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4 Institutionelle Reproduktion der Geschlechtertypik

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Obwohl die FMS sich in den 1970er-Jahren zu einer koedukativen Institution gewandelt hat, ist der Anteil an jungen Frauen nach wie vor hoch. Nachfolgend stellen wir drei Situationen dar, welche diese institutionelle Persistenz der FMS als «Mädchenschule» erklären können, und rekonstruieren die dabei zugrunde liegenden sozialen Mechanismen.

Die erste Situation bezieht sich auf die Anfänge der Institutionalisierung der Schule in den 1970er-Jahren. Damals übertrug die EDK einer Kommission den Auftrag, Leitideen und Zielvorstellungen für ein interkantonales Modell dieses Schultyps auszuarbeiten. In Abbildung 2 hat diese Kommission die mögliche zukünftige Position und Funktion der damaligen DMS – im Vergleich und in Abgrenzung zur Berufsbildung, welche direkt nach der obligatorischen Schulzeit begonnen werden konnte (links) und zum Gymnasium (rechts) – dargestellt.


Abbildung 2: Die Position der Fachmittelschule (damals: Diplommittelschule) im nachobligatorischen Bildungssystem (Quelle: EDK, 1977, S. 13)

Gemäß den damaligen Planungen sollte die Schule zum einen vorwiegend auf paramedizinische, soziale und erzieherische Berufe vorbereiten, auf die wir uns nun zuerst konzentrieren. Zum anderen waren auch besondere administrative und technische Berufe im Dienstleistungssektor im Fokus. Wir kommen in Kapitel 5 auf diese zurück. Mit dem Fokus auf die pflegerischen, sozialen und erzieherischen Berufe stützten sich die Mitglieder der Kommission auf die bisherige Tradition der Schule, für Berufsausbildungen vorzubereiten, die zu Arbeitsfeldern im Dienste des öffentlichen Gemeinwohls führen. Dazu zählen die Grundversorgung der Gesellschaft mit Gesundheit, sozialer Unterstützung sowie außerhäuslicher Erziehung. Entsprechend wurden die Zielsetzungen im Bericht der Kommission formuliert, welche die «Existenzberechtigung [der Schule] begründen» und diese «von der Funktion her klar von den benachbarten Schultypen ab[…]grenz[t]» (EDK, 1977, S. 9, S. 12):

«Besonderer Stellenwert kommt [den in der Schule geförderten Persönlichkeitsmerkmalen] in jenen Berufen zu, die der unmittelbaren Hilfe- und Dienstleistung am Mitmenschen dienen. […] Die Diplommittelschulen sollen daher besonders jenen jungen Menschen, die sich paramedizinischen und sozio-pädagogischen Berufen zuwenden, vermehrt helfen, zu starken Persönlichkeiten heranzuwachsen.» (EDK, 1977, S. 10)

Diese Berufe waren jedoch im Zuge der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und der damit einhergehenden familiären Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktionen den Frauen zugewiesen worden (Hausen, 1976).[5] Die gesellschaftlich konstruierte, in Institutionen wie der Familie und dem Arbeitsmarkt eingelagerte und in den Köpfen der Subjekte fest verankerte Zuordnung der pflegerischen und sozialen Tätigkeiten zum weiblichen Geschlecht war der gesellschaftliche Kontext, in dem der damalige Legitimierungsprozess der FMS stattfand. Indem sich die Akteure der Schule auf diese für den Zusammenhalt der Gesellschaft und das Funktionieren des Nationalstaates elementaren «weiblichen» Berufsfelder abstützten, konnten sie sich die Unterstützung staatlicher Akteure sichern (Fischer et al., 2017). Dies war strategisch wichtig, denn dieser dritte Bildungsweg wurde bildungspolitisch insbesondere von Akteuren der Berufsbildung auch immer wieder infrage gestellt (Leemann & Imdorf, 2019) und neben den etablierten Wegen der beruflichen Grundbildung und dem Gymnasium als Fremdkörper beurteilt (Kiener, 2008).[6] Insbesondere ab den 1990er-Jahren kam die Schule im Kontext verschiedener Bildungsreformen – der Einführung einer beruflichen Grundbildung in Gesundheit und Sozialem sowie der Etablierung der Fachhochschulen und pädagogischen Hochschulen – zunehmend unter Druck, ihre Position und ihr Profil zu klären (Esposito, Leemann & Imdorf, 2019). Sie war in dieser Zeit in gewissen Kantonen von Schließung bedroht und musste grundsätzlich damit rechnen, ohne formalen Anschluss an die neue Hochschullandschaft zu verbleiben, was ihren damaligen Status als Sackgassenausbildung bestätigt hätte.

Eine erste Erklärung der Stabilität der Geschlechtsspezifität der FMS ist – so können wir zusammenfassen – der Umstand, dass sie sich, um ihr Überleben zu sichern und ihre Position als dritter Bildungsweg zu rechtfertigen, im Sinne des funktionalen Mechanismus weiterhin auf diese für die Gesellschaft wichtigen «weiblichen» Berufsfelder der Gesundheit und Erziehung abstützte, auf die sie schon immer vorbereitete. Damit konnten Bestrebungen von einflussreichen Akteuren (insbesondere der Berufsbildung), welche im Sinne machtbasierter Mechanismen den Schultyp abschaffen wollten, verhindert werden. Diese funktionalistische institutionelle Stütze ist bis heute relevant. Der Fachkräftemangel in der Pflege und Schule ist gerade in den letzten Jahren ein starkes Argument für die Schule und diese Berufsfelder geworden und stärkt ihre Position.

Die zweite Situation fokussiert die Entwicklungen ab den 1990er-Jahren, als sich einzelne Akteure mit Forderungen zur Gleichstellung und Frauenförderung für den Erhalt der Schule einsetzten. So argumentiert 1998 die damalige Rektorin der Zürcher DMS und Präsidentin der Konferenz der Rektorinnen und Rektoren der Diplommittelschulen (KDMS), dass vor allem den an bisherigen höheren Fachschulen noch deutlich untervertretenen Frauen dieser Weg offengehalten werden müsse. Sie sieht die Absicherung der Schule deshalb als frauenförderndes Projekt (NZZ, 17.9.1998). Die Schülerschaft dieser DMS wehrte sich im Jahre 2001 gegen den bildungspolitischen Entscheid, die Schule zu schließen, und berief eine Vollversammlung ein. Zusammen mit Lehrkräften wurde eine öffentliche Demonstration organisiert. Damit konnte die Schließung verhindert werden (NZZ, 3.9.2004). Die Sektion Lehrberufe der Gewerkschaft VPOD Zürich votierte einige Jahre später mit Gleichstellungsargumenten gegen die Entscheidung, dieselbe Schule zwar weiterzuführen, aber quantitativ stark einzuschränken (VPOD Zürich, 2006). Argumentiert wurde mit der Diskriminierung insbesondere von Migrantinnen, da gerade diese durch den Schulbesuch die Chance für einen sozialen Aufstieg erhalten. Zudem werde auch die Möglichkeit, Frauen in die Berufsfelder der Naturwissenschaften zu führen, durch die Sparvorgaben behindert. Es entwickelten sich in diesem Kanton Kräfte, die gegen die angedrohte Schließung ankämpften.

Eine zweite Erklärung für die Reproduktion der Geschlechtstypik können wir in legitimatorischen Mechanismen finden. Das Engagement von betroffenen Schülerinnen und Schülern, Vertreterinnen der Schule sowie der Lehrergewerkschaft beruft sich auf Werte und Normen von Gleichstellung und Frauenförderung. Das Weiterbestehen und die Wichtigkeit der Schule wird von den Akteuren explizit mit der Geschlechtsspezifität der Schule rechtfertigt. Die Schließung oder starke Einschränkung der Schule würde ansonsten junge Frauen diskriminieren.

Die dritte Situation betrifft den Prozess der Transformation der DMS in die FMS zu Beginn der 2000er-Jahre. Die Schule hat damals ihr historisches Selbstverständnis einer in erster Linie allgemeinbildenden und schulisch organisierten Bildungsstätte für bildungsmotivierte Schülerinnen und Schüler beibehalten und verteidigt (Hafner & Leemann, 2019). Damit grenzte sie sich von der beruflichen Grundbildung ab, auch wenn mit der Einführung von Berufsfeldern und Praktika praxisbezogene Elemente eingebaut wurden (Esposito et al., 2019). Allgemeinbildende und schulische Wege entsprechen jedoch eher den Interessen, Identitäten und Kompetenzen von jungen Frauen. Die schulischen Anforderungen an Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Folgsamkeit usw. sind passender zu deren Konstruktionen von Weiblichkeit. Die Männlichkeitskonstruktionen – vor allem der Jugendlichen aus unteren sozialen Schichten – widersprechen dagegen den Ansprüchen beim schulischen Lernen. Es ist nicht «cool», kognitiv hart zu arbeiten oder in der Schule gute Leistungen zu erbringen. Darauf verweisen die Konzepte des «laddish behavior» (Verhalten eines Machos) und des «anti-swot» (kein Streber sein zu wollen) (Francis & Skelton, 2011; Hadjar, Grünewald-Huber, Gysin, Lupatsch & Braun, 2012).

Eine dritte Erklärung für die institutionelle Stabilität der Geschlechtsspezifität bezieht sich wiederum auf funktionale Mechanismen. Mit der allgemeinbildenden, schulischen Konzeption des Bildungsweges, der erhöhte Leistungsanforderungen stellt, verfolgen die Verantwortlichen das Ziel, die Schülerinnen und Schüler zweckmäßig und sinnvoll auf die Anforderungen eines Studiums im Tertiärbereich sowie für die spätere Tätigkeit in den sozial und kognitiv anspruchsvollen Berufsfeldern vorzubereiten. Mit dieser konzeptionellen Ausrichtung werden jedoch eher weibliche als männliche Jugendliche angesprochen.

Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl (E-Book)

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