Читать книгу Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter - Elian Mayes - Страница 8
Оглавление* Kapitel 4 *
Elias’ Brust hob und senkte sich im Rhythmus seines Atems. Adrenalin rauschte durch seine Adern. Ziellos wanderte sein Blick umher. Kurz begegnete er Annies, die ihn aus schreckgeweiteten Augen ansah. Elias wirbelte auf dem Absatz herum, als er das Echo von Schritten von den Wänden der Ruinen widerhallen hörte. Die Tränen der Angst waren inzwischen auf seinen Wangen getrocknet, kalte Panik war an ihre Stelle getreten. Jeden Augenblick drohte sie, ihn zu ersticken. Es wäre so viel leichter gewesen, einfach an Ort und Stelle zu verharren. Vielleicht würde der Jäger es schnell machen, wenn er sich nicht wehrte. Dummerweise war sein Überlebensinstinkt stärker.
»Komm, da rein!« Elias packte Annies Hand und zog sie in eine der Ruinen. Dunkelheit umgab sie augenblicklich. Stumm betete er, dass er sie nicht gerade beide in eine Sackgasse und damit in den sicheren Tod geführt hatte. Er machte sich keine Illusionen, dass der Jäger sie nicht aufspüren würde. Aber er hoffte, dass sie dieses Versteckspiel lange genug durchhalten konnten, bis der Tag anbrach.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Ohne Annies geistesgegenwärtige Reaktion vorhin im Tunnel wäre es mit ihnen vorbei gewesen. Auch jetzt hatte Elias noch immer panische Angst, dass der Jäger ihnen gefolgt und ganz nah war. Dass er nur auf eine passende Gelegenheit wartete, um zuzuschlagen. Die Sekunden verstrichen, wurden zu Minuten und doch passierte nichts. Lauerte er? Plante er den nächsten Angriff oder hatte er wirklich von ihm und Annie abgelassen? Die Ungewissheit brachte Elias beinahe um den Verstand und nicht nur ihn. Annie schluchzte leise an seiner Brust. Elias hielt sie fest und weinte lautlos mit ihr.
»Kir, hier irgendwo müssen sie sein.«
Diese fremde Stimme so nah zu hören, brachte Elias zum Beben. Es musste die Stimme eines Jägers sein, denn wer sonst war mitten in der Nacht an der Oberfläche unterwegs? Ganz offenbar sprach er oder sie mit jemandem. Dass sie sogar zu zweit waren, war ihm bisher nicht klar gewesen. Sie mussten es also nicht bloß mit einem, sondern gleich mit zwei von ihnen aufnehmen. Er spürte, wie Annie zu zittern begann. Mit aller Mühe verkniff sie sich ein Schluchzen; Elias spürte, wie sie sich verkrampfte.
»Nicht nur irgendwo …« die zweite Stimme, eine männliche diesmal, klang geradezu schadenfroh und sogar noch näher als die erste. Gleich vor der Ruine, in der sie Zuflucht gesucht hatten. »… diesmal, Schwesterchen, bist du vorbeigelaufen. Sie sind hier drin.«
Ein Schatten erschien vor dem halb verfallenen Loch, das möglicherweise einmal eine Tür gewesen war. In der Dunkelheit konnte Elias nur die rot leuchtenden Augen des Jägers erkennen, der Rest seines Gesichts lag im Schatten. Gemächlich, fast schlendernd, betrat die Gestalt die Ruine, gefolgt von einer zweiten, kleineren.
»Diesmal entkommen sie uns nicht.« Der Jäger lachte. Zumindest klang dieses Geräusch in Elias’ Ohren danach. Annie gab ein ersticktes Wimmern von sich und drängte sich noch näher an ihn.
»Bringt denen eigentlich niemand bei, dass es unsere Lust auf Blut nur verstärkt, wenn sie jammern und weinen?« Wieder dieses Lachen. Kalt und gehässig.
Der Jäger trat einen Schritt ins Innere der Ruine. Dann noch einen. Er schien es nicht eilig zu haben. Wären die Klauen und die rot glimmenden Augen nicht gewesen, man hätte ihn für einen hageren Mann in Elias’ Alter halten können. Von Flügeln oder dergleichen keine Spur und auch die Reißzähne waren nicht so lang wie in den Geschichten – und dennoch eine unausgesprochene Drohung.
Seine Schwester folgte ihm ebenso entspannt, lehnte sich an die Wand. »Du darfst sie haben, Kiri. Nach deiner Pleite von vorhin gönne ich es dir.« Sie lächelte, als sie das sagte, und jagte Elias damit einen eisigkalten Schauer über den Rücken. Die beiden waren sich so sicher, wie diese Begegnung enden würde; und wenn er ehrlich war, glaubte auch er nicht daran, dass Annie und er diese Ruine lebend verlassen würden. Aber sie mussten es doch zumindest versuchen!
Mit jedem Schritt, den der Jäger auf sie zutrat, ging Elias einen zurück, zog Annie dabei hinter sich her. Sie presste verzweifelt die Hand auf den Mund, um kein verräterisches Geräusch von sich zu geben. Allerdings vermutete Elias, dass die Jäger nicht nur außerordentlich gut hören, sondern sie außerdem auch wittern konnten.
Plötzlich machte der Jäger einen Satz nach vorn. Elias schrie vor Schreck und stolperte rückwärts. Annie dagegen war wie erstarrt. Elias packte sie in letzter Sekunde, um sie mit sich zu ziehen. Gemeinsam prallten sie gegen einen Mauerrest, stürzten hinterrücks darüber und landeten im Staub. Das Lachen des Jägers erfüllte die Ruine, gab der Panik in Elias neues Feuer. Würde er mit diesem Lachen im Ohr sterben?
Fahrig tastete er auf dem Boden herum, suchte irgendetwas, womit er sich verteidigen konnte, und umklammerte das Erstbeste, das er in die Finger bekam. Mit einem verzweifelten Schrei schleuderte er es dem Jäger entgegen, der mit einem überraschten Japsen zur Seite auswich. Elias wich das Blut aus dem Gesicht, als er die Reaktion beobachtete. Hatte das Monster auch noch unfassbar schnelle Reflexe, ja?
Trotzdem griff er nach dem nächsten Gegenstand, ein kurzes Brett, und holte damit aus. Diesmal zielte er nicht auf das Gesicht des Jägers, sondern auf seine Beine. War aus der halbliegenden Position auch viel einfacher. Es krachte, als Holz auf Schienbein traf. Schmerzgeheul und ein paar üble Flüche folgten. Elias nutzte die Gelegenheit, um auf die Füße zu kommen. Auch Annie schien sich aus ihrer Starre zu lösen, denn sie tat es Elias gleich und gemeinsam suchten sie Schutz im hinteren Teil der Ruine.
»Jetzt hast du ihn wirklich wütend gemacht«, hauchte Annie verängstigt. Ein ungeduldiges Brüllen hinter ihnen bestätigte ihre Vermutung, doch Elias wollte davon nichts hören. Sie konnten nur dann überleben, wenn sie sich nicht von ihrer Angst leiten ließen und die Situation so gut wie möglich für sich nutzten. Halb blind im Zwielicht tasteten sie sich vorwärts, stießen irgendwann auf Widerstand.
»Verdammt!« Elias schlug mit der bloßen Hand auf die Wand ein, ignorierte den Schmerz, der darauf folgte. Selbstverständlich bewegte sich nichts. Es war massiver Stein. Hinter ihnen kamen der Jäger und seine Schwester immer näher und in der anderen Richtung versperrten Trümmer der heruntergebrochenen Decke den Weg. Sie waren tatsächlich in einer Sackgasse gelandet. Mit einem Mal war seine zuvor gefasste Entschlossenheit wie weggeblasen. Ohne Fluchtmöglichkeit waren sie verloren, denn einen Kampf konnten sie unmöglich gewinnen. Nicht gegen dieses Monster. Die Wogen der Panik schaukelten sich höher, rissen und zerrten an ihm. Am liebsten hätte er sich auf dem Boden zusammengekauert und geweint, bis es vorbei war.
»Hier geht es runter.«
Es war Annies Stimme, die ihn in letzter Sekunde von dem Abgrund wegriss, in den er zu stürzen drohte. Sie kauerte auf dem Boden und zog an seinem Arm. Elias duckte sich zu ihr und sah, was sie meinte: Die Trümmer der Decke waren auf den Zugang zum Keller gefallen. Wenn sie sich durch die Lücke quetschen konnten, wären sie vielleicht sicher.
»Versuch es!«, zischte er ihr zu. »Du bist kleiner als ich. Wenn du nicht durchpasst, passe ich erst recht nicht durch, aber wenn ich steckenbleibe, ist der Weg auch für dich versperrt.«
Sie nickte. Zumindest glaubte er, dass sie das tat. Er konnte die Bewegung gerade so erahnen. Im nächsten Moment war sie weg. Elias konnte sie noch hören, doch ihr Körper tauchte vollkommen in die Schwärze. Er wartete einen Augenblick, dann drückte er sich auf den Boden und versuchte, sich rückwärts durch die Lücke zu schieben, durch die Annie gerade verschwunden war. Es war wirklich verdammt eng, aber mit einem Mal flammte seine Hoffnung wieder auf.
»Ähm, Kiri, die hauen ab!«
Gleich darauf erlosch dieser Funke wieder. Die Jägerin sprang flink wie ein Fuchs an ihrem Bruder vorbei. Elias keuchte erschrocken und wollte sich die letzten Zentimeter durch die Lücke schieben, doch sie packte ihn an den Handgelenken und zog ihn zurück. Elias schrie.
»Nein!«
Doch so sehr er auch zog und zerrte, der Griff der Jägerin war unerbittlich. Kurz begegneten sich ihre Blicke – wenn man das in der fast völligen Dunkelheit so nennen konnte. Elias starrte regungslos vor Schreck in leuchtende, rote Augen, die tief in den Höhlen lagen, umrahmt von strähnigem, schwarzem Haar. Schatten, die nichts mit dem fehlenden Licht zu tun hatten, zeichneten dieses Gesicht. Entbehrung. Hunger. Das war es, was er sah, und dennoch konnte er kein Fünkchen Mitleid für sie empfinden. Nicht, wenn er derjenige sein sollte, der diesen Hunger stillen sollte.
»Worauf wartest du?« Der zweite Jäger, ihr Bruder, trat hinzu und ging neben ihr auf die Knie. »Wenn du’s nicht tust, mach ich’s.« Sein Blick, ebenfalls rot-glühend, durchbohrte sie beinahe und in dem Moment, als auch sie ihren Bruder ansah, nutzte Elias seine Chance und riss sich mit aller Kraft los. Die Jägerin reagierte sofort, griff blitzartig wieder nach ihm, doch diesmal fasste sie ins Leere; Annie hatte zur gleichen Zeit kräftig an Elias’ Beinen gezogen.
»Perfektes Timing«, ächzte er, als er neben ihr unsanft auf den Boden krachte. »Du hast echt was gut bei mir.« Elias rappelte sich auf und tastete in der Dunkelheit nach Annies Hand. Über ihnen brach wütender Lärm aus. Flüche wurden ausgestoßen und Elias war sich sicher, dass die beiden Jäger sich gerade gegenseitig beschuldigten.
»Lass uns verschwinden, bevor sie uns folgen.« Annie zog ihn vorwärts in die Dunkelheit, zückte nach ein paar Schritten ihr Exterra und schaltete die Taschenlampe an, die diese Bezeichnung kaum mehr verdiente. »Verdammt«, fluchte sie. »Mein Akku ist fast alle …«
Immerhin reichte das wenige Licht, um zu sehen, wohin man trat, dachte Elias, während er einem Rattenkadaver auswich und sich zu orientieren versuchte. Der Keller schien riesig zu sein, doch er war so zugestellt und teilweise verschüttet, dass es schwer werden würde, sich einen Weg hindurch zu bahnen. Er überlegte noch fieberhaft, wie sie es am geschicktesten anstellen sollten, als es hinter ihnen unheilvoll knirschte. Ein lautes Krachen und eine Salve von Flüchen folgte und plötzlich war es, als fiele die ganze Decke auf sie herab. Annie wich kreischend zur Seite aus, bevor ein mannshohes Trümmerteil dort aufschlug, wo sie noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte. Elias wurde von den Füßen gerissen und nach hinten geschleudert. Überall war Staub. Er stand in der Luft wie eine Wand, machte das Atmen schwer. Annies Taschenlampe war nur noch als vager Schein zu erahnen, aber es reichte, um zu erkennen, dass nicht die Decke herabgefallen war, sondern dass die Trümmer im Durchgang nach oben den Weg nach unten gefunden hatten.
»Alles okay bei dir?« Mühsam kam Elias auf die Füße und war mit wenigen Sätzen bei Annie.
»J-ja, ich glaube schon …« Sie setzte sich auf und rieb sich den Kopf. »Wo sind …« Sie musste nicht weitersprechen, Elias wusste auch so, was sie meinte.
»Ich weiß nicht.« Trotz, dass er angestrengt lauschte, konnte er keine Geräusche ausmachen, die den Aufenthaltsort der beiden Jäger verraten hätten. »Vielleicht haben sie sich selbst begraben«, setzte er hoffnungsvoll hinterher, dann zog er Annie auf die Füße.
Tatsächlich blieb es still bis auf das Geräusch von rieselndem Feinschutt. Sie verharrten noch einige Augenblicke, warteten ab, doch es blieb dabei.
»Lass uns einen Ausgang suchen«, murmelte Annie irgendwann leise und zog zaghaft an Elias’ Ärmel. »Einen anderen, mein ich«, fügte sie hinzu und deutete auf den eingestürzten Aufgang. »Das da ist mir unheimlich.«
Gemeinsam kämpften sie sich vorwärts. Über uralte, umgestürzte Regale, Schutt und Trümmer, doch schon bald mussten sie feststellen, dass es außer diesem einen Aufgang keinen anderen Weg nach draußen gab. Nicht einmal einen Schacht oder Ähnliches. Wohl oder übel mussten sie den Rückweg antreten. Als sie sich dem versperrten Aufgang näherten, wurde Annie langsamer. Schließlich bedeutete sie Elias mit einer Handbewegung, stehen zu bleiben.
»Was, wenn sie doch noch da sind? Sollten wir nicht lieber hier unten bleiben?« Er überlegte. Sein Blick wischte hinüber zu dem Trümmerhaufen, der von oben hinabgestürzt war, dann zu dem Loch in der Decke, das nun frei lag.
»Vielleicht hast du recht …« Er sah auf sein Smartphone, das zwar an der Oberfläche nicht zum Telefonieren taugte, aber zumindest die Uhrzeit verlässlich anzeigte. Sie hatten etwas mehr als die halbe Nacht geschafft, und schienen in diesem Keller sicher zu sein. »… aber wenn wir nochmal von Jägern aufgespürt werden, gibt’s keinen zweiten Fluchtweg. Wenn von dort …«, er zeigte auf den Aufgang, »… jemand kommt, sitzen wir endgültig in der Falle.«
Im schwachen Schein der Lampe konnte er sehen, wie sie hilflos an ihrer Unterlippe kaute und mit sich rang. Schließlich ließ sie die Schultern fallen und nickte.
Gemeinsam erklommen sie den Trümmerberg. Elias half Annie beim letzten Stück nach oben, weil sie etwas kleiner war, und hangelte sich dann selbst aus dem Loch. Oben angekommen blieben sie erst einmal erschöpft liegen.
»Was glaubst du, wo die beiden hin sind?«, fragte Annie irgendwann flüsternd und sprach damit aus, was auch Elias interessierte. Seine größte Hoffnung war, dass sie mit den Trümmern abgestürzt waren und sich selbst darunter begraben hatten. Oder sich wahlweise den Kopf so heftig angeschlagen hatten, dass sie zumindest in dieser Nacht nicht wieder aufwachen würden.
»Wir brauchen einen sicheren Platz bis morgen früh«, murmelte er, ohne auf Annies Frage einzugehen. »Lass uns mal schauen, ob es in diesem Gebäude mehr gibt als nur diesen Raum und den Keller.«
»Ich schätze, das kann euch beiden egal sein.«
Innerhalb von Sekunden war Elias auf den Füßen. Ihm wurde beinahe schwindelig, so schnell hämmerte sein Herz in seiner Brust. Ein Stück entfernt entflammten rote Augen in der Dunkelheit.
»Ich wusste doch, dass ich euch nicht folgen muss, um euch zu kriegen.« Ein heiseres Lachen ertönte. Dann kamen die Augen näher. Automatisch wollte Elias einen Schritt rückwärts machen, doch er wusste, dass hinter ihm das Loch war, aus dem er und Annie gerade erst gekrochen waren. Voller Angst blieb er, wo er war. Angespannt, bis in die letzte Muskelfaser. Zwischen ihnen und ihrem einzigen Fluchtweg stand das Monster. Sie hatten nur diese eine Chance. Nur diese eine Gelegenheit.
Der Jäger pirschte bedächtig vorwärts. Vorsichtiger, als Elias ihn bisher erlebt hatte. Offenbar hatte er dazugelernt. Knurrend setzte er zum Sprung an. Kurz blitzten spitze Zähne im immer schwächer werdenden Schein von Annies Lampe auf.
Dann ging alles blitzschnell. Der Jäger drückte sich vom Boden ab. Elias wich mit einem Hechtsprung zur Seite aus, riss Annie dabei zu Boden. Er spürte den Luftzug in seinem Gesicht, als die Klauen des Monsters seinen Kopf nur minimal verfehlten. Wütendes Fauchen peitschte durch die Luft, der Jäger stürzte in das Loch, erwischte nur knapp den Rand. Er versuchte, sich an einem querliegenden Trümmerteil festzukrallen, doch der Schwung seines Sturzes riss ihn nach unten.
»Lauf!« Elias griff nach Annies Hand und zog sie hinter sich her. Hinter ihm krachte es ohrenbetäubend, doch er wollte sich nicht mehr umsehen. Er wollte nur noch raus aus dieser Ruine!
»Kiresh!« Jemand schrie. Elias glaubte, die Stimme als die der Jägerin identifizieren zu können. Panisch stürzte er vorwärts, stolperte fast zum zweiten Mal über das Trümmerteil, das ihn schon einmal in dieser Nacht von den Füßen geholt hatte. Fest hielt er Annies Hand umklammert, als er endlich durch das Loch nach draußen sprang. Ob die Jägerin ihnen folgte oder nicht, konnte er nicht sagen; er wagte es nicht, stehenzubleiben und sich umzudrehen. Er hörte bloß ihre Schreie, wie sie nach ihrem Bruder rief.
Wie lange sie gerannt waren, ohne stehenzubleiben, ohne sich umzusehen, konnte hinterher niemand von ihnen mehr sagen. Irgendwann war ihnen die Puste ausgegangen. Nun befanden sie sich auf der anderen Seite der Stadt, ganz in der Nähe eines Zugangs zur unterirdischen Zuflucht. Aber das half ihnen nicht, wenn ihnen niemand öffnete.
»Wir müssen ein Versteck finden«, keuchte Annie. Sie zog Elias in die Richtung eines verfallenen Gebäudes. Er folgte ihr, aber sah nicht recht den Sinn darin. Auch im nächsten Versteck konnten sie aufgespürt werden. Diesmal vielleicht von anderen Jägern. Oder von einer größeren Gruppe.
Annie drückte die Klinke und ging voraus. Die Tür knirschte, als sie aufschwang. Das Exterra leuchtete ihnen mehr schlecht als recht den Weg. Es flackerte zwischenzeitlich, aber zumindest genügte es, um einen Eindruck von dem Gebäude zu bekommen. Es schien ein ehemaliges Wohngebäude zu sein. Anders als jene, in denen sie bisher Zuflucht gesucht hatten. Sie warfen einander einen Blick zu und in stummer Übereinkunft schoben sie eine altersschwache Kommode vor die Eingangstür. Dann machten sie sich auf die Suche nach einem Zugang zum Keller. Staub rieselte von der Decke und mehr als einmal pflückte sich Elias Spinnweben vom Gesicht. Offenbar war seit sehr langer Zeit niemand mehr hier gewesen.
Die Tür zum Keller schien nicht verschlossen zu sein, aber sie ließ sich auch nicht um mehr als einen schmalen Spalt öffnen. Feuchtkalte Luft schlug ihnen daraus entgegen. Sie roch alt und modrig. Elias warf sich mehrmals gegen die Tür, so fest er konnte. Ihm war, als bewegten sich die alten Angeln Millimeter für Millimeter.
»Ich glaub, jetzt passe ich durch«, flüsterte Annie irgendwann und tatsächlich: Mit etwas Mühe quetschte sie sich durch den Spalt und half Elias, indem sie von innen an der Klinke zerrte.
»Jetzt!« Elias folgte Annie ähnlich mühsam, dann machten sie sich daran, die Tür von innen wieder zuzudrücken. Wenn sie Schwierigkeiten hatten, die Tür zu öffnen, dann galt das hoffentlich auch für Jäger.
Erschöpft sanken sie auf die Stufen, die hinunter in die Schwärze führten und blieben sitzen. Zu müde, um sich noch großartig zu bewegen. Irgendwo in der Ferne quiekte eine Ratte, Wasser tropfte. Ein kurzer Blick mit der sterbenden Taschenlampe zeigte, dass der Keller mindestens zur Hälfte unter Wasser stand.
»Lass uns einfach hierbleiben«, schlug Elias kraftlos vor. Einige Stunden mussten sie noch aushalten, in denen sie nicht aufgespürt werden durften. Zwei Drittel der Nacht hatten sie bereits geschafft.
***
»Hier, sieh«, flüsterte Annie. Elias schreckte aus seinem unruhigen Dämmerschlaf hoch, bereit zu fliehen oder zu kämpfen, doch Annie hielt ihm nur sein Phone hin. »Gleich acht. Die Sonne müsste schon so gut wie aufgegangen sein. Wir … wir haben es geschafft.« Ungläubig starrte Elias auf das Display. Annie hatte recht: Sie hatten die Nacht überlebt! Einmal mehr fielen sie einander in die Arme und weinten. Diesmal war es vor Erleichterung. Auf zittrigen Beinen stemmte Elias sich hoch und gemeinsam mit Annie schaffte er es, die Tür aufzuziehen. Er stakste Richtung Ausgang. So ganz glauben konnte er es nicht, doch das Licht, das ihren Schutzraum durch ein paar Ritzen erhellte, war wirklich da. Trotzdem war er vorsichtig, als er die Barrikade hinter der Tür öffnete und hinaustrat. Bedacht darauf, beim kleinsten Anzeichen eines Jägers sofort wieder hineinzuspringen. Doch es blieb still. Nichts regte sich.
»Ich glaube, wir haben es wirklich geschafft«, hauchte er und drehte sich zu Annie um, die ebenso zögerlich ihren Kopf durch den Spalt steckte.
»Ja …« Auch sie schien es kaum glauben zu können. Sowohl er als auch Annie zeigten eindeutige Zeichen eines Kampfes, doch Elias sah sie nicht mehr. Für ihn war nur wichtig, dass sie diesen Kampf gewonnen hatten. Was aus den Jägern geworden war, wusste er nicht und es war ihm auch egal.
»Lass uns nach Hause gehen.«
Sie erreichten die Tore Hand in Hand, stützten sich gegenseitig, denn die Nacht hatte ihnen alles abverlangt. Schon von weitem begegneten ihnen misstrauische Blicke. Zwei Sicherheitsleute kamen ihnen sogar mit erhobenen Tasern entgegen. Sicherheitshalber blieb Elias stehen und hob die Hände.
»Bitte … Kein Grund zur Beunruhigung, wir … wir sind bloß gestern nicht mehr rechtzeitig hineingekommen.«
Ungläubig und noch immer skeptisch wurden sie in Empfang genommen. Jemand scannte ihre IDs und nachdem das System ihre Daten als valide auswarf, senkten die beiden Sicherheitsleute endlich die Taser und führten sie durch die Tore hinein in einen Überwachungsraum.
»Elias Bennett und Annie Collins, richtig?«, wollte einer von ihnen wissen. Elias nickte stumm.
»Ihr beide wart die ganze Nacht über an der Oberfläche?«
Elias nickte noch einmal.
»Kam es zu irgendwelchen Zwischenfällen?«
Abermals ein Nicken.
»Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Junge! Kam es zu einem Kampf mit Jägern?«
Elias hasste es, bloß mit diesen anonymen Uniformen zu sprechen. Den Menschen unter dem chromfarbenen Helm sah man nicht. »Ja.«
Er schloss die Augen und atmete einmal ein und wieder aus. Wieso hatte das nicht Zeit, bis sie ihre Familien informiert und etwas gegessen hatten? In seinem Kopf drehte sich schon alles. Er wollte nur noch nach Hause. Doch er wusste, er würde diesem Verhör nicht entkommen. Stockend sprach er weiter: »Wir haben uns in einer der alten Ruinen in einem Keller versteckt. Dort wurden wir von den Jägern aufgespürt. Wir sind geflohen und sie hätten uns beinahe geschnappt. Wir sind nur durch einen glücklichen Zufall entkommen.«
»Was ist mit den Jägern geschehen?«
»Ich weiß nicht.« Elias runzelte die Stirn. »Vermutlich sind sie auf und davon. Oder sie sind noch immer in dem Loch, in das sie gefallen sind.«
Die beiden Sicherheitsleute wechselten bedeutungsvolle Blicke. »Welches Loch? Erzähl genauer.«
Müde erzählte Elias alles, woran er sich noch erinnern konnte. Viel war es nicht mehr, denn die Erschöpfung schlug nun, da sie außer Gefahr waren, erbarmungslos zu. Nur am Rande bekam er mit, dass die Männer auch Annie befragten, doch die sagte keinen Ton mehr. Kreidebleich saß sie auf ihrem Stuhl, die Tasse mit heißem Tee fest umklammert, die jemand ihr in die Hand gedrückt hatte, und starrte geradeaus.
Abwesend folgte Elias den aufgewühlten Sicherheitsleuten mit den Augen. Wie Ameisen liefen sie durcheinander, tauschten Blicke oder Worte. Befehle wurden barsch erteilt, doch keinen davon konnte Elias verstehen. Zahlenkombinationen, Codes oder einfach so schnell, dass sein müder Geist nicht folgen konnte. Es war ihm auch vollkommen egal. Er war fix und fertig. Irgendein Arzt untersuchte ihn von oben bis unten, aber konnte außer ein paar Prellungen und Schürfwunden keinen Schaden feststellen. Die offenen Stellen wurden desinfiziert und verbunden. Um seinen Kreislauf etwas zu stabilisieren, spritzte ihm jemand eine Zuckerlösung.
»Oh mein Gott, Elias! Ich hatte solche Angst um dich!« Elias sah auf, als er die Stimme erkannte. Mrs Marquez stürzte ihrem Sohn entgegen und schob den Arzt mit Nachdruck aus dem Weg. Jemand musste ihr Bescheid gegeben haben. Stürmisch drückte sie Elias an ihre Brust. Normalerweise fühlte er sich für solche Zuneigungsbekundungen zu alt, aber in diesem Fall erwiderte er die Umarmung mindestens ebenso heftig. Er hatte nicht daran geglaubt, die Nacht zu überleben.
»Morgen, Mom.« Er lächelte müde und wischte ihr eine Träne von der Wange. »Mir geht’s gut. Kein Grund zu weinen.«
»Kein Grund zu weinen«, wiederholte sie kopfschüttelnd und schluchzte nun. »Man sagte mir, dass du nach draußen verschwunden bist und nicht wiederkamst. Ich dachte, dass ich dich nie wiedersehen würde! Dass ich dich nicht einmal zu Grabe würde tragen können, weil eines dieser Monster dich …« Sie brach ab und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase.
»Ich weiß«, murmelte Elias. »Das dachte ich auch. Aber ich bin hier und mir geht es gut.« Einzig, dass es ihnen nicht gelungen war, Finja und Celan ausfindig zu machen, trübte sein Glück. Vor allem Annie traf es hart. Sie weinte, als ihr Vater sie abholte, und machte sich schwere Vorwürfe. Ihr Vater weinte gemeinsam mit ihr um Finja, aber kein einziges Wort des Vorwurfes kam über seine Lippen. Er begegnete kurz Elias’ Blick. Sein Lächeln war voller Schmerz, aber zugleich auch Dankbarkeit dafür, dass zumindest Annie wohlbehalten wieder da war.
Es wurde später Nachmittag, bis die Sicherheitsleute sie nach Hause gehen ließen. Immer wieder musste Elias schildern, was in der Nacht geschehen war. Immer wieder wurden seine Vitalparameter bestimmt und einmal wurde ihm sogar Blut abgenommen. Den Grund verriet ihm niemand. Unter normalen Umständen hätte er sich dagegen gewehrt, aber er konnte einfach nicht mehr. Sie hätten ihm die Haare abrasieren können und er hätte nichts gesagt.
Als man sie dann endlich gehen ließ, war er so müde, dass er kaum mehr etwas mitbekam. Wie seine Mutter es geschafft hatte, ihn nach Hause zu bringen, war ihm im Nachhinein ein Rätsel. Ohne zu protestieren, ließ er sich von ihr ins Bett legen und versorgen. Sie brachte ihm etwas Heißes zu trinken, etwas zu essen und schließlich sogar eine Wärmflasche, weil er trotz seiner Decke noch immer fror.
»Ich fürchte, du hast dich erkältet«, murmelte sie, als Elias schon fast eingeschlafen war. »Aber wenn es nur das ist, dann bin ich froh darüber.« Sie strich ihm liebevoll übers Haar und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Das hatte sie zuletzt getan, als er im Alter von sieben oder acht Jahren mit einer fiesen Grippe im Bett gelegen hatte.