Читать книгу Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter - Elian Mayes - Страница 7
Оглавление* Kapitel 3 *
»Kiresh! Jetzt komm endlich! Wenn sie dich erwischen, bekommst du großen Ärger!«
Genervt verdrehte Kiresh die Augen. Er war noch nicht fertig. Der Hunger quälte ihn noch immer! Zähnebleckend duckte er sich tiefer, obwohl er wusste, dass das unnötig war. Sie sahen ihn nicht in der Dunkelheit und sie hörten ihn erst, wenn es zu spät war. Sie, die Jäger waren die überlegene Spezies auf diesem Planeten. Sie waren die Götter, vor denen die Menschen ängstlich erzitterten und flohen. Ein hämisches Lächeln stahl sich wie von selbst in Kireshs Gesicht. Voller Vorfreude nagte er an der Unterlippe, konnte bald schon Blut schmecken, als die scharfen Spitzen mühelos durch seine Haut drangen. Der metallische Geschmack zeigte ihm, wie hungrig er noch immer war. Sein Magen knurrte. Viel zu selten war er satt und wenn er so kurz davor war, musste seine Schwester ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Ein Knacken im Gebüsch unter ihm ließ ihn erneut aufstöhnen. Da war sie schon wieder!
»Kiresh! Wir sollten gar nicht hier sein! Jetzt komm endlich!« Sie rief nicht, sie fauchte seinen Namen vielmehr und Kiresh ignorierte sie. Sollte sie doch vorgehen, er kam sehr gut ohne sie zurecht. Eigentlich kam er ohne sie sogar besser zurecht, denn sie wäre ihm sowieso nur im Weg mit ihrem Geschwätz über Regeln und Abkommen! Ein Rascheln im Laub verriet Kiresh, dass seine Schwester tatsächlich gegangen war. Die Anspannung löste sich und er wurde ruhiger, sein Atem gleichmäßiger, sein Herzschlag langsamer. Ohne seine Schwester im Nacken konnte er sich besser konzentrieren, noch besser die Körperwärme desjenigen fühlen, den er sich als Beute auserkoren hatte. Kein störender Pulsschlag, der seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Je schneller das Herz seines Opfers raste, desto ruhiger wurde sein eigenes. Es hatte Angst, geriet in Panik. Wusste, dass etwas im Dunkeln lauerte und dass es seine letzte Nacht sein würde. Das Lächeln in Kireshs Gesicht wurde breiter und unheilvoller. Er konnte deutlich hören, dass die Schritte seines Opfers es in seine Richtung trugen und damit ins Verderben. Kireshs Sinne schärften sich, jedes noch so kleine Rascheln erreichte seine Ohren und gleichzeitig filterten sie jene Geräusche heraus, die gerade nicht wichtig waren. Beinahe zärtlich strichen Kireshs Fingerspitzen über die raue Rinde des Astes, auf dem er kauerte. Er fühlte jede Erhebung. Sie alle waren so vertraut, dass ihn keine einzige überraschte. Darauf der kühle Tau, der an einigen Stellen schon zu Reif geworden war und so zum ersten Boten des Herbstes wurde. Und nach dem Herbst würde der Winter kommen. Die Jahreszeit der Jäger. Wenn die Tage kürzer wurden, wurden die Nächte länger. Der Winter war die dunkle Zeit. Dunkel war es auch jetzt, der Mond nicht zu sehen. Vollkommen lag er im Schatten. Kiresh liebte diese Nächte, wenn absolute Finsternis herrschte. Einzig Blutmondnächte standen noch höher in seiner Gunst.
Leises Weinen lenkte seine Aufmerksamkeit nun endgültig und vollständig auf sein Ziel. Andere hätten sich vielleicht davon erweichen lassen, nicht jedoch er.
»Finny …! Finny …!«, drang das Schluchzen an Kireshs Ohr. Der Kleine stolperte und fiel. »Finny …« Er blieb am Boden liegen, schlug die Hände vors Gesicht. Zitterte, bebte. Kiresh lächelte. Geschmeidig ließ er sich von seinem Baum ins feuchte Gras gleiten. Der Boden federte sanft unter seinem Gewicht, als er sich lautlos auf seine Beute zubewegte. Erst, als er direkt vor dem Jungen stand, bemerkte dieser ihn und schaute mit angstgeweiteten Augen zu ihm auf. Seine schmalen Schultern fuhren zusammen. Er erstarrte, als seine Augen Kireshs fanden. Nur sein flacher Atem zeugte davon, dass er lebte und keine Statue war. Wie langweilig, wenn er nicht einmal davonlief! Kiresh bedauerte es, auf seinen Spaß an der Jagd verzichten zu müssen, doch auch, als er dem Kleinen noch näher kam, machte dieser keinerlei Anstalten zur Flucht. Kiresh bleckte die Zähne und fuhr mit der Zungenspitze darüber. Die Lust, zu töten, die Vorfreude auf den Geschmack warmen, frischen Blutes – endlich einmal nicht sein eigenes – steigerte seine Aufregung immer weiter.
»Kannst du … kannst du mich zu Finny bringen?« Die zitternden Worte des Jungen ließen Kiresh irritiert stutzen. Schluchzer erschwerten es, ihn zu verstehen. Erbärmlich! Was sollte diese alberne Frage überhaupt? Kiresh ging in die Hocke, begab sich auf Augenhöhe, kam ihm noch näher. Der Kleine schien höchstens acht oder neun zu sein, eher noch jünger. Unwillkürlich fragte Kiresh sich, wie er hierher gekommen sein mochte, obwohl das eigentlich keine Rolle spielte, denn er würde so oder so sterben.
»Verzeih, Menschenkind, aber ich weiß nicht, von wem du sprichst und selbst wenn ich es wüsste – ich hätte keinerlei Interesse daran, dir zu helfen.« Kireshs Stimme war kaum mehr als ein raues Zischen und er war nicht sicher, ob der Junge den Inhalt dieser Worte begriff. Aber auch das war ihm vollkommen gleichgültig. Dieses Kind würde jeden Augenblick sterben, was kümmerte es ihn also, ob es verstand, wieso. Leider wusste Kiresh, dass seine Schwester recht hatte: Wenn er diese Beute für sich wollte, musste er sich beeilen. Bedauerlich, denn er liebte es, zu spielen, sich an ihrer Angst zu laben. Ihr Fleisch und ihr Blut sättigten ihn, aber erst ihre Furcht, ihr Flehen und ihre Schreie brachten ihm wahre Zufriedenheit. Darauf würde er in dieser Nacht verzichten müssen. Kiresh erhob sich, umkreiste seine Beute, ohne sie aus den Augen zu lassen. Die Augen des Jungen folgten ihm mit bangem Blick, sein Körper dagegen blieb starr vor Angst. Hin und wieder verloren die ängstlichen Augen sich im Nichts. Kein Wunder eigentlich, denn er konnte im Dunkeln vermutlich kaum etwas erkennen, sondern nur Vermutungen anstellen, wo Kiresh sich gerade befand. Es war zu einfach. Es war langweilig. Keine Herausforderung.
Drohend fletschte Kiresh die Zähne, machte sich bereit zuzuschlagen.
»Bitte … Ich …« Der Kleine weinte inzwischen so sehr, dass Kiresh kein einziges Wort mehr verstehen konnte. Es war ihm auch vollkommen egal. Als er vorschnellte, seine Zähne in den schlanken Hals und die ausgefahrenen Klauen in die Brust schlug, blieb das Hochgefühl aus. Krachend barsten Rippen unter seinem festen Griff, Blut sprudelte aus dem jungen Körper. Der metallische Geruch stieg Kiresh in die Nase, den warmen Schwall konnte er auf seiner Zunge schmecken. Es fachte seinen Hunger neu an und ließ ihn ungeduldig knurren. Wie lange hatte er darauf warten müssen?
Der kleine Körper wehrte sich. Immerhin etwas! Gurgelnd und röchelnd versuchte er zu schreien, wand sich noch eine Weile, doch bald schon, viel zu schnell erstarb jeglicher Widerstand. Sowie Kiresh das erste Mal einen Bissen herausriss und schluckte, wich das Leben aus ihm. Weit aufgerissen starrten seine Augen den Jäger an. In ihnen stand eine stumme Anklage, die Kiresh nur spöttisch auflachen ließ. Er war niemandem Rechenschaft schuldig!
Warmes Blut füllte Kireshs Mund erneut, er schluckte gierig. Ein Teil versickerte auf der Stelle im weichen Boden, ein anderer Teil lief sein Kinn hinab, tropfte auf seine Kleidung. Er biss noch einmal zu, zerrte an der Haut, bis sie riss und schluckte wieder. Der köstliche Geruch von Blut, die Wärme auf seiner Zunge; es wurde zu einem Rausch. Wieder und wieder biss er zu, schluckte, ohne zu kauen, denn das brauchte er gar nicht. Oh verdammt, so lange hatte er gewartet!
Seine Umgebung beachtete er nicht. Einzig dieses Mahl zählte und dass er endlich einmal satt sein würde. Erst das verdächtige Knacken eines Zweiges brachte ihn zurück in die Gegenwart. Er hatte die verdammte Zeit vollkommen vergessen! Jeden Augenblick konnte er entdeckt werden und dann würde es eng werden. Er hatte keine Zeit mehr. Eilig packte Kiresh die Reste seiner Beute und machte sich auf den Weg zurück. Kurz überlegte er, das, was noch übrig war, irgendwo zu verstecken, doch er entschied sich dagegen. Dass niemand anderes sie finden würde, war ausgeschlossen. Also musste er mitnehmen, was er tragen konnte. Wenn Seray etwas abhaben wollte, konnte sie darauf lange warten. Sollte sie doch das nächste Mal selbst jagen, statt sich aus dem Staub zu machen!
Orientierung suchend blickte Kiresh sich um. Details, wie die Wuchsrichtung des Mooses, verrieten ihm, welche Richtung er einschlagen musste, um den Weg nach Hause zu finden. Und auch, wenn er sich beeilen musste, genoss Kiresh doch den Lufthauch auf seiner Haut und in seinen Haaren, fühlte deutlich das Gras unter seinen bloßen Füßen. Oh ja, die Nacht war seine Zeit! Er lief schneller, übersprang mit Leichtigkeit einen umgestürzten Baum und landete federnd auf der anderen Seite. Jeder einzelne Muskel vibrierte vor Lebendigkeit. Noch fünfhundert Meter trennten ihn von dem Zaun, hinter dem Seray auf ihn wartete. Kiresh lief noch schneller, wich im Zickzack den uralten Bäumen aus. Er machte sich selbst ein Spiel daraus, so knapp wie möglich an ihnen vorbeizufliegen. Wieder war da ein Knacken. Instinktiv lauschte er darauf, filterte andere Geräusche heraus.
»Hey Kiri, wohin so eilig?«
Verdammt! Kiresh erstarrte im Lauf und zog automatisch den Kopf ein. Hatten diese unterbelichteten Idioten ihm etwa aufgelauert? Oder war er ihnen aus Versehen in die Arme gelaufen? Keine Glanzleistung seinerseits, ganz eindeutig.
»Was willst du, Figh?«, presste Kiresh zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, ohne sich umzudrehen. Dieser Widerling sollte ruhig wissen, dass er ihn nicht für eine Bedrohung hielt. Er konnte ihm gar nichts!
»Spüre ich da etwa latente Aggression? Dazu hast du überhaupt keinen Grund, mein Lieber, denn ich bin derjenige, der gerade bestohlen wird.«
»Bestohlen?« Kiresh lachte heiser auf und drehte sich nun doch zu Figh um. Er saß auf einem Ast direkt über ihm und beobachtete ihn genau. Also war er ihm in die Arme gelaufen. Wie hatte ihm das entgehen können? Figh trug ein für ihn typisches überlegenes Grinsen zur Schau, das sein eigentlich nicht unattraktives Gesicht furchtbar hässlich machte. Zumindest in Kireshs Augen.
»Ja, bestohlen.« Figh seufzte, als bedauerte er es, Kiresh diese Nachricht mitzuteilen, und ließ sich dann behände ins Gras fallen. Er landete knapp zwei Schritte von ihm entfernt. »Du weißt doch sicher noch, wie die Abmachung war, oder nicht? Das hier ist unser Revier, nicht das eurer verlausten Bande von Rattenfängern.« Bei dieser Bezeichnung wallte Wut in Kiresh auf. Als ob irgendjemand von ihnen sich das freiwillig antat!
»Tut mir leid, das muss mir entfallen sein.« So wütend er auch war, Kiresh ließ sich nichts anmerken, erwiderte das Lächeln stattdessen kalt. Natürlich wusste er, in wessen Revier er jagte. Doch das interessierte ihn einen feuchten Dreck. Die Aufteilung war mehr als unfair gewesen, denn Figh und sein Haufen von elitären Arschlöchern hatten sich den Park unter den Nagel gerissen. Außerdem den Osten der Stadt und von dort die Wälder bis zu den Bergen. Da musste er damit rechnen, dass die übrigen Jäger das nicht auf sich sitzenließen.
»Ich helfe deinem Erinnerungsvermögen gern auf die Sprünge, Kleiner.« Figh machte einen Satz auf Kiresh zu und fletschte drohend die Zähne, doch Kiresh zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er war schneller als Figh, also hatte er von ihm nichts zu befürchten. Trotzdem war er nicht unbedingt scharf auf diese Art der Konfrontation. Er wollte doch nur in Ruhe seine Beute in Sicherheit bringen!
»Du bist kleiner als ich«, wies Kiresh ihn lächelnd auf diese Tatsache hin und wusste, dass sein Tonfall provozierte. Etwas Besseres konnte ihm gar nicht passieren, denn ein wütender Figh war ein Figh, dem er noch leichter entkommen konnte. In seinem Fall bekam die Redewendung »blind vor Wut« nämlich eine völlig neue Bedeutung.
»Das da«, Figh deutete auf die Beute in Kireshs Arm, »steht dir nicht zu. Also her damit.« Unbewegt sah Kiresh hinunter auf das Fleisch, das er erbeutet hatte. Dann blickte er wieder nach oben in Fighs schwarze Augen und schüttelte den Kopf.
»Vergiss es, du Großkotz! Nur weil ein paar von euch irgendwelche Grenzen durch Gebiete gezogen haben, die uns allen gehören, werde ich mein Essen sicher nicht mit dir teilen.«
»Von teilen spricht niemand, Abschaum. Du wirst es uns übergeben und fertig. Kannst froh sein, wenn wir dich für das, was du bereits verdrückt hast, nicht zur Rechenschaft ziehen.«
Kiresh lachte spöttisch auf. »Mich zur Rechenschaft ziehen? Dazu habt ihr nicht das Recht.«
»Oh doch, dazu haben wir jedes Recht. Wer auch immer sich unerlaubt in unser Revier wagt, muss büßen.« Wie auf ein Stichwort traten zwei weitere Jäger aus den Schatten hervor. Kiresh erkannte sie sofort. Beide gehörten sie zu Figh und flankierten ihn wie Hunde ihr Herrchen. Wütend presste Kiresh die Kiefer aufeinander. Dieser Auftritt und die abgedroschenen Phrasen passten zu Figh, wie eine kräftige Faust auf sein Auge gepasst hätte, und allmählich musste er sich eingestehen, dass er in der Unterzahl war. Trotzdem wich er nicht zurück, sondern sah jedem der drei ins Gesicht. Mit aller Ruhe, die er aufbringen konnte. Figh erwiderte seinen Blick mit einem hässlichen Grinsen. Seine Zwillingsschwester Meera, die zu seiner Rechten stand, lächelte dazu passend süßlich-arrogant. Das Gesicht des Dritten lag im Dunkeln, aber Kiresh war sich sicher, dass der Geruch zu Vile gehörte, ebenfalls einer von Fighs Speichelleckern.
»Kiri, du sollst doch nicht die Großen ärgern.« Meera blinzelte ihm aus dunkelroten Augen zu und schlich um ihn herum. Kiresh verfolgte sie mit den Augen, war sich jeder ihrer fließenden Bewegungen bewusst; sie schnitt ihm den Fluchtweg zur Seite ab.
»Ich glaube, er steht auf Abreibungen«, zischte Vile und tat es Meera spiegelverkehrt nach. Nur Figh rührte sich nicht von der Stelle. Selbstgefällig verschränkte er die Arme vor der Brust; sein hässliches Grinsen wurde eine Spur breiter. »Also, Kiri? Gibst du zurück, was uns gehört?«
Knurrend sah Kiresh von einem zum anderen. Sein Stolz verbot es ihm, sich zu ergeben, doch er war nicht dumm. Er sah sich allein drei Jägern gegenüber und würde den Kürzeren ziehen, wenn es zu einem Kampf käme. Es sei denn, er schaffte es, schneller zu verschwinden, als die drei reagieren konnten.
Blitzschnell drehte er sich zur Seite und drückte sich vom Boden ab. Er zog das andere Bein nach und setzte dem verdutzten Vile den Fuß hart auf die Brust. Der war so überrumpelt, dass er rücklings zu Boden stürzte und sich fauchend zur Seite abrollte. Fighs wütender Schrei gellte über die Lichtung. Kiresh nahm die Beine in die Hand und rannte. Wie der Wind flog er über umgestürzte Baumstämme und kleine Felsen, wich verrotteten Müllkörben und totem Gehölz aus. Hinter sich hörte er noch immer Fighs zorniges Gebrüll, das einfach nicht leiser werden wollte. Trotzdem vermied Kiresh es, über die Schulter zu schauen und so an Tempo zu verlieren. Einfach weiter. Immer weiter.
»KIRESH!« Es war Fighs Stimme, die durch den Wald schallte, aber Meeras Geruch, der langsam aber sicher näher kam. Kiresh schlug Haken, verschwand zwischen den Bäumen in der Dunkelheit, übersprang sogar einen Zaun. Doch es half nichts. Die kleine Schlampe war verdammt schnell und ihrem Bruder leider vollkommen hörig.
»Komm schon, bleib stehen, Süßer. Wir kriegen dich sowieso.« Ihr helles Lachen verursachte Kiresh eine Gänsehaut der unguten Sorte. In einem Kampf hatte sie keine Chance gegen ihn, aber wenn Meera ihn zu Fall brachte, würden ihr Bruder und Vile ihn schneller einholen, als ihm lieb war, und dann war er chancenlos. Die Entscheidung fiel blitzschnell. Mit einem frustrierten Knurren ließ Kiresh seine Beute fallen. Manchmal war es wohl doch besser, seinen Stolz hinunterzuschlucken. Er hörte boshaftes Gejohle hinter sich und unterdrückte einen Aufschrei. Wie sehr er es hasste, wenn er gegen Figh verlor!
Kiresh rannte noch ein gutes Stück weiter, dann erst wurde er langsamer. Wenn die anderen wollten, konnten sie ihn verfolgen – vermutlich roch man die Blutspur auf mehrere Kilometer. Aber Kiresh war sich sicher, dass Figh das nicht tun würde. Er hatte bekommen, was er wollte. Er hatte jemanden gedemütigt und obendrein noch eine Mahlzeit ergattert, ohne sich die Finger schmutzig zu machen.
***
Ziellos streifte Kiresh durch die Stadt, noch immer wütend über sich selbst, weil er sich seine Beute hatte abnehmen lassen. Irgendwann würde Figh noch sehen, was er davon hatte!
Aber, und diese Genugtuung blieb, er hatte nach einer gefühlten Ewigkeit wieder menschliches Blut kosten dürfen. Wenn er die Augen schloss, schmeckte er es noch auf der Zunge. Kiresh wusste, dass die Wahrscheinlichkeit gegen Null ging, dass er in dieser Nacht noch einmal solches Glück haben würde. Erst recht nun, da er auf die Ruinen beschränkt war. Es war ohnehin eine Rarität, in einer Nacht mehrere Jagden zum Erfolg zu bringen, aber in dieser Einöde aus Beton und Stahl war es umso unwahrscheinlicher.
»Kiresh? Bist du das?« Er hielt inne und suchte die Umgebung nach seiner Schwester ab. Es war eindeutig ihre Stimme, die er da gerade gehört hatte, aber entdecken konnte er sie nicht. Sie verstand es, wie kaum jemand sonst, sich lautlos zu bewegen. Zu Kireshs Leidwesen wohlgemerkt, denn so konnte er sich nie sicher sein, dass sie ihn nicht beobachtete.
»Wenn du mit mir reden willst, komm gefälligst raus«, murrte er gereizt und unterdrückte den Impuls, sich einmal suchend im Kreis zu drehen.
Sie landete nur wenige Meter vor ihm auf dem Boden, hatte vermutlich in einer der Ruinen gelauert.
»Wo ist die Beute?« Seray legte den Kopf schief und Kiresh warf ihr einen düsteren Blick zu.
»Figh hat mich auf dem Rückweg abgepasst.« Ein Knurren entwich seiner Kehle bei der Erinnerung. Irgendwann würde er sich rächen.
»Hab dir doch gesagt, dass das nicht funktionieren wird.« Seufzend ließ Seray sich in den Staub fallen. Sie war dünn. Schmaler als er. Eine ordentliche Mahlzeit hätte ihr nicht geschadet. Es wunderte ihn, dass es ihr so egal war, dass Figh und seine Leute in dieser Nacht zu essen hatten und sie beide nicht. Seray konnte tatsächlich als Rattenfängerin bezeichnet werden, ernährte sie sich doch die meiste Zeit von kleinem Getier. Es schien ihr nicht einmal etwas auszumachen. Das konnte er partout nicht verstehen.
»Wie kann dir das nur so egal sein?« Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte wütend vor ihr ausgespuckt.
»Es ist mir nicht egal«, gab sie scharf zurück. »Aber ich bin realistisch und mein Leben ist mir mehr wert als mein Stolz. Wieso bringst du dich für ein bisschen Blut und Fleisch so in Gefahr? Das ist die bessere Frage.«
»Ein bisschen Blut …« Kiresh schnaubte. »Wenigstens begnüge ich mich nicht damit, den Staub zu fressen, in den ich geschmissen wurde! Und was weißt du schon von Stolz? Rattenfänger! Figh hat recht: Das passt zu dir!«
»Dann bin ich eben ein Rattenfänger.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber im Vergleich zu dir bewahre ich mir meinen Rest Würde und lasse mich nicht noch bloßstellen.«
»Würde?«, spie Kiresh verächtlich aus, machte einen ruckartigen Schritt auf seine Schwester zu. »Dieses Leben hat nichts mehr von Würde! Wenn du dich damit begnügst, dann bewahrst du dir nicht deine Würde, sondern du raubst sie dir selbst, weil du nicht darum kämpfst!«
Seray erwiderte nichts mehr, sondern funkelte ihn nur verbissen an. Richtig so, dachte Kiresh abfällig. Sie hatte doch keine Ahnung von einem würdigen Dasein! War noch dankbar darum, wenn man sie in den Straub trat! Hatte schon vor so langer Zeit aufgegeben und sich damit abgefunden, dass Figh und seine widerlichen Kriecher ihr vorgaben, wie sie leben durfte und wie nicht.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Wütend starrten sie einander an, bis Seray den Kopf senkte. Unter der Wut, die Kiresh spürte, stach dieser Anblick in seinem Herzen. Schließlich seufzte er. »Komm, wir finden etwas anderes …«
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, durchkämmten die Straßen und Ruinen nach irgendetwas, womit sie ihre Mägen füllen konnten. Irgendetwas, das sie über die nächsten Tage bringen würde. Doch es roch beinahe überall nach Mensch. Wie sollten sie in diesem olfaktorischen Chaos nur eine richtige Fährte finden? Missmutig kickte Kiresh einen Stein vor sich her. Allmählich verlor er die Lust und den Mut.
Bis plötzlich – er hob den Kopf und schnupperte. Was war das? Blut! Unvermittelt blieb er stehen und drehte sich zu seiner Schwester um, die ein Stück hinter ihm lief. »Riechst du das auch? Da ist irgendwo Blut.«
Seray hob spöttisch eine Augenbraue und musterte ihn von oben bis unten. »Ja, Brüderchen, das bist du. Du hast gekleckert beim Essen.«
»Quatsch, das meine ich doch nicht.« Ungeduldig verdrehte Kiresh die Augen und deutete in die Dunkelheit vor sich. »Ich weiß selbst, wie ich rieche, aber das ist anderes Blut!«
Sie glaubte ihm noch immer nicht, trotzdem schloss sie die Augen und atmete konzentriert ein. Dann stutzte sie und nickte.
»Du hast tatsächlich recht!« Sie ließ ihm nicht einmal die Zeit, über dieses Zugeständnis Zufriedenheit zu empfinden. Sofort sprintete sie los, sodass Kiresh sich bemühen musste, um mit ihr mithalten zu können. Wenn sie wollte, konnte Seray verflucht schnell sein. Gemeinsam jagten sie durch die Nacht, überwanden spielend leicht Mauern und Trümmer. Mit jedem Meter wurde der Geruch stärker und bald schon erreichten sie die Stelle, an der Blut am Asphalt klebte.
»Verdammt. Wieder nur eine tote Spur«, fluchte Kiresh und ließ sich frustriert fallen. Es passierte häufig, dass sich ein Mensch tagsüber verletzte und sie nachts dieser Fährte dann auf den Leim gingen. Dabei war er sich diesmal so sicher gewesen, eine echte Spur erwischt zu haben! Frustriert schlug er die Faust auf den Boden, ignorierte den Schmerz in seiner Hand und knurrte wütend. Ausgerechnet heute, nachdem Figh ihn so abgezogen hatte, musste sich eine vielversprechende Spur als Sackgasse erweisen. Seray jedoch runzelte die Stirn und schnupperte angestrengt in die Nacht.
»Da ist noch mehr«, murmelte sie leise und Kiresh verfolgte ungläubig, wie sie sich an der Wand entlang drückte und dann um die Ecke verschwand. Wollte sie ihn auf den Arm nehmen oder was sollte das?
»Kiresh! Nun komm schon!« Ihre Stimme zumindest klang nicht danach. Eilig sprang er auf die Füße und machte, dass er hinterherkam. Als er um die Ecke schlich, wurde der Blutgeruch tatsächlich intensiver! Sofort meldete sich sein Magen erneut. Der kleine Snack war nicht genug gewesen und die Hoffnung auf mehr hatte ihn wieder erwachen lassen. Sie erreichten ein verfallenes Gebäude. Unschlüssig blieb Kiresh stehen, als Seray einen Weg hinein suchte.
»Meinst du echt, dass sich darin was findet? Ich mein, abgesehen von den Ratten und irgendwelchen Straßenviechern, die ich nicht mehr sehen kann.«
»Ja, meine ich«, gab seine Schwester knapp zurück und schon war sie zwischen zwei Mauerteilen verschwunden. Kiresh zog die Stirn kraus, aber beschloss, ihr zu vertrauen. Was hatte er zu verlieren? Zielsicher setzte er die Füße zwischen die Trümmerteile, schlich vorwärts. Immer auf Serays Spur und dabei geräuschlos. Ebenso wie sie. Wäre ihr Geruch ihm nicht so vertraut gewesen, hätte er sie in der Schwärze verlieren können. Allmählich gewöhnten seine Augen sich zwar an die Dunkelheit, aber er zog es vor, sie zu schließen. Wenn er nicht gut sah, verließ er sich lieber auf seine übrigen Sinne.
»Hier geht es runter …«, hörte Kiresh sie murmeln und kurz darauf spürte er auch er den kühleren Luftzug. Dann fanden seine Zehen den Rand eines Lochs.
»Seray …?«
»Hier. Aber pass auf, wo du hintrittst.« Das ließ Kiresh sich nicht zweimal sagen. Bedächtig tastete er sich mit den Füßen vorwärts, machte einen vorsichtigen Schritt in das Loch und fand bald wieder Halt. Sein Herz beschleunigte sich, als der unvergleichliche Duft einer frischen Fährte ihm in die Nase stieg. So intensiv, dass sie unmöglich noch vom Nachmittag stammen konnte! Verdammt, seine Schwester hatte recht. Da unten musste sich ein Mensch verstecken.
»Kir? Ich glaube, ich hab hier was …« Serays Stimme klang so aufgeregt, wie er sich fühlte. Geschwind ließ Kiresh sich vollends in das Loch gleiten, drückte sich durch einen Spalt und wurde von dem Geruch beinahe überwältigt.
Es war nicht nur einer, es waren sogar zwei, Kiresh konnte es ganz deutlich riechen. Seine Aufregung stieg. Die Aussicht auf Erfolg ließ ihn ganz fahrig werden. Seray durchquerte den winzigen Raum, Kiresh folgte ihr. Gemeinsam tasteten sich mühsam über den Beton vorwärts, denn hier spürten sie den Boden nur schwach. Es war der Geruch nach lebender Beute, nach Menschen, der sie leitete. Die verrostete Tür war kein Hindernis; geschmeidig glitt erst Kiresh, dann Seray hindurch. Er blinzelte. In diesem Raum war es so dunkel, dass selbst er große Probleme hatte, irgendetwas zu erkennen. Schemenhaft erkannte er Stapel von irgendwelchen Möbeln, aber nichts Genaues. Wenn sie, die Jäger, allerdings nichts sahen, sahen die Menschen erst recht nichts. Kiresh schlich weiter, wich den Tischen und Stühlen aus. Der Geruch war inzwischen sehr intensiv, doch es war nun nicht mehr nur derjenige der Beute, die sie hier irgendwo vermuteten. Kiresh roch auch noch schwach den Kleinen von vorhin und noch mindestens zwei weitere Menschenkinder.
»Sie sind dort drin«, hauchte Seray ihm so leise zu, dass er sie kaum hören konnte, und deutete auf eine Tür, deren unterer Teil sich fast vollständig dem Lauf der Zeit ergeben hatte. Zum Zeichen, dass er verstanden hatte, nickte Kiresh wortlos, vertraute darauf, dass sie das noch sehen konnte. Zentimeter für Zentimeter schlich er vorwärts. Ob die beiden wussten, dass ihr Ende bevorstand? Oder hatten sie möglicherweise nicht einmal einen blassen Schimmer, dass sie nicht länger allein waren?
Je näher Kiresh der Tür kam, umso mehr lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Dass er in dieser Nacht zweimal Erfolg haben würde, war unfassbar. Selbst Figh hatte das noch nicht geschafft. Und hier saßen gleich zwei Menschen in der Falle.
Die letzten Zentimeter legte er im Schneckentempo zurück. Bloß keinen Fehler machen.
Plötzlich hielt er inne. Etwas klickte.
Der grelle Lichtstrahl traf Kiresh mitten ins Gesicht und er schrie vor Schmerz auf. Instinktiv riss er die Hände nach oben. Tränen schossen ihm in die geblendeten Augen. Er kniff sie fest zusammen, aber das Brennen wollte nicht verschwinden. Er hörte die Schritte der beiden Menschen, hörte, wie sie leiser wurden, fluchte laut und tastete blind nach der Betonwand.
»Verdammte Scheiße!« Er war so nah dran gewesen! So nah! Da konnte er sich doch von ein bisschen Licht nicht unterkriegen lassen. Mit einem wütenden Aufschrei sprang er vorwärts, die Hand immer an der glatten Wand. Er konnte den Widerhall der Schritte genau hören. Deren Charakteristik deutete auf eine Art Tunnel hin und sie entfernten sich von ihm. Aber sie waren noch immer bloß Menschen und damit langsam. Viel langsamer, als er oder Seray sein würden, wenn sie sich erst wieder neu orientiert hatten und etwas sehen konnten.
Allmählich hörten die schwarzen und blauen Punkte vor seinen Augen auf zu tanzen. Kiresh tastete sich vorwärts, schlüpfte durch das Loch in der verrotteten Tür und streckte die Hände nach links und rechts aus, um sich zurechtzufinden. Seine Finger trafen auf feuchte Wände; eine Art Tunnel, wie er vermutet hatte. Seine Schwester folgte ihm auf den Fuß, blieb dicht hinter ihm, während er weiterging.
Die beiden Menschen flohen noch immer, der Widerhall ihrer Schritte war noch nicht verklungen. Sie waren so gut wie erledigt.
Mit der Hand immer an der Wand beschleunigte Kiresh seine Schritte. Im Gegensatz zu denen, die er verfolgte, waren sie leise. Für die Ohren eines Jägers schon schwer zu orten, würden die Menschen ihn überhaupt nicht wahrnehmen können. Wenn er es schaffte, sie in Sicherheit zu wiegen, hatte er noch leichteres Spiel mit ihnen. Seray tat es ihm nach. Hätte Kiresh nicht gewusst, dass sie da war, er hätte sie nicht bemerkt.
Der Tunnel endete abrupt. Der Raum an dessen Ende war winzig und bis auf eine Leiter vollkommen leer. Es schien der Keller eines anderen Gebäudes zu sein. Auch hier waren die Gerüche der beiden Menschen und auch derjenige der Beute von vorhin deutlich wahrnehmbar.
»Los, da hoch!« Es gab nur diesen einen Weg, also würde er ihn nehmen. Er würde in dieser Nacht nicht noch einmal verlieren! Wenig elegant, aber dafür schnell wie der Blitz, erklomm Kiresh die morschen Sprossen. Oben angekommen, blieb er stehen. Verdammt, wo waren sie hin?
Seray kam lautlos neben ihm zum Stehen.
»Da entlang«, murmelte sie und deutete in eine Richtung, in der nichts weiter als Trümmer im Zwielicht zu erkennen waren.
»Bist du sicher?« Zweifelnd hob Kiresh eine Augenbraue, doch sie nickte entschieden.
»So sicher, wie ich hier stehe. Hinter diesem Chaos gibt es einen Ausgang.« Woher sie das wusste, war Kiresh schleierhaft, aber solange sie damit recht hatte, war es ihm gleich. Er nickte ihr zu und gemeinsam näherten sie sich dem Haufen aus zerstörtem Mauerwerk und Mörtel. Je dichter sie kamen, umso deutlicher konnte Kiresh einen Lufthauch spüren, der davon ausging. Tatsache. Sein Schwesterchen war doch zu etwas zu gebrauchen.
Die Lücke war winzig und kaum wahrnehmbar, wenn man sich nur auf seinen visuellen Sinn verließ. Immerhin war sie gerade groß genug, dass Kiresh sich hindurchquetschen konnte. Auf der anderen Seite war der Geruch nach Mensch umso stärker. Er folgte ihm zu einer Treppe, die sich gewindeartig nach oben schraubte. Kiresh legte den Kopf in den Nacken und bleckte die Zähne.
»Sie sind sicher dort hinauf.« Ein berechnendes Lächeln grub sich wie von selbst in seine Mundwinkel. Wenn die beiden aufs Dach geflohen waren, dann saßen sie in der Falle. Schon wollte er auf die Treppe zu pirschen, da hielt seine Schwester ihn am Arm zurück.
»Mach dich nicht lächerlich!«, zischte sie ihm zu. »Die Spur führt eindeutig dort hinaus!« Und schon war sie vorausgeeilt und durch einen breiten Spalt im Mauerwerk nach draußen gesprungen. Kiresh verharrte kurz. Sein Blick ging zwischen dem Spalt und der Treppe hin und her. Er hätte schwören können, dass die Spur die Treppe hinaufführte. Tief durchatmend schloss er die Augen, konzentrierte sich nur auf seinen Geruchsinn. Der Geruch seiner Beute war eindeutig in Richtung Treppe zu verorten. Doch nicht nur.. Er musste sich eingestehen, dass Seray schon wieder recht hatte. Mit knirschenden Kiefern flog Kiresh über die Leiter, die auf dem Boden herumlag, und tat es seiner Schwester gleich. Zweieinhalb Meter tiefer rollte er sich mit einem unfreiwilligen Fauchen auf dem unebenen Boden ab. Das würde er noch länger spüren.
»Seray!« Er zischte den Namen seiner Schwester in die Nacht und knurrte ungehalten. Sie war schon wieder vorgelaufen. Dafür, dass sie vorgegeben hatte, mit ihrem Dasein als Rattenfänger kein Problem zu haben, legte sie sich ganz schön ins Zeug.
Kiresh rannte los, immer seiner Nase nach. Er bog um eine Ecke, hetzte die Straße hinunter und blieb an einer Kreuzung stehen. Die Gerüche begannen, sich zu vermischen. Es wurde schwieriger zu differenzieren, welche Spur die frischeste war.
Ein gellender Schrei ließ ihn herumschnellen. Da also!