Читать книгу Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl (E-Book) - Елена Макарова - Страница 49
5 Institutioneller Wandel der Geschlechtertypik
ОглавлениеEntlang von drei weiteren Situationen werden im Folgenden zum einen soziale Mechanismen dargestellt, welche das Potenzial hatten beziehungsweise hätten, die Geschlechtstypik der FMS aufzuweichen und zu einer offeneren Berufswahl zu führen. Zum anderen wird gezeigt, welche sozialen Mechanismen diesen institutionellen Wandel verhinderten.
Betrachten wir für die erste Situation in einem ersten Schritt nochmals den Vorschlag der Kommission der EDK (1977) (Abbildung 2). Gemäß Planung waren damals auch «bes[ondere] administrative und techn[ische] Berufe im Dienstleistungsbereich» angesprochen, auf welche die Schule vorbereiten sollte. Zur Grundversorgung der Gesellschaft zählte demnach auch Kommunikation und Mobilität. Auf diese Berufsbereiche bereiteten in den 1970er-Jahren die sogenannten Verkehrsschulen – in der Darstellung unter die Diplommittelschulen subsumiert – in einem zweijährigen Lehrgang für Berufsausbildungen in Staatsbetrieben vor. Diese führten zu Beamtenstellen bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), bei der ehemaligen Post-, Telegraphen- und Telefonverwaltung (PTT), bei der Zollverwaltung sowie bei der Flugverkehrsüberwachung (EDK, 1983, S. 150; Criblez, 2012). Diese Verkehrsschulen sollten gemäß damaliger Konzeptidee in die DMS integriert werden, was jedoch nie umgesetzt worden ist. Leider existiert dazu bisher keine Forschung. Was wir aber rekonstruieren können, ist, dass diese Schulen im Zuge der Liberalisierungsprozesse in den staatlichen Grundversorgungen mit Kommunikation und Mobilität um die Jahrtausendwende geschlossen und deren inhaltliche Ausrichtungen in neue berufliche Grundbildungen im kaufmännischen Bereich umgewandelt wurden (z. B. berufliche Grundbildung Kaufleute öffentlicher Verkehr).
Für die FMS und die Frage der Geschlechtertypik ist aber von Bedeutung, dass es schon früh Bestrebungen gab, andere Berufsfelder, welche den modernen Wohlfahrts- und Sozialstaat fundieren und damals vor allem von jungen Männern ergriffen wurden, in die Schule zu integrieren,[7] was zu einem Wandel der Geschlechtsspezifität geführt hätte. Zu vermuten ist, dass es sich hierbei um einen Versuch handelte, die Position der bisherigen Töchterschulen durch die Ergänzung und Erweiterung mit den vom Bund betriebenen Verkehrsschulen zu stärken, was machtbasierten Mechanismen entspricht. Eine geringere Geschlechtersegregation der Schülerpopulation wäre wohl ein nicht direkt intendiertes Ergebnis gewesen. Die Umwandlung der Verkehrsschulen in berufliche Grundbildungen lässt aber darauf schließen, dass ebenfalls machtbasierte Strategien vonseiten der Berufsbildung diese Integration der Verkehrsschulen in die FMS erfolgreich verhinderten, wodurch die Schule weiterhin eine «Mädchenschule» blieb.
Die zweite analysierte Situation, welche die Geschlechtstypik der FMS hätte verändern können, betrifft Ideen ab den 1990er-Jahren, ein Berufsfeld Technik in die Ausbildung zu integrieren. Die KDMS brachte sich 1993 mit einem eigenen Positionspapier in eine Vernehmlassung[8] zur Zukunft der DMS ein und stellte dar, weshalb die DMS auch auf ein Fachhochschulstudium im technischen Bereich vorbereiten sollte.
«Einerseits wird dadurch die DMS auch für Knaben attraktiver, da es sich dabei im gegenwärtigen Verständnis noch eher um ‹Männerberufe› handelt. Anderseits kann dadurch der Anteil an Frauen in diesen Berufen erhöht und damit eine gesellschaftlich wichtige Entwicklung unterstützt werden. Insbesondere die Vertreter der technischen Berufe – aber nicht nur sie – beklagen die geringe Präsenz von Frauen in diesem Bereich.» (KDMS, 1993, S. 9)
Die Begründungen verweisen auf machtbasierte wie funktionale Mechanismen. Zum einen würde die Schule mit einer höheren Attraktivität für männliche Jugendliche an Bedeutung und damit an Definitionsmacht gewinnen. Zum anderen könnte sie den gesellschaftlichen Bedarf an technisch interessierten und ausgebildeten Fachkräften durch die Gewinnung von weiblichen Jugendlichen besser abdecken. In der Vernehmlassung selbst haben sich verschiedene Akteure jedoch dezidiert gegen die Integration eines technischen Berufsfeldes geäußert, um die berufliche Grundbildung nicht zu konkurrenzieren: «Direkte Konkurrenz der Diplommittelschule im Bereich der technischen, kaufmännischen oder landwirtschaftlichen Berufsmaturität zu den Berufslehren ist unerwünscht» (EDK, 1994, S. 15). Ein Vernehmlassungsteilnehmer ist zwar nicht dagegen, die DMS für die männlichen Jugendlichen attraktiver zu machen. Abgelehnt wird jedoch, «vermehrt Jugendliche der gewerblichen, industriellen und kaufmännischen Berufsbildung zu entziehen» (EDK, 1994, S. 17). Die von den männlichen Jugendlichen üblicherweise gewählten beruflichen Grundbildungen sowie die im Jahre 1994 neu eingeführte Berufsmaturität in diesen Berufsfeldern sollten – so diese Stellungnahmen – keinesfalls in eine Wettbewerbssituation gegenüber der DMS geraten. Der hier zugrunde liegende Mechanismus, der die Aufnahme eines Berufsfeldes Technik verhinderte, ist wiederum ein machtbasierter. Die Berufsbildungsseite wollte ihre Vorrangstellung in der Vorbereitung für technische Berufe absichern.
Vor wenigen Jahren gab es erneut Versuche, ein Berufsfeld Technik einzuführen. Eine Rektorin und ein Rektor einer FMS waren bestrebt, einen entsprechenden Pilotversuch an ihrer Schule einzuführen (Hager & Müller, 2014). Sie brachten entsprechendes Wissen aus Deutschland mit, wo ein solcher schulischer Ausbildungsgang auch für technische Berufe existiert. Ihr Vorhaben begründeten sie zum einen mit dem MINT-(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Fachkräftemangel und argumentierten, dass das schulische Angebot einer MINT-Ausbildung für jene männlichen Jugendlichen und deren Eltern attraktiv sei, die keine Berufslehre anvisieren. Dazu gehören vor allem aus dem Ausland zugezogene Familien, in deren nationalen Bildungssystemen die Berufsbildung abgewertet ist (Cattaneo & Wolter, 2013). Im Weiteren, so ihre Idee, könnten die weiblichen Jugendlichen für das Berufsfeld Technik motiviert werden. Diese Argumente und die ihnen zugrunde liegenden sozialen Mechanismen decken sich großmehrheitlich mit jenen der KDMS 20 Jahre zuvor.
Diese Bemühungen verliefen jedoch trotz hohen persönlichen Engagements der beiden Initianten schlussendlich im Sand. Die Widerstände vonseiten mächtiger Akteure in der Berufsbildung, insbesondere dem Verband der schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie, waren zu groß. Diese wollten in diesem männertypischen Berufsfeld den Weg über die berufliche Grundbildung mit Berufsmaturität schützen und widersetzten sich den Plänen.
«[…] sie wollen einfach keinen dritten Weg. [Es wird argumentiert:] ‹Es gibt schon zwei Wege, den gymnasialen Weg, der führt über das Praktikum, damit können sie dann ja auch an die Fachhochschule gehen. Und der andere Weg, der ist über die Berufslehre, der ist natürlich der goldene, weil sie dann halt auch die handwerklichen Fertigkeiten noch lernen schon in der Berufslehre. Sie wissen von der Pike auf sozusagen, was es braucht und was gemacht werden muss.›» (Rektorin FMS)
Bei der kürzlich erfolgten Revision des Anerkennungsreglements der FMS, bei dem in der sogenannten Anhörung explizit die Frage gestellt wurde, ob die vorgeschlagenen Berufsfelder die richtigen seien (Technik wurde jedoch nicht aufgeführt), haben sich einige Akteure zu einem Berufsfeld Technik geäußert. Zum einen wurde vom Verein Schweizer Gymnasial- und Fachmittelschullehrpersonen mit der Begründung des Fachkräftemangels und der Möglichkeit, Frauen für die MINT-Berufe zu gewinnen, gefordert, die Einführung eines entsprechenden Berufsfeldes zu prüfen. Zum anderen wurde von einem Kantonsvertreter explizit die Einführung eines Berufsfeldes Technik abgelehnt, da sie «zu Unklarheiten oder Doppelspurigkeiten mit den andern Ausbildungen auf der Sekundarstufe II führen könnte» (EDK, 2018, S. 72). Die EDK hat im verabschiedeten Anerkennungsreglement nun kein neues Berufsfeld Technik eingeführt. Grundsätzlich ist es aber den Kantonen freigestellt, ein solches Berufsfeld zu führen, sofern die entsprechenden kantonalen Hochschulen diese Abschlüsse anerkennen.
Zusammengefasst können wir festhalten, dass die Einführung eines neuen Berufsfeldes Technik in die FMS und ihre Vorgängerschule ein No-Go geblieben ist.[9] Verantwortlich dafür ist die machtvolle Position derjenigen Akteure, welche die Berufsbildung stützen und schützen – auch aus utilitaristischen Motiven (siehe dazu Fußnote 6) und mittels legitimatorischen Argumenten. Die berufliche Grundbildung ist für sie die angemessenere Ausbildungsform. Jene Akteure, welche die Position der FMS mit einer Integration des Berufsfelds Technik auszubauen versuchten, konnten sich bisher nicht durchsetzen. Ebenso fanden Argumente, welche funktional die Vergrößerung des Pools an technisch interessierten Fachkräften durch die Gewinnung von jungen Frauen ins Zentrum stellten, nicht die notwendige Beachtung.
Eine etwas andere Entwicklung zeigt sich in der Analyse der dritten Situation, im Berufsfeld Gesundheit, das in einzelnen Kantonen seit einigen Jahren um das Berufsfeld Naturwissenschaften ergänzt wurde und neben den klassischen Gesundheitsberufen auch auf die neuen Disziplinen der Life Sciences (u. a. Biotechnologie, Life-Sciences-Technologie, Lebensmitteltechnologie) vorbereitet. In der erwähnten Anhörung zur Revision des Anerkennungsreglements wurde explizit die Frage gestellt, ob die Kantone auch die Möglichkeit erhalten sollen, das Berufsfeld «Gesundheit» im Sinne einer Variante als «Gesundheit/Naturwissenschaften» zu führen. Viele Akteure, die sich in der Anhörung eingebracht haben, äußern sich positiv oder neutral zu dieser Kombinationsmöglichkeit (EDK, 2018). Sie erkennen hier neue Möglichkeiten für die Profilierung der FMS. Es gibt aber auch wenige Gegenstimmen. Interessant ist die von einem Akteur geäußerte Angst vor Verwässerung des «Profil[s] der FMS mit ihrer Ausrichtung auf im weiteren Sinne Berufe im pädagogischen, sozialen und musischen Bereich» (EDK, 2018, S. 1). Die Neuausrichtung könnte demnach, so die Angst, die traditionelle Funktion der FMS unterhöhlen.
In der Anhörung wie in den Interviews, die wir mit Rektorinnen und Rektoren führten, wird vor allem die Möglichkeit angesprochen, mit der Ergänzung der Naturwissenschaften und der neuen Namensgebung mehr junge Männer für eine Ausbildung an der FMS sowie für Berufe im Gesundheitsbereich zu rekrutieren.
«Die Koppelung der Naturwissenschaften mit dem Bereich Gesundheit ist sinnvoll, da mit Naturwissenschaften auch junge Männer eher angesprochen werden können.» (EDK, 2018, S. 6)
«Eben mit dieser Ausdifferenzierung gibt es so ein Rekrutierungsfeld bei den Männern, was plötzlich größer wird, weil ja es wird immer technischer, […] und das zieht nachher zunehmend auch Männer an, die vielleicht vorher keine Zukunft oder nichts gefunden haben in diesem Berufsfeld.» (Rektor FMS)
Die Gewinnung von Männern für den Gesundheitsbereich würde angesichts des Fachkräftemangels in der Pflege die gesellschaftliche Relevanz und damit die Position der FMS stärken. Auch hier ist ein Zusammenfallen von funktionalen und machtbasierten Mechanismen zu beobachten. Die Förderung und Gewinnung der weiblichen Jugendlichen für MINT-Berufe ist dagegen in den Interviews mit den Rektoren kaum ein Thema. Im Gegenteil meint eine der interviewten Personen, dass die Frauen vom Berufsfeld Gesundheit/Naturwissenschaften vielleicht auch eher abgeschreckt werden könnten.
Der Vorstand der Konferenz der Fachmittelschulrektorinnen und -rektoren unterstützt die Erweiterung des Berufsfeldes Gesundheit um den Bereich der Naturwissenschaften mit seinem im Jahre 2016 erstellten Video, welches Werbung für die Schule macht.[10] Er profiliert die FMS nicht mehr ausschließlich als Zubringerin zu den traditionellen Gesundheits- und Pflegeberufen, sondern verweist auf die breite Palette von MINT- und Life-Sciences-Berufen (Esposito, Leemann, Imdorf, Hafner & Fischer, 2018). Für klassisch «weibliche» Berufsfelder wird auch die männliche Form (Pflegefachmann, Dentalhygieniker, Physiotherapeut) verwendet, während in den «männlichen» Berufen die weibliche Form (Lebensmittelingenieurin, Chemikerin, Innenarchitektin) auftaucht.
Vertreter der FMS sind – so können wir festhalten – darum bemüht, mit dem Berufsfeld Gesundheit/Naturwissenschaften ihr Profil stärker naturwissenschaftlich auszurichten, um damit auch die männliche Zielgruppe als potenzielle Schüler anzusprechen und zu gewinnen. Triebkraft der Erweiterung des Ausbildungsprofils und Rekrutierungspotenzials sind funktionale und machtbasierte Mechanismen der FMS-Akteure. Aber auch hier sehen berufsbildungsnahe Akteure die berufliche Grundbildung bedroht und versuchen mit machtbasierten Strategien (z. B. parlamentarischen Instrumenten), die Angebote der FMS einzuschränken. Dabei sind auch utilitaristische Motive der Antrieb. Die FMS soll in ihrem Profil beschränkt werden, um Kosten zu sparen (siehe Fußnote 6).