Читать книгу Hinter unserem Horizont - Elias J. Connor - Страница 5

KAPITEL 1: NACHTFAHRT

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Wo war jetzt diese verfluchte Tasche?

Das Wichtigste hatte ich ja eigentlich schon zusammen. Der Fernseher, eine Riesenkiste, war bereits im Auto verstaut. Ein Wunder, dass ich es geschafft hatte, ihn alleine herunter zu tragen. Aber nachts um drei Uhr war ja keiner mehr wach, der mir hätte helfen können.

Der Koffer mit den wichtigsten Klamotten war ebenfalls bereits gepackt und verstaut. Das hatte ich heimlich gestern Abend schon gemacht. Ich hatte nicht viel eingepackt. Das Meiste würde dann sowieso am Samstag nachkommen. Von den Möbelpackern gebracht, die mein Vater engagiert hatte. Und Mutter würde mir dann alle Klamotten einpacken.

„Ha, die werden morgen gucken, wenn sie sehen, dass ich bereits weg bin“, sagte ich zu mir.

Jetzt fehlte noch die Tasche mit all meinem persönlichen Kram. Papiere, Geldbörse, Bücher und so weiter. Wo ich die hingelegt hatte, wusste ich im Moment aber nicht mehr. Gestern Abend hatte ich sie noch gehabt.

Ich suchte im Schlafzimmer. Persönlichen Kram bewahrte ich meistens im Schlafzimmer in der Schublade auf, von der ich immer hoffte, dass sie keiner aufmachte. Besonders nicht meine Mutter. In dieser Schublade hatte ich auch all die geheimen Liebesbriefe von Jenny. Keiner sollte sie sehen. Niemand.

Die Tasche war dort. Ein Aktenkoffer mit all meinem persönlichen Inhalt.

Hatte ich noch was vergessen?

Ach, du meine Güte… Natürlich. Joey. Meinen Beo. Der Vogel, der so wunderbar Geräusche nachmachen konnte. Er sah so schlicht aus, aber er konnte wundervoll singen und sogar pfeifen. Ihn wollte ich auf jeden Fall jetzt schon mitnehmen, mitsamt seinem Käfig.

Ich machte den oberen Teil des Käfiggestells vom Ständer ab und trug ihn ins Auto. Anschließend lief ich wieder hoch, holte meine persönliche Tasche und sah mich noch mal in meiner Wohnung um.

„Das war’s“, sagte ich. „Bielefeld, ich werde dich garantiert nicht vermissen.“

Nachdem ich das Licht ausmachte und die Türe abschloss, stapfte ich mit der Aktentasche zum Wagen und setzte mich rein.

Alles leer. Kein Mensch auf der Straße.

Ich machte den Motor an und fuhr los.


Ich war ja eigentlich immer eher schüchtern. Zurückhaltend, ein Einzelgänger eben. Ich hatte auch nie viele Freunde, und die, die ich hatte, interessierten sich nur oberflächlich für mich. Waren wohl mit ihrem eigenen Leben und ihrer eigenen Karriere viel zu beschäftigt, um sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen.

Es fiel mir nicht besonders schwer, das alles hinter mir zu lassen. Freunde. Familie. Mein Leben in Bielefeld.

Ob sie von Jenny wussten, konnte ich nur erahnen. Offiziell hatte ich einen Jobwechsel als Grund angegeben, aber eigentlich bin ich nur wegen Jenny umgezogen.

Als ich mit konstanten 130 Stundenkilometern über die fast leere Autobahn bretterte, geriet ich ins Grübeln. Heute war der 22. Dezember 2003, ein kalter Wintertag. Ich hatte es mit 25 Jahren endlich geschafft, von zu Hause wegzukommen. Endlich. Ich hätte es keine Sekunde länger mehr ausgehalten. Nicht in dieser Stadt. Nicht mit dieser Familie. Und nicht in diesem Leben.

Meine Gedanken schweiften zum gestrigen Abend. Es war eigentlich alles wie sonst. Ich saß im Keller in meinem kleinen Musikstudio, das mir mein Vater eigens eingerichtet hatte. Ich klimperte ein bisschen auf meinem Keyboard, aber etwas wirklich Schönes kam dabei nicht raus. Der Vater unterbrach dann mein Spielen ruckartig, als er – natürlich ohne anzuklopfen – in den Keller hereinkam.

„Na, Sohn, was machst du?“, wollte er wissen.

„Ich spiele“, antwortete ich. „Lässt du mich jetzt bitte alleine?“

„Wir müssen reden“, sagte er daraufhin, ohne auch nur einen Hauch Respekt an meinen Wunsch zu verschwenden.

Genervt drehte ich mich um und sah ihn an.

„Was ist?“, wollte ich wissen.

„Ich habe dir eine große Wohnung in Solingen gekauft, das weißt du“, begann er. „Eine Eigentumswohnung.“

„Ja“, sagte ich. „Wir waren vor einem Monat dort und haben den Kauf abgeschlossen. Stimmt was nicht damit?“

„Nun, mein Junge“, setzte er wieder an, „Ich bin mir nicht sicher, ob du das ganz alleine schaffst, in einer großen Stadt. Bedenke, du kennst dort niemanden.“

„Schon klar“, meinte ich. „Ich werde dort sicher Leute kennen lernen, Papa. Wenn ich es jetzt nicht mache, wann dann?“

„Deine Mutter wäre sehr traurig, wenn du gehst“, sagte er. „Sie macht sich große Sorgen um dich. Und für dich ist es doch wichtig, dass sie in deiner Nähe ist.“

So ein Quatsch.

„Carina ist erst 23, und sie ist mit 19 bereits ausgezogen“, sagte ich.

„Du weißt, dass Carina mit ihrem Freund zusammenlebt. Sie haben sich eine gemeinsame Zukunft aufgebaut.“

Was mein Vater damit sagen wollte, war, dass er Carina in so vielen Dingen für so viel weiter hielt als mich. In Allem. Carina studierte – ich hatte nicht einmal einen vernünftigen Job. Carina hatte einen Freund, seit sie 18 war – ich hatte niemanden. Und wenn sie wüssten, dass ich seit einem halben Jahr Jenny hatte, hätten sie es mir nicht geglaubt. Ganz typisch meine Eltern.

Erst kürzlich sagte meine Schwester Carina zu mir, dass ich sicherlich nie von zu Hause ausziehen werde.

„Niemand hält mich für erwachsen. Meine Güte, ich bin 25. Wann soll ich denn sonst mein eigenes Leben beginnen? Ich will dieses Leben hier nicht mehr. Ich will weg von hier. Weg von euch“, wollte ich sagen.

Aber ich sagte nichts.

„Benjamin, ich kann morgen in Solingen anrufen und den Kauf der Wohnung rückgängig machen“, schlug mein Vater mir vor. „Es wäre wirklich viel, viel besser, du würdest hier in der Obhut von mir und deiner Mutter bleiben.“

Obhut. Mutter.

Vater war ja nie da. Der große, wichtige Alfred Foster hatte ja permanent Termine. Er kam immer erst spät abends vom Büro nach Hause. Und eigentlich wusste ich, dass er sich nie für meine persönlichen Belange interessierte.

Und Mutter?

Ich hatte mich nie gegen sie gewehrt. Ich wollte es so oft versuchen, aber es gelang mir nie. Sie war immer am längeren Hebel. Sie legte sich alles so zurecht, wie es ihr passte.

Ich wusste, dass sie mich nicht gehen lassen wollte. Ich wusste, dass sie nie zulassen würde, dass ich wegziehe. Weg von ihr, weg von der ganzen Scheiße.

„Ich werde umziehen!“, sagte ich zu meinem Vater. „Ich will es.“

„Nun, gut“, meinte er daraufhin. „Dann versuch dein Glück. Wenn du nicht zurechtkommst – und das wird mit Sicherheit keine drei Monate dauern – dann kannst du hierher zurückkommen. Dein Zimmer bleibt frei für dich, und die Eigentumswohnung in Solingen werde ich auf dem Markt als Verkaufsobjekt eingetragen lassen, damit ich sie auch schnell wiederverkaufen kann, wenn du zurückkommst.“

„Ich komme nicht zurück“, wollte ich sagen.

„Ja, gut“, sagte ich stattdessen. „Ich werde es trotzdem versuchen.“

„Du wirst nie ohne deine Mutter leben können“, machte mein Vater mir klar. „Du kommst wieder, das weiß ich.“

Dann ging er raus.


In der nächtlichen Dunkelheit auf der Autobahn, die nur durch das Scheinwerferlicht meines Ford Escorts unterbrochen wurde, sah ich schließlich ein Hinweisschild auf eine Raststätte. Ja, genau, das wär’s jetzt. Kurz Pause machen und einen Kaffee trinken. Vielleicht noch was Kleines essen.

Als ich auf den Parkplatz fuhr, sah ich eine Menge Trucks und Lastkraftwagen. Komischerweise schien dieser Rastplatz sehr besucht, obwohl die Straßen so leer waren.

Ich orderte schließlich an der Theke einen Kaffee, ein Glas Cola und ein Baguette mit Käse und Schinken. Mit dem Tablett setzte ich mich dann an einen freien Platz.

Kurze Zeit später – ich hatte die Cola bereits ausgetrunken – kam eine Frau an und setzte sich neben mich.

„Darf ich?“, fragte sie.

Ich sah sie nur an.

Eine Frau sprach mich an. Wie ungewöhnlich war das denn?

„Sind Sie auch mit Ihrem LKW auf nächtlicher Tour?“, fragte sie dann.

Und sie wollte sogar ein Gespräch beginnen. Äußerst seltsam Naja, sie kannte mich eben nicht. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich zurückhaltend und scheu gegenüber Menschen war.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Man sieht nur vereinzelt Lastkraftwagen auf der Straße“, sagte sie dann. „Ich bin mit meinem PKW unterwegs und komme gerade von einer Urlaubsreise zurück.“ Sie nippte dann an ihrem Getränk, das sie vor sich stehen hatte. „Deswegen dachte ich, Sie sind bestimmt ein Fernfahrer.“

„Ich ziehe um“, antwortete ich ihr nur. „Ich habe meine Zelte in Bielefeld abgebrochen und ziehe nach Solingen.“

„Mitten in der Nacht?“, fragte sie ungläubig.

Ich antwortete nichts darauf.

„Solingen ist eine schöne Stadt“, fügte sie hinzu. „Ich war schon ein paar Mal dort. Eine Freundin wohnt dort. Kennen Sie schon jemanden in Ihrer neuen Heimat?“

„Meine Freundin“, erklärte ich schließlich.

„Wie romantisch. Sie fahren mitten in der Nacht zu Ihrer Freundin und brechen alle Zelte zu Hause ab.“

„Ja, genau“, lächelte ich verlegen.

„Wie heißen Sie?“, fragte sie anschließend.

Warum sollte ich ihr das nicht sagen? Ich kannte sie nicht, und sie kannte mich nicht. Da war es doch eigentlich egal. Und bestimmt würde ich sie nicht wiedersehen, obwohl sie eigentlich ganz nett zu sein schien.

„Benjamin Foster“, antwortete ich.

„Ich heiße Simone Welter“, stellte sie sich vor. „Und warum ziehen Sie mitten in der Nacht um?“

„Na, ja“, begann ich. „Ich ziehe eigentlich erst am Samstag um. Meine neue Wohnung ist noch ganz leer. Ich habe nur ein paar Sachen mit, so das Wichtigste, aber ich bin dann doch schon heute losgefahren.“

„Och“, machte die Frau. „Sie können es nicht erwarten, mit Ihrer Freundin zusammen zu leben. Das ist süß.“

Ich sah sie fragend an.

„Wir sind seit einem halben Jahr in einer Fernbeziehung“, erklärte ich schließlich. „Jetzt habe ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten und musste endlich raus.“

„Ist ihre Freundin der einzige Grund, warum Sie umziehen?“, wollte die Frau dann wissen.

Ich schnaufte aus.

„Warum fragen Sie?“, wollte ich wissen.

„Nun, Sie machen mir einen so schüchternen Eindruck, fast niedergeschlagen.“

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Aus irgendeinem Grund interessierte sich diese Frau – eine fremde Frau – für meine Geschichte. Ich war das nicht gewohnt. Noch nie hat sich jemand, mal abgesehen von Jenny vielleicht, für meine Geschichte interessiert.

„Lief nie besonders gut in meiner Familie“, brachte ich nur heraus. „Ich bin froh, dass ich das jetzt hinter mir habe.“

Was hätte ich ihr erzählen können?

Meine Familie. Ein Vater, der versucht, mich unselbstständig zu halten, wo er nur konnte. Der mir das kaufte, was ich brauchte, und der glaubte, sich meine Achtung mit Geld erkaufen zu können. Eine Mutter, die mich behandelte wie ein kleines Kind und nie, nie, nie akzeptieren konnte, dass ich erwachsen war. Eine Schwester, die mich immer unterbuttert hatte, mir nie etwas zutraute und mir stets zeigte, dass sie, obwohl sie zwei Jahre jünger war, in allem weiter und reifer war als ich.

Ja, das war sicher meine Schuld. Ich ließ es ja auch jahrelang mit mir machen. Und irgendwann war es auch egal.

Aber jetzt – jetzt hatte ich meine Sachen gepackt und bin weg. Weg aus dem tristen Alltag. Weg aus meinem alten, schwachen Leben.

„Ich muss weiter“, verabschiedete ich mich dann von der Frau. „War nett, mit Ihnen zu reden.“

Ich ging zu meinem Auto und machte mich wieder auf den Weg in das Morgengrauen, das bereits anfing, und fuhr die letzten 100 Kilometer bis zu meinem neuen Zuhause.


Unvergleichlich, dieser Moment, als ich meine Wohnung im fünften Stock aufschloss. Endlich.

Es waren noch keine Möbel drin. Egal. Nur eine Matratze lag im riesigen Wohnzimmer auf dem Boden. Aber das Licht ging schon, und Wasser lief auch.

Nachdem ich alles oben hatte, legte ich mich auf die Matratze und begann zu träumen.

Was mich wohl jetzt erwarten würde?

Die Frau in der Raststätte hatte Recht, ich kannte hier niemanden. Außer Jenny. Ich, Benjamin Foster, würde jetzt hier ein ganz neues Leben anfangen. Ich brauchte nicht mehr an mein früheres Leben zu denken. Es lag hinter mir, es war vorbei.

Verdammt. Plötzlich packten mich unvorbereitet Zweifel. Ich hatte keine Ahnung, wo sie herkamen. Wie ein Blitz schossen sie mir durch den Kopf. Verfluchter Mist.

Was wäre, wenn Vater Recht hätte? Wenn ich es wirklich nicht schaffte und vielleicht schon nächste Woche zurück nach Bielefeld gehen müsste, weil ich hier total gescheitert bin? Sollte ich jetzt schon gescheitert sein, bevor es überhaupt richtig losgegangen ist?

Was waren das für Gedanken, die ich nicht haben wollte? War das normal, wenn man von zu Hause weggeht?

Ich wollte nicht mehr nach Hause zurück. Nie mehr.


Plötzlich klingelte es an meiner Tür, um neun Uhr morgens. Und ich wusste, wer das war.

Meine bösen Gedanken schienen von einer Sekunde auf die Andere wieder weg zu sein. Ich konnte mich freuen. Ja, und das tat ich auch.

Eilig hüpfte ich zu der großen, verglasten Eingangstüre meiner Wohnung, die auf den Laubengang führte und machte sie auf.

„Jenny“, hauchte ich lächelnd.

„Du bist da“, sagte sie leise, und dann nahm sie mich in ihre Arme. Sie wollte gar nicht mehr loslassen.

Ich brachte keinen Ton heraus. Voller Erleichterung legte ich einfach meinen Kopf in ihre Schulter und weinte.

„Ist ja gut“, sagte sie. „Du bist ja jetzt hier. Und ich bin jetzt bei dir.“

„Meine Wohnung“, stammelte ich. „Meine eigene Wohnung“

Wir gingen auf die Matratze – was Anderes zum Hinsetzen war ja noch nicht da – und ließen uns dort nieder, während wir einige Minuten stumm waren und den zarten Schneeflocken zusahen, die vom morgendlichen Himmel fielen und wunderschöne Eisblumen auf die Fenster zauberten.

„Jenny“, sagte ich schließlich.

„Ja, Benjamin?“

„Es ist so… so anders. Alles ist so anders.“

Jenny lächelte mich mit ihren süßen Lippen an. „Wir haben uns nur alle paar Wochen treffen können, als du noch in Bielefeld gewohnt hast. Jetzt können wir uns jeden Tag sehen.“

Ich streichelte durch ihre Haare.

„Du riechst gut“, bemerkte ich.

„Gefällt dir mein neues Parfum? Habe ich extra für dich gekauft.“ Sie grinste. „Du, Benjamin, ich muss dich was fragen“, fügte sie dann hinzu.

Ich sah in ihre Augen.

„Willst du wirklich mein fester Freund sein?“

Warum fragte sie mich das? Enttäuscht drehte ich mich dann zum Fenster und betrachtete das Dach des gegenüberliegenden Hauses, was man von hier aus gut sehen konnte.

„Jenny, das weißt du“, sagte ich. „Für dich bin ich hierhergekommen, warum glaubst du mir nicht?“

„Ich glaube dir ja“, erklärte Jenny. „Aber ich bin zwölf Jahre älter als du. Ich bin 37 Jahre alt und verheiratet.“

„Ich weiß“, sagte ich. „Ich habe dir gesagt, es macht mir nichts. Ich möchte dein Geliebter sein. Ich kann mich damit anfreunden, dass du einen Mann hast. Und ich habe immer gefühlt, dass genug Platz für mich in deinem Herzen ist.“ Ich drehte mich wieder zu ihr. „Ich dachte, wir wären uns darin einig gewesen.“

„Ach, Benjamin“, meinte sie daraufhin. Und schließlich küsste sie mich auf den Mund.

„Was wird denn jetzt anders?“, fragte ich. „Ich bin jetzt nur immer hier. Ich muss nicht mehr alle drei oder vier Wochen so weit fahren, für einen Tag oder eine Nacht. Jetzt wohne ich hier. Oh, mein Gott, Jenny… ich wohne hier“

Ich stand auf.

Und dann machte ich zum ersten Mal etwas, was ich vor langer Zeit das letzte Mal getan hatte. Ich hüpfte durch die Wohnung. Und ich lachte. Ich wusste nicht mehr, wann ich das letzte Mal gelacht hatte. Aber jetzt packte es mich irgendwie. Ich schrie vor Lachen, so als wäre alles Negative, was ich je in mir trug, von einer auf die andere Sekunde von mir abgefallen.

Bei Gott, ich hoffte so sehr, dass das so war.

„Bist du glücklich?“, wollte Jenny wissen.

Ich unterbrach das Lachen und Tanzen und sah sie von der Ecke aus, in der ich stand, an.

Ich ging zu ihr, fasste ihren Arm und hob sie an. Dann tanzte ich mit ihr einen langsamen Stehblues ohne Musik. Wir brauchten dazu keine Klänge, denn das Lied, was gespielt wurde, war in unseren Herzen.

„Ja, ich bin glücklich“, sagte ich zu ihr.

„Vermisst du deine Familie? Dein altes Zuhause?“

„Bitte, Jenny“, flüsterte ich. „Mach’ diesen Moment, diesen unglaublich schönen Moment nicht mit einer Frage nach meiner Familie kaputt.“

„Verzeihe mir“, entgegnete sie nur.

„Ich möchte nicht darüber sprechen“, erklärte ich ihr. „Dass ich mich nie gut mit ihnen verstanden habe, das weißt du. Ich… ach, Jenny, ich bin jetzt einfach froh, dass ich hier bin. Nicht mehr dort, in meinem alten Zuhause. Können wir es nicht einfach dabei belassen?“

„Ich will nur, dass du weißt, wenn du mit jemandem reden willst, dann bin ich da. Und jetzt, wo du hier wohnst, bin ich auch ganz in deiner Nähe. Keine acht Kilometer entfernt.“

Ich lächelte. „Ja“, sagte ich.

Wieder küssten wir uns innig. Und während ihre Hand meine dunklen, schulterlangen Haare umspielten, streifte ich den Stoffgürtel von ihrem Kleid ab.

Es war uns egal, dass die Heizung noch nicht richtig an war, und dass es eigentlich in der Wohnung noch kühl war, was sich wahrscheinlich spätestens zum Abend hin ändern sollte. Wir zogen uns nackt aus und schliefen miteinander.

Es passierte schon mehrmals, immer dann, wenn ich sie heimlich besucht hatte. Drei oder vier Mal hatten wir bereits ein heimliches Erlebnis. Von meiner Familie wusste das keiner, weder Vater noch Mutter oder Schwester. Sie hätten mir das sowieso nie zugetraut. Benjamin Foster hat eine Freundin? Der Junge, der immer alleine ist, kaum Freunde hat und sich immer in seinem Zimmer verschanzt? Der?

Jennys Mann wusste es auch nicht. Irgendwie gelang es ihr ganz gut, mich vor ihm geheim zu halten. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass es mich gab.

Als wir heute miteinander intim wurden, war es anders als zuvor. Es war magisch, irgendwie noch geheimnisvoller und leidenschaftlicher, etwas ganz Besonderes. Ich wusste nicht, was anders war, aber vielleicht lag es daran, dass ich jetzt hier wohnte, und dass ich mich zum ersten Mal im Leben frei fühlte. Das konnte nicht falsch sein.

Ob ich glücklich war, hatte Jenny mich vorhin gefragt. In diesem Moment war ich es.


Nachdem ich dann am Nachmittag das Telefon angeschlossen hatte, das ich mitgebracht hatte, machte sich Jenny wieder auf den Weg nach Hause. Sie versprach mir aber, mich am Abend noch mal anzurufen.

So, nun war ich hier in der neuen Stadt. Ich musste an nichts Böses denken. Ich konnte einfach frei entscheiden, was ich machen wollte. Unglaublich. Ich wusste gar nicht, was ich zuerst machen sollte.

Vielleicht sollte ich mich in der Umgebung schon mal ein bisschen umsehen. Ja, das wäre gut, dachte ich bei mir. Und so schnappte ich mein Geld und meine Schlüssel, huschte aus der Wohnung und lief los.


Der Wohnkomplex, in dem mein Vater mir diese Eigentumswohnung gekauft hatte, lag etwas abseits in einem Vorort von Solingen. Eigentlich waren wir hier noch nicht richtig in einer Stadt, es war mehr ein Dorf, fast in sich abgeschlossen. Aber es gab Busse, die zur Innenstadt fuhren, und der Busbahnhof war nicht weit von hier.

Ich hatte eigentlich vor, nach Solingen rein zu fahren, aber dann sah ich am Busbahnhof dieses urige Lokal, eine Eckkneipe mit einem interessanten, alten Vorbau. Das Haus war eher im alten Stil gehalten, und die Reklametafel erschien mir gleich sympathisch. Boxer, stand in großen Lettern über einem neonfarbenen Cocktailglas. Das passte so gar nicht zum Haus.

Super, dachte ich.

Als ich hinein ging, waren an der langen Theke, in dem schmalen Raum, ein paar Leute, meist ältere Männer so um die 40, 50 Jahre. Ich kam mir ein bisschen verloren vor mit meinen 25, aber das spielte keine Rolle.

Ich setzte mich und bestellte mir ein Bier.

„Neu hier?“, fragte einer, der neben mir saß.

„Ja“, sagte ich schon etwas aufgelockert, nachdem ich den ersten Schluck getrunken hatte. Was für ein Glück wirkte der Alkohol immer sofort bei mir. „Bin heute zugezogen.“

„Ah“, meinte der Mann. „Woher kommst du?“

„Aus Bielefeld.“

„Dann bist du dort Student gewesen?“, wollte er wissen.

Es passierte meist nach dem ersten Glas schon. Ich wusste das. Sofort, wenn ich was getrunken hatte, merkte ich, dass in mir irgendetwas geschah. Und diese Verwandlung, diese Mutation, die dann mit mir passierte, war eigentlich das, wonach ich heimlich und seit Jahren immer wieder suchte. Ich genoss es jedes Mal, wenn ich es zu Hause heimlichgetan hatte. Und wenn ich mich in der Nacht weggeschlichen habe, ohne dass Vater oder Mutter es merkten, war der Kick besonders groß. Ich tat ja nie was Verbotenes, hätte mir eh niemand zugetraut. Aber das – das war einfach meins. Und das wusste ich.

Und jetzt konnte ich es endlich unkontrolliert in Freiheit machen. Jetzt konnte ich trinken, was ich wollte und wie viel ich wollte. Keiner war da, der mir Vorhaltungen machen würde oder eine Moralpredigt halten würde.

Und ich trank gerne. Schon früher. Es gab mir immer etwas Besonderes, wenn ich es tat. Es war jedes Mal ein angenehmer Moment, dann zu dem zu werden, der ich danach /anschließend / durch den Alkohol war.


„Student? Ich?“, fragte ich zurück. „Das ist lange her. Ich habe früh angefangen mit dem Studium. Ich bin Jungunternehmer.“

„So?“, fragte der Mann. „Was unternimmst du denn?“

Er lachte, während ich mir bereits das zweite Glas Bier reinzog.

„Geschäfte“, sagte ich, ohne näher darauf eingehen zu wollen.

Ich war von Beruf Sohn. Ich hatte nichts gelernt und hatte bestenfalls einen möglichen Job hier in Solingen in Aussicht, für den ich eine Bewerbung geschrieben hatte, damit mir mein Vater die Wohnung kaufen würde.

Aber jetzt war ich jemand Anderes.

„Gut, Geschäftsmann“, meinte der auch schon halbwegs angeheiterte Mann zu mir. „Gibst du eine Runde aus?“

„Ja, sicher“, lachte ich. „Eine Lokalrunde auf mich“, rief ich dem Wirt zu.

Wird ja bei gerade mal acht Leuten sicher nicht so teuer, dachte ich mir. Aber das war mir auch egal. Ich hatte genug Geld bei mir, bestimmt einen Hunderter. Und würde mir am nächsten Morgen Geld fehlen, konnte ich ja Papa anrufen und nach neuem Geld fragen.

Ich hatte wirklich nie gelernt, für mich alleine zu sorgen. Mein Vater kaufte mir die Wohnung unter der Prämisse, dass er sich weiterhin sicher sein konnte, die Kontrolle über mich zu haben. Er war sich ja sowieso davon überzeugt, dass ich nach einigen Wochen wieder in Bielefeld landen würde. Und er ließ mich gehen, aber nur, wenn er mich nicht aus seinem Abhängigkeitsverhältnis verlieren würde. Und damit, dass er mir immer Geld schickte, hatte er dafür gesorgt.

„Spielst du mit, eine Runde Poker?“, fragte dann ein dritter Mann. „Der Verlierer gibt eine Runde.“

Wir spielten den ganzen Abend. Und je voller ich wurde, desto mehr verlor ich. Sieben, acht oder neun Runden hatte ich zu zahlen, verdammter Mist.

Aber was Soll’s, dachte ich mir.

Ich hatte neue Freunde gefunden. Die Leute hier im Lokal waren ganz gut drauf, und je besoffener ich war, desto freundlicher erschienen sie mir.

„Gibst du eine Runde?“

„Komm, bestell noch einen, Kumpel.“

„Du bist Klasse, du kannst ja ganz schön viel in dich rein kippen.“

Ja, das konnte ich. Nach bestimmt zwölf Bier war mein Level noch lange nicht erreicht, und ich wollte weiter trinken. Jedoch machte der Wirt uns darauf aufmerksam, dass er in einigen Minuten die Kneipe für heute schließen würde und forderte uns auf, zu gehen und morgen wieder zu kommen.

„Klar, ich bin dabei“, lallte ich.

Ich hatte ja sowieso nichts zu tun. Der potentielle Job – wer weiß, ob ich den überhaupt kriegen würde – war ja noch weit hin. Deshalb konnte ich hier in meiner neuen Heimat erst einmal rumdümpeln.

„He, ich komme morgen wieder“, rief ich dann in die Runde rein. „Ihr seid klasse, Leute. Wisst ihr was, ich bin auch klasse. Ich bin ein ganz Großer“, warf ich nach.

Die Leute lachten. Ob sie sich für mich freuten, mit mir lachten oder mich einfach auslachten, das war mir egal.

„Ich habe hier in Solingen eine Freundin“, rief ich. „Sie liebt mich.“

„Du bist voll“, stellte der Wirt fest.

„Sie liebt mich wirklich“, sagte ich. „Ich habe einen tollen Job. Ich bin Geschäftsmann. Wie mein Vater. Der ist auch Geschäftsmann. Wir haben viel Geld. Und wo das herkommt, da ist noch mehr.“

„Haha“, meinte einer der Gäste. „Dann kannst du es ja morgen wieder in die Kneipe tragen. Wir freuen uns.“

„Ja“, sagte ich zu ihm. „Was willst du?“, ging ich ihn plötzlich aggressiv an. „Bist du nicht zufrieden, wenn ich Runden schmeiße? Du kannst wohl keine Runden schmeißen.“

„He“, meinte der Mann. „Ich habe auch Runden geschmissen, weißt du?“ Er lachte und sah mich dann ernst an. „Mir gefällt deine Visage nicht“, sagte er schließlich.

„Und jetzt?“, meinte ich mutig. „Was willst du tun?“

„Hier ist man nicht frech.“

„Ich? Frech?“, sagte ich. „He, Mann, du machst mich an? Ich bin frech?“

„Hör mal“, sagte der Wirt schließlich zu mir. „Komm morgen wieder. Für heute hast du genug.“

„Ich habe nicht genug“, brüllte ich. „Ich weiß selbst, wann ich genug habe. Komm schon, mach mir noch ein Bier. Ihr seid doch meine neuen Freunde.“

„Morgen!“, brüllte der Wirt.

„Tolle Freunde“, schnaubte ich.

Dann wankte ich, nachdem ich fast vom Barhocker fiel, zu der Tür, die ich für den Ausgang hielt und prallte dagegen.

Verflixt, dachte ich mir. Aber das war mir egal. Ist mir schließlich schon tausendmal passiert.

Irgendjemand half mir dann durch die Türe, und ich torkelte die Straße hinüber zu dem Hügel, wo der Weg war, der zu meinem Haus führte.

„Aaah…“, rief ich in die nächtliche Kälte heraus. „Solingen, was willst du von mir? Ich bin jetzt hier, du Arschloch. Die kriegen mich nicht mehr. Fick’ dich, Mutter. Schwester. Vater. Fickt euch. Ich bin weg, endlich weg. Ich mache, was ich will. Verdammte Scheiße, ich lebe hier. Solingen… hallo, hörst du mich?“

Wie ich an diesem Abend im Bett – besser gesagt, auf meiner Matratze – gelandet bin, wusste ich nicht mehr. Das Einzige, was ich noch wahrnahm, als ich so da lag, war ab und an das Pfeifen von Joey, meinem Vogel, der in seinem Käfig saß und sich anscheinend über mich kaputtlachte.

Ich wollte mich nicht zurückverwandeln in den schüchternen hilflosen Jungen. Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte besoffen bleiben. Am Liebsten für immer.

Hinter unserem Horizont

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