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Kapitel 4-Der erste Abend

Das Taxi fuhr vor und wir wurden vom Fahrer in der Lobby, unter Bestätigung unserer Zimmernummer, in Empfang genommen. Ich musste ihm auch gar nicht erst meinen vorbereiteten Zettel zeigen, denn schon von Weitem war für mich ersichtlich, dass die Sicherheitsgurte auf den Rücksitzen einsatzfähig waren. Wegen meiner zweiten Grundsatzregel – dem Gebot der langsamen Fahrweise – wollte ich noch abwarten, wie die Tour sich anfühlte.

In dem Moment, als das Taxi losfuhr, sah ich einen Mann durch die Hotellobby in Richtung Rezeption gehen.

‚Der sieht ja aus wie der Mann aus der Reihe vor uns‘, dachte ich. Gut, möglich war es. Er hatte der Stewardess ja einen ähnlichen Hotelnamen genannt, und dieses Hotel war für Reisende aller Art eine ausgezeichnete Wahl. Egal, ob privat oder geschäftlich. Lange konnte ich aber dem Gedanken nicht hinterherhängen, denn der Taxifahrer fragte uns (sogar auf Englisch!) nach unserem Reiseziel für die heutige Fahrt. Ich war durch seine englische Ansprache so verwirrt, dass ich zuerst gar nicht wusste, was ich sagen sollte oder wollte.

„Where do you want to go?“, fragte er noch einmal und wurde schon etwas ungeduldiger.

‚Ja, ich weiß, Zeit ist Geld‘, dachte ich.

„Please, wait a second!“, erwiderte ich und blätterte hastig in meinem Reiseführer. „Please, drive us to this Shopping Mall“, sagte ich, und deutete auf ein Bild.

„Shooooppiiing??“, entgegnete er und sah mich fragend an. „Yes, Shopping Mall. Please!“, bestätigte ich noch einmal, diesmal etwas lauter.

„Okay!“, antwortete er, und los ging die Fahrt.

Die Straßen waren wie immer voll, aber dank seines rasanten Fahrstils schafften wir es in unter dreißig Minuten zum Eingang der Mall. Ich hatte mich während der gesamten Fahrt sehr zurückgehalten, ihn um eine langsamere Fahrweise zu bitten. Den Sicherheitsgurten sei Dank und wegen meines mittlerweile echt knurrenden Magens. Aber auch wegen meiner Schwester, die die Fahrt durch das leicht geöffnete Fenster auf ihrer Seite wirklich zu genießen schien. Wir bezahlten ihn und konnten das Taxi gerade noch rechtzeitig verlassen, als auch schon ein neuer Fahrgast vorne neben dem Fahrer einstieg und er sogleich wieder eilig losfuhr. „Wow! Das nenne ich mal ein Einkaufszentrum!“, staunte Tessa und blickte nach oben.

„Dann wart erst mal ab, bis wir drinnen sind“, sagte ich und war auch schon auf dem Weg in Richtung einer der zahlreichen Haupteingänge. Als wir die Drehtür hinter uns gelassen hatten, kam ein weiterer Ausruf des Erstaunens.

„Woooowwwww …!“, rief sie noch einmal, jetzt aber deutlich lang gezogener. Ihr Blick ging nach oben und ihre Augen wurden immer größer.

Die Mall bestand aus mehreren Stockwerken und zahlreiche Aufzüge ermöglichten den Gästen ein Shoppingerlebnis bis hoch in die obersten Etagen. Aufgrund der hellen Böden und der vielen verarbeiteten Glas- und Spiegelelemente glänzte alles, und dadurch wirkte die Mall von innen um ein Vielfaches größer, als es von außen den Anschein hatte. Aus jedem Geschäft drang eine andere Musik, und vor nicht wenigen Läden hatten sich richtige Schlangen gebildet, in denen die Leute auf Einlass warteten.

Auch eine Eigenheit, die ich in dieser Form nur von hier kannte. Viele Läden, egal ob zum Einkaufen, Essen oder Amüsieren, reduzierten die Anzahl der hereingelassenen Gäste, um so ein Klima der Neugierde auf die Lokalität zu erzeugen. Und es schien zu wirken. Die Wartenden standen brav an und vertrieben sich die Zeit mit dem Blick auf ihre Smartphones. Ich zweifelte langsam daran, ob ihnen überhaupt klar war, worauf sie eigentlich genau warteten. Oder ob es ihnen schlichtweg egal war. Hauptsache, man kam irgendwann an die Reihe. Nicht selten habe ich erlebt, dass die Wartenden nach dreißig Sekunden den Laden bereits wieder verließen, eben weil es nichts Spannendes zu sehen oder zu kaufen gab. Aber es hätte ja sein können.

Ich ging zielstrebig auf die nächstgelegene Rolltreppe zu und Tessa hatte Mühe, bei ihrem gleichzeitigen Staunen, mit mir Schritt zu halten.

„Wohin möchtest du denn?“, fragte sie irritiert.

„Natürlich zum Food Court. Oder auf Neudeutsch: zur Fressmeile.“

„Okay, bin dabei!“, entgegnete sie und war ganz schnell auf meiner Höhe. Auch sie schien der Hunger anzutreiben.

Oben angekommen blieb Tessa etwas überfordert stehen. Was ich nachvollziehen konnte. Ein Restaurant reihte sich an das nächste, welches sich wiederum an einen Imbiss anschloss und so weiter. Es schien, als würde hier oben die gesamte kulinarische Welt zusammenkommen.

„Oh, mein Gott“, sagte sie, „die Auswahl ist einfach zu groß!“

„Nein, ist sie nicht“, widersprach ich ihr und nahm sie an die Hand. Ich zog sie ein paar Meter weiter und wir blieben vor einem typisch chinesischen Restaurant stehen. Von außen machte es keinen besonderen Eindruck, aber von meinen bisherigen Aufenthalten her kannte ich es sehr gut. „Hier drin finden wir alles, worauf wir Lust haben“, sagte ich zufrieden und schob sie über die Eingangsschwelle. Sofort kamen uns einige junge Frauen in Uniform entgegen, die ganz offensichtlich zu dem Personal des Restaurants gehörten.

„Good evening!“, riefen sie uns wie aus einem Munde aufgeregt zu. Obwohl Touristen mittlerweile auch im asiatischen Raum an der Tagesordnung sind, war es wie ein Ritterschlag für ein Restaurant, wenn sich Europäer, wie wir, für das betreffende Restaurant entschieden. Zudem war es eine willkommene Gelegenheit für junge Chinesinnen und Chinesen, sich in ihrer englischen Aussprache zu üben.

„Do you want eating?“, fragte uns das mutigste Mädchen aus der Gruppe.

„Yes, we would like to have dinner, please“, antwortete ich brav und lächelte sie an. Sie lächelte sofort bis über beide Ohren zurück und ging eilig vorweg in Richtung eines Tisches in der Nähe des Hauptfensters. So war für die Passanten deutlich zu sehen, dass wir (Europäer) dieses Restaurant gewählt hatten. Zu allem also noch eine super Werbung für das Lokal, ganz ohne großen Aufwand.

Tessa und ich nahmen Platz und sofort kam ein anderes junges Mädchen mit einem Krug an unseren Tisch.

„Want water?“, fragte sie uns leise.

„Yes, please!“, antwortete ich und nickte zugleich. Während sie uns ruhig das Wasser einschenkte wurde sie rot.

‚Sie ist sicher eines der schüchternen Exemplare aus ihrer Gruppe‘, dachte ich amüsiert. Als sie fertig war, ging sie flink zurück zu den anderen Mädchen. Sie sprach etwas auf Chinesisch, worauf sich alle zu uns umdrehten und zu lachen begannen.

Auch etwas, an das man sich in China gewöhnen sollte. Selbst in einer Großstadt wie Shanghai ist man als Europäer noch etwas Besonderes, und nicht selten werden, auch ungefragt, Bilder von einem gemacht. Vor allem, wenn man wie Tessa blonde Haare hat und dies hier immer noch sehr selten zu sehen ist. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Bilder oder Videos von mir und meinen bisherigen Reisen auf den unterschiedlichsten chinesischen Handys existierten. Ich hoffte nur, sie waren nicht allzu peinlich für mich.

Tessa studierte währenddessen die Speisekarte, die das Mädchen für uns am Tisch zurückgelassen hatte. Fast alle Speisen waren nicht nur in chinesischer Schrift beschrieben, sondern appetitlich in Bildern dargestellt. Da sie, wie ich, gerne asiatisch aß, hielten wir uns nicht lange mit einer genaueren Auswahl auf und bestellten kurz darauf bei dem dritten Mädchen. Wir deuteten je auf drei unterschiedliche Bilder, welche uns optisch und kulinarisch am meisten zusagten. Mein Magen knurrte bereits zum zweiten Mal, seitdem wir das Restaurant betreten hatten. Tessa ging es nicht besser. Ihr lief schon beim Betrachten der Speisekarte das Wasser im Munde zusammen. Dazu bestellten wir Tsingtao, das leckere einheimische Bier.

Nach kurzer Zeit wurden uns bereits die ersten beiden Gerichte mit einer riesigen Portion Reis an den Tisch gebracht. Wir begannen unverzüglich mit dem Essen. Nach und nach kamen weitere Schüsseln, voll mit den verschiedensten dampfenden Köstlichkeiten, und nach gut einer halben Stunde legte ich zum ersten Mal zufrieden meine Stäbchen beiseite. Auch Tessa sah sehr satt und glücklich aus.

„Mann, war das lecker! Ich liebe, liebe, liebe chinesisches Essen!“, sagte sie, etwas lauter als beabsichtigt, und wir fingen uns sogleich ein weiteres Kichern aus der Ecke der Bedienungen ein.

„Ja, das war wirklich meeega!“, bekräftigte ich, ebenfalls etwas zu laut. Ich trank den letzten Schluck meines Bieres und deutete den Mädchen an, dass wir gerne zwei weitere bestellen wollten. Zwanzig Sekunden später hatten wir auch schon das neue, eiskalte Bier vor uns stehen.

„Und, was haben wir für morgen geplant?“, fragte Tessa und gähnte dabei herzhaft.

„Erst einmal lange ausschlafen“, sagte ich, und sie nickte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. Unser Urlaub sollte insgesamt über fast zwölf Tage gehen, also hatten wir mit Sightseeing oder Shoppen nun wirklich keinen Stress. „Und dann, noch mal genauso laaange, frühstücken!“, ergänzte ich. „Das Frühstück ist wirklich der Hammer!“ Und das war es tatsächlich, soweit ich mich noch daran erinnern konnte. Von frischen Säften über Pancakes bis zu Eierspeisen jeglicher Art konnte man sich bereits am frühen Morgen pappsatt essen. Um danach alle angefutterten Kalorien bei dem anschließenden Sightseeing wieder zu verbrennen. So sollte der ideale Urlaub für uns aussehen. Na gut, oder vierzehn Tage nur faul am Strand liegen und sich die Sonne auf den Bauch brennen lassen. Aber dazu war Shanghai sowieso der falsche Ort. Das mussten wir uns also, wohl oder übel, für den nächsten gemeinsamen Urlaub aufheben. Gar kein Problem.

„Wollen wir zahlen?“, fragte mich Tessa und sah auf einmal sehr müde aus. Das viele warme Essen und der Alkohol hatten ihr nach der langen Anreise höchstwahrscheinlich den Rest gegeben.

„Ja, klar!“, sagte ich und winkte eines der Mädchen an unseren Tisch.

„Wanna pay?“, fragte sie uns.

„Yes, please!“, antwortete ich und zog meinen Geldbeutel aus meiner Handtasche. Dabei fiel mir meine Pillendose heraus. Ich fing sie gerade noch rechtzeitig auf, bevor sich der Inhalt über den Boden verstreuen konnte. Tessa bekam die Aktion mit und sah mich fragend an. „Ist für meinen Magen, kennst mich ja“, erklärte ich hastig. „Hab ich noch kurz vor der Abreise in der Apotheke besorgt. Ich hätte es fast vergessen!“

Und das war wirklich so. Mir fiel es erst kurz vor knapp ein, und zwar, als ich schon am Weg zu Tessa war, um diese zum Flughafen abzuholen. Und dabei sollte ich doch aus meinen bisherigen zahlreichen Reisen gelernt haben, wie wichtig eine ordentlich ausgestattete Reiseapotheke ist. Meiner Erfahrung nach war es nämlich nicht sehr lustig, mit Fieber und keinem Cent Bargeld in der Tasche in Shanghai ein englischsprachiges, internationales Krankenhaus zu suchen. Ach, und nicht zu vergessen, vorher noch eine Bank zu finden, in der man mit seiner herkömmlichen EC-Karte das notwendige Bargeld für die anstehende Behandlung abheben konnte. Weil ich den PIN meiner Kreditkarte vergessen hatte und dazu noch versuchte, dies alles dem Taxifahrer zu erklären, während ich ohne Unterlass hustete. Aber dies war eine andere Geschichte und vor Corona. Zum Glück.

„Ah, okay“, meinte Tessa und zog ihr Handy aus der Tasche. „John hat sich bislang noch gar nicht gemeldet“, sagte sie und klang dabei fast traurig.

„Na ja, er arbeitet ja auch noch …“, erklärte ich ihr und sah auf mein Handy. „In Deutschland ist es gerade mal fünfzehn Uhr. Er meldet sich sicher gleich, wenn er aus der Praxis raus ist. Montags hat er doch früher Schluss, oder?“

„Ja, stimmt! Na klar, er arbeitet ja noch …“, sagte sie und grinste verlegen. „Hab ich ganz vergessen.“ In dem Moment tauchte, wie aus dem Nichts, eine weitere Bedienung an unserem Tisch auf und sah uns fragend an. Wir blickten einfach nur zurück, bis ihr klar wurde, dass sie unsere Rechnung noch immer in ihrer Hand hielt. Sie wurde rot wie ein Feuerlöscher, legte sie uns schnell auf den Tisch und lief zurück zu den anderen.

‚Nein‘, dachte ich, ‚sie ist definitiv die schüchternste aus der Gruppe.‘ Und wieder hörten wir ein lautes Kichern. Nur das eine Mädchen von gerade eben lachte nicht, sie schaute beschämt auf den Boden. Ich zog die notwendigen Scheine aus meinem Geldbeutel, legte diese auf die Rechnung und signalisierte Tessa, dass wir gehen konnten.

Während wir unsere Jacken anzogen, kam das besagte Mädchen noch mal langsam zu uns, beugte sich aus einer sicheren Entfernung von einem Meter nach vorne und nahm sich die Rechnung mit dem bereitgelegten Geld. Sie rannte schnell wieder zurück. Ich musste unwillkürlich schmunzeln. Sie sah sich noch einmal um und lachte dann aber auch, zumindest ein wenig. Ihr Tag war offenbar gerettet.

Wir verließen unter lauten „Bye! Bye!“-Rufen, die aus der Ecke der Mädchen kamen, das Restaurant und machten uns auf den Heimweg. Zum Glück standen am Eingang zahlreiche Taxis, die auf die müden Shoppingbegeisterten warteten. Wir nahmen uns gleich das erste Taxi und waren in Rekordzeit zurück am Hotel. Mit Sicherheitsgurten. Aber ohne Rushhour.

‚Dazu war es wohl jetzt doch schon zu spät‘, dachte ich schläfrig.

Tessa und ich betraten um kurz nach halb elf das Hotelzimmer und zogen uns sofort um. Danach putzten wir ultraschnell unsere Zähne und landeten kurz darauf bereits im Bett. Ich hörte Tessa noch fragen, ob wir uns einen Wecker stellen sollten, was ich nur mit einem Grummeln beantwortete. Gleich darauf war ich auch schon eingeschlafen.

Die Shanghai Dosis

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