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Teil I – Dr. Brigg

„Ich lasse sie reden,

und manchmal freuen sie sich,

ihre Seele entrümpeln zu können.“

Dr. Antony Brigg, Psychiater und Psychotherapeut

Die Schwiegermutter

Er plauderte gerade mit ein paar Gästen und gab sich locker und gelassen. Mich konnte er aber nie täuschen. Ich bin mir sicher, das wusste er schon immer. Auch jetzt konnte ich deutlich sehen, wie sich seine Gesichtsmuskeln anspannten, wenn er zu mir herüberschaute. Und das tat er ziemlich oft, wie ich mit einer gewissen Genugtuung feststellte. Als würde sich sein Hals zwanghaft in meine Richtung drehen, registrierte ich fast schadenfroh. Ich fragte mich, ob er seinen Plan nicht doch aufgeben würde, wenn ich schon da war, um ihm auf die Finger zu schauen. Nein, er zieht es durch! Ein Blitz in seinen Augen, ein Zug von verbitterter Entschlossenheit verriet den krampfhaften Gedankengang in seinem Hinterkopf. Blanker Hass flammte in seinen Augen auf, als er wie zufällig zu mir herüberschaute. Deine Maske bekommt allmählich Risse, du Glanzexemplar von einem Mann von Welt! Eigentlich müsste es purer Wahnsinn sein, was ich mir da zusammengereimt habe. Etwas, was es gar nicht geben kann im realen Leben. Aber je länger ich ihn beobachtete und je länger er so an meiner unsichtbaren Leine zappelte, desto sicherer war ich mir, er führte genau das im Schilde, was ich ihm in meiner boshaften Fantasie unterstellte. Es ist wahr, ich haderte manchmal mit mir deswegen und nannte mich selbst eine Schlange von einer Schwiegermutter.

Aber genug davon. Ich stehe zu meinem Mutterinstinkt, egal, welche makabren Formen er annehmen mochte. Ich bin wenigstens aufrichtig mir gegenüber und erschaudere pflichtgemäß, wenn ich mich dabei ertappe, wie grässlich ich manchmal einen scheinbar harmlosen Menschen finde und was für furchtbare Dinge ich ihm zutrauen würde. Aber es geht hier schließlich nicht um mein eigenes Seelenheil, sondern einzig und allein um meine Tochter. Sie erschien endlich auf der Bildfläche mit einem freundlichen Lächeln für alle, wie immer …

Sie ist gewiss nicht die große Dame von Welt, aber doch eine Meisterin im Kaschieren jeglicher innerer Regung. Nur tut sie es aus einer Not heraus, deren Abgründe nur sie allein auszuloten vermag. Da wir uns alle gekonnt in Schweigen hüllten, war nicht einmal ich sicher, ob ich je das Ausmaß ihres Dilemmas einschätzen konnte. Er kam zu ihr herüber, küsste sie auf die Wange. Ein Echo von „Liebling, da bist du ja endlich“ erreichte mein gespitztes Ohr und detonierte schmerzhaft dissonant in meinen Ohrmuscheln.

Ich entspannte mich etwas, denn es war beruhigend, meine Tochter im Auge behalten zu können. Jetzt versuchte ich, meine Aufmerksamkeit zu spalten, was mich rein körperlich in eine unheimlich unbehagliche Empfindung versetzte. Es fühlte sich an, als wäre eine meiner Körperhälften mit jeder Faser auf meine Tochter ausgerichtet, indem sie die Spannung ihrer mühsam bewahrten Haltung registrierte und sich krampfhaft zusammenzog, während meine andere Körperhälfte sich anspannte wie der Bogen eines achtsamen Jägers. Ich wusste ja nicht, wie es geschehen sollte und vor allem, wann … Deshalb musste ich all die lachenden Gesichter, das Geklirre der Gläser, das gedämpfte Gelächter und die umherschwirrenden Gesprächsfetzen akustisch und visuell ausblenden, um den entscheidenden Augenblick nicht zu verpassen.

Die Zeit verstrich, und nichts Bemerkenswertes passierte. Gerade als ich versuchte, mich innerlich zu straffen, um die seltsame Benommenheit zu überwinden, die sich allmählich in meinem Kopf ausbreitete, fühlte ich einen spitzen Schmerz in meiner Brust. Ein Warnsignal? Oder sagen wir – die geballte Energie des fatalen Augenblicks hat mich mit voller Wucht getroffen. Was sah ich da? Er reichte ihr gerade ein Glas Sekt, sie nahm es entgegen und wollte daran nippen.

„Melly, Schatz, komm doch bitte her!“ Ich sprang auf und lief auf sie zu. Er zuckte sichtbar zusammen, als hätte meine Stimme an seinen Nerven gezerrt. Und das war eindeutig das erste Mal, dass er die Kontrolle über seine Muskeln verloren hatte. Als er zu mir rüberschaute, verzerrte sich sein Gesicht für einen winzigen Augenblick zu einem Mix aus Zorn und Panik. Die wenigen Sekunden, die ich brauchte, um meine Tochter zu erreichen, haben jegliches Zeitgespür in mir lahmgelegt. Sie stand vor mir, und ich quasselte drauf los, wie bezaubernd sie heute wieder aussähe und was für ein Erfolg die Party wäre … Wie gebannt starrte ich auf ihre Hand mit dem Glas und fragte sie irgendetwas, um sie davon abzuhalten, einen Schluck Sekt zu nehmen.

Er stand drei Meter von uns entfernt und beobachtete uns reglos. Nur seine Augen sprühten eiskalte Funken … Er ist ein extrem leidenschaftlicher Mann, wunderte ich mich, denn ich kannte bisher nur seine abgekühlte Fassade. Irgendwann, viel später, als alles vorbei war, erinnerte ich mich, dass ich in diesem Augenblick seine ganze verruchte Persönlichkeit mit einem Atemzug erfasst hatte. Eine brisante Mischung! Passion als Zündstoff und extreme seelische Kälte ergeben die chemische Formel von eiskaltem Feuer! Er hasste mich, in diesem Augenblick hasste er mich noch mehr als seine Frau! „Oh! Schatz, du hast da einen kleinen Lippenstiftfleck … Schau mal hier …“ Das stimmte zum Glück. Jetzt ist es mir doch tatsächlich gelungen, ihr das verdammte Glas abzunehmen, denn sie musste sich um diesen lächerlichen Fleck kümmern.

Ich schaute ihn mit unverhohlenem Triumph an – das Spiel war aus! Ein unbekanntes und seltsam berauschendes Gefühl ergriff mich – ich brannte … in eiskalten Flammen! Als hätten sich die Funken seines Blickes materialisiert, als hätte sein Hass ihnen die Sprungkraft verliehen, mich in Brand zu setzen. Ich erbot mich, Melly zur Toilette zu begleiten. Ich hielt das Glas wie eine Trophäe, und als sich unsere Augen wieder trafen, erkannte er, dass es für ihn kein Entkommen gab. Er fürchtete sich … Mit einer nie gekannten Grausamkeit genoss ich den Schreck in seinen Augen und weidete mich an seiner Ohnmacht. Gott möge mir verzeihen! Was ich vorhatte, war alles andere als human, aber es hatte bestimmt etwas mit ausgleichender Gerechtigkeit zu tun. Als ich mit Melly an ihm vorbeiging, stellte er sein Glas ab, und ich wich ihm blitzschnell aus. Er tat nämlich das Einzige, was ihm übrig blieb – er schwankte, als hätte er plötzlich den Halt verloren.

Nur, ich kam ihm zuvor. Es geschah eigentlich synchron – ich wich zur Seite, während er dabei war, mich anzurammen. Ich hielt mein Glas immer noch wie eine Trophäe hoch. Alfred, unser Hausarzt, der unter den Gästen war, eilte zu ihm und bot mir die willkommene Ablenkung: „Mann, Roy, fehlt dir was? Ist dir schwindlig? Ich hab dir doch immer gesagt, du übernimmst dich, Junge.“ Ich hatte genug Zeit, um mein Glas abzustellen, denn mein Schwiegersohn schloss für einen Augenblick die Augen und täuschte einen Schwächeanfall vor. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als ich wieder nach dem Glas griff … Nach seinem Glas, das nur ein paar Millimeter von meinem entfernt platziert war. Danke, dass du dir nachgegossen hast! Ich hielt mein Glas wieder wie eine Trophäe hoch, als er mich anschaute. Und ich hielt mich etwas abseits, als hätte ich versucht, einen wiederholten Zusammenstoß zu vermeiden. Wir schauten uns wieder in die Augen, und Melly schaute uns beide etwas befremdet an.

„Es geht schon wieder … Danke, alter Knabe.“ Na, mach schon, beschwor ich ihn stumm. Und die Rachegöttin, die mich wohl die ganze Zeit über inspiriert hatte (Gott kann es ja nicht gewesen sein!), ließ mich mein Werk vollenden.

„Ist schon gut, Leute! Keine Aufregung! Es geht mir wieder gut. Prost!“ Er hob das Glas, grinste und nahm einen kräftigen Schluck. Ich starrte ihn wie gebannt an, nicht fähig wegzuschauen … Er schnappte nach Luft, griff sich an den Hals, dann an die Brust, und ich sah, wie sich seine Augen vor Entsetzen weiteten und auf mich richteten, bevor er zu Boden sank.

Ein paar Sekunden später durfte Alfred seine traurige Pflicht erfüllen, indem er plötzliches Herzversagen als Todesursache feststellte, um im gleichen Augenblick noch jemandem zur Hilfe zu eilen, denn eine große schlanke Blondine sank gerade nach einem Aufschrei zu Boden. Was soll das denn, fragte ich mich. „Nur eine Ohnmacht. Keine Panik! Sie kommt gleich zu sich.“ Melly stand immer noch unter Schock, aber ich konnte sehen, wie sich ihre Schultern strafften, als sie zu der Frau hinüberschaute, die sich langsam aufrichtete und sich von ihrem Begleiter zum Sessel führen ließ. Das ist sie also, die Andere, von der ich immer wusste, dass es sie gab. Wenn Sie mich jetzt, nachdem sich der Trubel längst gelegt hatte, fragen würden, ob ich etwas bereue, ob ich mich im Nachhinein nicht gräme, dass ich meinen Schwiegersohn nicht der Justiz überlassen habe oder gar der himmlischen Gerechtigkeit, so würde meine Antwort NEIN lauten. Gott möge mir verzeihen! Was ich eher befürchtet habe, wird Ihnen gewiss seltsam vorkommen. Ich verrate es trotzdem: Sein Blick, bevor er zu Boden sank, machte mir zu schaffen. Es dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde – Erstaunen, dann flackerte in seinen Augen eine unmissverständliche Drohung auf. Wenn man es in Worte fassen würde, hätte es sich etwa so angehört: „Ich komme wieder! Ich komme aus der Hölle zurück und kriege dich!“ Aber die Zeit verging, und nichts dergleichen geschah.

Ich lag nächtelang wach und wartete, dass er mich heimsuchte, dass er sich in meine Träume schlich und mein Leben vergiftete. Ich glaube sogar, ich befürchtete, dass er als Poltergeist in meinem Schrank herumtrommeln würde, um mir den letzten Nerv zu rauben. Aber mit der Zeit kam ich zu dem Schluss, dass es wohl nicht so einfach sein muss, der Hölle zu entrinnen … Sie lachen! Ich weiß, ich bin eine alberne, alte Frau, deren Nerven über alle Maßen strapaziert sind. Ja, was sollen diese Spekulationen über die Reichweite der Hölle? Es sei denn, ich verdränge die Angst, selbst dorthin befördert zu werden. Für alles, was ich getan oder unterlassen habe. Melly schaute mich übrigens eines Tages nachdenklich an und meinte: „Es ist seltsam, Mama, aber ich kann seinen letzten Blick nicht vergessen! Er hat dich angestarrt. Fiel es dir nicht auf? Und ich konnte seinen Blick nicht deuten. Sonst wusste ich immer, was er fühlte.“ Armes Kind! „Weißt du, Mama, vielleicht ist es doch ein Trost für dich. Er muss dich doch gemocht haben, obwohl er immer so tat, als ob … Sein Blick war so intensiv, und er schaute dir direkt in die Augen, wenige Sekunden, bevor er starb. Vielleicht fühlte er sich dir sogar auf eine seltsame Weise verbunden und hat es nur verdrängt, weil er mich darum beneidete, dass ich bei dir behütet aufgewachsen bin, während er ein Waisenkind war und sich ohne mütterlichen Trost durchschlagen musste …“ Was sagen Sie dazu? Armes Kind! Und ob er sich mir auf ‚eine seltsame Weise’ verbunden fühlte! Dieses kalte Feuer hielt uns für ein paar tödliche Augenblicke wie siamesische Zwillinge unzertrennbar vereint, bis der Tod uns endlich voneinander schied. Hoffentlich ist dieser mörderische Funke, den er auf mich gesprüht hat, spurlos erloschen … Ich würde es doch gerne bei diesem einzigen Mord belassen. Genug ist genug. Was halten Sie davon, Herr Doktor? Soll ich mich schuldig fühlen?

Oskar

Ich bin Oskar, 42, bald Single, weil ich vorhabe, meine Frau umzubringen.

Ich weiß noch nicht, auf welche Art und Weise es geschehen soll und wie ich es am besten anstellen werde. Aber ich weiß, ich bin fest entschlossen, es durchzuziehen. Wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen. Wenn sich eine passende Gelegenheit ergibt, wenn die Zeit dazu reif ist. Die Zeit ist eigentlich schon längst reif, überreif sogar. Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub mehr. Mir mangelt es weder an Mut noch an Kraft, die Sache souverän durchzuziehen. Noch weniger mangelt es mir an Inspiration. Ich strotze gerade vor Kreativität, wenn ich sie mir nur für einen Augenblick als stumme leblose Leiche vorstelle, denn in dieser Fassung könnte ich sie gerade noch ertragen. Es ist gewiss sinnlos, all ihre Missetaten und Fehler aufzuzählen. Das würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen und würde mich bloß zu sehr aufregen. Der Tod ist das Einzige, was zu ihr passen würde, so lebensfeindlich wie sie nun mal ist. Ich wünsche mir sagen zu können, wie sie so war. Und ich hoffe, dass ich bald in der Lage sein werde, über diese Frau nur in der Vergangenheit zu sprechen. Die Frage ist nur: Wie gehe ich vor? Inzwischen habe ich mehrere Projekte wegen technischer Unzulänglichkeit verworfen, denn das, was ich anstrebe, ist perfekter Mord. Nicht etwa, weil ich Perfektionist wäre. Ich bin auch kein besonders eitler Mensch und erhebe keinen Anspruch auf eine Glanzleistung. Ein primitiver, hausbackener Mord wäre mir ebenso recht, wenn er nur den erwünschten Effekt mit sich bringen würde. Es kommt mir wirklich nur auf ein solides Ergebnis an: Ich bring sie um, und niemand kann es mir nachweisen. Wie heißt es doch so schön: perfekter Mord. Da eine Scheidung aus rein emotionalen Gründen nicht infrage kommt (ich könnte es nicht ertragen, sie irgendwo am Leben zu wissen), muss sie zwangsläufig schnell und geschickt ausradiert werden. Sie würde mir einen Gefallen tun, wenn sie das selbst einsehen und mir das Risiko eines Mordes abnehmen würde. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich einigermaßen schmerzlos umzubringen. Aber so engstirnig wie sie ist, wird sie nie zu dieser Einsicht kommen. Und mit ihrer Gefälligkeit ist sowieso nicht viel los. Also muss ich das selbst in die Hand nehmen und schleunigst einen Weg finden, das Problem zu lösen.

17.Dezember

Ich hab es! Ich verzichte auf weitere Studien der Giftstoffe. Die Symptome, die durch Vergiftung erzeugt werden, finde ich recht sympathisch, aber das Risiko ist entschieden zu groß. Wer kann mir letztendlich garantieren, dass die Giftstoffe, die als nicht nachweisbar gepriesen werden, mir bei einer Autopsie nicht doch einen Streich spielen? Wenn ich sie nachts auf den Balkon locke und sie dann mit einem kräftigen Ruck hinunterstoße, kann ich mich immer noch nicht darauf verlassen, dass sie ausgerechnet diese vier Sekunden, bis sie unten aufprallt, mal ihre Klappe hält. Was ist, wenn sie lautstark meinen Namen oder um Hilfe ruft und somit alle Nachbarn aus dem Schlaf rüttelt? Diese Frau ist einfach furchtbar! Nicht einmal in so einem entscheidenden Moment kann ich mich auf sie verlassen! Wer nimmt uns einen Selbstmord ab, wenn die gute Frau runterpoltert, indem sie mit ihren Schreien „Oooskaaar!“ die ganze Gegend zusammenruft? Ich kann sie ebenso schlecht unter ein fahrendes Auto schubsen. Das ist auch bei Nacht und Nebel zu riskant. Man muss sich bloß vorstellen, in was für eine Teufelsküche ich komme, wenn einer von den zahlreichen Hirnlosen, die sonst am Steuer sitzen, zu meinem Pech ausgerechnet mal Reaktionsfähigkeit besitzt, bremst und die den Rädern zugeworfene Frau nicht wie bestellt zerquetscht oder zu Brei fährt! Keine dieser Vorgehensweisen würde einer Prüfung mit absoluter Sicherheit standhalten. Wie soll sie nun sterben? So viele Möglichkeiten gibt es nicht, einen Selbstmord vorzutäuschen. Das schränkt meinen Spielraum auf beträchtliche Weise ein, was selbstverständlich sehr ärgerlich für mich ist. Mein Vorhaben wird ganz gewiss nicht aus Mangel an Fantasie meinerseits scheitern. Es liegt einzig und allein am Charakter dieser Frau: wie man es auch dreht und wendet, es kommt immer nur Ärger dabei heraus!

20. Dezember

Ich muss mich beeilen! Bald haben wir Weihnachten, und ich wünsche mir endlich einmal ein geruhsames, heiteres Fest, Entspannung und eine Aussicht auf ein wirklich neues Jahr. Wenn bald alles vorbei wäre, könnte ich an Silvester in diese Bar gehen … Aber die Träumerei muss noch warten. Zuerst die Arbeit, wie man so sagt, dann das Vergnügen! Also wie – und noch einmal – wie bringe ich die Frau um? Bis jetzt habe ich nur den ersten Teil der Planung absolviert, indem ich die unbrauchbaren Varianten des Vorgehens weitsichtig ausgeschlossen habe. Jetzt heißt es: Ran an den Mord! Mit Tatkraft und Mumm!

22. Dezember

Sie kann sich doch nicht selbst erwürgt oder erstochen haben! Verdient hätte sie es ohne Zweifel. Aber als Selbstmordmaskerade völlig ungeeignet. Der Druck in meinem überstrapazierten Gehirn wird allmählich unerträglich. Ich glaube, ich habe mir zu meinem vollen Ärger eine Grippe eingefangen. Kein Wunder bei diesem Wetter. Ich frag mich, wo sie nun wieder meine warmen Socken hingesteckt hat. Egal! Bald ist sowieso alles vorbei! Nur dass mir dieses komische Pressen in meinem Kopf zu schaffen macht und meinen gewohnten Scharfsinn trübt, ist äußerst ärgerlich, denn ausgerechnet jetzt brauche ich meine außerordentliche Konstruktionsfähigkeit am dringendsten. Alles, was meine Gedankengänge hemmt, muss weg! Alles, was meine Kraft beeinträchtigt, muss weg!

Am Ball bleiben! Am Ball bleiben! Auf und ran! Auf und ran!

22. Februar

Oskar, 42, bald Single! – soll ich unentwegt stundenlang geschrien haben, bis die Nachbarn den Hausmeister dazu überredet haben, den Notarzt zu rufen.

Wild um mich herumfuchtelnd hätte mich der Notarzt ins Krankenhaus befördert, wo man bei mir eine akute Hirnhautentzündung festgestellt hat. Jeder hat sich gefragt, wo denn meine Ehefrau geblieben sei. Ich wusste darauf keine Antwort. Was ich genau wusste, als ich zu mir kam, war die Tatsache, dass ich es anscheinend noch nicht geschafft habe, sie aus dem Weg zu räumen. Hirnhautentzündung hin oder her, an einen erfolgreich ausgeführten Mord würde ich mich bestimmt erinnern, nachdem ich so verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht hatte, die Tat zu vollbringen. Und eine Leiche hätte sich bestimmt nicht in Luft auflösen können. Man hätte bestimmt was davon gehört, egal wie bedeutungslos und unscheinbar die Frau sein mag. Wo steckt sie denn zum Kuckuck?! Ich schicke Hans noch einmal in meine Wohnung. Er muss mir sowieso noch ein paar Sachen holen. Ein Krankenhausaufenthalt ist echt nervtötend, ganz besonders, wenn man mit seinen Angelegenheiten im Rückstand ist!

23. Februar

Ich hasse sie! Ich hasse sie wie nie zuvor! Wie kann ein Nichts, ein elendes Nichts von einem Weibstück einem so unermesslich viel Ärger bereiten?!

Hans hatte Recht, als er nach dem ersten Besuch in meiner Wohnung keinen einzigen Gegenstand entdeckt hat, der einer weiblichen Person gehören könnte. Keine Röcke und keinen sonstigen Schnickschnack, gar nichts …

Als ob es sie nie gegeben hätte. Spurlos verschwunden, als hätte sie sich bei lebendigem Leibe in Luft aufgelöst. Wenn das doch wahr wäre! Wenn es sie doch einfach nicht gäbe! Wenn es sie doch nie gegeben hätte! Dann würde sich das ganze Theater erübrigen! Aus und vorbei – vom Winde verweht, vom Wasser in die Tiefe geschluckt … Jetzt habe ich es! Jetzt habe ich es endlich! Ersaufen soll ich sie, nachts an den See locken mit sentimentalem Gequassel, betäuben, ins Wasser werfen … Den Fischen zum Fraß. Wenn sich dabei ein paar armselige Fische eine Vergiftung an der Frau holen, nimmt keiner Schaden daran. Hans ist ein Trottel, außerdem ist er keine große Hilfe, da er sie ja nur von meinen Erzählungen her kennt. Eine Bekanntschaft mit dieser Frau konnte ich weder ihm noch sonst jemandem zumuten. Ist schon genug, dass ich mich mit dem Frauenzimmer abplagen muss. Ich muss den Arzt davon überzeugen, mich heimzulassen. Ich muss nach ihr fahnden. Wie kann ich sie umbringen, wenn ich nicht an sie herankomme? Wo auch immer sie sich derzeit aufhält, ist es bestimmt nicht für lange. Kletten wie diese wird man auf eine natürliche, gewaltlose Weise nicht los. Was mich jedes Mal so furchtbar aufregt, ist die Reaktion der Pfleger auf meine Nachfrage, ob sich meine Frau gemeldet hätte.

Ich könnte schwören, dass sie mich irgendwie mitleidig anlächeln, was für mich keinen Sinn ergibt, da sie ja keinen Grund haben können, mich zu bemitleiden. Ich könnte das ja verstehen, wenn sie die Frau je zu Gesicht bekommen hätten, aber das ist ja nicht der Fall.

25. Februar

Heute habe ich zufällig die beiden Pfleger belauscht. „Armer Kerl, ist kurz vor Weihnachten eingeliefert worden. Da hat sich das schreckliche Ereignis gejährt, das muss wohl der Auslöser für seine Gehirnerkrankung gewesen sein. Ach was?! Du kennst die Story gar nicht? Der Mann hat vor einem Jahr kurz vor Weihnachten seine Frau als vermisst gemeldet. Bis jetzt gibt es keine Spur von ihr. Der Arme muss sie furchtbar geliebt haben, sonst hätte ihn ihr Verschwinden nicht so entsetzlich mitgenommen. Der Doktor hat mir strikt verboten, ihn darüber aufzuklären. Und er gibt keine Ruhe, fragt immer nach ihr und wundert sich, dass sie ihn noch nicht besucht und sich immer noch nicht gemeldet hat. Kann es nicht abwarten, bis man ihn aus dem Krankenhaus entlässt, damit er nach ihr suchen kann. Bei dem wird es bestimmt lange dauern, bis man ihn hinkriegt. Wenn überhaupt …“ Die müssen über mich reden, erfasste ich rein instinktiv. Ich war auch der Einzige hier, der vor Weihnachten eingeliefert wurde. Also mussten sie mich meinen. Aber was haben sie da gefaselt?

Ich kam nicht mehr dazu, den Gedanken bis zu Ende zu verfolgen, da hörte ich die Stimme der Oberschwester: „Kommt mal her! Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann den Doktor nicht erreichen. Ein Polizeibeamter wartet draußen, er behauptet, er müsste unbedingt den Patienten – jetzt hörte ich deutlich meinen Namen – sprechen, es sei dringend. Er sagt, im See wäre ein Skelett geborgen worden. Es handelt sich dabei um die vermisst gemeldete Ehefrau von … – ich hörte wieder meinen Namen. Ein Medaillon soll ihre Identität eindeutig bewiesen haben. Der Patient … sei sofort zu verhören. Kaum zu glauben, aber der Polizist will den Mann wegen Mordverdachts in Gewahrsam nehmen. Ich frag mich bloß, was sagt der Doktor dazu?“ …

Ich konnte nicht zu Ende hören, denn die Stimmen entfernten sich, und ich kroch aus meinem ungewollten Versteck heraus und presste mit beiden Händen meinen Kopf fest zusammen. Etwas, ein Schimmer von einem Etwas dämmerte ganz langsam und sehr vage in meinem müden Gehirn. Ich konnte es nur nicht fassen oder eher nicht glauben. Wie konnte ich vor einem Jahr etwas vollbringen, was ich immer noch sorgfältig plane, wo ich erst jetzt so mühsam dahintergekommen bin, wie ich mich ihrer entledigen kann. Was haben sie da von einem Medaillon gefaselt? Sie trug doch nie Schmuck, so schmucklos, wie sie nun war. Ich soll sie ertränkt haben?

Ich soll sie tatsächlich den Fischen zum Fraß vorgeworfen haben? Psssst! Sie kommen! Ich höre sie kommen … Sie kommen bestimmt, um mich zu holen. Soll ich mich schlafend stellen? Oder soll ich mich lieber tot stellen? Das Fenster ist vergittert, und es wäre sowieso zu hoch für einen Sprung. Der Doktor wird mich nicht freigeben! Er wird mich bestimmt nicht freigeben, er sagt doch, dass ich mich noch erholen soll. Und ich bin bestimmt noch nicht erholt. Mein Kopf fühlt sich gar nicht danach an. Ich krieche jetzt einfach unter die Decke, und wenn ich mich abgeschaltet habe, dann ist es, als ob es mich nicht gäbe. Als ob es niemanden unter der Decke gäbe. Als ob es mich nie gegeben hätte. Nie und nimmer …

Achtungsvoll, Josef

Bevor es mich umgefegt hat, hörte ich noch diese Stimme, und jemand packte mich so richtig unsanft am Schopf. Aber es war zu spät – ich fühlte schon die Messerklinge zwischen den Rippen. Dieser verdammte Kerl! Ich meine denjenigen, der mich abgemurkst hat, nicht die Stimme … Das tat höllisch weh, das können Sie mir glauben, Herr Doktor. Dass der andere gewusst hat, was der Schuft mit mir vorhatte! Wie auch immer, es ist ihm nicht gelungen, mich heil aus der Spelunke herauszubringen. Als ob ich nicht wüsste, warum ich den Löffel abgeben sollte. Warte mal! Wenn’s den mal erwischt, da wird er sich wundern, wie kurz der Weg zum Feuerkessel ist. Ich kenne mich nämlich mit den Schleichwegen aus. Wer wird ihn auf kurzem Pfad zur Hölle schleifen?! – Ich, der Josef, der es nicht abwarten kann, ein bekanntes Gesicht (wenn man seine Fresse so nennen kann) am besagten anderen Ufer zu treffen. Was mit der Stimme los ist? Da fragen Sie den Falschen. Ich hab mich ja auch schon gefragt, wer das gewesen sein mag. Ihm hat was an mir gelegen, das konnte ich deutlich spüren. Da kann’s ja kein Mensch gewesen sein, will ich mal vermuten. Wer zum Geier hätte schon für mich einen Finger krumm gemacht … Der Schutzengel wird’s wohl auch nicht gewesen sein, so wie der mich beschimpft hat. Wüste Beschimpfungen hat er mir an den Kopf geworfen. Gut gemeint, aber eben kaum engelhaft. Oder können Sie sich vorstellen, dass der eigene Schutzengel mich einen Bastard schimpft? Der hat rumgedonnert, hat mir Vorhaltungen gemacht! Wegen Verschwendung, versautem Leben, ich solle mich einkriegen … Solche Sachen eben. Hatte auch Recht, muss ich schon zugeben. Wenn ich nicht so besoffen gewesen wäre, hätte der Trottel mich nicht so einfach um die Ecke gebracht. Büßen soll er das, büßen! Aber damit muss ich wohl noch ein bisschen warten. Jawohl, Herr Doktor, zurück zu dem Nicht-Menschen und Kaum-Engel. Wie soll er denn geklungen haben? Irgendwie kam mir die Stimme bekannt vor. Der Geier weiß, woher.

Der hat mich also richtig in die Mangel genommen. Etwa so:

„Du, Joseph, alter Aasgeier! Du Bastard! Elender Halunke! Was suchst du hier in der verkommenen Spelunke, wo du dein Leben hingeblättert hast wie die verklebten Scheine, die du dem Blödmann Sepp wie ein verdammter Gauner abgezockt hast? Hat dir der liebe Gott dein Leben hingeschmissen wie einen Lappen, den du so ohne weiteres vermissen kannst?! Wie kannst du noch beweisen, dass du der Joseph bist, wenn du im Suff den Namen eines andern stammelst und am Ende ganz vergammelst, bis du dich selbst im Spiegel nicht mehr erkennst? Bekennst du deine Schuld und Schuldigkeit vor Gott, bevor dich noch so ein Zerrupfter absticht – reif für den verdienten Schrott! Komm hier heraus, bevor du fällig bist und ich die mir verliehene Geduld mit dir verbraucht hab!“

Ja, jetzt kann ich mich genau erinnern: Er hat sich dauernd über die Aufgabe beschwert, auf mich aufpassen zu müssen, und jammerte darüber, dass ich, so besoffen wie ich nun einmal war, immer in der Pfütze landete. Der erzählte was über seine weiße Weste, die ich gefälligst nicht bespritzen solle. Ich konnte die ja gar nicht sehen, weil ich ja nur die Stimme gehört habe. Außerdem läuft in dem Dreckloch keiner mit einer weißen Weste herum.

Unfug, sag ich dazu. Unfug! Aber aus irgendwelchem Grunde war ich nicht sauer auf ihn. Obwohl er dauernd über mich hergezogen ist. Irgendwie fand ich das sogar rührend, dass der auf mich aufpassen wollte. Tut ja sonst kein Schwein. Wie auch immer! Es hat nichts genützt, ich landete mit der Fresse im Dreck und blutete wie ein … Sie wissen schon.

Und dann war ich tot. Sie sind es bestimmt auch, Herr Doktor. Aber das wissen Sie doch! Oder? Ich weiß Bescheid. Da wundern Sie sich! Klar müssen Sie tot sein. Doktor oder Depp, der Sichelmann macht da keinen großen Unterschied. Ha! Ist eigentlich witzig! Sie wussten das nicht?! Dann fragen Sie sich einfach, wieso Sie mich überhaupt hören können! Die anderen, ich meine diejenigen, die im Gegensatz zu uns beiden noch unter den Lebenden weilen, können das nämlich gar nicht. Bis auf mein eigenes Weib vielleicht. Bei der war ich gar nicht so sicher, ob sie mich nicht doch an der Decke herumhängen sehen konnte oder mich da oben schweben sah. Ich frag mich, ob sie mich nicht eher hören konnte, als sie dauernd zur Decke starrte. Ihr Blick war so wachsam, ich konnte fühlen, wie sie die Ohren spitzte. Die hat Ohren wie eine Fledermaus, müssen Sie wissen, Herr Doktor. Ein Prachtstück von einem Weib! Ein Glück, dass ich sie damals Bärbel vorgezogen hab’, in die ich nämlich verknallt war, bevor sie, vor jämmerlichem Stolz strotzend, diesen Kümmerling von einem Apotheker angeschleppt hat. Dann war es vorbei. Der Ofen war aus. Sie hätte sich mir an den Hals werfen können, ich hätte nur gelacht! Und das, nachdem ich mich wie ein Irrer abgeplagt hatte, um das unvernünftige Weibsstück mit Klängen meiner Harmonika anzulocken. Es hat eben nicht sein sollen. Das Schicksal hat was Besseres mit mir vorgehabt. Glauben Sie an so was wie Fügung, Herr Doktor? Ich schon. Ich hab mir mit meiner Harmonika für ein Mädel die Seele wundgespielt, und eine andere erhörte sie. Ich meine, meine Seele … und meine Harmonika, denn mit meinem Verstand war wohl nicht viel los, sonst hätte ich mich doch nicht von diesem Tunichtgut um die Ecke bringen lassen. Aber was soll’s … Wenigstens hat man sich mit meinem Begräbnis einige Mühe gemacht. Hätte ich nie gedacht! Man hätte fast glauben können, denen hätt’s echt leid getan, dass ich, das heißt, meine starre Hülle, da so hilflos im Sarg lag. Als ich mir das so aus meinem Blickwinkel, sprich von der Decke herab, angesehen habe, hab ich so was wie Freude verspürt. Muss ich schon zugeben. Aha, dachte ich mir, jetzt, wo ich nicht mehr da bin, wo es mich nicht mehr gibt, da klafft doch ein Loch, wo es einst den Joseph gegeben hat. Schaut zu, wie ihr damit fertig werdet! Da wisst ihr endlich, was ihr an mir verloren habt!

Ein Prachtbild war das, die alle um mich herum versammelt zu sehen. Mit langgezogenen Gesichtern und den geschwollenen Reden. Wie gesagt, das hätt’ ich denen nicht zugetraut. Das Prächtigste daran war, dass ich das voll auskosten konnte, da ich wohl noch nie so stocknüchtern gewesen war wie bei dieser Feier. Zumindest seit ich überhaupt zurückdenken kann. Als ob der ganze Suff, den ich mir angetrunken hatte, bevor ich ins Gras gebissen hab’, da unten in der Eichenkiste mit meinen Überresten zurückgeblieben wär’. Ich war so klar in meinem Oberstübchen, dass es sich dafür fast gelohnt hätte, hier oben wie ein körperloser Hampelmann herumzuhängen und die Meute zahnlos anzugrinsen. Herrlich! Einfach herrlich! Das muss ich Ihnen, Herr Doktor, genauer schildern! Sie wollten ja sowieso wissen, woran ich mich zuletzt erinnern kann.

Daran …

„Kommt rein, kommt rein, verehrte Gäste und staut euch nicht vor meinem Tor! Ich liebe eure langgezogenen Gesichter! Kommt, lest mit Ausdruck eure Trauerreden vor. Was war ich doch für ein Geschenk des Himmels! Lasst eure Glocken für mich bimmeln! Was sagtest du gerade, Tante Ros? Als ich dir damals von der Torte eine Kirsche klaute, da warst du untröstlich und so erbost … Ach, Tante Ros, das hast du doch bewusst vergessen und drückst nun pflichtbewusst die Tulpe auf die Brust. Die Tränchen fehlen noch, dein Beileid ist zu kurz bemessen, stell dir nur vor – du schneidest Zwiebeln und legst sie dann auf eine Leberwurst! So wird es dir gewiss gelingen, zwei nette Tränen zu vergießen. Du musst nur denken – oh, sein Tod tut mir so weh! – und dann die Augen schließen. Ach, Onkel Sepp, nun werde nicht geschmacklos, lass mein verwesendes Skelett nicht vor Entsetzen klappern! Ergieß dein Lob gefälligst über … sonst was. Dass du mein Weib begehrt hast, darüber werden im Stall wohl alle Gänse schnattern. Wer hat mich denn in diese Kiste eingepackt und lässt den Schmalz in meine kalten Ohren triefen? Du, Anton, du verhasster Mistkerl! Du rammtest mir im Dunkeln deine Klinge genau zwischen die zweite und die dritte Rippe. Na warte, bis es bei dir klingelt! Geht, liebe Gäste, geht, verzehrt den Leichenschmaus, lasst keinen Krümel für die kleine Maus, die einzige, die mich, nicht meinen Leichnam, wittert, sie guckt mich an und zittert. Sei nur beruhigt, Maus, mit dem Gewicht zerdrück ich nicht einmal die Mücke auf dem Hut, auf den ich nun von oben blicke, indem ich mich bequem an die verrußte Decke drücke, ich, der Geist des verstorbenen Joseph, Gott sei meiner Seele gnädig, meuchlerisch erstochen in einer sternlosen Nacht am 16. November 1863. Der Schuft steht dicht hinter euch, plärrt sein Beileid vor, indem er mit seinen kleinen stechenden Augen mein treues Weib Margarete bestichelt. Margi, Margi, wenn du den Mistkerl erhörst, dreh ich mich in meinem Grabe um. Das sag ich dir! Dann hast du einen Spuk am Hals, Margi, und keine Wärmflasche hilft dir gegen kalte Füße. Trauere brav um mich, Margarete, am warmen Ofen. Das Holz, das ich für uns gehackt habe, reicht bis zum Frühjahr. Jetzt dürft ihr mich getrost unter die Erde schubsen. Amen. Hochachtungsvoll – Joseph.“

Joseph Klinger schloss die Augen und blendete den Rest des fremden Jahrhunderts aus. Dr. Brigg begab sich in sein Büro und griff wenige Minuten später nach dem Hörer: „Rob, schön, dass du da bist. Ich hab da so eine plötzliche Eingebung. Du machst doch diesen – sorry – Hokuspokus mit der so genannten Rückführung. Weißt du noch, du hättest auch Dolly ein paar Jahrhunderte zurückgeblendet. Und sie hätte altchinesisch gesprochen … Ally hat mir dieses Schauermärchen erzählt. Tja, du weißt, wie ich darüber denke. Als Psychiater … Nur … ich hab da so einen ungewöhnlichen Fall. Totale Amnesie nach einer Stichverletzung in einer Kneipe. Ist längst zu sich gekommen, die Wunde ist verheilt, aber … halt dich fest, er kann sich an gar nichts mehr erinnern, erkennt keinen aus seiner Umgebung, nicht einmal seine eigene Frau, und jetzt kommt’s – ist felsenfest davon überzeugt, sein Todestag wäre der 16. November 1863. Er ist überzeugt, er wäre ein Geist. Versuchte sogar, mich zu überzeugen, ich wäre ebenso tot, weil ich ihn wahrnehme. Das klingt jetzt irre, aber angenommen, an diesen Rückführungen wäre was dran. Da könnte man doch rein theoretisch denjenigen nicht nur zurückführen, sondern ihn auch in der Zwischenstation abholen. Und herholen. Ha! Die Vorstellung ist echt witzig! Bei einem Psychosefall ist Hypnose eigentlich nicht angebracht … Tja, in diesem speziellen Fall kann man sowieso nicht viel kaputt machen … Nein, die verabreichten Medikamente schlagen bei ihm nicht an. So überzeugend wie der klingt, glaube ich bald selbst, der wäre dieser abgestochene Joseph … Du hast gut lachen! Also abgemacht. Danke. Grüß Dolly von mir.“

Nikodemus

„Guten Morgen, Herr Doktor! Sie hoffen bestimmt, dass ich heute, um Ihren Tag zu retten, von meiner Geschichte abrücke. Tut mir aufrichtig leid, Sie zu enttäuschen, ich bleibe dabei. Ich bin auch heute noch derjenige, der ich bin – Nikodemus, ein Engel, der den Auftrag befolgt, einige von euch Sterblichen ins Jenseits zu befördern, nämlich diejenigen, die den Himmel durch ihre Bosheit entrüstet haben, aber zu rüstig sind, um durch ein körperliches Leiden das Zeitliche zu segnen. Dann sind sie auch noch zu schlau, um unter einen Wagen zu laufen oder sich von einem Blitz treffen zu lassen. Und für diesen Fall sind meine Dienste vorgesehen. Das sind meine Fälle. Ich eile herbei, verschaffe mir unmittelbare Nähe zu dem Verurteilten und hauche ihn an. Nichts weiter. Man hat Sie bestimmt in Kenntnis gesetzt, dass ich die Verstorbene nicht einmal berührt habe. Gewiss war ich derjenige, der sie zuletzt lebend gesehen hat. Wie denn sonst? Wenn ich einmal jemanden angehaucht habe, bekommt ihn niemand mehr lebend zu sehen. Das behaupte ich ja die ganze Zeit! Habe ich denn versucht, meine Tat zu leugnen? Nein! Deshalb bin ich ja in Ihrer Obhut.“

Antony Brigg kniff die Augen zusammen. Es war der dritte Tag, den der „Engel“ in seiner Obhut verbrachte. Und es war der erste „Engel“, mit dem er sich in seiner langjährigen Praxis zu befassen hatte. Nikodemus wurde vor drei Tagen verhaftet, nachdem die Nachbarin der plötzlich verstorbenen Dame den Vorfall beobachtet und die Polizei benachrichtigt hatte. Das, was sich vor den Augen der Zeugin abgespielt hat, war wirklich äußerst seltsam. Die Zeugin ließ sich nicht von der Idee abbringen, der merkwürdige Besucher hätte den Tod ihrer Nachbarin verursacht. Man fragt sich bloß, wie er das angestellt haben mag. Die äußere Erscheinung des vermutlichen Täters war auffällig genug, um ihn ohne große Mühe aufspüren zu können. Er ließ sich auch mit freundlichem Lächeln verhaften und verhören, ohne sich dagegen zu wehren. Er gab sogar gerne zu, dass es seine Absicht war, die besagte Dame ins Jenseits zu befördern, obwohl man ihm den „Mord“ gar nicht nachweisen konnte. Dr. Brigg las das Protokoll etliche Male eingehend durch, um kein einziges Detail dieses merkwürdigen Falles zu übersehen. Aber da gab es eigentlich nichts zu übersehen. Das einzig Merkwürdige an der Geschichte war, dass Nikodemus sich freiwillig zu einer Tat bekannte, die er anhand der Tatsachen gar nicht begangen haben kann.

Die Zeugin hatte beobachtet, wie er sich der Verstorbenen näherte, mit ihr ein paar Sätze wechselte, woraufhin sie zu Boden sank und regungslos auf dem Rasen liegen blieb. Nikodemus blieb ein paar Sekunden neben ihr stehen, drehte sich um und ging einfach weg …

Er eilte nicht zum Telefon, rief nicht nach Hilfe und machte sonst nichts, was man normalerweise im Notfall tut. Er hatte es nicht einmal eilig, das Grundstück zu verlassen. Er drehte sich nicht um und schien nicht einmal beunruhigt oder sogar ängstlich zu sein. Als ob es die normalste Sache der Welt wäre, dass die Dame nach ein paar Worten mit ihm tot umfiel. Eigentlich konnte er nicht einmal wissen, ob sie tot war oder nur ohnmächtig geworden war. Das schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Das war eigenartig, ansonsten hätte man ihm gar nichts anlasten können, wenn er sich nicht selbst des Mordes bezichtigen würde. Die Ursache des Todes war plötzlicher Herzstillstand. Was an sich seltsam war, da die Dame laut Hausarzt keine Herzbeschwerden hatte. Ganz im Gegenteil, sie erfreute sich einer außerordentlich robusten Konstitution. Die Tote war eine kräftige, große Frau, die an dem besagten Morgen ihren Rasen mähte und laut Nachbarin wohlauf war und sogar besser drauf war als sonst. Als man die Zeugin danach fragte, was sie wohl mit dem „besser drauf sein“ meinte, schmunzelte sie und sagte, Frau Kolber, so hieß die Verstorbene, wirkte an dem besagten Morgen etwas freundlicher als sonst, was den Inspektor zu der nächsten Frage veranlasste: „Würden Sie Frau Kolber als eine unfreundliche Zeitgenossin bezeichnen?“ Die Zeugin meinte, man solle ja über die Verstorbenen nichts Nachteiliges sagen, aber wenn man sie schon danach frage, dann laute die Antwort: Leider ja. „Hat der Besucher Frau Kolber angefasst?“ – „Nein. Er stand einen halben Meter von ihr entfernt, soweit ich das beurteilen kann.“ „Hat er sie angeschrien? Oder auf irgendeine Weise bedroht? Würden Sie seine Haltung als bedrohlich bezeichnen?“ – „Nein. Nein. Nein. Wenn er geschrien hätte, hätte ich das bestimmt gehört. Ich war etwa 50 Meter von den beiden entfernt. Ich arbeitete in meinem Garten. Ich konnte seine Stimme überhaupt nicht hören. Frau Kolber dagegen ist laut geworden und wollte den unerwünschten Besucher von ihrem Grundstück vertreiben. Man könnte fast sagen, sie hat sich aufgeregt, schrie den Mann an und bekam eine Herzattacke. Nur dass sie ziemlich oft zornig war, ohne gleich tot umzufallen. Sie war ein wirklich robuster Typ, wenn Sie wissen, was ich meine.“

Am Körper der Verstorbenen fand man keinerlei Anzeichen von Gewalteinwirkung. Ein schöner glatter Herzstillstand, wenn auch völlig unmotiviert. Man fragte sich, was der Eindringling der Verstorbenen gesagt haben könnte. War es eine üble Nachricht, die der Betroffenen einen Schock versetzt hat? Als man den Verhafteten danach fragte, strahlte er: „Ich habe ihr gesagt: Ich bin gekommen, um dich zu holen. Du bist ein böses Mädchen gewesen, Karin. Du hast an einem Wintertag bei klirrender Kälte dein einziges Kind ausgesetzt. Du hast es netten Leuten vor die Haustür gelegt und es erfrieren lassen. Du hast damit nicht nur dein eigenes Kind getötet, du hast auch einer guten Frau das Herz gebrochen und einer netten Familie den Frieden geraubt. Du hast das Verbrechen aus purer Grausamkeit begangen und aus Rache. Du hast deine Untergebenen terrorisiert, du hast deine Geschwister betrogen. Hast du was zu deiner Verteidigung zu sagen, fragte ich den Regeln entsprechend. Die Frau fing an, mich zu beschimpfen. Da kam ich unmittelbar zum Schlussakt und habe sie angehaucht. Ich hatte keine Lust, mir ihre Beschimpfungen anzuhören. Außerdem war sie sowieso dem Tode geweiht. Da dachte ich mir, bringen wir es schnell hinter uns, und ließ sie sterben. Sie hat auch keine Reue gezeigt, was im Angesicht des Todes angebracht gewesen wäre. Die Frau war durch und durch verdorben. Glauben sie mir das. Wer hätte sie sonst holen sollen? Etwa Sie? Keiner außer mir hat etwas über ihre Missetaten gewusst.“

„Die Frau hat also ihr Kind ausgesetzt und erfrieren lassen. Woher haben Sie das gewusst?“

„Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass ich ein Engel bin? Die Frau stand auf meiner Auftragsliste unter Nummer 499. So musste sie eine Weile warten, bis ich mich ihr zuwenden konnte. Die anderen gingen vor. Die waren noch viel schlimmer als die Rabenmutter.“

„Sie wollen doch damit nicht andeuten, dass Sie 498 andere Personen umgebracht haben, bevor Sie sich Frau Kolber vornahmen?“

„Umgebracht ist nicht der richtige Ausdruck für das, was ich tue. Aber wenn Sie wollen …“

„Wie viele Personen stehen denn auf Ihrer Todesliste?“

„500. Dann habe ich meinen Auftrag erfüllt und kann zurücktreten.“

„Was meinen Sie genau mit ‚zurücktreten‘?“

„Ich mache mich auf den Heimweg. Wo mein Zuhause ist, können Sie ja erahnen. Ich habe Ihnen doch gesagt, wer ich bin.“

Den Rest des Dialogs überließ der Inspektor Dr. Brigg, der nun versuchte, auf die „Engelspsyche“ umzusteigen: „Sie sind also so etwas wie ein Todesengel und arbeiten sich durch Ihre Todesliste durch. Wieso ließen Sie sich erwischen? Als Engel müsste man doch über gewisse Spielräume verfügen. Ein Engel, der seinen Auftrag erledigt, müsste einen entsprechenden Schutz von oben genießen. Sie tun ja schließlich Ihre Arbeit. Wieso sorgen Ihre Auftraggeber nicht für Ihre Sicherheit?“

Nikodemus lachte herzlich auf: „Eine logische Frage. Aber ich verspreche Ihnen, Sie kommen bald dahinter. Ich habe auch all Ihre Fragen gern beantwortet. Wieso fragen Sie mich nicht, warum ich mich selbst belaste? Es liegt schließlich auch im Fall ‚Rabenmutter’ nichts gegen mich vor. Ich habe mit der Frau nur geredet. Dafür gibt es eine Zeugin.“

„Gut, dann frage ich Sie, wieso belasten Sie sich selbst?“ – „Gut gefragt, Herr Doktor! Fragen Sie Ihren sechsjährigen Sohn, warum Nikodemus die Wahrheit gesagt hat.“ Dr. Brigg rieb sich unbehaglich die Stirn. „Woher wissen Sie, dass ich einen Sohn habe?“ – „Sie kennen die Antwort. Keine Bange, ich hab es nicht auf Ihren Sohn abgesehen. Er steht nicht auf meiner Auftragsliste. Er ist ein lieber Junge.“ – „Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Woher kennen Sie meinen Sohn?“ – „Herr Doktor, Sie haben Glück, dass ich ein Engel bin. Unsereiner ist bekanntlich geduldig. Wenn Sie also Ihren Sohn fragen würden, warum Nikodemus Ihnen die Wahrheit nicht vorenthält, so würde er Ihnen ganz erstaunt antworten: Papa, du weißt doch, Engel können nicht lügen.“ – „Gut, wir Menschen lügen, um uns zu schützen. Was ist mit euch Engeln? Verfügen Sie nicht über übernatürliche Kräfte und über die Fähigkeit sich wegzubeamen, wenn Gefahr droht?“ – „Sie wollen wissen, warum ich mich nicht dematerialisiert habe, um der Polizei zu entwischen.“ Dr. Brigg nickte. „Ich bin kein Engel dieser Art. Meine Artgenossen sind fest in der Materie verankert, bis sie ihren Auftrag erfüllt haben. Dann sind sie frei und dürfen die Erde verlassen.“ – „Wie gedenken Sie, Herr Nikodemus, Ihren letzten Auftrag zu erfüllen? Ihre Bewegungsfreiheit ist momentan ziemlich eingeschränkt.“ – „Das macht nichts. Das ist mir schon recht.“

„Ich möchte es aber genau wissen. Sie haben vorhin behauptet, Sie dürften in Ihrem Engelsamt nicht lügen. Ich gebe zu, es ist unfair von mir, Sie zu erpressen. Aber ich bestehe darauf, dass Sie meine Frage beantworten!“ Nikodemus strahlte, die Frage schien ihn zu erheitern.

„Sehr gern, Herr Doktor! Ich hätte aber eine kleine Bitte. Mir ist die Kehle ausgetrocknet, ich hätte gern einen Kräutertee. Lassen Sie bitte Oberschwester Agathe den Tee bringen, und ich stehe Ihnen voll zur Verfügung.“

„Woher kennen Sie Schwester Agathe?“ – „Sie kennen die Antwort, Herr Doktor!“ – „Gewiss, Sie sind doch ein Engel!“ Dr. Brigg läutete und teilte der herbeieilenden Schwester mit, die Oberschwester Agathe möchte eine Tasse Kräutertee persönlich vorbeibringen. Es interessierte ihn brennend, ob die Schwester den Patienten kannte. Die Oberschwester erschien mit dem Tablett und stellte es schweigend ab. Erst dann schaute sie flüchtig den Patienten an und erstarrte. Dr. Brigg beobachtete die Szene neugierig, bis ihm die etwas veränderte Stimme des Patienten einen Schauer über den Rücken laufen ließ.

Nikodemus starrte Schwester Agathe unentwegt an und sprach zu ihr: „Agathe, du warst ein böses Mädchen! Und du weißt es. Du hast aus Bosheit deinen Sohn ins Unglück gestürzt. Du hast deine Schwiegertochter des Diebstahls bezichtigt und sie unschuldig hinter Gitter gebracht. Du hast deinem Sohn das Herz gebrochen und ihn in den Selbstmord getrieben. Du hast deine Enkelin zur Waise gemacht und ihre Seele vergiftet. Es ist Zeit für dich, aus dem Leben zu scheiden, damit du keinem mehr Schaden zufügen kannst. Empfindest du Reue? Nein. So musst du sterben!“

Im Gesicht der Schwester spiegelte sich Entsetzen. Oder Todesfurcht? Sie war offensichtlich außerstande, ein Wort hervorzubringen. Nikodemus stand feierlich auf und hauchte die reglose Oberschwester an. Einen Augenblick später sank sie zu Boden.

Dr. Brigg tastete entsetzt nach ihrem Puls und stellte fest, dass die Frau tot war. Er schaute fassungslos zu Nikodemus, der zufrieden lächelnd wieder auf seinem Stuhl saß. „Somit ist Ihre Frage beantwortet, Herr Doktor. Mein Auftrag ist erfüllt. Da ich, wie gesagt, leider nicht die Fähigkeit besitze, durch Wände zu gehen, was man von Engeln erwartet, musste ich Ihnen unweigerlich einen Besuch abstatten. Meine Todeskandidaten lassen sich nämlich nur aus unmittelbarer Nähe anhauchen. Jeder hat seine eigene Arbeitstechnik, wie ihr Menschen so sagt. Jetzt bin ich etwas erschöpft und muss ein Nickerchen machen. Sie müssen mich entschuldigen, Herr Doktor.“

Nikodemus schloss friedlich die Augen und missachtete den im Raum entstandenen Tumult. Dr. Brigg verließ den Raum mit den anderen vier Kollegen, die ihm zu Hilfe geeilt waren. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, aber es gelang ihm nicht. Er empfand nichts außer Bestürzung und ärgerte sich über seine komplette Verwirrung. Ich muss über mich hinausdenken, sagte er sich. Es muss dafür eine logische Erklärung geben, denn die gibt es für alles. Nehmen wir einfach an, der Mann kommt an geheime Informationen heran, mit denen er seine Opfer schockartig konfrontiert und ihnen den Schreck ihres Lebens verpasst. Der Überraschungseffekt wird noch dadurch verstärkt, dass er sich als mystischer Richter aufspielt. Alle verborgenen Entlarvungsängste kommen schlagartig hoch, und das Opfer bricht in sich zusammen. Der Mann hat erstaunlich dramatische Talente. Er drückt auf den richtigen Knopf. Und bringt den richtigen Zündstoff. Es ist wahrhaft erstaunlich, wie überzeugend er wirkt. Seine Stimme hat sogar mir, einem erfahrenen Psychiater, Schauer über den Rücken gejagt. Der Mann ist einfach genial! Eine Verschwendung. Morgen rede ich mit ihm und frage ihn, wie er die Geheimnisse seiner Opfer erschleicht. Wenn er sich weigert, mir seine Quellen zu verraten, erinnere ich ihn daran, dass Engel nicht lügen dürfen. Diese und ähnliche Überlegungen brachten Dr. Brigg endlich die nötige Entspannung. Er verfiel kurz nach Mitternacht in einen tiefen, aber wenig erholsamen Schlaf.

Am nächsten Morgen fand er Nikodemus beim Frühstück vor und versuchte mühsam eine gleichmütige Miene aufzusetzen. Nikodemus begrüßte ihn freundlich: „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, Herr Doktor! Es täte mir aufrichtig leid, wenn ich Sie um Ihre nächtliche Ruhe gebracht hätte. Ich finde unsere Gespräche trotz Ihrer Weigerung, der Wahrheit ins Auge zu schauen, recht erbaulich. Nur Ihretwegen habe ich noch eine wenig erholsame Nacht in dem tristen Hause verbracht. Aber was soll’s! Ich habe Sie eigentlich noch gestern erwartet, aber ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie mich nach der Aufregung des Tages nicht mehr mit Ihrem Besuch beehren wollten. Sagen Sie mir nicht, Sie würden um diese armselige Schwester Agathe trauern. Und fragen Sie mich bitte nicht, woher ich all die grässlichen Dinge über die Leute hernehme. Das wollten Sie mich doch fragen, oder?“

„Sie haben es erraten“, antwortete Dr. Brigg gereizt. Nikodemus setzte sein freundlichstes Lächeln auf und schlug einen Ton an, den man liebevoll bei begriffsstutzigen Kindern einsetzt: „Nur weil ich Sie zufälligerweise mag, sage ich Ihnen zum hundertsten Mal: Weil ich ein Engel bin. Und damit Sie mir nicht etwas Geringeres unterstellen, wie etwa eine durchaus ehrwürdige Fähigkeit, das Unterbewusstsein der Menschen anzapfen zu können, verrate ich Ihnen ein paar Informationen, die ich unmöglich aus Ihrem Unterbewusstsein herausholen könnte, weil sie da gar nicht gespeichert sind. Sie können sie aber nachprüfen, wenn Sie Ihre Frau Ally danach fragen.“

Dr. Brigg zuckte bei der unerwarteten Erwähnung seiner Frau sichtlich zusammen und ärgerte sich gleich wegen seiner mangelnden Selbstbeherrschung. Ich frag ihn nicht, woher er weiß, dass meine Frau Ally heißt. „Herr Doktor, ich flehe Sie an, glauben Sie mir einfach, dass Ihre Familie vor mir sicher ist. Und nun hören Sie zum Abschied, was ich Ihnen zu sagen habe. Sie erinnern sich bestimmt an den Tag, an dem Sie mit der Cousine Ihrer Frau nach einem Stadtbummel dieses freundliche Zimmer mit den hellgrünen Vorhängen betreten haben, und diese Frau, sie hieß doch Rovena, begann Sie zu bedrängen. Sie wollte Sie zurückgewinnen, und Sie haben sie sehr entschieden in die Schranken gewiesen. Später machten Sie sich sogar Vorwürfe und fragten sich, ob Ihre rigide Zurechtweisung die Frau nicht etwa in den Selbstmord getrieben hätte. Darum sollten Sie sich übrigens keine Sorgen machen. Es tut mir aufrichtig leid für Sie und Ihre Frau. Sie ahnen bestimmt, dass Ihre Frau Ally immer noch sehr unter dem tragischen Vorfall leidet. Ich würde Ihnen sogar raten, das Haus zu verkaufen. Fragen Sie noch heute Ihre Frau, ob sie sich das wünscht. Sie werden überrascht sein zu hören, dass sie sich nach einem neuen Zuhause sehnt, nach einem Ort, an dem keine düsteren Erinnerungen haften. Aber das wussten Sie ja. Mehr oder weniger. Was Sie nicht wussten, ist ein kleines Geheimnis Ihrer Frau, das ich Ihnen verraten werde. Sie hat an jenem Tag unfreiwillig Ihr Gespräch mit Rovena belauscht, denn sie kramte in der Rumpelkammer hinter dem Vorhang, als sie das Zimmer betraten. Sie wartet immer noch vergebens darauf, dass Sie ihr aus eigenem Antrieb von diesem fatalen Gespräch erzählen. Das können Sie ebenso gut heute Abend erledigen, wenn Sie auf meinen Rat hören wollen. Und vergessen Sie nicht meinen Vorschlag, in ein anderes Haus zu ziehen. So werden Sie den bösen Spuk los. Und jetzt, Herr Doktor, ist die Zeit reif zum Abschied. Ich muss weg, mein Auftrag ist erledigt. Leben Sie wohl!“ Dr. Brigg schaute sein Gegenüber reglos an. Auch wenn er den Willen aufgebracht hätte, einen Finger zu rühren, hätten seine Muskeln auf keine Befehle reagiert.

Nur seine Augen schienen die Fähigkeit beizubehalten, das Unglaubliche, das sich in den nächsten Augenblicken in seiner Gegenwart abspielte, zu fixieren und in ein paar Zellen des mattgesetzten Gehirns zu leiten. Sonst hätte er das, was eben geschah, später nicht einmal bezeugen können. Nikodemus schmunzelte verschmitzt und beehrte ihn mit seiner letzten Vorführung. Er, der durchaus realistisch geprägte Wissenschaftler, war auserkoren, als Publikum für das skurrile Spektakel herzuhalten und ein Geschehen zu protokollieren, das in kein Protokoll passte. Nikodemus hob die Hände, hielt sie vor sich hin, und hauchte seine Handflächen bedächtig an, zuerst die Linke, dann die Rechte.

Dr. Brigg beobachtete fasziniert seinen Gesichtsausdruck. Das etwas infantile Gesicht des Mannes leuchtete auf, dann schloss er die Augen und lehnte sich zurück. Ohne sich gerührt zu haben, wusste Dr. Brigg, der Mann war tot. Zu gut kannte er das Siegel des Todes auf dem Gesicht eines Dahingeschiedenen. Nikodemus hatte sich weggehaucht.

Später, als Dr. Brigg die Fähigkeit zurückgewann, seine Glieder zu bewegen, konnte er sich vergewissern, dass seine überhitzte Fantasie ihm keinen Streich gespielt hatte. An diesem Tag hätte Dr. Brigg keine detaillierte Beschreibung des Nachmittags liefern können, er wusste auch nicht genau, wie er nach Hause gekommen war. Am nächsten Morgen stand sein Wagen vor der Tür, was darauf schließen ließ, dass er selbst heimgefahren sein musste. Keiner behauptete das Gegenteil.

Am Morgen wachte er mit rasenden Kopfschmerzen auf, rief in der Klinik an und beschloss, den Tag mehr oder weniger im Bett zu verbringen. Ally lief mit besorgtem Gesicht umher und fütterte ihn mit Aspirin. Ein dichter Nebel entrückte die Welt draußen, hinter dem Fenster. Die hellgrünen Vorhänge seines Lieblingszimmers hingen welk an den Fenstern wie ein Symbol verblasster Heiterkeit. Oder war der Nebelschleier, der die Welt verhüllte, nur eine Einbildung? Und er projizierte nur die verwaschene Seite seines müden Gemüts auf die von Ally liebevoll ausgesuchten Vorhänge. Die Stille im Haus barg einen wehmütigen Ton der Verlassenheit.

Als ob das Haus schon etwas wusste, was wir uns noch nicht eingestanden haben, dachte er. Antony Brigg rief nach seiner Frau, und sie konnte ihn nicht hören. Ihn beschlich das seltsame Gefühl, die Wände würden sich weigern, seine Stimme weiterzuleiten. Das Haus verweigerte ihm das Echo und sperrte sich! Wenn ich nicht vollkommen durchdrehen will, muss ich nach Ally suchen, dachte er und schluckte noch eine Aspirintablette. Vielleicht ist sie ja im Garten oder im Keller und kann mich gar nicht hören. Mit der Hoffnung, sein Gespür für die Realität zurückzugewinnen, wanderte er durch das Haus und entdeckte Ally im Nebenzimmer. „Hast du mich nicht gehört? Ich habe nach dir gerufen“, fragte er hoffnungsvoll. Das Erstaunen in Allys Gesicht wich wieder dem besorgten Blick, den sie ihm seit gestern Abend verstohlen zuwarf. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, dachte er. „Ally, ich muss mit dir reden …“ Ally blickte ihn dankbar an: „Ich auch …“ Aber es war doch noch nicht der richtige Augenblick, denn der Kleine platzte herein und trillerte sonnig eine drollige Melodie.

Antony schloss die Augen und verkündete sein Vorhaben, seine Grippe oder was auch immer es sein mag, in der wohligen Geborgenheit seines Bettes auszubrüten. „Wir reden später, Liebling“, meinte Ally und dirigierte ihn resolut in Richtung Schlafzimmer.

Das Haus der Fiktionen

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