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Kapitel Drei
ОглавлениеRogue festigte den Griff um seine Sig-Sauer, bevor er die Augen öffnete und gegen das Morgengrauen anblinzelte. Er hatte ein Geräusch gehört, das Knacken eines Zweigs, das leise Scharren der Kiesel am Seeufer. Er wusste nicht, was die Geräusche ausgelöst hatte, aber es hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Dazu brauchte es nicht viel, denn Rogue schlief nie besonders fest, befand sich seit seinem Aufenthalt im Knast auch nachts immer in Alarmbereitschaft. Und wenn er doch fest schlief, wurde er von Albträumen überrollt, in denen er seine Frau oder seinen Freund in seinen Armen sterben sah.
Sein Blick fiel auf ein paar schwarze Männerschuhe, abgetragen. In einer blitzschnellen Bewegung zog er seine Waffe unter seinem Kopf hervor und zielte auf das boshaft grinsende, völlig verzerrte Gesicht über ihm. Zu spät, der Mann ließ den mörderisch großen Stein fallen, den er über Rogue gehalten hatte, genau in der Sekunde, in der Rogue erkannte, was da über seinem Gesicht schwebte. Das letzte, was er wahrnahm, war das Schreien der Frau.
Hatte die Sonne sein Gehirn gebraten? Rogue öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder, als das helle Licht wie ein Pfeil in seinen hämmernden Schädel schoss. Er stöhnte, legte mit einer Bewegung, die sich anfühlte, als würde er seinen Arm durch eine dicke Masse bewegen müssen, eine Hand auf seine Stirn und ertastete eine eingetrocknete Kruste, die quer über seine ganze Stirn lief. Blut, es musste schon eine Weile dort sein, denn es war hart. Nur langsam tauchte Rouge aus diesem vernebelten Zustand zwischen Schlaf, Ohnmacht und der Realität auf. Und mit jedem Stück Hier und Jetzt, das er sich mühsam erkämpfte, pulsierte sein Schädel noch heftiger. Er öffnete wieder die Augen und starrte auf die in der Mitte des Himmels stehende Sonne.
»Verdammt, es ist schon Mittag«, fluchte er, richtete sich auf und fluchte gleich noch einmal, weil sich alles um ihn herum drehte. Er bewegte vorsichtig den Kopf, um nach der Frau zu sehen. »Daria?«, krächzte er, dann fiel sein Blick auf den Stein. Er sprang auf, zog seine Decke weg, knurrte vor Wut. Seine Sig war weg.
»Wenn ich dieses Arschloch erwische …« Er schüttelte den Kopf. Das musste warten. Klar, er musste dieses Schwein finden, aber nicht wegen der Waffe, zuallererst wegen der Frau. Er hatte dieser Frau versprochen, sie nach Hause zu bringen, das würde er auch tun. Die Sig war nur eine von vielen. Auch wenn er diese besonders mochte, weil er mit ihr McCraw das Hirn gelöchert hatte. Dem Mann, der seine Frau zu Tode gefoltert hatte.
»Die Frau«, fluchte er wieder. Was zur Hölle war hier los? Er musste nicht lang überlegen, die Kleine war wohl nicht wandern gewesen. Eigentlich ging ihn die Sache ja nichts an, aber er mochte Miss Perfect und er hielt sich an seine Versprechen. Er beachtete seine Sachen, die überall verstreut waren, nicht weiter, sondern suchte nach einem Hinweis, der ihn zu Daria führen könnte. Der Gedanke, dass sie sich auf ihn verlassen und er es vergeigt hatte, machte ihn wütend. Ja, er war angepisst. Er würde das hier wieder in Ordnung bringen.
Er tastete nach seinem Messer, das er unter seiner Hose an der Wade trug, holte es hervor und lief los. Der Mann hatte wohl angenommen, Rogue wäre kein Problem mehr, denn er hatte sich keine Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen. Eine breite Schleifspur führte einige Meter am See entlang. Er musste Daria gezogen haben. Ein Schlappschwanz, der nicht einmal eine Frau tragen konnte, hatte Rogue außer Gefecht gesetzt. Rogue fühlte sich noch mehr angepisst.
Den Hang hinauf war ein Stück Erde aufgewühlt, hier musste der Mann weggerutscht sein durch das Gewicht seiner Last, die er hier hochgezogen haben musste. Ein Stück weiter entdeckte er herausgerissenes Moos, etwas Blut, zerbrochene Zweige. Er folgte den Spuren eine Weile, bis er sie verlor, kehrte zurück zur letzten Spur und suchte nach neuen Hinweisen. Die Kopfschmerzen und die Übelkeit, die ihn plagten, machten es ihm nicht unbedingt einfacher. Es war heiß, er schwitzte und er hatte Durst. Wieso hatte er sich nichts zu trinken mitgenommen? Weil er Hals über Kopf losgestürmt war, was nicht typisch für ihn war. Er konnte es nur auf seinen dröhnenden Schädel schieben.
Er blieb stehen, tastete vorsichtig nach der Wunde oberhalb seiner Stirn und ächzte. Wenn dieser Stein ein bisschen schwerer oder Rogues Schädel nicht so dick gewesen wären, dann hätte er jetzt wohl ein Problem. Oder er hätte nie wieder ein Problem, je nachdem, wie man es betrachten mochte. Frustriert wischte er sich mit dem Unterarm über die verschwitzte, verkrustete Stirn. Er war zwar umgeben von meterhohen Bäumen, aber die konnten die Sommerschwüle nicht aus dem Wald halten. Die Bäume machten es eher noch schlimmer, weil sich die Luft zu dick zum Atmen anfühlte hier unten. Er drehte sich suchend einmal im Kreis und stoppte, als er ein Haus entdeckte, das sich direkt vor seiner Nase hinter einigen Bäumen versteckte, dunkel, unheimlich und wohl lange schon verlassen. Das ideale Versteck für einen Irren?
Rogue festigte seinen Griff um sein Jagdmesser, nahm eine halb gebeugte Haltung ein und schlich sich im Schutz der Bäume näher an das Haus. Die Fenster waren dunkle Löcher, zum großen Teil eingeschlagen, das Mauerwerk war so schmutzig, dass man unmöglich noch sagen konnte, welche Farbe der herabbröckelnde Putz mal gehabt hatte. Das Haus war nicht groß, sehr schmal, hatte aber immerhin zwei Etagen, war geziegelt. Wahrscheinlich war es mal ein Forsthaus gewesen. An der Seite stand ein Polizeiauto, wenn Rogue nicht schon genug Erfahrungen mit der Polizei gesammelt hätte, wäre er jetzt erleichtert, denn eigentlich konnte das nur bedeuten, dass die Frau schon Hilfe hatte. Aber Rogue hatte eine Menge sehr schlechter Erfahrungen mit der Polizei in Schottland gemacht. Warum sollte die in Spanien besser sein? Also schlich er sich noch näher an das Haus, warf einen vorsichtigen Blick in das Auto und dann den schlechten Weg entlang, den das Auto wohl gekommen war.
Rogue hatte ein sehr komisches Gefühl in der Magengrube, und auf dieses Gefühl konnte er sich verlassen. Bisher hatte es ihn nur einmal im Stich gelassen, als er nicht rechtzeitig kam, um seine Frau zu retten. Er hoffte sehr, dass er dieses Mal nicht wieder zu spät war. Vorsichtig drückte er sich gegen die Mauer des Hauses und schob sich langsam an das erste Fenster heran, das recht niedrig war. Er musste sich nur ein wenig nach vorne beugen, um einen Blick nach innen werfen zu können. Und was er sah, ließ ihm seinen Mageninhalt in den Rachen schießen. Rogue war nicht empfindlich, er hatte schon eine Menge schlimme Dinge gesehen, aber er war noch nie mit realen Horrorfilmszenarien konfrontiert worden. Er drückte seine Hand auf seinen Mund und schluckte die bittere Galle herunter. Wie gut, dass sein Magen leer war. Er schloss die Augen und atmete tief ein, bevor er noch einmal durch das Fenster in die Küche sah.
Die Möbel waren zum großen Teil heruntergekommen, Schranktüren hingen schief in ihren Angeln oder fehlten ganz, die Tapeten hingen in langen Fetzen von den Wänden und Kabel baumelten von der Decke. Und auf dem Tisch lag der nackte Körper einer Frau. Ihre Arme und Beine hingen herunter, ihr Haar war so lang, dass es bis zum Boden reichte. Ihr Körper wies mehrere Schnitte auf, dünne Schläuche steckten in ihrer Haut, die nach oben zur Decke verliefen und in Beuteln mit einer klaren Flüssigkeit endeten. Als hätte man die Leiche an mehrere Tropfe gehängt. Auf dem Boden verteilt standen Kanister, Fässer und Schüsseln. In einer davon entdeckte Rogue Gehirnmasse. Dieses gräulich wabblige Zeug hatte er schon gesehen und würde es immer wieder erkennen.
Rogue riss seinen Blick von dem, was er sah und schob sich weiter um das Haus herum. Durch das nächste Fenster konnte er ein Schlafzimmer sehen. Auf dem dreckigen Lumpen, der wohl mal eine Decke war, entdeckte er Daria. Ihre Hände und Füße waren gefesselt und sie starrte zur Decke. Einen Augenblick lang dachte er, sie wäre tot, aber dann hob sich ihr Brustkorb unter einem tiefen Atemzug und Rogue stöhnte erleichtert auf.
Daria rieb sich mit zitternden Fingern über die schmerzenden Handgelenke. Sie wusste nicht, was sie mehr zittern ließ: die eisige Kälte, die ihr in den Gliedern steckte oder das Entsetzen darüber, dass sie schon wieder in den grausigen Klauen dieses Irren festsaß. Sie wusste nicht einmal, ob sie es als Fortschritt betrachten konnte, dass er sie dieses Mal im Schlafzimmer des verwahrlosten Hauses festgebunden hatte, und nicht wie beim letzten Mal in der Küche, wo sie ihm dabei zusehen musste, wie er den Leichnam einer Frau ausnahm und präparierte. Haltbar machte für seine wahnsinnige Traumvorstellung von einer perfekten Bilderbuchfamilie.
Das Wort Bilderbuchfamilie bekam einen ganz üblen Nachgeschmack, wenn man bedachte, dass dieser Mann sich eine Familie aus Leichen zusammenbaute. Im Wohnzimmer saßen Kinder vor einer Spielkonsole, die Frau auf dem Tisch sollte ihre Tante sein, hatte den Ansprüchen des Wahnsinnigen aber nicht standgehalten und wurde deswegen zur Nachbarin degradiert, hatte er Daria in einem seiner ewig langen Monologe erklärt. Er baute sich eine Familie nach seinem kranken Idealbild. Wie viel hatte dieser Mann im Laufe seines Berufslebens gesehen, dass er sich dazu gezwungen fühlte, eine Familie zu bauen, in der es keine Gewalt gab, keine Lügen, keinen Betrug, keine Frustration?
Was für Ansprüche hatte dieser Mann? Was würde Daria tun müssen, um zumindest eine Chance auf Überleben zu haben? Daria schüttelte sich, wahrscheinlich wäre es besser, sie würde nicht leben und würde sich lieber von ihm ausstopfen lassen. Der Gedanke, sie müsste ihr Leben mit diesem Monster und seiner Leichenfamilie verbringen, erleichterte ihr die Vorstellung von einem schnellen Tod.
Daria zog an den rauen Seilen, mit denen sie an einem Ring in der Wand festgemacht war, und versuchte eine bequemere Position zu finden. Ihr Rücken schmerzte, mit dem sie gegen die raue, feuchte Wand lehnte, ihr Hintern tat weh vom Sitzen auf dem harten Boden, und auch sonst gab es kaum eine Stelle an ihrem Körper, die nicht geschunden war. Sei es durch Manuels Faustschläge oder dadurch, von dem Wahnsinnigen über den Waldboden gezerrt worden zu sein. Auch ihre Seele fühlte sich missbraucht an. Sie hatte diesem Mann vertraut und er hatte sie betäubt und hierher entführt. An einem fremden Ort aufzuwachen, gefesselt, umgeben von Tod und Grauen, war das Schlimmste, was sie je durchmachen musste. Aber noch war sie nicht tot, es konnte also noch viel schlimmer werden.
Am ersten Tag, nachdem der Polizist, der sie eigentlich hatte retten sollen, sie entführt hatte, hatte sie noch geweint und gefleht, aber sie hatte schnell begriffen, dass ihr das nicht half, denn der Wahnsinnige hatte sie ignoriert und ihr stattdessen von seinen Plänen erzählt: davon, wie sie dieses Haus gemeinsam in ein Zuhause verwandeln würden, wie sie noch mehr Kinder haben würden - mehr als die toten, die im Wohnzimmer saßen. Und welche Rolle sie zu spielen hatte. Er hätte ihr ja so viel mehr zu bieten als Manuel.
Sie starrte kraftlos an die Decke. Gestern noch hatte sie Hoffnung gehabt, als ihr die Flucht gelungen war, als der Polizist, der sie eigentlich in das Frauenhaus bringen sollte, sie für einen Augenblick allein in der Küche zurückgelassen hatte und sie sich mit Hilfe eines Skalpells, das vom Tisch gefallen war, befreien konnte. Heute, wo Moreno sie wieder in seinen Fängen hatte, fühlte sie sich leer, müde und hatte eindeutig aufgegeben. Sie versuchte nicht einmal mehr, sich zu befreien. Wie sollte sie hier auch wegkommen? Sie konnte kaum auftreten. Ein Teil von ihr hatte mit dem Leben längst abgeschlossen. Ja, sie war sich sogar sicher, dass der einzige Weg hier raus der war, sich als Belastung für den Wahnsinnigen zu erweisen, damit er sie recht bald von all dem hier befreite. Sollte er danach doch mit ihrem Körper machen, was er wollte.
Daria starrte auf einen feuchtgelben Fleck über ihrem Kopf und fühlte plötzlich eine so tiefe Ruhe in sich, dass sie für einen Augenblick sogar das Atmen vergaß. Erst ihre protestierenden Lungen zwangen sie zu einem tiefen Atemzug.
Die Frau war allein im Zimmer, als er sich davon überzeugt hatte, klopfte er gegen die dreckige Scheibe. Sie bewegte ihr Gesicht langsam zum Fenster und riss die Augen erschrocken auf, als sie ihn erkannte. Sie schüttelte so hastig den Kopf, dass Rogue befürchtete, sie würde sich jeden Moment etwas zerren. Offensichtlich wollte sie nicht, dass er zu ihr hereinkam.
Das musste sie schon ihm überlassen. Gebückt ging er weiter um das Haus herum, bis er ein eingeschlagenes Fenster fand, durch das er hineinklettern konnte. Das Wohnzimmer war ein noch schlimmerer Anblick als die Küche. Dieser Mann war wahnsinnig, ein Irrer. Rogue musste mit sich kämpfen, musste sich auf das konzentrieren, was er hier tun wollte, um nicht in eine Schockstarre zu verfallen.
Das Wohnzimmer sah aus wie jedes andere Wohnzimmer auch. Es hatte ein Sofa, einen Tisch, Schränke, ein paar Bilder an den Wänden. Alles dreckig und alt, verschlissen, aber ansonsten war es ein Wohnzimmer. Auf dem Sofa saß eine kleine Familie. Und diese Familie war es, die ihm die Übelkeit in den Magen trieb, denn sie starrten auf den zerbrochenen Bildschirm eines alten Fernsehers und waren tot. Tot – und doch wirkte diese Szene wie eine, die man in jeder Familie erwarten würde. Ein Mann - wahrscheinlich der Vater - hielt eine Flasche Bier in der Hand, trug ein Holzfällerhemd, eine alte Jogginghose und hatte seinen freien Arm um seinen Sohn gelegt. Sein Sohn hatte eine ausgestopfte Katze auf seinem Schoß liegen, seine Hände lagen auf ihrem Körper, als würde er die Katze streicheln. Und neben ihm saß die Tochter, ein blondes Mädchen von etwa zehn Jahren, mit aufgelösten Zöpfen und einer züchtigen Bluse und einem Rock, der bis zu ihren Knien reichte. In ihren Händen hielt sie ein Buch. Rogue würgte, unfähig den Blick von der Szenerie zu lösen. Er konnte nicht glauben, was er hier sah und fragte sich, wo er gelandet war. Wie er überhaupt hier gelandet war. Aber nach dem zu urteilen, was er vor Augen hatte, wusste er, er musste die Frau retten.
Er hatte zerfetzte Leichen in Kriegsgebieten gesehen, sterbende, schreiende Soldaten und Kinder. Er hatte in Glasgow Frauen gesehen, die von Menschenhändlern zu Sexsklavinnen gemacht wurden, hatte gesehen, wie dieselben Männer Kinder prostituiert hatten, aber dieser Anblick war noch einmal eine ganz andere Nummer.
»Reiß dich zusammen!«, befahl er sich und löste sich mit wackligen Beinen von der Familie. »Konzentrier dich.«
Rogue schlich aus dem Wohnzimmer, warf einen flüchtigen Blick in den Flur, bevor er dann weiter zum Schlafzimmer lief. Als er durch die Tür kam, begann Daria aufgeregt zu zappeln und den Kopf zu schütteln.
»Er ist nicht hier«, flüsterte er, um Daria zu beruhigen.
»Er wird gleich wieder da sein, er sucht nach dir.«
»Dann beeilen wir uns.« Rogue stürzte auf sie zu und schnitt in aller Eile die Fesseln durch. Er wollte die Frau hier raus haben, bevor er sich um dieses Schwein kümmern würde. Er hob sie auf seine Arme und ignorierte ihr schmerzerfülltes Stöhnen. Für Mitleid und Vorsicht war keine Zeit mehr. Nicht, dass er ein Problem damit hätte, einem Irren die Scheiße aus dem Leib zu prügeln, aber er wollte kein Risiko mit der Frau eingehen, sie hatte genug durchgemacht. Rogues missbilligender Blick fiel auf die vielen Flecken auf ihren Beinen, deren Ursprung nur Schläge sein konnten. Das machte ihn wütend, so sehr, dass er zitterte und kaum atmen konnte. Dieses Dreckschwein würde seine Strafe bekommen. Später.
»Mach die Augen zu«, befahl er ihr, als er sie zum Wohnzimmer trug. Er konnte nur hoffen, dass Daria das Grauen in diesem Haus nicht gesehen hatte.
»Ich habe sie schon gesehen«, sagte sie mit brüchiger Stimme, verbarg ihr Gesicht aber trotzdem an seiner Brust.
Er beeilte sich, aus diesem Zimmer zu kommen, um die Gänsehaut loszuwerden und auch sie nicht länger als unbedingt nötig dieser unfassbaren Szene auszusetzen. Als er fühlte, wie Feuchtigkeit seinen Hals benetzte, wären seine Knie fast weich geworden unter ihm. Denk jetzt nicht darüber nach, was sie vielleicht erlebt hat, bis du Idiot aus dem Traumland zurückgekehrt bist. Er setzte sie auf dem Fensterbrett ab, damit sie sich hinausschieben konnte, kletterte hinterher und hob sie sofort wieder auf seine Arme. Bevor er losrannte, vergewisserte er sich, dass niemand in der Umgebung war. Den Bruchteil einer Sekunde überlegte er, das Polizeiauto zu benutzen, um hier wegzukommen, aber als er vorhin einen Blick reingeworfen hatte, hatte er keinen Schlüssel gesehen. Und das Auto zu knacken würde wertvolle Zeit in Anspruch nehmen.
Er lief in die Richtung, aus der er gekommen war, hielt sich aber leicht nördlich, so dass er fast direkt auf sein Bike zulaufen müsste. Die Frau klammerte sich an seinen Hals und zitterte in seinen Armen. Rogue schwitzte und atmete angestrengt. Verdammte Sommerhitze, schimpfte er in Gedanken. Seine Handfläche war so feucht, dass sie über ihren nackten Schenkel rutschte, seine andere Hand drückte gegen ihre Rippen und er machte sich Sorgen, ob er ihr unnötig Schmerzen zufügte. Unter seinen schweren Motorradstiefeln knackten kleine Zweige und er konnte den Waldboden nicht richtig sehen, weil ihr Körper die Sicht vor seine Füße versperrte. Aber er mühte sich den Hügel hoch und hoffte, dass er in die richtige Richtung lief.
»Danke«, flüsterte sie. Sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen und sah ihn aus verweinten Augen an. Ihr Gesicht war schmutzig und trotzdem schön, unschuldig. Und viel zu jung, um zu sterben, dachte er.
»Nichts zu danken. Ich bin vielleicht ein Krimineller, aber kein Arschloch«, sagte er schwer atmend und beschloss dann, lieber die Klappe zu halten. Weder hatte er Lust auf eine erneute Diskussion über seine Sprache, noch konnte er es sich leisten, seine Atemluft und Kraft auf ein Geplänkel zu verschwenden.
Er kämpfte sich einen langsam ansteigenden Berg hinauf, auf dem er mehrmals ins Rutschen kam und Daria fast fallenließ. Er musste Bäumen ausweichen, die fast entwurzelt waren und Daria oben am Rand eines recht steilen Abhangs kurz absetzen, um zu verschnaufen. Schwer nach Luft ringend, stützte er sich auf seine Oberschenkel. »Dich um den halben See tragen, kein Problem, aber dieser Berg …«, keuchte er entschuldigend. Es war ihm fast peinlich, das Mädchen wog keine sechzig Kilo und war nicht besonders groß. Sie würde ihm wahrscheinlich nur bis zur Brust reichen.
»Lass mich laufen«, warf sie ein und sah ihn besorgt an. Sie war um ihn besorgt? Das entlockte ihm ein Lächeln.
»Nein, wenn ich dich trage sind wir schneller.« Die Frau stöhnte schon, wenn er sie nur vorsichtig berührte, wie wollte sie da durch den Wald fliehen? Wenn sie dazu in der Lage wäre, würde er sie allein laufen lassen, damit er sich um dieses Problem kümmern konnte.
Er bedeutete ihr, ihren Arm wieder um seinen Nacken zu legen und hob sie an.
»Detiene inmediatamente!«, sagte jemand in seinem Rücken.
»Er zielt auf uns«, flüsterte Daria und versteifte sich in seinen Armen. »Das ist der Wahnsinnige!«
Rogue hielt sie fester, rührte sich nicht und atmete mehrmals tief ein, bevor er beschloss, zu tun, was ihm gesagt wurde und stehenzubleiben, dann ließ er Daria auf ihre Füße runter. »Wenn ich es sage, rennst du.«
»Was? Nein?« Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.
»Du tust es«, knurrte er und sah sie scharf an. Er zog sein Messer aus dem Gürtel vorne am Bauch und wandte sich langsam um.
Vor ihm stand ein recht großer Mann in Polizeiuniform. Na toll, ein irrer Bulle also. Einfach perfekt, dachte Rogue und war weniger überrascht, als er hätte sein sollen, aber er hatte einfach schon zu viel erlebt: Polizisten, die sich von der Mafia schmieren ließen, Polizisten, die selbst im Frauenhandel steckten, Polizisten, die wegsahen, wenn Kinder entführt wurden. »Señor policía«, sagte Rogue. »Meine Frau und ich machen einen Ausflug.«
Der Polizist setzte eine Grimasse auf und wedelte mit der Waffe in Rogues Richtung. »Wir wissen beide, dass sie nicht deine Frau ist.«
»Wissen wir das?« Rogue machte einen Schritt auf den Mann zu und lächelte. »Sie hat manchmal Ladehemmungen. Aber das ist noch dein geringstes Problem. Die Sig ist nicht geladen, oder glaubst du wirklich, ich schlafe mit einer geladenen Waffe neben einer Frau, die ich nicht kenne?« Der Bulle warf ihm einen verdutzten Blick zu. Rogue konnte nur hoffen, dass sein Täuschungsversuch funktionierte, denn seine Sig war natürlich geladen und ein guter Bulle hätte sich davon überzeugt, bevor er damit auf jemanden zielte. Rogue zumindest hätte sich überzeugt.
Der Bulle machte einen nervösen Schritt rückwärts und ließ das gut gefüllte Magazin aus der Waffe gleiten. Diesen Augenblick nutzte Rogue, um sich auf ihn zu stürzen. »Jetzt«, schrie er Daria zu und rammte den Bullen zu Boden. Als sie beide aufprallten, fühlte er, wie der Mann unter ihm die Luft aus den Lungen stieß. Rogue verlor bei dem Sturz sein Messer, es rutschte den Abhang herunter. Davon ließ er sich nicht beirren und setzte seine Fäuste ein. Sein erster Treffer streifte das Kinn des Bullen nur. Der traf dafür umso besser, er hieb Rogue den Griff seiner Sig auf den ohnehin schon schmerzenden Schädel. Rogue ächzte auf.
Der Bulle stieß ihn von sich runter, sprang auf und trat Rogue gegen die Rippen. Rogue wälzte sich zur Seite und rappelte sich auch auf, während der Bulle nach dem Magazin suchte. Rogue nahm sich eine Sekunde, um nach der Frau zu sehen, die wie erstarrt ein paar Meter entfernt stand.
»Ich hab gesagt, du sollst verschwinden«, brüllte er aufgebracht. Daria sah ihn verwirrt an, bewegte sich aber nicht. Warum machten die Weiber nie, was man von ihnen verlangte?
In dem Moment traf Rogue eine Faust gegen den Wangenknochen. Sein Kopf fiel zur Seite, aber er bekam sich schnell unter Kontrolle. Er hatte sich schon so oft geprügelt, so ein Schlag warf ihn nicht aus der Bahn. Er schnappte sich das Handgelenk des Mannes, drückte seinen Arm zur Seite und holte mit seiner anderen Hand aus. Seine Faust traf das Kinn seines Gegners dieses Mal punktgenau. Der Mann taumelte, rieb sich über das Kinn und wich rückwärts vor Rogue aus. Der trat mit einem grimmigen Lächeln näher und mit dem Bild der Leichen im Haus vor Augen, trat er dem Bullen in den Magen.
»Du perverse Drecksau, ich werde dich umbringen«, drohte er zufrieden. Das würde er tun. Dieser Kerl würde seine skurrile Puppenstube nicht weiter vergrößern. Bei dem Gedanken an die beiden Kinder kochte Rogue vor Wut. Sein nächster Fußtritt traf gegen die Brust des Polizisten. Er holte aus und donnerte seine Faust gegen die Schläfe des Bullen, als dieser gerade mit dem Griff der Sig auf seinen Kopf zielte.
»Mein Kopf hat heute genug abbekommen«, brummte Rogue und benutzte seine Stiefelspitze, um sie dem Bullen zwischen die Beine zu treiben.
Der Mann strauchelte, kippte, versuchte nach Rogue zu greifen und stürzte dann den Abhang hinunter. Auf seinem Weg nach unten nahm er mit seinem Körper ein paar Bäume mit. Und Rogues Sig. Rogue verzog das Gesicht, wirklich schade um die Sig.
»Ist er tot?« Daria trat neben ihn und starrte den Abhang hinunter.
»Gut möglich, aber davon überzeugen wir uns jetzt nicht.« Er musterte sie besorgt und schnappte nach Luft. »Ich hatte gesagt, du sollst verschwinden«, knurrte er sie wütend an.
»Und ich tue grundsätzlich nicht, was ein Mann mir sagt. Nicht mehr«, fügte sie leise an und sah zur Seite.
Rogue musterte sie neugierig. Er hätte zu gern mehr über dieses »nicht mehr« gewusst, aber dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Er trat näher an die Frau ran, als er von unten ein Keuchen hörte und sah, wie der irre Bulle sich auf die Knie kämpfte, und hob sie wieder auf seine Arme. »Schaffen wir dich erstmal hier weg, ich kümmere mich später um das Dreckschwein.«