Читать книгу Rogue - Elena MacKenzie - Страница 6
Kapitel Zwei
ОглавлениеRogue stieß langsam den Atem aus, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen vor der brennenden Sonne. Er nahm den Helm vom Kopf und schaltete den Motor der Harley aus. Er hatte einen schmalen, unbefestigten Wanderweg in den Aiako Harria Nationalpark genommen, der nur eine knappe Stunde nördlich von Tolosa lag. Weit genug, um ein ruhiges Wochenende ganz allein zu verbringen und nah genug, um im Notfall erreichbar zu sein. Auch wenn erreichbar bedeutete, dass jemand vom Club hier rauskommen und ihn im siebzig Quadratkilometer großen Naturpark zu Füßen des 821 Meter hohen Txurrumurru Gipfels suchen musste, was ziemlich unwahrscheinlich war.
Genau deswegen vertraute Rogue jetzt schon seit vier Jahren darauf, dass er hier draußen einfach nur für sich sein durfte. Rage, sein leiblicher Bruder und Vize, er wurde als Darran geboren, würde den Club schon nicht in einen Krieg mit den beschissenen Spanish Horses reiten während seiner Abwesenheit. Diese zwei Tage Wildnis um sich herum brauchte Rogue einfach, damit er seinen Gedanken nachhängen konnte und um ein paar Skizzen für neue Bikes anzufertigen.
Rogue stieg von der Harley, sah sich um, lauschte dem warnenden Zwitschern der Vögel, die irgendwo in der Nähe in einem der Baumwipfel saßen und ihn genau beobachteten. Aber auch sie würden ihn nicht davon abhalten, ein paar Tage Einsamkeit zu genießen. Nur er, sein Rucksack, eine Angel und die wilde, ungezähmte Natur. Fast wie in alten Zeiten. Nur flogen ihm jetzt keine Granaten und Kugeln um die Ohren. Und er musste auch nicht versuchen, seinen schwer verletzten Kameraden aus Terroristengebiet zu schaffen. Bewaffnet nur mit einem Jagdmesser.
Rogue schob die Harley ein Stück in den Wald, gerade so weit, dass sie niemand sehen konnte, der vielleicht zufällig hier vorbeikam. Er schnappte sich seine beiden Satteltaschen und die zusammengerollte Decke und stapfte dann zufrieden los. In der Hand nur seinen Kompass und eine Karte. Er hatte etwa sieben Kilometer Richtung Süden vor sich, dort - an einem kleinen See - würde er sein Lager für die nächsten Nächte aufschlagen. Diesen See hatte er letztes Jahr entdeckt, als er seinen Ausflug in den Naturpark gemacht hatte.
Er wanderte einen kleinen Pfad entlang, dann verließ er ihn und kämpfte sich nach etwa einer halben Stunde durch unwegsames Gelände, kletterte über umgestürzte Bäume, fast komplett vom Waldboden verschluckte Felsen und Gestrüpp. Für ihn ein befriedigendes Gefühl, er liebte es, seine Muskeln arbeiten zu lassen, gleichzeitig die Natur um sich zu haben und zu wissen, dass weit und breit kein Mensch in der Nähe war.
Zum See musste er einen kleinen Abhang runterklettern. Am Ufer ließ er seine Taschen und die Decke fallen und streckte genüsslich seinen Körper. Über dem See kreiste ein Gänsegeier und das Wasser glitzerte in der untergehenden Abendsonne. Der See lag zur Hälfte in einem Kessel aus Bergen. Letzte Ausläufer der Pyrenäen. Rogue breitete seine Decke auf dem sandigen Boden am Ufer aus, legte den Schlafsack darauf, dann nahm er ein Seil aus seiner Tasche mit den Lebensmitteln und band die Tasche an einen Ast eines Baumes in der Nähe. Er stellte seine Feuerschale neben sein Lager. Danach machte er sich auf die Suche nach trockenem Holz für ein kleines Feuer, bevor es zu dunkel werden würde, um noch etwas zu sehen.
Er ging am Ufer des Sees entlang und nahm sich vor, ihn einmal zu umrunden. Eigentlich weniger wegen des Feuers. Vielmehr, um die Natur, die ihn umgab, noch ein wenig auf sich wirken zu lassen. Es war sehr still geworden, die Vögel betrachteten ihn wohl nicht mehr als Bedrohung. Rogue beobachtete einige Sekunden lang das Glitzern der langsam untergehenden Sonne auf der Wasseroberfläche und dachte an seinen Freund Andrew, der seit einem Jahr zum Club gehörte. Er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als er durchschaut hatte, was da lief. Warum Andrew im Knast immer und immer wieder die Wange hinhalten musste. Dass sie beide McCraw zum Feind hatten, hatte sie zusammengeschweißt. Er war froh, ihn jetzt hier zu haben. Nicht nur, weil ihm das die Chance eingeräumt hatte, den Mörder seiner Frau zur Strecke zu bringen. Sondern auch, weil er in Andrew mehr als seinen Clubbruder sah. Er war für ihn wie ein leiblicher Bruder. Sie hatten beide eine Menge durchmachen müssen. Dass der Junge seine Old Lady an der Seite hatte, tat ihm gut. Phoebe war eine tolle Frau. Rogue würde alles dafür tun, dass die beiden noch lange so glücklich sein durften.
Rogue verscheuchte die Gedanken, die versuchten, sich nach oben zu drängen. Jetzt wollte er nicht an seine Frau denken. Eigentlich wollte er das nie. Die Erinnerungen an ihren Tod, die Art, wie sie sterben musste, waren zu schmerzhaft. Und er konnte mit der Schuld bis heute nicht leben. Er sammelte kleinere getrocknete Zweige und Stöcke auf. Die Feuerschale aus Alu, die er zum Campen immer mitnahm, um nicht ungewollt einen Waldbrand auszulösen, war nur etwa so groß wie ein mittelgroßer Kochtopf, weswegen größere Holzstücke darin keinen Platz hatten. Aber was war ein Campingausflug ohne ein Steak vom Rost?
Rogue hatte den See zur Hälfte umrundet, eigentlich hatte er reichlich Holz auf seinen Armen gesammelt, er hätte also umdrehen können, aber er lief trotzdem weiter. Der Gänsegeier zog noch immer seine Kreise über dem See, fast als würde er Rogue keine Minute aus den Augen lassen wollen. Rogue verfrachtete sein Feuerholz in seinen Rucksack, um die Hände freizuhaben. Vor ihm versperrte ein Baum, dessen Wurzeln halb im Boden im Abhang steckten und aus der Erde ragten, ihm den Weg.
Die Wurzeln mussten irgendwann die Kraft nicht mehr gehabt haben, den Baum noch länger in seiner schrägen Position am Abhang halten zu können und hatten unter der Last der Baumkrone nachgegeben. Rogue kletterte über den Stamm auf die andere Seite, klopfte sich seine Hände ab und wischte dann über seine schwarzen Jeans. Als er aufsah, entdeckte er ein Stück weiter etwas leuchtend Rotes, das das Licht der untergehenden Sonne reflektierte. Er kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht erkennen, was da am Ufer lag. Vielleicht hatte noch jemand sein Lager am See aufgeschlagen oder jemand hatte seinen Müll hier zurückgelassen. Der Gedanke verärgerte Rogue. Neugierig und mit Magengrummeln lief er weiter und je näher er kam, desto deutlicher wurde, dass da jemand am Ufer lag. Also doch ein Camper. Noch ein paar Schritte weiter erkannte Rogue nachtschwarzes langes Haar, das um den Körper herum ausgebreitet war, der zusammengerollt seitlich mit dem Rücken zu ihm lag. Rogue beschleunigte seine Schritte. Jetzt hatte er kein Magengrummeln mehr, jetzt packte ihn Panik. Da lag eine Frau. Rogue fluchte leise.
Er ging neben dem Körper auf die Knie und hoffte inständig, dass diese Frau einfach nur betrunken war, oder schlief, sich verlaufen hatte … Alles, nur nicht tot war. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht, ihre Kleidung war klamm, weil sie so nah am Ufer des Sees lag, dass das Wasser sie berührte. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund leicht geöffnet und sie stöhnte, als Rogue sie vorsichtig auf den Rücken drehte. Sie hatte mehrere Blessuren im Gesicht. Ihr Puls schlug kräftig und ruhig, die rote Bluse klebte feucht an ihrer Haut und die oberen Knöpfe waren offen. Sie schlug die Augen auf, als Rogue sie auf weitere Verletzungen untersuchte, stieß einen erschrockenen Schrei aus und versuchte, von ihm wegzukommen. Keuchte aber laut auf, als sie beim Versuch, ihren Fuß in den Untergrund zu stemmen, um sich von ihm wegzuschieben, wohl feststellen musste, dass der verletzt war.
»Alles okay«, sagte Rogue ruhig. »Ich will Ihnen nichts tun.« Dann schüttelte er frustriert den Kopf und wiederholte sich noch einmal mit seinen eher holprigen Spanischkenntnissen. Wenn er wie der Rest des Clubs regelmäßig den Intensivkurs der vom Club dafür angeheuerten Lehrerin besuchen würde, müsste er jetzt nicht wie ein Irrer rumstammeln. Er tastete den Knöchel der Frau ab, die erschrocken zurückzuckte, als er die Schwellung über ihrem Knöchel berührte.
»Sieht nicht gut aus«, sagte er und überlegte, wie wohl das spanische Wort für Flüssigkeitseinlagerung war. Er legte seinen Daumen auf das Sprungbein und testete, ob das Sprungbein sich nach vorne gegen das Schienbein schieben ließ.
Die Frau zischte und versuchte, ihm den Fuß zu entreißen. »Ich spreche englisch«, sagte sie dann mit gerunzelter Stirn und entzog ihm ihren Fuß.
»Gut«, warf Rogue erleichtert ein. »Das ist ein Bänderriss.« Er sah sich nach den Schuhen der Frau um.
»Haben Sie Ihre Schuhe beim Sturz verloren?«
»Ich …« Sie zögerte, dann wich sie seinem Blick aus. »Ich weiß es nicht.«
»Die werden wir jetzt nicht finden, es ist schon zu dunkel.« Die Sonne verschwand gerade hinter den Berggipfeln.
»Ich werde Sie tragen müssen, laufen können Sie damit nicht. Mein Lager ist nicht weit weg.«
»Ich muss nach Hause«, keuchte sie auf und sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an.
»Wohnen Sie in der Nähe?«
Sie schüttelte den Kopf. In ihrem Gesicht klebten kleine Steine. Rogue hob die Hand, um sie wegzuwischen, aber sie zuckte zurück, also ließ er es. »Nein, in Tolosa. Ich war … ich war wandern und hab mich verlaufen und bin dann den Abhang runtergestürzt«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Rogue runzelte die Stirn. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass mehr hinter dieser Sache steckte, als die Frau ihm sagen wollte. »Heute gehen Sie nirgends mehr hin. Ich kann Sie nicht im Dunkeln durch den Wald tragen. Ich werde Sie jetzt hochheben«, setzte er sie in Kenntnis, damit sie nicht wieder vor ihm zurückzuckte.
Sie warf ihm einen erschreckten Blick zu. Durch das Licht seiner Taschenlampe wirkte dieser noch viel verschreckter, denn sie wehrte sich nicht, als er ihr näher kam. »Aber ich kann nicht hierbleiben.«
»Heute Nacht schon, morgen sehen wir weiter.« Rogue wäre es auch lieber, nicht mit ihr im Wald bleiben zu müssen. Viel lieber wäre er allein hier, um wie geplant seine Auszeit genießen zu können. Außerdem rief die Situation unangenehme Erinnerungen in ihm wach. Erinnerungen an die Nacht, in der er und sein Kamerad und Freund Will Harris die einzigen Überlebenden eines Angriffs durch Terroristen waren.
Sie waren damals zu Fuß unterwegs gewesen. Hinter ihnen fuhr ein Laster mit Ausrüstung für das Lager ihrer Truppe nahe des Shatt al-Arab, etwa 120 Kilometer von Basra entfernt. Ein Raketenwerfer jagte den LKW in die Luft. Will und Rogue überlebten nur, weil sie vor dem LKW liefen, um die Umgebung besser beobachten zu können.
Will wurde von einem herumfliegenden Splitter getroffen, der zwischen seinen Rippen steckenblieb. Rogue war unverletzt geblieben. Er hatte sich Will geschnappt und ihn sofort eine Böschung runtergezogen und war dann mit ihm im Wald in Deckung gegangen. Was man so in Deckung gehen nennen konnte, denn Will schrie vor Schmerzen. Rogue war nichts anderes geblieben, als seinen Freund bewusstlos zu schlagen, damit sie sich vor den Angreifern verstecken konnten. Er hatte Will auf seine Arme geladen und war mit ihm durch den Wald gelaufen. Immer in Richtung Norden, wo ihr Lager war. Fast die halbe Nacht war er mit Will gelaufen, gestolpert, hatte ihn mehrmals erschöpft ablegen müssen, ihn notdürftig versorgt und war weitergelaufen. Irgendwann nur noch mit einer Leiche auf seinen Armen. Aber das hatte ihn nicht aufgehalten. Genau wie Rogue hatte auch Will eine Frau zu Hause in Schottland, die auf ihn wartete. Auch wenn er nicht lebend zurückkommen würde, sie sollte wenigstens etwas begraben dürfen. Also war er weiter und weiter gelaufen, bis er in der Nähe des Lagers auf einen Jeep mit ihren Leuten gestoßen war. Erst da hatte er es sich erlaubt, unter der Anstrengung zusammenzubrechen.
Daria wollte nichts lieber, als hier verschwinden, aber der Fremde hatte recht, sie konnte kaum auftreten, geschweige denn aus dieser Wildnis wandern. Und das noch bei Nacht. Resigniert ließ sie sich von ihm auf die Arme heben und lehnte erschöpft ihren Kopf gegen das Leder seiner Kutte. Er war der Präsident des MC, der vor ein paar Jahren plötzlich in Tolosa aufgetaucht war. Sie hatten die alten Gebäude der ehemaligen Werkstatt gekauft. Ein paar Mal hatte sie sie schon gesehen, wenn sie mit ihren laut röhrenden, knatternden Bikes durch Tolosa gefahren waren.
Manuel hatte sich dann jedes Mal darüber brüskiert, was für ›Möchtegern-harte-Kerle‹ die Biker doch wären. Sie würden sich nur dank ihrer Kutten und Bikes so stark fühlen, hatte er dann immer gemeint. Daria hatte keine Meinung dazu, aber sie hatte sich oft und lange angehört, welche Meinung Manuel hatte. Und sie musste zugeben, dass diese harten, teilweise heruntergekommenen Männer in ihrer Lederkleidung, den löchrigen Shirts und den abgestoßenen Stiefeln ihr ein wenig Angst einjagten.
Angst, und trotzdem fand sie Bikes, Leder und Tattoos schon immer auch irgendwie sexy. Aber die Vorstellung, näheren Kontakt mit einem der Männer zu haben, hatte ihr dann wiederum nur Unwohlsein eingejagt. Wahrscheinlich wären sie noch schlimmere Männer als ihr eigener. Diese Männer sahen rau, stark und furchteinflößend aus, weswegen sie lieber keine Bekanntschaft mit ihnen machen wollte. Aber aus der Nähe betrachtet war dieser tätowierte Kerl auf jeden Fall ansehnlich. Auch wenn diese Dunkelheit, die er ausstrahlte, ihr gehörig Respekt einflößte. Dunkelheit hatte sie in den letzten Tagen mehr als genug gehabt.
Nun hatte sie doch Bekanntschaft mit einem von ihnen gemacht. Mit dem, der mit seiner blonden Mähne, den unzähligen Tattoos auf den Armen und den tief in sein Gesicht gegrabenen Sorgenfalten noch viel gefährlicher wirkte als die anderen Männer, die sie bisher gesehen hatte. Wahrscheinlich war er deswegen auch ihr Präsident. Und ausgerechnet auf ihn war sie jetzt angewiesen.
Sie würde laut fluchen, wenn sie dazu nicht viel zu schwach wäre. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie beide unentdeckt die Nacht im Wald verbringen könnten und er sie morgen früh so schnell es nur ging hier rausschaffte. Aber bis die Sonne wieder aufging, mussten sie erst einmal überleben.
Er lehnte sie gegen den Stamm eines umgefallenen Baums, der das Ufer versperrte, überkletterte ihn und half ihr dann auf die andere Seite, wo er sie wieder auf seine Arme hob. Sie konnte das Leder seiner Kutte riechen, sein würziges Aftershave und den angenehmen Duft nach Mann, während sie mit dem Kopf an seiner Schulter lehnte. Dass sein Geruch ihre Sinne so ansprach, gefiel ihr gar nicht. Nach den letzten Tagen und ihren Erfahrungen mit ihrem Ehemann sollte sie keinem Mann mehr vertrauen. Niemals wieder.
Vielleicht war sie zu müde, vielleicht hatten die vergangenen vier Tage auch ihren Verstand vernichtet und sie konnte nicht mehr klar denken, aber sie fühlte sich, wenn auch nicht geborgen, zumindest sicher in seiner Nähe. Das, was von ihr noch vorhanden war, vertraute darauf, dass er sie hier rausbringen würde. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein, sie war eindeutig nur müde. Sie hatte kaum geschlafen, hatte jede Sekunde in den vergangenen Tagen wachsam sein und mit ihrem Tod rechnen müssen. Der Gedanke, entkommen zu sein, war schuld daran, dass sie in Versuchung geriet, einem Mann zu vertrauen. Männern konnte man nicht vertrauen. Trotz dieser Erkenntnis saugte sie mit jedem Atemzug seinen maskulinen Duft in ihre Lungen.
»Ich bin Rogue«, sagte er mit seiner dunklen, sehr rauen Stimme. Selbst seine Stimme hatte eine fast schon beruhigende Wirkung, obwohl sie so wenig zu seinen langen blonden Locken zu passen schien, die etwas von einem Engel hatten. Er schnaufte nicht einmal, obwohl er sie jetzt schon einige Minuten über unebenen Grund trug. »Wenn wir die Nacht miteinander verbringen, sollten wir wenigstens unsere Namen kennen.« Er ging auf die Knie und setzte sie auf dem Boden ab.
Daria stützte sich mit ihren Händen ab und bemerkte den weichen Stoff einer Decke unter sich. Sie sah zu ihm auf, dann an ihm vorbei. Direkt hinter ihm standen zwei Ledertaschen. Das hier war wohl das Lager, von dem er gesprochen hatte. Sie hätte mindestens ein Zelt erwartet. Vielleicht auch noch ein paar seiner Bikerfreunde, aber es gab nur seine Taschen, Decken und den Rucksack, der neben ihr auf der roten, mit Schottenkaros gemusterten Decke lag.
»Du hast also keinen Namen? Oder willst du ihn mir nicht sagen?«, fragte er und starrte ernst auf sie herab.
»Dein Name ist bestimmt auch nicht Rogue, Schurke«, sagte sie spitz und streckte vorsichtig ihren hämmernden Fuß aus.
Er nahm lachend seine Haare zusammen und legte sie auf dem Rücken ab. »Das ist der Name, unter dem jeder mich kennt, aber geboren wurde ich als Jared.«
»Daria«, antwortete sie knapp und sah in den dichten Wald oberhalb der Böschung, aber viel konnte sie nicht mehr sehen, es war schon zu dunkel. Vielleicht war sie weit genug gelaufen und sie waren hier wirklich in Sicherheit. Aber eigentlich wagte sie das kaum zu hoffen. Wie lange war sie wohl ohnmächtig gewesen? Lange genug, dass er glaubte, sie wäre ihm entkommen und hätte die Polizei alarmiert? Ihr Blick ging wieder nervös zu dem Biker, der sie aufmerksam beobachtete, während er den Rucksack von seinen Schultern nahm und den Inhalt zwischen ihnen auf den Boden schüttete.
Er zog eine Metallschüssel heran und begann, Zweige darin aufzuschichten. »Du warst also allein im Nationalpark unterwegs?« Er sah Daria an, als würde er es ihr vorwerfen, dass sie als Frau allein auf Wanderschaft gewesen war. Auch wenn Daria nicht wandern war und er das nicht wissen konnte, dieser unterschwellige Vorwurf, dass eine Frau nicht allein solche Wandertouren unternehmen sollte, verärgerte sie. Aber wenn sie ihm nicht die Wahrheit sagen wollte, dann musste sie den bitteren Nachgeschmack schlucken und diesen Vorwurf hinnehmen, also nickte sie nur stumm. Sie konnte ihm die Wahrheit einfach nicht sagen. Wer weiß, was er anstellen würde. Ob er ihr überhaupt glauben oder sie am Ende vielleicht sogar für eine entflohene Verrückte halten würde.
»Ein Wildschwein hat mich verfolgt«, log sie.
Rogue zog eine seiner Augenbrauen hoch. Die Farbe seiner Brauen war ein paar Nuancen dunkler als die seines mittelblonden Haares. »Ein Wildschwein? Dann musst du es verärgert haben. Das hätte übel ausgehen können. Solche Touren sollte man nicht allein unternehmen. Schon gar nicht als Frau«, sagte er, zündete etwas trockenes Laub an und stopfte es unter die Zweige.
»Feuer sollte man im Wald auch nicht machen, du machst es trotzdem«, gab sie schnippisch zurück und verzog das Gesicht, als Schmerz durch ihre Rippen schoss. Manuel hatte einen Abdruck auf ihrem Körper hinterlassen, der genau zu seinen Schuhen passte. Auch nach vier Tagen schmerzte sie noch jede unnötige Bewegung. Und sich über die hinterwäldlerischen Einstellungen dieses Bikers aufzuregen, verursachte unnötige Verspannungen in ihrem ganzen Körper. Wie kam sie nur immer wieder an Männer, die noch im Mittelalter lebten und glaubten, dass das weibliche Geschlecht ohne sie nichts auf die Reihe bekommen würde? Sie bewegte ihren Oberkörper ungeschickt und zuckte zusammen, worauf er sofort mit einem besorgten Blick reagierte.
»Hast du noch mehr Verletzungen davongetragen?« Er musterte unter zusammengekniffenen Augen ihre etwas verkrampfte Haltung. Sofort bemühte Daria sich, so entspannt wie möglich dazusitzen und setzte ein hoffentlich nicht zu verkrampftes Lächeln auf.
»Nein«, antwortete sie hastig. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass er einen Blick auf ihren geschundenen Körper warf. Dass sie von ihrem Ehemann geschlagen wurde, verursachte ihr schon immer ein so enormes Schamgefühl, dass sie sich nie hatte Hilfe holen wollen und immer geschwiegen hatte. Daria war kein schüchternes, verängstigtes Dummchen. Sie war eine Frau, die sich zu wehren wusste und die stark war. Aber Manuel war eben stärker als sie gewesen und hatte sie gebrochen. Sie hatte die Dinge, die er ihr antat, lange ertragen, weil es in ihrem Leben außer ihm niemanden gab. Ohne ihn wäre sie ganz allein auf der Welt, und davor hatte sie sich immer gefürchtet.
Und dann hatte sie sich endlich dazu durchringen können, Hilfe anzunehmen und wäre deswegen fast gestorben. Das Grauen der letzten Tage würde sie ihr ganzes Leben lang verfolgen. Daria schloss hastig die Augen und versuchte, die Bilder abzuschütteln. »Mir geht es gut.«
Rogue nickte, stand auf, öffnete eine seiner Satteltaschen und zog ein Shirt heraus. Er warf es ihr zu. »Zieh deine Sachen aus, die sind feucht. Ich häng deine Kleidung über den Ast dort«, sagte er in einem Befehlston, der keinen Widerspruch zuließ.
Daria sah unsicher an sich runter. Nicht, dass sie ein Problem damit hatte, sich vor Männern auszuziehen, aber sie hatte noch immer keine Lust auf schockierte Blicke und unangenehme Fragen. Und sie hatte ein Problem mit seinem Befehlston. So würde sie nicht mehr mit sich umspringen lassen. »Danke, sie werden schon trocken«, entgegnete sie trotzig und funkelte ihn bedrohlich an. Er sollte ihr ansehen, dass sie sich nichts sagen lassen würde.
»Scheiß drauf, werden sie nicht. Her damit, hab ich gesagt. Ich hab schon eine Menge nackte Weiber gesehen, also keine Angst, du hast nichts, was ich nicht schon gesehen habe«, knurrte er, wandte sich dann aber von ihr ab. »Ich schau auch nicht hin. Raus aus den Sachen und rein in den Schlafsack.«
Daria schnappte nach Luft. Sie wollte etwas sagen, aber bei dem Blick, den er ihr zuwarf, schluckte sie es lieber runter. Dieser Mann war es eindeutig gewohnt, Befehle zu erteilen. Und Daria war sich nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte. Es verängstigte sie, lockte aber auch ihren Trotz hervor. Den Trotz, der ihr bei Manuel so manchen blauen Fleck eingehandelt hatte. Unentschlossen rutschte sie hin und her, entschied sich dann aber doch dafür, die feuchte Kleidung auszuziehen, denn sie fror und wollte diesen Biker nicht noch wütender machen. Schlimm genug, dass sie auf ihn angewiesen war.
Im Moment war er zwar ein Übel, aber das einzige Übel, das ihr hier raushelfen konnte. Sie selbst hatte nämlich keine Ahnung, wo genau sie sich befand. Selbst wenn sie laufen könnte, würde sie wohl so lange durch diesen Park irren, bis sie verdurstet oder verhungert zusammenbrechen würde. Und sie war ihrem Peiniger nicht entkommen, um jetzt mitten in der Wildnis draufzugehen. Nicht draufgehen beinhaltete auch, nicht an Unterkühlung, einer Lungenentzündung oder sonstigen Dingen zu krepieren, die einem mitten in einem riesig großen Park wie diesem eben so passieren konnten.
Sie schlüpfte aus ihrer Kleidung, den Blick auf den breiten Rücken des Bikers gerichtet, auf dessen Kutte ein keltisches Kreuz mit Schädeln zwischen zwei Schriftzügen zu sehen war, auf denen ›Helldogs‹ und ›Tolosa‹ stand. Als der Club hier ankam, stand auf dem unteren Patch noch ›Glasgow‹. Die ganze Stadt rätselte seither, was die Schotten nach Spanien und ausgerechnet in ihre Kleinstadt getrieben hatte.
Sie schlüpfte in das schwarze, ausgewaschene Shirt, auf dessen Brust dasselbe Logo prangte, dann kroch sie so schnell es ging in den Schlafsack, damit er die blauen Flecke auf ihren Oberschenkeln nicht sehen konnte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihre Handgelenke, um die herum sich dunkelrote Ringe mit Abschürfungen gebildet hatten, und seufzte. Ihre Bluse war langärmlig und hatte dieses Problem gut verborgen. Sie schob die Hände mit in den Schlafsack und hoffte, dass das Feuer bald erlosch, damit es dunkel genug wäre, damit er nichts mehr sehen konnte, was ihn dazu veranlasste, sie zu befragen. Sie wüsste nicht, wie sie ihm diese Dinge, die sie selbst kaum glauben konnte, erklären sollte. Wenigstens war ihr sein Shirt um so vieles zu groß, dass die kurzen Ärmel ihre Arme gut verdeckten.
»Bist du fertig?«
»Äh … ja, klar. Tut mir leid. Du kannst dich umdrehen.«
Er wandte sich zu ihr um, kam näher und bückte sich nach ihrer Kleidung. Sein Haar wurde vom Schein des Feuers angeleuchtet, was ihm etwas noch Engelhafteres verlieh. Diese unschuldig wirkenden Haare standen in so starkem Widerspruch zu seinem sonst rauen, sehr männlichen und gefährlich wirkenden Äußeren, dass Daria verwirrt blinzeln musste, als ihr Blick von dem Lichtkranz um sein Haar auf sein strenges Gesicht fiel. Daria schätzte ihn auf etwa vierzig Jahre. Damit dürfte er gut sechzehn Jahre älter sein als sie. Trotzdem reagierte ihr Körper auf ihn, auf sein Äußeres, seine Blicke, mit denen er sie musterte, mit einer ihr höchst unwillkommenen Hitze und Nervosität. Dass er mit ihrer Kleidung in der Hand vor ihr stand, verursachte ein Flattern in ihrem Magen. Es fühlte sich viel intimer an, dass er ihre Kleidung berührte, als sie sich je hätte vorstellen können. Und sein Blick erst, der auf sie gerichtet war und unzufrieden und hart wirkte. Er musterte sie, ihr Gesicht, ihr Haar und alles, was er von ihrem Körper unter dem Stoff des Schlafsacks ausmachen konnte, mit einer Intensität in den stahlblauen Augen, die Daria erzittern ließ. Sein Blick blieb auf dem Logo auf ihrer Brust hängen und seine Mundwinkel zogen sich zu einem Grinsen nach oben.
»Erzähl bloß keinem, dass ich dich die Clubfarben tragen lasse. Besonders nicht den Frauen im Club, wenn du sie mal triffst. Da fangen die nur an Dinge zu sehen, die nicht da sind.«
Daria runzelte verwirrt die Stirn. »Was meinst du?«
Rogue winkte kopfschüttelnd ab. »Nichts Wichtiges. Die Weiber drehen nur gerade etwas durch bei uns im Club. Die sehen überall potentielle Old Ladys für mich.«
»Old Ladys?«
Rogue erhob sich, stieg die Böschung nach oben und hängte Darias Sachen über einen Ast. Dann nahm er einen Rucksack von einem Ast, den er dort befestigt haben musste, und kam wieder zurück. »Unsere Old Ladys sind vergleichbar mit dem, was der Normalbürger eine Ehefrau nennt. Nur nehmen wir die Sache mit den Old Ladys etwas ernster als der Normalbürger.«
»Ernster?«, plapperte Daria nachdenklich nach. Was konnte noch ernster sein als eine Ehe? Sie konnte sich darunter nichts vorstellen.
»Ist kompliziert«, sagte Rogue und setzte sich neben sie auf die Decke. Er hielt ihr ein Sandwich hin, das sie dankbar annahm. Sie konnte sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Ihr Magen knurrte sofort laut und vernehmlich.
»Wohl schon eine Weile unterwegs?«, wollte Rogue wissen, aber Daria ignorierte seine Frage einfach und lenkte ihn stattdessen mit einer Gegenfrage ab.
»Warum nennt man dich Rogue?« Sie biss in ihr Sandwich, das mit Tomaten, Salat und kaltem Braten belegt war und das köstlichste Sandwich war, dass sie je zwischen ihre Zähne bekommen hatte. »Hmm«, seufzte sie.
»Ja, wir haben eine ganz anständige Köchin im Club«, sagte er. Er starrte auf die Flammen des kleinen Feuers, das kaum groß genug war, ihre Füße zu wärmen, und warf etwas in die Flammen, pulte in der Erde und warf wieder etwas in die Flammen.
»Den Namen schlepp ich jetzt schon so lange mit mir herum, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann, warum mich alle so nennen. Aber ich glaube, mein Vater hat mich so genannt, weil ich früher beim Kartenspielen immer betrogen habe. Im Club hat jeder einen Straßennamen und das ist eben meiner. So ist das bei uns. Wenn wir uns für den Club entscheiden, legen wir unser bürgerliches Leben ab.« Er warf wieder etwas in die Flammen. »Nenn mich trotzdem Rogue, das tun alle.«
Sie biss von ihrem Sandwich ab und nickte, obwohl er sie gar nicht ansah. Sie fühlte sich angespannt so nahe neben ihm. Er machte sie nervös und sie würde nach den Tagen der ständigen Angst dieses Gefühl endlich gerne abschütteln können, aber das ging nicht. Hätte sie nicht einem Pfarrer in die Arme laufen können? Den bürgerlichen Namen ablegen. Straßennamen … Wie komisch das alles klang.
Rogue kaute schweigend, biss von seinem Brot ab und kaute wieder. Er schien völlig in Gedanken versunken, wahrscheinlich merkte er nicht einmal, dass sie ihn misstrauisch unter die Lupe nahm und abzuschätzen versuchte, wie viel Gefahr ihr von ihm drohte, wenn sie die Nacht mit ihm hier mitten im Wald verbrachte. Sie stand seit Tagen unter Daueralarm. Ihr ganzer Körper schien nur noch aus Angst und Entsetzen und Schmerzen zu bestehen. Und wenn er so vor sich hin schwieg, dann half ihr das nicht unbedingt, ihn besser einschätzen zu können. Was wusste sie schon, wie diese Biker drauf waren. Man hörte nie Gutes über diese Motorradclubs.
»Was machst du, wenn du kein Rocker bist?«, fragte sie ihn, in der Hoffnung, dass etwas Konversation ihr ihre Angst nahm. Sie aß ihr Sandwich auf und war froh, dass er sie kaum ansah, als ihr Blick wieder auf die Abschürfungen der Fesseln um ihre Handgelenke fiel.
»Ich bin immer Rocker. Der Club kommt vor allem anderen.« Er sah über die Schulter zur Seite und runzelte die Stirn. »Warum erzähl ich dir das überhaupt?«
»Ich weiß nicht, aber du musst doch von irgendwas leben«, warf sie ein und ärgerte sich über ihr inhaltsloses Geplapper, das sie nur ihrer Angst zu verdanken hatte. Aber irgendwie beruhigte es sie nun mal, ihre Stimme zu hören. Zu reden, ihren Kopf zu beschäftigen. Und reden war im Moment das einzige, was sie von den Bildern ablenkte, die in ihrem Kopf nur darauf warteten, hervorgelassen zu werden.
»Das sind Clubangelegenheiten, darüber rede ich nicht, Mädchen«, knurrte er und runzelte wieder die Stirn, was nicht besonders freundlich aussah.
»Dann reden wir über was anderes. Irgendwas?« Sie war eindeutig lebensmüde geworden und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, es ist nur, du machst mich nervös.«
In seinen Augen blitzte etwas auf und er lachte dunkel. »Tu ich das? Warum?« Er schien amüsiert.
»Es ist wohl mehr diese Lederjacke.«
»Das ist eine Kutte«, korrigierte er sie.
»Okay, also gut. Wenn du nicht über deinen Club reden willst, was ich verstehe. Ich meine, man hört ja so …« Sie riss die Augen auf und verschluckte die letzten Worte.
Er zog eine Augenbraue hoch. »Was hört man denn? Lass mich raten. Alle Biker sind Kriminelle?«
Sie nickte.
»Dachte ich es mir doch.«
»Und, seid ihr?«
»Wenn ich ja sage, rennst du dann weg?« Er grinste sie breit an und dieses Grinsen ließ ihr Herz schneller schlagen und ihre Kehle ganz trocken werden. Arrogant, hinterhältig, kalt und brutal. Und auf eine Art erregend und intensiv, dass Daria ganz schwindlig wurde.
»Nein«, krächzte sie und räusperte sich. »Entschuldige, das war dumm.«
»War es nicht. Normalerweise sind Mädchen wie du nur nicht so erstaunlich ehrlich.«
»Mädchen wie ich?«
»Mädchen, die keine Schlampen sind.«
Daria schnappte heftig nach Luft. Manchmal klang dieser Mann wirklich hart. Er hatte zwar gemeint, sie wäre keine Schlampe - das zumindest konnte sie seiner Aussage entnehmen -, aber sie fühlte sich trotzdem beleidigt. In Vertretung für alle Frauen, die er damit gemeint hatte. Sie konnte diesen Begriff einfach nicht leiden. Kerle wie er legten alles flach, was sich ihnen darbot oder auch nicht, und Frauen, die ihnen gaben, was sie wollten, waren in ihren Augen Schlampen. »Ich hasse diesen Begriff«, fuhr sie ihn an. Besonders, da Manuel ihn immer für sie benutzt hatte.
Er zog einen Mundwinkel nach oben, was wohl ein halbes Lächeln andeuten sollte. »Warum? Wenn du abends mal bei uns im Club warst, wirst du ihn verstehen.«
»Oh, ich hab von euren Partys gehört. Und ich verstehe es nicht. Ihr benutzt doch diese Frauen für eure Zwecke.«
Wieder wanderte eine Augenbraue auf seiner Stirn nach oben. »Für unsere Zwecke? Du bist definitiv keine von ihnen. Wir ficken sie«, verbesserte er Daria. »Und sie kommen freiwillig, weil sie genau das wollen, ein bisschen Spaß, ein bisschen gefickt werden.«
Daria stieß erschrocken die Luft aus und war froh, dass das Licht so schlecht war und er nicht sehen konnte, wie rot sie wurde. Daria war in einem sehr vornehmen Haushalt großgeworden. Bis zum Tod ihrer Eltern hatte sie eine sehr strenge Erziehung genossen und ein Wort wie dieses gehörte nicht zu ihrem Repertoire. Sie würde es niemals laut aussprechen. Dummerweise löste es in ihr etwas aus, so wie er es aussprach und sie dabei musternd, ja provozierend ansah. Seine Augen, die über ihren Körper glitten, während er es sagte. Daria erschauerte innerlich. Es machte sie ganz wahnsinnig, dass er sie nur ansehen musste und sie sich merkwürdig flattrig und erhitzt fühlte.
»Genau, das tut ihr. Ihr habt euren Spaß und dann beleidigt ihr sie«, konterte sie hastig, um ihre Anspannung zu überspielen.
Jetzt wurde sein Gesicht ernst. Sie würde sagen, er wirkte sogar ein wenig zornig. »Diese Frauen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie zu uns kommen.«
Sie presste die Lippen aufeinander und wandte den Blick auf die Flammen. Wahrscheinlich hatte er recht. Wahrscheinlich hatte Manuels Abscheu vor den Bikern auf sie abgefärbt. Warum sonst sollte sie sich in Dinge einmischen, die sie nichts angingen? Es war besser, sie fanden ein unverfänglicheres Thema. Oder sie würde einfach versuchen, die Nacht hinter sich zu bringen und morgen … Ja, was morgen? Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Was sollte sie tun? Zur Polizei konnte sie nicht gehen. Die würden ihr wahrscheinlich nicht einmal glauben. Und sie würde diese Hütte wohl nie wiederfinden.
»Ich wollte dich nicht verschrecken«, sagte er. »Ich bin es nur nicht mehr gewohnt, mit jemanden zu sprechen, den das Wort Schlampe aus der Bahn wirft.«
Sie sah zu ihm auf und verzog das Gesicht, als er sie breit grinsend ansah. »Schon gut, es geht mich nichts an, wie du die Frauen nennst, mit denen du Verkehr hattest.«
»Verkehr nennst du es?« Er lachte dunkel auf, dann sah er sie neugierig an. »Irgendwie nett.«
»Danke.«
»Wie geht es deinem Knöchel?« Er warf einen besorgten Blick auf ihre Füße, die im Schlafsack versteckt waren.
»Gut«, sagte sie ausweichend. Er musste nicht wissen, dass das Pulsieren und der Schmerz sie fast wahnsinnig machten.
»Lüg mich nicht an.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Ich lüge nicht«, protestierte sie lautstark.
»Und sprich nicht so mit mir«, knurrte er und wandte sich von ihr ab. »Wir sollten schlafen.«
»Das können wir tun. Aber auch wenn du mich gerettet hast, ich spreche mit dir, wie ich es für richtig und angemessen halte.«
Seine Augenbraue zuckte. Es war interessant, diese sich ständig bewegende Braue zu beobachten. »Angemessen?«, äffte er nach. »Man könnte meinen, du bist in einem dieser britischen Bonzenhaushalte aufgewachsen.«
»So etwas Ähnliches.« Trotzig legte sie sich auf die Seite und wandte ihm den Rücken zu. Sollte er sich ohne ihre Hilfe über sie lustig machen.
»Also gut«, murmelte er, dann stieß er ihr gegen die Schulter. »Auch wenn du Rocker nicht besonders magst, dieser hier hat nur diesen einen Schlafsack und diese eine Decke. Wir müssen wohl teilen.«
Sie setzte sich ruckartig wieder auf. »Was?« Nervös sah sie an sich runter und musterte den Schlafsack, der nur für eine Person war.
»Entweder zwänge ich mich mit da rein, oder wir machen ihn auf und decken uns damit beide zu.«
Daria zögerte, aber er hatte recht, diese Sachen gehörten ihm und sie konnte unmöglich von ihm verlangen, die ganze Nacht zu frieren. Es wurde fast minütlich kälter. Die Vorstellung war ihr sehr unangenehm, aber da musste sie wohl durch. »Wir machen ihn auf.«
Er grinste. »Fände ich auch besser. Für uns beide wäre da kaum Platz drin.« Auf sein Gesicht trat ein breites, sehr alarmierendes Lächeln und Daria wappnete sich. »Sonst komme ich im Traum noch auf die Idee, dich zu ficken. Wer könnte es mir übelnehmen, wenn du dich so an mich kuschelst.«
Darias Mund klappte auf. Sie war entsetzt. »Ich würde im Traum nicht mit dir kuscheln.«
»Wieso? Weil ich ein dreckiger Biker bin?«
»Das hat damit nichts zu tun«, entrüstete sie sich, bevor sie merkte, dass Rogue sie wohl nur auf den Arm nahm. Ihm schien es zu gefallen, dass sie so anders war als er. Sie ärgerte sich über ihre eigene Dummheit und dass sie auf ihn hereingefallen war. Zumindest hatte er sie von ihrem Schmerz und dem Grauen abgelenkt.
Sie öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks und schob ihm die Hälfte davon zu, darauf bedacht, ihm ihre unter dem Stoff nackten Beine nicht zu zeigen, obwohl es jetzt so dunkel war und das Feuer nur noch glimmte, dass er ihre massiven Verletzungen sowieso nicht mehr hätte sehen können. Trotzdem versteckte sie ihre Hände sofort wieder unter dem Schlafsack und legte sich wieder hin. Sie war in den letzten Tagen von ihrem Ehemann grün und blau geprügelt und von einem weiteren Mann gefangen gehalten worden. Und jetzt war sie gezwungen, eine ganze Nacht mit einem fremden Mann zu verbringen, war gezwungen, ihm zu vertrauen.
Sie fühlte, wie er seine Hälfte hinter ihr hochhob und sich neben sie schob. Etwas streifte ihre Waden, wahrscheinlich einer seiner Füße. Als sie über ihre Schulter zurücksah, hatte er ihr den Rücken zugekehrt.
»Keine Sorge, mein Schwanz wird dich nicht berühren. Ich hab meine Hose anbehalten«, murmelte er mit dunkler Stimme.
Sie keuchte hörbar auf und zog sich den Stoff bis zu den Schultern hoch. Er lachte laut auf in ihrem Rücken. Er hatte sie schon wieder erwischt. Sie nahm sich vor, sämtliche Reaktionen auf seine Aussprache von jetzt an zu unterdrücken, damit er aufhörte, sie zu ärgern und sie aufhörte, ständig vor Scham zu verglühen.
Es dauerte nicht lange, da hörte sie ihn tief und ruhig atmen. Als sie sich nach ihm umsah, konnte sie sehen, dass seine Hand unter der Decke, direkt unter seinem Kopf, etwas umklammerte. Aber im immer dunkler werdenden Glühen des Lagerfeuers konnte sie nicht sehen, was es war. Sie legte sich auf den Rücken und starrte zum Himmel hoch, der übersät war mit Sternen. Ein wunderschöner Anblick, den sie hätte genießen können, wenn ihre Angst nicht so entsetzlich präsent gewesen wäre. Sie war erdrückend, jetzt, wo er schlief und alles ruhig war, noch viel mehr. Weil die Erinnerungen sie wieder einholten. Und das schaurige Gefühl, dass der fremde Mann neben ihr auslöste. Sie hatte noch nie neben einem anderen Mann als Manuel geschlafen. Er war nach dem Tod ihrer Eltern alles, was ihr noch geblieben war. Deswegen hatte sie es wohl auch so lange mit ihm ausgehalten. Sie wünschte sich fast, sie könnte sich wieder mit Rogue unterhalten, damit ihr Erstaunen über seine Aussprache sie weiter ablenkte.