdest du nach deiner Ankunft auch an das Bett geschnallt, das war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Wenn du einverstanden bist, wird gleich heute deine Therapie beginnen.« Aufmerksam wartete Dr. Caviness auf Luisas Reaktion. Nach einigem Hin- und Herüberlegen stimmte Luisa zu, doch als der Arzt das Zimmer verließ, überfiel sie ein mulmiges Gefühl. »Wieso erinnere ich mich an nichts?«, »Wer bezahlt hier eigentlich meinen Aufenthalt?« Bei der letzten Frage wurde sie stutzig. Wieso war ihr Vater noch nicht gekommen, um nach ihr zu sehen? Sie runzelte die Stirn und versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern, doch sosehr sie sich auch anstrengte, ihr Kopf war leer. Ungefähr zwei Stunden später wurde sie von Dr. Bancroft abgeholt, welche Luisa wieder missbilligend ansah. Sie führte Luisa ein paar Gänge entlang, bis sie zu einem Lift kamen. Beide stiegen ein, und Bancroft drückte den Knopf, der sie ins dritte Stockwerk hinaufbringen sollte. Oben angekommen, erklärte die Ärztin Luisa, dass sie einfach nur geradeaus gehen brauche, zur fünften Tür an der rechten Seite. Damit ließ sie Luisa stehen und fuhr mit dem Lift zurück auf ein anderes Stockwerk. Luisa ging den Gang entlang und zählte, Tür 1, Tür 2, bis sie endlich bei der fünften angekommen war. Sie klopfte leise und vernahm eine angenehme Stimme, die »Herein« rief.

Sie öffnete die Tür und befand sich in einem ausgesprochen gemütlichen Zimmer. Gegenüber von ihr stand eine kleine rote Couch mit bequem wirkenden Polstern, der kleine Kaffeetisch davor war aus dunklem Holz, auf welchem eine rote Kerze brannte. Die Wände im Zimmer waren in einem wunderschönen Cremeton gestrichen, und dieses Zimmer hatte Gott sei Dank ein Fenster. Der Raum war zum größten Teil mit hohen, bis zur Decke reichenden Regalen ausgestattet worden. Die meisten enthielten Fachliteratur, die das psychiatrische Verhalten von Menschen aufzeichnen. Die Deckenlampe strahlte nicht so grell wie die restlichen Lampen im Gebäude, sondern angenehm warmweiß. Luisa gefiel besonders, dass hier nicht alles so kalt und steril wirkte. Während sie sich noch überrascht umsah, fiel ihr plötzlich wieder ein, dass sie sich nicht alleine in diesem Raum befand. »Hallo«, sagte eine vertraute Stimme neben ihr. Luisa zuckte zusammen und traute ihren Augen nicht. »Du« – mehr brachte Luisa nicht heraus.


















Schachzug Rache

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