Читать книгу Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter - Elian Mayes - Страница 6

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* Kapitel 2 *

Elias lag auf seinem Bett, starrte mit unbewegtem Blick an seine Zimmerdecke. Eine Woche war inzwischen vergangen und er hatte noch immer keine Rückmeldung zu seiner Bewerbung erhalten. Allmählich lagen seine Nerven blank und zugleich musste er sich an den Gedanken gewöhnen, eine wichtige – seine einzige – Chance einfach vertan zu haben. Hätte er sich nicht für das Labor, sondern für eine Stelle mit besseren Erfolgschancen beworben, so würde seine Zukunft nun rosiger aussehen. Stattdessen winkte ihm der Abgrund. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Schächte, die Mülltrennungsanlagen, die Kraftwerke, die Stollen … All diese Jobs, die niemand freiwillig tun wollte, befanden sich tief unten, weit entfernt von der Zentrale und der Stadt. Dort würde er sich den Rücken krumm schuften, nur noch selten die Sonne sehen. Wenn er sie denn überhaupt noch zu Gesicht bekam. Je nachdem, welche Stelle ihm zugeteilt würde, würde er in Schichten von bis zu drei Wochen arbeiten müssen. Manchmal sah Elias sie früh morgens an den Haltestellen der Magnetbahn stehen: Jene, die ihr Dasein in der Dunkelheit fristeten. Ausgemergelte Gestalten waren das. Blass, mit tiefliegenden, blutunterlaufenen Augen.

Die Türklingel war es schließlich, die Elias aus seinen düsteren Gedanken riss. Irritiert sah er auf die Uhr. Er war zwar mit Annie verabredet, aber doch erst später.

»Erwartest du noch jemanden?«, fragte seine Mutter stirnrunzelnd, als Elias ihr auf dem Flur begegnete.

»Ja, schon, allerdings erst in anderthalb Stunden«, gab er zurück und öffnete. Doch statt in Annies Gesicht blickte er in das ihrer Mutter, das tiefe Sorge zeigte. Es standen ihr sogar Tränen in den Augen.

»Mrs Collins, was …« Doch weiter kam er nicht, denn sie fasste ihn links und rechts an den Armen und fiel ihm ins Wort.

»Annie und Finja sind noch nicht wieder zu Hause«, begann sie und ihr Griff verstärkte sich dabei, tat beinahe weh. »Du bist doch sonst mit Annie unterwegs! Weißt du irgendwas? Wo sie sein könnte, vielleicht? Ich habe solche Angst, dass den beiden etwas zugestoßen ist. Es wird doch bald dunkel an der Oberfläche.«

Ein Blick auf die Uhr verriet Elias, dass Mrs. Collins recht hatte. Es war nur noch etwas mehr als eine Stunde bis Sonnenuntergang. Normalerweise war Annie um diese Zeit schon lange zu Hause. Was, wenn sie draußen unterwegs gewesen und von den Patrouillen aufgegriffen worden war? Schließlich war es verboten, sich in den Ruinen herumzutreiben. Allerdings erklärte das nicht den Verbleib von Finja. Elias schluckte, drängte die böse Vorahnung zurück.

»War Annie schon zu Hause und ist nochmal weg? Oder geht sie an ihr Phone?«

Mrs Colins schüttelte den Kopf. »Nein … Ich meine, ich weiß es nicht. Ich kam ja gerade erst von der Arbeit und mein Mann kommt noch später nach Hause. Wenn ich versuche, Annie anzurufen, meldet das System, dass sie nicht erreichbar ist.«

Elias nickte abwesend, war mit den Gedanken schon wieder ganz woanders. Wenn Annie nicht erreichbar war, war sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch an der Oberfläche. Vielleicht hatte sie einfach die Zeit vergessen? Er hoffte, dass es so war. Sicherheitshalber schrieb er ihr eine Nachricht. Wenn sie durchkam, wusste er, dass Annie in Sicherheit war. Doch so lange konnte er nicht warten.

»Ich werde sie suchen gehen, Mrs Collins. Ich melde mich, wenn ich sie gefunden habe.«

Ihr gehauchtes »Danke« hörte er kaum mehr, schon hatte er sich eine Jacke geschnappt und war durch die Tür nach draußen gelaufen. Die vielen Stufen zum Aufzug registrierte er diesmal kaum. Er überwand sie, ohne darüber nachzudenken. Seine Gedanken waren nur bei Annie und bei der Angst, die auch er um sie hatte.

»Es gibt sicher eine einfache Erklärung dafür«, murmelte er leise. Immer wieder wiederholte er das, wie ein Mantra. Trotzdem beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Annie war sonst immer so zuverlässig und gewissenhaft – das passte einfach nicht zu ihr. Sie war diejenige von ihnen, die sich die Zeit des Sonnenauf- und untergangs notierte. Die lieber einmal zu viel mitschrieb als gar nicht. Elias lief noch schneller, erreichte den stehenden Aufzug und sprang hinein, kurz bevor die Türen sich schlossen. Gleich darauf schoss die Kabine nach oben.

Unruhig wippte Elias auf den Zehen, sah immer wieder auf sein Phone, aber wenn Annie wirklich noch an der Oberfläche war, erklärte das, wieso sie nicht erreichbar war. Gerade wollte Elias das Gerät wegstecken, da erhielt er eine Nachricht. Sie war von Caleb: »Hey! Nachher wie verabredet um acht am Poin’Z?«

Statt zu antworten, rief Elias ihn kurzerhand an. »Hey Caleb! Ist Annie bei dir? Sie ist nicht zu Hause und auch nicht erreichbar.«

»Ähm«, kam es von Caleb, »wir haben den Nachmittag auf dem Dach verbracht und sind zusammen runtergekommen, aber sie wollte nochmal kurz hoch. Wieso fragst du? Ist sie noch nicht wieder da?«

»Würde ich sonst fragen?«, gab Elias gereizt zurück. »Ich schau nochmal oben und melde mich.« Er legte auf. Unwillkürlich krampfte sich seine Hand zusammen. Er atmete tief durch, lockerte seinen Griff und sah zum wiederholten Male auf die Uhr. Schon so spät. Noch knapp eine Stunde bis Sonnenuntergang. Viel zu wenig Zeit.

Oben angekommen sprang Elias aus dem Aufzug und wandte sich dem Aufgang zu, der nach draußen führte, ohne sich vorher umzusehen.

Kopflos, voller Sorge um Annie, galt es nur noch, sie zu finden.

»He, du! Wo willst du hin? Gleich wird hier dichtgemacht!« Ein Mann in Uniform hielt ihn am Arm fest und zog ihn zurück.

»Das weiß ich! Aber ich hab etwas Wichtiges vergessen!« Elias wollte sich losreißen, doch der Griff des Wachmannes war fest. »Lassen Sie mich los! Ich werd’ schon rechtzeitig wieder da sein!«

»Wehe dir, wenn nicht! Du weißt, welche Konsequenzen drohen«, brummte der Mann und öffnete seine Hand. »Wir machen keine Ausnahmen.« Er funkelte Elias warnend an, doch der schob trotzig den Unterkiefer vor. Als ob er das nicht wüsste!

Die Sonne stand schon bedrohlich tief, als Elias durch die Tore trat. Ihm blieb nicht einmal mehr eine halbe Stunde, wenn er Annie finden und wieder zurückwollte, bevor die Tore sich schlossen. Nun verfluchte er sich dafür, dass er kein Exterra besaß. Doch bisher war es nie nötig gewesen, sich außerhalb der unterirdischen Netzwerke auf weite Distanz verständigen zu können.

Ohne Zeit zu verschwenden, spurtete Elias los. Zuerst die Ruinen absuchen, besonders die, in der sie sich oft gemeinsam aufhielten. Doch nirgends war eine Spur von Annie und die Schatten wurden unaufhaltsam länger. Mit wachsender Angst schlug Elias schließlich den Weg zum Park ein, Finjas neuer Lieblingsspielplatz.

Schon nach der zweiten Biegung konnte er eine Silhouette ausmachen und je näher er kam, umso sicherer wurde er.

»Annie!« Als sie sich zu ihm umdrehte, strömte Erleichterung durch ihn hindurch. Eilig schloss er zu ihr auf. »Annie! Hier steckst du! Was tust du um diese Zeit noch hier draußen? Gleich schließen die Tore!« Außer Atem kam Elias neben seiner besten Freundin zum Stehen. Sie rührte sich nicht, starrte angestrengt die staubige Straße hinunter. Fest in ihren schwarzen Parka gehüllt, einen dunkelroten Schal um die Schultern geschlungen, sah sie beinahe elegant aus, wären da nicht die Öl- und Erdflecken auf ihrer zerschlissenen Hose und die wirren, strohblonden Haare gewesen, die ihr in alle Richtungen vom Kopf abstanden.

»Finja ist noch nicht wieder da«, hauchte sie und bestätigte so die Ahnung, die Elias gehabt hatte. In ihrer Stimme schwang Angst mit. »Sie wollte mit Celan zum Spielen nach draußen und ich … hab es ihr erlaubt.«

Elias’ Herzschlag beschleunigte sich. Scheiße! Der Blick auf die Uhr sagte ihm, dass ihnen die Zeit davonrannte. Bald würde niemand die Stadt mehr betreten können. Wenn Finja dann nicht wieder da war – er wollte sich nicht ausmalen, was dann geschah.

»Wir müssen sie suchen, komm!« Elias griff Annie am Arm, lief los und zerrte sie dabei einfach hinter sich her. Sie folgte ihm wie in Trance. Die Angst um ihre kleine Schwester war so groß, dass sie selbst kaum reagieren konnte. Er verstand sie. Wäre Finja seine Schwester gewesen, wäre es ihm nicht anders ergangen. Auch so fühlte er Panik aufsteigen. Er mochte die Kleine. Vor Kurzem erst war sie neun geworden und wusste eigentlich, dass sie bis zur Dämmerung wieder nach Hause zu kommen hatte. Aber was, wenn ihr etwas zugestoßen war? Wenn sie sich verletzt hatte und nicht mehr allein laufen konnte? Sie zu suchen, würde dauern und die Zeit wurde immer knapper. In dem Augenblick, in dem die Sonne hinter dem Horizont versank, würden sich die Tore schließen und somit auch der Zugang zur Stadt. Wenn das geschah, solange sie noch draußen herumstreunten, würden sie nicht mehr vor dem Morgengrauen hineinkommen. Ausnahmen gab es keine. Der Mann am Tor hatte das extra betont. Hieß im Klartext: Sie würden die Nacht an der Oberfläche verbringen müssen. Da konnte man sich auch gleich die Kugel geben und täte sich vermutlich noch einen Gefallen damit, denn nachts gehörte wie Welt den Jägern.

Elias fluchte. Er vermochte sich nicht einmal vorzustellen, welche Vorwürfe Annie sich machte, ihre Schwester gehen gelassen zu haben. Ihr Gesichtsausdruck sprach jedenfalls Bände und immer wieder fuhr sie sich fahrig durchs Haar. Dass sie gerade nicht wirklich in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, verübelte er ihr nicht. Stattdessen nahm er es selbst in die Hand, zog sie weiter hinter sich her, in die Ruinen der Stadt hinaus.

»Sie wollte in den Park, richtig?«, fragte Elias, obwohl er die Antwort kannte. Er wollte nur verhindern, dass Annie sich vollkommen ihrem schlechten Gewissen ergab. Dazu hatte sie später noch Zeit, wenn Finja wieder da war.

»Ja«, brachte sie nur mühsam hervor. Dann, als wäre das ihr Stichwort gewesen, löste sie sich aus seinem Griff und eilte an Elias vorbei. Bis zum Park waren es noch gut zehn Minuten. Wenn man sich beeilte, konnte man ihn vielleicht in sieben Minuten erreichen. Annie rannte, als wären Jäger hinter ihnen her – und irgendwie traf das ja auch zu. Zumindest wenn sie länger noch hier draußen blieben. Nun war es Elias, der kaum hinterherkam. Die alten Hochhäuser flogen regelrecht an ihnen vorbei und nicht nur einmal stolperte er beinahe über ein aufragendes Asphaltbruchstück in der Straße.

»Hast du den Patrouillen Bescheid gegeben?«, wollte Elias außer Atem wissen und keuchte, weil er nicht genügend Sauerstoff bekam, um seine brennenden Lungen zu füllen. Annie antwortete nicht, beschleunigte sogar noch weiter.

»Annie!« Er musste einen Augenblick stehen bleiben, um Atem zu schöpfen und sich seine schmerzende Seite zu halten. Haltsuchend lehnte er sich an einer Hauswand an. So kamen sie nicht weiter, das war sicher. Sie mussten den Patrouillen Bescheid geben! Sofort! Elias wollte sich innerlich dafür ohrfeigen, dass er sie das nicht schon viel früher gefragt hatte. Aber auch diesmal reagierte sie nicht, sondern rannte einfach weiter. Mit einem frustrierten Aufschrei stieß er sich schließlich von der rauen Wand ab und nahm die Verfolgung wieder auf. Annie war wirklich verflucht schnell. Dass sie mit einem Mal vor dem verrosteten Tor des Parks standen, war eigentlich kaum ein Wunder. Annie war fast geflogen.

Ohne Zögern stieß Annie das Tor auf, ließ die alten Angeln unangenehm quietschen.

»Du gehst da entlang, ich in die andere Richtung«, kommandierte sie und wollte schon losgehen, da hielt Elias sie am Arm fest und zwang sie, sich umzudrehen. Er bekam noch immer kaum Luft.

»Hast du den Patrouillen nicht Bescheid gegeben?«, fuhr er sie wütend an, denn auf den ersten Blick wirkte der Park vollkommen ausgestorben. Zwei kleine Kinder mochten sich vielleicht hier irgendwo herumtreiben, aber von den Elektrofahrzeugen der Wache war weit und breit nichts zu sehen. Annie sah ihn erst verwirrt an, dann entglitten ihr die Gesichtszüge.

»Nein«, hauchte sie. »Daran habe ich nicht gedacht. Ich hatte nur Finja im Kopf und dann bist du aufgetaucht.«

»Wieso hast du dann eben nicht auf meine Frage geantwortet? Das hätten wir zuallererst tun müssen!«

»Warum hast du denn nicht früher gefragt?«, fauchte Annie zurück, während sie schon ihr Exterra aus der Hosentasche zog. »Daran hättest du doch genauso denken können!« Hektisch tippte sie den Notruf. Elias biss sich schuldbewusst auf die Lippe. Unrecht hatte sie nicht, zumal er ihr ja angesehen hatte, wie sehr sie neben sich gestanden hatte. Außerdem war mit Streit gerade niemandem geholfen. Während Annie versuchte, jemanden zu erreichen, machte Elias sich auf den Weg zur Mitte des Parks. Auch hier wirkte alles wie ausgestorben. Die verwilderten Bäume und zugewachsenen Wege, die ihm normalerweise so gut gefielen, empfand er in diesem Moment als Bedrohung. Zwischen den bemoosten Stämmen der uralten Wächter der Natur und unter ihren Wipfeln war es bereits so dunkel, als wäre die Sonne schon untergegangen, und die Schatten ringsum verursachten ihm ein mehr als nur flaues Gefühl im Magen. Elias schrie sich nach Finja beinah die Lunge aus dem Leib, aber eine Antwort bekam er trotzdem nicht.

Je tiefer er zwischen den Bäumen verschwand, umso mehr bekam er das Gefühl, beobachtet zu werden. Konnte das sein? Lauerten die Jäger schon vor Sonnenuntergang und schlugen dann zu, sobald die letzten Strahlen verschwunden waren? Unwohl zog Elias die Schultern hoch, doch das Gefühl wollte nicht verschwinden. Es wurde immer stärker und drohte ihn zu ersticken.

»Noch ist es sicher«, versuchte er, sich selbst Mut zu machen. Der Wind strich kalt über seine Haut, die Zweige der Bäume krümmten sich wie die Klauen eines Monsters. Elias schnappte nach Luft und stolperte zurück. Angst hielt sein Herz fest im Griff. Sein Fuß verfing sich an irgendetwas – ein Stein? Eine Wurzel? – und er stürzte. Elias stöhnte, blickte auf die Uhr. Noch dreißig Minuten. Zeit, zu verschwinden.

Zu spät.

Jemand näherte sich ihm. Der Himmel war schwarz. War es bereits Nacht?

Elias schrie auf, als eine Hand ihn an der Schulter packte.

Hektisch fuhr er herum und starrte in Annies bleiches Gesicht. Es waren ihre Schritte gewesen. Sein Puls beruhigte sich etwas. Doch auch ihr Gesichtsausdruck zeigte nichts anderes als Angst. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an, Tränen sammelten sich darin.

»Was …?« Fragend sah er sie an, doch sie schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Sie sagen, es ist nicht ihre Aufgabe, die ausgebüxten Schafe am Abend wieder zusammenzutreiben und es muss jeder auf seine Bälger selbst Acht geben.« Hilflos klammerte sie sich an Elias’ Blick und schluchzte leise.

»Das kann doch nicht ihr gottverdammter Ernst sein!« Da besaß Annie schon eines dieser blöden Geräte und dann half es ihnen nicht! »Das ist doch ihre Pflicht! Wofür sind sie denn sonst da?« Elias musste schreien, anders wusste er seiner Gefühle nicht Herr zu werden. Wut, Verzweiflung, Angst und Ohnmacht. Das alles drohte über ihm zusammenzubrechen, ihn niederzureißen. Wie sollten sie diesen riesigen Park allein nach den beiden durchkämmen und das in der kurzen Zeit? Mühsam zwang er sich dazu, langsamer zu atmen, und kämpfte die Panik zurück. Sie hatten nur wenig Zeit und die galt es nun, so effektiv wie möglich zu nutzen.

»Du da entlang, ich hier«, griff er Annies Kommando wieder auf und nickte ihr zu. Mit jeder Minute wurde es dunkler. Dass sie sich trennten, behagte ihm überhaupt nicht, aber so konnten sie eine größere Fläche absuchen und solange die Sonne noch über dem Horizont schwebte, drohte keine Gefahr. Und selbst danach … Elias hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wo und wie die Jäger lebten. Womöglich brauchten sie eine Weile, bis sie die Stadt erreichten und sie nach verirrten Menschen durchkämmten. Das Problem war eher, dass die Tore sich pünktlich schlossen. Elias bezweifelte stark, dass er und Annie die ganze Nacht überleben würden.

Immer wieder sah Elias auf die Uhr, vergewisserte sich, dass noch Zeit blieb, und betete, dass Annie ihre Schwester finden möge. Das Gelände wurde immer unwegsamer, die Natur hatte sich in einem erstaunlichen Umfang von den Menschen erholt. Sicherlich lag das daran, dass der Regen im Park nicht abgefangen und der Stadt zugeführt wurde. Als ein umgestürzter Baum den Weg versperrte, wusste Elias, dass es für ihn nicht mehr weiterging. Den Stamm zu überwinden, stellte das kleinere Problem dar, aber der ganze Baum war überwuchert von Gestrüpp und Elias konnte nirgends Spuren ausmachen, die darauf hindeuteten, dass jemand anderes da hindurchgebrochen war. Er wandte sich um, rannte den Weg zurück, den er gekommen war, und hielt Ausschau nach Annie.

Sie trafen sich am Tor, beide allein.

»Wo kann sie denn noch sein?«, flüsterte Annie verzweifelt und war drauf und dran, sich auf den Boden fallenzulassen. Elias packte sie jedoch am Arm und zwang sie, ihn anzusehen.

»Annie, ich weiß, du willst das nicht hören, aber wir müssen zurück! Selbst wenn wir rennen, wird es knapp für uns.«

»Ich kann sie nicht hier draußen allein lassen!« Ihre Reaktion war exakt die, die er erwartet hatte. Ja, verdammt, glaubte sie denn, er wollte die beiden Kleinen hier in der Dunkelheit zurücklassen? Aber die Nacht draußen zu verbringen und bis zum Morgen vermutlich tot zu sein, half doch auch niemandem!

»Vielleicht sind die beiden schon lange zu Hause.« Die Wahrscheinlichkeit war nicht besonders hoch, aber es war dennoch möglich und Elias war in diesem Moment alles recht, um Annie zum Umkehren zu bewegen. Tatsächlich gab sie klein bei. Ihre Schultern fielen ein Stück in sich zusammen. Im Halbdunkeln konnte er ihren Blick nur undeutlich erkennen, aber es reichte, um zu wissen, dass ihr klar war, dass er selbst nicht daran glaubte. Trotzdem setzten sie sich in Bewegung und rannten.

Elias rannte um sein Leben. Bald ging ihm die Puste aus, aber diesmal dachte er gar nicht daran, stehen zu bleiben. Mit jedem Blinzeln wurde der Himmel dunkler, die Schatten der Ruinen länger. Elias hielt sich die schmerzende Seite, während er rannte und ihm die Füße immer schwerer wurden. Noch ein Stückchen.

Doch als sie beide um die Biegung preschten, waren die Tore geschlossen. Der Anblick presste Elias die spärliche Luft aus den Lungen und ließ ihn verzweifelt keuchen.

Nein. NEIN! Mit einem frustrierten Aufschrei schlug Elias gegen das kalte Metall. Es bewegte sich keinen Millimeter. Natürlich nicht. Waren diese Tore einmal geschlossen, bekam man sie von außen nicht mehr auf, und selbst wenn sie durch Kameras beobachtet wurden, waren die Gesetze eindeutig. Sie waren verloren.

»Scheiße!« Verzweifelt hieb er ein weiteres Mal gegen das Tor. Nicht, weil er sich der Hoffnung hingab, das Schicksal noch abwenden zu können, sondern nur, weil ihm nichts Besseres einfiel. Er war verdammt nochmal zu jung, um zu sterben! Verzweifelt wiederholte Elias diesen Ausdruck seiner Hoffnungslosigkeit noch einige Male, doch irgendwann sank er einfach an der glatten Wand hinab in den Staub. So würde es also mit ihm zu Ende gehen. Als Futter für die Jäger. Wie lange würde es dauern, bis sie die Stadt erreichten und ihn fanden? Wie lange, bis es vorbei war? Abermals fragte er sich, wo sie überhaupt lebten und wie sie aussahen. Die Schauergeschichten, die er schon als Kind gehört hatte, waren da recht eindeutig: Groß waren sie. Gewaltig geradezu, mit gigantischen, schwarzen Schwingen, rotglühenden Augen und handkantenlangen Reißzähnen. Doch entsprachen sie auch der Wahrheit? Bei dem Gedanken, von diesen Mordwerkzeugen in Stücke gerissen zu werden, wurde ihm schlecht. Hoffentlich würde seine Mutter ihn nicht identifizieren müssen. Einen solchen Anblick wollte er ihr ersparen. Aber vielleicht war diese Überlegung hinfällig. Vielleicht fraßen Jäger ihre Opfer gleich mit Haut und Haaren auf.

»Elias …« Er sah auf. Annie hatte sich zu ihm gesellt und schaute bang auf ihn herab. Sie zitterte am ganzen Leib, die Angst beherrschte auch sie. »Elias, bitte, lass uns hier verschwinden.« Elias wollte verächtlich schnauben, doch was seiner Kehle entkam, war eher ein trockenes Schluchzen.

»Wohin denn?«, fragte er verzweifelt. »Es ist Nacht, sie werden uns so oder so aufspüren.«

»Aber … Sollten wir nicht zumindest versuchen, uns in Sicherheit zu bringen?« Annies Stimme wurde brüchig. Am Ende flüsterte sie nur noch und sah sich bei jedem Wort ängstlich um. In Sicherheit bringen … Nirgends waren sie sicher! Nur die Stadt bot sicheren Schutz und der war ihnen in dem Moment verwehrt worden, als die Tore verriegelt worden waren. Dennoch erhob Elias sich mühsam. Aller Prognosen zum Trotz war sein Überlebenswille noch nicht bereit, dieses Dasein aufzugeben. Wenn es einen Ort gab, der sicher war, dann war das …

»… das Dach«, flüsterte er Annie zu. »Wir müssen auf das Dach.«

Kaum ausgesprochen, setzte Elias sich in Bewegung, wusste seine beste Freundin dabei knapp hinter sich. Er hörte ihre Schritte auf dem rissigen Asphalt und ebenso deren Echo, das sich in den Häuserschluchten verstärkte. Waren da noch andere Schritte? Er konnte es nicht sicher sagen, fragte sich mehrmals, ob die Jäger sie bereits im Visier hatten und nur noch mit ihnen spielten. Panik lauerte in seinen Venen. Er konnte ihr Kribbeln mit jedem Meter mehr spüren. Ebenso ihre eiskalten Klauen an seiner Kehle. Mit aller Kraft kämpfte Elias sie wieder und wieder zurück. Wenn er in Panik geriet, dann war es ohnehin vorbei. Es galt nun, einen kühlen Kopf zu bewahren, ruhig zu bleiben und vielleicht ein geeignetes Versteck zu finden. Doch bisher war niemand, der die Nacht an der Oberfläche hatte verbringen müssen, je zurückgekehrt. Das wusste jeder. Wieso sollten sie die Ersten sein? Hatten sie überhaupt eine Chance?

Mit der Nacht war auch die Kälte gekommen. Sie froren erbärmlich. Nur an einigen wenigen Stellen funktionierte die uralte Straßenbeleuchtung noch und wenn sie einen Lichtkegel passierten, konnte Elias seinen Atem in der Luft erkennen. Vielleicht, dachte er plötzlich sarkastisch, würden nicht die Jäger sie umbringen, sondern diese Kälte, die sie nicht im Mindesten gewohnt waren und der sie nichts entgegenzusetzen hatten. Unter der Erde war es stets gleichmäßig kalt oder warm.

Ein Quietschen riss Elias aus seinen Gedanken und abrupt blieb er stehen. Annie lief prompt in ihn hinein, aber das nahm er nur am Rande wahr. Er hörte Schritte und einen röchelnden Atem. Sein Herz setzte einen schmerzhaften Moment lang aus, bevor es ihm beinahe aus der Brust sprang, so wild schlug es. Er wagte nicht, sich umzudrehen, fürchtete den Anblick des Monsters. Stattdessen wartete er auf den Angriff, der unweigerlich folgen würde. Nein, die Courage, zu kämpfen, hatte er eindeutig nicht. Qualvoll langsam verstrichen die Sekunden. Machte der Jäger sich einen Spaß daraus, sie zu beobachten? Annies Fingernägel gruben sich schmerzhaft in seinen Arm; Elias hatte nicht einmal bemerkt, dass sie ihn umklammert hielt. Wieso konnte sich der Jäger nicht einfach beeilen und sie erlösen? Aber es geschah nichts, es quietschte nur ein weiteres Mal und schließlich kratzte Elias all seinen Mut zusammen. Er riskierte einen vorsichtigen Blick über die Schulter und schnappte überrascht nach Luft. Die Straße hinter ihnen war leer, soweit er das in der Dunkelheit erkennen konnte. Niemand lauerte auf sie in den Schatten, keiner machte sich zum Angriff bereit. Seine Fantasie hatte ihm bloß einen Streich gespielt. Die Anspannung fiel für einige Lidschläge von ihm ab wie eine tonnenschwere Last, nur, um ihn kurz darauf wieder gefangen zu nehmen. Sie waren noch lange nicht in Sicherheit. Solange sie hier auf offener Straße standen, mussten sie ständig mit einem Angriff rechnen.

Noch zwei Straßen trennten sie von ihrem Ziel. Dort würden sie hoffentlich Unterschlupf finden und wenn es gut lief, auch Schutz vor der Kälte. Als die beiden die Ruine erreichten, spürte Elias kaum mehr seine Finger, ebenso wenig seine Zehen.

»Und nun?« Seine Worte waren kaum zu verstehen, so sehr zitterte er inzwischen. Ob vor Kälte oder vor Angst konnte er selbst nicht sagen. Bebend deutete er auf die hölzerne Leiter, die sich im Schein einer flackernden Straßenlaterne als zerborstene Bruchstücke auf dem Asphalt präsentierte.

»Was ist mit dem Keller?«, krächzte Annie heiser. »Finja … S-sie sagte doch etwas davon.« Den Namen ihrer Schwester auszusprechen, fiel ihr schwer. Ihre Stimme zitterte verdächtig. Elias schluckte. Eilig schob er den Gedanken an Finja, die mit oder ohne Celan da draußen war, von sich.

»Dann lass uns danach schauen.« Er verscheuchte den Gedanken an Finja nachdrücklich. Gerade war nicht die Zeit dazu, gerade ging es um ihn und Annie.

Im Dunkeln tastete Elias sich an der Wand entlang. Sie fühlte sich rau unter seinen Fingern an, aber sie leitete ihn sicher auf die Rückseite des Gebäudes. Anders als der Boden. Die Steinplatten waren an einigen Stellen aufgeplatzt und er stolperte nicht nur einmal. Elias stürzte, hörte und spürte das Reißen des Stoffes an seinem Bein und zischte einen üblen Fluch. Da war eindeutig Feuchtigkeit an seinem Knie. Blut. Er blutete, verdammt! Da konnte er sich ja gleich mit einem grellen Neonschild auf einem der Dächer präsentieren! Die Jäger konnten Blut riechen, so sagte man, und wenn sie einem Menschen einmal auf der Spur waren, dann war dieser verloren.

»Elias, alles in Ordnung?« Annie kauerte sich neben ihn auf den Boden, drückte sich an die Wand und warf immer wieder Blicke über die Schulter. Fahrig kramte sie nach ihrem Exterra, schaltete die Taschenlampe an und beleuchtete sein Bein. Die Wunde schien nicht tief zu sein, die Haut war nur abgeschürft. Trotzdem blutete es ziemlich.

»Geht schon«, murmelte er, starrte wie gebannt auf die rote Flüssigkeit, die möglicherweise über Leben oder Tod entschied.

»Hier.« Annie hielt Elias ein Taschentuch hin, das sie in ihrer Tasche gefunden hatte. Mit einem Zweiten begann sie, die Wunde vorsichtig abzutupfen.

»Lass, ich mach das schon.« Er drückte das Tuch auf die Wunde, hoffte, dass es bald zu bluten aufhören würde, und rappelte sich dann auf. »Komm, wir müssen hier weg.« Vielleicht war es besser, wenn sie sich trennten, überlegte er. Wenn die Jäger die Spur aufnahmen und ihn fanden, würden sie auch Annie finden. Wenn sie sich aber trennten, hatte sie vielleicht eine Chance. Andererseits begannen so immer die Horrorfilme im TV. Er wischte den Gedanken fort. Nein, er würde Annie nicht allein lassen. Sie umrundeten die nächste Ecke, doch auch dort fanden sie keinen Hinweis auf einen Zugang.

»Vielleicht hat Finja uns Mist erzählt«, flüsterte Elias Annie zu. Sie hatten nun alle vier Seiten des Gebäudes abgesucht und nichts gefunden. Von einem Keller keine Spur.

»Nein, das glaube ich nicht.« Annie schüttelte den Kopf. Elias konnte ihre Überzeugung nicht teilen, ließ sie aber vorgehen, als sie sich an ihm vorbeidrückte und abermals ihr Exterra zückte. »Vielleicht am Nebengebäude …« Mutig ging sie voran, sah sich dabei immer wieder um und drückte sich in den Schatten des Nachbarhauses. Sie hatten es nie beachtet, denn es war vollkommen eingestürzt und kaum mehr als ein Haufen zerbröckelter Steine und geborstenen Holzes. Elias glaubte nicht daran, dort etwas zu finden, dennoch folgte er ihr. Je größer der Abstand zwischen ihnen wurde, umso unwohler fühlte er sich. Nein, sie mussten auf jeden Fall zusammenbleiben. Als er die gesprungene Mauer jedoch erreichte, war von Annie keine Spur mehr. Er hörte es irgendwo kratzen und erhaschte auch kurz einen Blick auf den zuckenden Lichtkegel ihres Exterras, aber entdecken konnte er sie nicht.

»Elias, hier!«

Wo, verdammt? Er konnte sie hören, aber nicht sehen und abgesehen von dem bisschen Licht, das ab und an durch die Spalten des Mauerwerks drang, konnte er auch sonst nichts erkennen. Blind tastete er sich vorwärts, bis seine Finger sich um eine Ecke legten. Die Mauer war zu Ende oder … Nein, dort war ein Loch! Mühsam, weil er eigentlich zu groß dafür war, quetschte Elias sich hindurch und musste den Kopf einziehen. Die Decke des ersten Stocks war auch hier eingebrochen und je weiter er sich vorwagte, umso niedriger wurde sie. Zuletzt kroch er auf allen vieren.

»Annie?«, flüsterte Elias in die Rabenschwärze. Inzwischen war ihre Lampe erloschen und er sah nun wirklich überhaupt nichts mehr, konnte sich nur noch auf seinen Tast- und Hörsinn verlassen.

»Hier …« Ihre Stimme klang dumpf, aber das gab ihm zumindest die Richtung an. Elias kroch ihr entgegen, Zentimeter für Zentimeter und griff plötzlich ins Leere. Kopfüber stürzte er steinerne Stufen hinunter, stieß sich den Schädel und schürfte sich dabei auch noch die Ellenbogen auf.

»Scheint, als hätten wir den Keller gefunden«, nuschelte er in Annies Haar. Er hatte sie unfreiwillig als Landeplatz missbraucht. »Entschuldige«, fügte er hinzu und setzte sich mühsam auf, nachdem er sich von ihr runtergerollt hatte. »Verdammt.« Elias rieb sich die schmerzenden Stellen, lehnte den Kopf an die kühle Wand. »Und nun?«

»Müssen wir diese Tür aufkriegen«, vervollständigte Annie den Satz und hatte schon ihr Exterra wieder angeschaltet und auf die genannte Tür gerichtet. Sie sah schwer aus und schien aus Eisen oder Stahl zu sein. Die Angeln wirkten im kläglichen Schein des Exterras schon ziemlich verrostet. Dennoch gab die Tür nicht nach, als Elias aufstand und sich mit aller Kraft dagegenstemmte.

»Wie kommen die Kleinen denn hier rein?«, fragte er halblaut und überlegte fieberhaft. Vielleicht konnte man das Schloss mit einem Draht knacken? Aber das hätten Finja und Celan niemals hinbekommen, oder doch?

»Es muss einen Schlüssel geben«, murmelte Annie halblaut. »Einen, an den die Zwerge herankommen, also nicht zu weit oben. Wo würde Finja einen Schlüssel verstecken …?« Der letzte Satz galt anscheinend nur ihr. Im Schein der Lampe sah Elias vage ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck. Sie grübelte fieberhaft und tastete sich schließlich die Treppenstufen wieder nach oben. Er folgte ihr widerwillig, denn es war nicht gesagt, dass sie dort oben wirklich etwas finden würden. Annie kroch indes nach rechts und setzte sich unter ein herabgestürztes Stück Mauer. Langsam ließ sie die Taschenlampe von links nach rechts gleiten.

»Wonach suchen wir?«, fragte Elias, weil sie aussah, als wüsste sie genau, wie und wo der Schlüssel versteckt sein müsste.

»Keine Ahnung.«

Elias stieß geräuschvoll die Luft aus und stockte dann. »Was, wenn das nicht der einzige Zugang zum Keller ist?« Im Schein seines Smartphones hatte er eine Stelle entdeckt, deren Schattenwurf darauf schließen ließ, dass der Boden dort nicht mehr vollständig war. Annie folgte seinem Blick. Sie nickte verstehend und kroch darauf zu, musste sich mit jedem Meter noch kleiner machen, denn der Platz nach oben wurde immer weniger.

»Gut gesehen«, flüsterte sie und schwang die Beine mühsam in das Loch.

»Pass bloß auf!« Elias kroch ihr hinterher, bereit, sie zu packen, falls sie abrutschen sollte, doch sie ließ es leicht aussehen und kletterte über die Trümmerteile nach unten. Er folgte ihr bei Weitem weniger elegant und stieß sich den Kopf an einem abgebrochenen Stahlträger.

Im Keller war es noch dunkler als im Erdgeschoss, stellte Elias missmutig fest. Und das, obwohl er gedacht hatte, dass das kaum noch möglich war. Auch erkannte er, dass sie sich nur in einem winzigen Vorraum befanden. Zu seiner Linken war die Tür, die sie nicht aufbekommen hatten, zu seiner Rechten war schon die feuchte Wand. Annie war bereits weitergegangen und hielt auf die rostige Tür am Ende der winzigen Kammer zu. Sie stand einen schmalen Spalt weit offen. Breit genug, dass erst Annie, dann Elias sich hindurchdrücken konnte. Zum Glück, denn weiter öffnen ließ sie sich nicht; die Angeln bewegten sich keinen Millimeter.

»Scheiße, ist das kalt hier …« Es war verdammt stickig in dem Raum hinter der Tür und roch muffig nach Schimmel oder Schlimmerem. Elias hob das Phone, um mit dessen Licht den Keller auszuleuchten. Allerhand Gerümpel befand sich darin. Teilweise unversehrte, teilweise schwer beschädigte Möbel. Alle übereinandergestapelt. So wie es aussah, handelte es sich dabei um Pulte und Stühle einer ehemaligen Schule. Das Mobiliar war überzogen von einem feinen Schleier aus dichtem Spinnengewebe und dem Staub, der daran haftete. Beinahe hübsch anzusehen, wenn die Situation nicht so bedrohlich gewesen wäre. Auf der anderen Seite des Raumes war auch diesmal eine Tür erkennbar. Sie schien verbarrikadiert zu sein, doch als Elias sich vorarbeitete, erkannte er im Schein der Lampe, dass sie aus Holz und der untere Teil bereits weggefault war. Der Weg lag frei. Durch dieses Loch kamen die Kleinen also auf das Dach, mutmaßte er, denn dahinter konnte er vage einen Tunnel oder einen Gang erkennen, der wohl einmal ein Flur gewesen sein musste. Er musste hinüber zur Ruine führen. Doch auch, wenn es lockte, war es vermutlich klüger, erst einmal an Ort und Stelle zu bleiben. Wer wusste schon, was da drin alles lauerte oder ob der Tunnel sich vielleicht verzweigte und sie nie wieder dort hinauskommen würden. Vielleicht nahmen die Jäger die Sache mit der Oberfläche ja auch ernst genug? Vielleicht waren sie hier unten sicher. Und selbst wenn sie es nicht waren, so war dieser Keller zumindest ein passables Versteck, schließlich hatten sie jahrelang nicht einmal von seiner Existenz gewusst.

In einer Ecke sank Elias an der feucht-kalten Wand hinab. Annie tat es ihm nach und vergrub dann den Kopf in den Armen. Die Unerschrockenheit, die sie auf dem mühsamen Weg herunter gezeigt hatte, fiel mit einem Mal von ihr ab. Sie begann zu zittern, ihre Schultern bebten und es brauchte einige Augenblicke, bis Elias begriff, dass sie weinte. Überfordert wandte er den Blick ab. Annie war nicht der Typ Mensch, der weinte. Entsprechend ungewohnt war es für ihn und er wusste damit nicht umzugehen. Schließlich legte er unbeholfen einen Arm um sie und sofort schmiegte sie sich an seine Brust und schluchzte geräuschvoll. Ob sie um Finja weinte oder um sich und ihn, konnte Elias nicht sagen, aber so oder so riss es ihn ebenfalls aus der Zuversicht, die sich seit Sonnenuntergang beständig mit anschwellender Panik und Hoffnungslosigkeit abgewechselt hatte. Auch er spürte nun Tränen in den Augenwinkeln und blinzelte sie weg. Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Doch dieser Entschluss hielt nicht lang; kurz darauf liefen auch bei ihm die Tränen. Nun saßen sie in diesem Keller, aber ob es die Mühe wert gewesen war, würden sie erst wissen, wenn die Sonne aufging und sie beide noch atmeten.

Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter

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