Читать книгу Hinter unserem Horizont - Elias J. Connor - Страница 6
KAPITEL 2: VERLOREN
ОглавлениеFür Anfang Februar war es heute eigentlich recht mild draußen, so um die 15 Grad. Das war das letzte Mal vor vier oder fünf Jahren so. Ich saß gegen Abend ein bisschen auf dem Balkon und versuchte, abzuschalten.
Jenny hatte sich schon seit zwei Wochen nicht gemeldet, und langsam wurde ich unruhig. Sie sagte ja letztens, dass sie momentan wegen ihrer Arbeit wenig Zeit hätte. Aber sie kam sonst immer alle zwei oder drei Tage her und blieb dann für mehrere Stunden.
Seit zwei Wochen kam sie nicht mehr. Sie rief auch nicht an. Anfangs dachte ich mir nichts dabei, aber nach einigen Tagen geriet ich immer mehr ins Grübeln.
Hatte ich was falsch gemacht? Hatte ich irgendetwas Verkehrtes zu ihr gesagt oder sie verletzt?
Je mehr ich grübelte, desto mehr Vorwürfe machte ich mir. Das war ein ganz typisches Verhalten für mich. Ich hatte es ja nie anders gelernt. Früher, wenn ich irgendetwas verbockt hatte und sogar, wenn ich nicht schuld war, machte man mir nur Vorwürfe.
„Du kannst das nicht.“
„Du bist zu schwach.“
„Du machst alles falsch, du kriegst es nicht auf die Kette.“
Meine Gedanken schweiften ab, in eine Richtung, die ich nicht sehen wollte.
„Was glaubst du, warum du keine Freunde hast“, hörte ich meine Mutter sagen. „Sie mögen einen wie dich nicht. Die einzige Person, die dich je mögen wird, ist deine Mutter. Carina geht irgendwann weg. Du bleibst für immer bei deiner Mutter. Du kannst nicht alleine leben. Du brauchst deine Mutter. Du bist abhängig von mir.“
Ich wusste nicht mehr, wann sie das zum ersten Mal sagte. Früher sagte sie es immer durch die Blumen, aber irgendwann machte sie mir ganz direkt klar, dass ich ohne sie ein Nichts bin. Und das war bis kurz vor meinem Auszug noch so.
Jetzt saß ich hier auf meinem Gartenstuhl und hätte eigentlich froh sein sollen, dass ich die ganze Scheiße in Bielefeld hinter mir gelassen hatte. Aber ausgerechnet jetzt meldete sich Jenny nicht mehr. Und ich fühlte mich wieder ganz alleine. Ich hasste mich selbst dafür, vor allem, weil ich es nicht verstand, dass ich gerade jetzt wieder an diese blöde Familie denken musste, aus der ich kam.
Wäre Jenny jetzt hier, wäre das sicher nicht so.
Plötzlich klingelte das Telefon.
„Jenny?“, fragte ich, als ich abnahm.
„Wer ist Jenny?“, hörte ich die Stimme meiner Schwester Carina am anderen Ende.
„Wieso rufst du an?“, wollte ich wissen.
„Ich habe mich lange nicht gemeldet“, sagte Carina. „Ich weiß. Ich bin eine schwer beschäftigte Frau und habe viel zu tun. Wie geht es dir? Du bist doch bestimmt alleine und langweilst dich.“
„Nein, ich bin nicht alleine“, sagte ich. Ich war kurz davor, meiner Schwester von Jenny zu erzählen, aber ich überlegte es mir im letzten Moment doch anders. „Ich habe hier Freunde gefunden.“
„Was für Freunde?“, wollte Carina wissen. „Gehst du arbeiten? Sind es Freunde von der Arbeit? Oder wo hast du sie kennen gelernt?“
Warum musste sie so bohren und war so neugierig?
„Ich habe sie in meiner Freizeit getroffen“, sagte ich.
„Du kennst sie aus der Kneipe“, stellte Carina fest. „Ich schwöre dir, wenn ich das Vater erzähle, holt er dich morgen ab und verkauft die Wohnung wieder.“
„Ich kenne sie nicht aus der Kneipe. Und ich bleibe hier.“
„Das glaube ich nicht“, sagte Carina. „Mutter geht es sehr schlecht. Sie vermisst dich.“
„Na, und?“, hätte ich gerne gesagt. „Ist mir doch scheißegal.“
Aber ich sagte nichts.
„Ich weiß nicht, was du gegen Mama hast“, erläuterte sie dann. „Sie hat sich immer liebevoll um dich gekümmert. Sie hat dir alles hinterhergetragen und war immer für dich da. Seit du in Solingen bist, hast du sie nicht einmal angerufen. Du musst dich bei ihr melden, denn wenn du das nicht tust, wird Vater dafür sorgen, dass du zurückkommst.“
„Ich habe keine Zeit“, log ich.
„ICH habe keine Zeit für so was“, meinte Carina trocken. „Du hast nicht mal einen Job, du kriegst doch dein eigenes Leben ohne Hilfe nicht auf die Reihe. Und du sagst mir, du hättest keine Zeit, deine fürsorgliche Mutter anzurufen? Menschen wie du haben nicht KEINE ZEIT“, schrie sie. „Du rufst Mutter an, oder es setzt was.“
„Du kannst mir nicht drohen. Ich lebe jetzt hier alleine. Ich habe eine Freundin und ein neues Leben, ohne eure nervtötende und kontrollsüchtige Familie.“
Ich wollte es ins Telefon schreien, aber ich brachte kein Wort heraus.
„Hast du mich verstanden?“, sagte meine Schwester.
„Ich werde ihr schreiben“, sagte ich dann leise. „In den nächsten Tagen.“
„Und hast du dich bereits bei der Fachhochschule gemeldet?“, hakte sie nach. „Vater will, dass du dein Studium aufnimmst.“
„Ja, da bin ich dran“, log ich. „Aber ich will mir mehrere Optionen offenhalten. Vielleicht eine Ausbildung im Bürobereich.“
„Du sollst nicht das Wort ABER benutzen, wenn ich mit dir rede, hast du kapiert?“, schrie sie mich an. „Vater hat ganz klare Anforderungen, nur deshalb hat er dir deinen Wunsch, mit der eigenen Wohnung, in Solingen ermöglicht. Und du wirst diese erfüllen. Da diskutiere ich gar nicht mit dir. Nächste Woche wirst du mir eine Immatrikulationsbescheinigung schicken, per Post.“
„Aber…“, stammelte ich verlegen.
Wie sollte ich das machen? Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich da bewerben sollte. Ich hatte doch keine Ahnung von nichts. Warum dachte ich denn immer, das müsste ich nicht?
„Halt’ den Mund und mache, was ich dir sage“, befahl sie. „Und melde dich bei Mutter. Sonst werde ich persönlich dafür sorgen, dass du kein Geld mehr bekommst.“
Wie ich sie hasste. Wie ich sie verfluchte. Sie machte das schon seit der Kindheit. Zwei Jahre jünger, aber sie war immer die Stärkere. Nie gab sie mir eine Chance oder hatte Vertrauen in die Dinge, die ich tat oder tun wollte.
„Mach’ es so“, sprach sie.
„Ja, ist ja gut“, versprach ich ihr, wobei ich gleichzeitig wusste, dass ich dieses Versprechen nicht halten würde oder könnte.
Nein, das würde ich nicht. Aber ich wollte, dass sie Ruhe gibt. Ich wollte ihre Stimme nicht mehr hören.
Ich hatte die Vermutung, dass Carina es wusste. Es konnte nicht sein, dass sie als Kind jahrelang neben mir her gelebt hatte und nichts mitbekommen hat. Ich hatte auch die Vermutung, dass Vater es wusste. Für ein paar Jahre war es sogar fast offensichtlich. Ich habe mich oft gefragt, warum Mutter bei mir im Zimmer nächtigen musste, als ich noch ein Kind war. Aber ich hatte es vergessen.
Als ich Jenny kennen lernte, fragte sie oft nach und wollte Dinge über meine Familie wissen. Ich wich immer wieder aus, bislang erfolgreich.
Aber die Bilder, die seitdem immer wieder in meinem Kopf rumschwirrten, wurden immer klarer. Und die Erinnerungen immer deutlicher. Ich wollte es nicht sehen.
An diesem Abend, noch vollkommen durcheinander von dem Telefonat mit Carina, lief ich dann wieder ins Lokal und trank.
Abschalten. Nicht nachdenken. Alles hinter mir lassen.
Die ersten beiden Biere trank ich alleine, abseits in der Ecke. Ich sagte keinen Ton und lauschte nur der Musik, die aus der Musikbox kam und die Kneipengespräche der Anderen untermalte. Es war ein angenehmes Gefühl, so dazusitzen und an nichts denken zu müssen.
Bloß raus mit diesen Bildern aus meinem Kopf.
Oh man, Jenny, wo warst du, wenn man dich brauchte?
Nachdem ich mehrere Bier intus hatte und ich schon überlegte, mir zum nächsten Bier einen Schnaps zu bestellen, kam Rainer rein, ein älterer Mann, mit dem ich schon einige Male ein paar interessante Gespräche geführt hatte.
„Hallo, auch wieder hier?“, sagte er.
„Klar“, meinte ich, wobei ich versuchte, meine schlechte Laune nicht zu zeigen. „Hast du dein Arbeitsleben wieder aufgenommen?“
„Wie du dich immer ausdrückst“, lachte Rainer. „Aber ja, ich arbeite wieder. Wurde auch Zeit nach drei Monaten in der Reha.“
„Und direkt wieder Vollzeit?“, wollte ich wissen.
„Ich gehe nicht mehr auf Kundenbesuche“, teilte Rainer mir mit. „Ich habe jetzt die Leitung einer Abteilung übernommen.“
„Gut“, lobte ich ihn. „Das ist ja Klasse.“
„Trinkst du einen mit?“, wollte er wissen.
Was für eine Frage.
Rainer war in Ordnung. Außendienstmitarbeiter in einer renommierten Firma, aber bodenständig. Er war immer recht verständnisvoll. Er hörte zu, wenn ich etwas erzählte. Nicht so wie die Anderen, die mich auslachten. Er lachte mich nie aus.
Wahrscheinlich lag seine Art an der Empathie, die er für seine Kunden aufbringen musste. Trotzdem erschien es nicht aufgesetzt.
„Du wirkst ein bisschen zurückhaltend heute“, stellte er fest. „Sonst bist du immer so fröhlich und ausgelassen.“
Ich nickte vorsichtig. „Tja“, meinte ich. „Ich bin irgendwie heute nicht so gut drauf.“
„Hast du Probleme?“
Ich sah ihn an. „Nicht wirklich“, erläuterte ich.
Dann kam das Bier, das er bestellte, und ich trank es in einem Zug aus. Schon in der nächsten Sekunde spürte ich diese wohlige Wärme, die sich von meinem Bauch aus über den gesamten Körper ausbreitete.
Es wurde besser. Mit jeder Sekunde und mit jedem Schluck wurde es besser.
„Weißt du“, meinte ich dann zu Rainer, „meine Freundin hat sich länger nicht gemeldet.“
„Sie hat sicher viel zu tun,“ Versuchte er mich zu beruhigen.
„Ich denke, es ist vorbei“, phantasierte ich mir dann meine eigene Realität zurecht. „Dabei bin ich extra wegen ihr hergezogen.“
Ich bestellte mir noch ein Bier, diesmal ein großes.
„Ich bin alleine hier“, stammelte ich vor mir her. „Ich bin extra wegen ihr gekommen. Und jetzt ruft sie nicht mal mehr an, so eine Scheiße. Ich vermisse sie.“
Dabei merkte ich, dass eine Träne über die Wange lief, die ich dann mit dem Handrücken wegwischte. Ich hoffte, keiner hat das gemerkt. Aber eigentlich war es mir auch egal.
„Überlegst du, zurückzugehen?“, wollte Rainer dann wissen.
Ich schüttelte den Kopf. „Niemals“, rief ich laut.
Und prompt drehten sich einige Leute um.
„Sie ist verheiratet“, rief ich. „Ist aber egal. Meine Freundin ist verheiratet. So, jetzt wisst ihr es.“
Lachen und Gelächter.
„Bist du sicher, dass sie deine Freundin ist?“, fragte einer. „Wir sehen uns doch fast jeden Abend hier. Und ich habe dich noch nie mit einer Frau gesehen.“
Natürlich. Jetzt glaubte mir keiner mehr.
Scheiße, dachte ich. Jenny und ich wollten unsere Beziehung immer geheim halten. Sie wollte es so. Nicht nur ihr Mann sollte es nicht wissen, auch die Stadt sollte es nie erfahren. Wir fuhren immer zu geheimen Orten, wo uns niemand sah. Und gingen wir mal aus, waren wir in Städten oder Dörfern, die weiter weg waren, mehr als eine Autostunde, und wo uns keiner kannte.
Jetzt hatte ich es gesagt.
Ich hätte jetzt leise sein sollen. Nichts mehr sagen. Aber ich machte weiter.
„Jenny wohnt keine acht Kilometer von hier“, sagte ich. „Sie ist verheiratet, und ihr Mann weiß nichts von mir. Wir lieben uns seit einem dreiviertel Jahr.“
Ich schlug die Hände über meinem Kopf zusammen.
„Jenny, wo bist du?“, rief ich.
Alle sahen mich an.
Der Wirt kam an.
„Was ist? Depri?“, fragte er.
„Ich brauch’ was Hartes“, lallte ich. „Gibst du mir einen Schnaps?“
„Was für einen?“
„Scheißegal. Irgendeinen.“
Ich trank erst den einen Schnaps, dann gleich den nächsten, und noch einen.
Jetzt ging es mir besser.
„Weißt du, vielleicht ist es ja ganz gut, wenn es mit Jenny vorbei ist“, sagte ich selbst tröstend zu Rainer. „Vielleicht muss ich versuchen hier wirklich alleine klar zu kommen. Sonst kriege ich das nie hin.“
Einer, der neben Rainer saß, hatte das mitbekommen. „Schaffst du eh nicht“, kommentierte er.
Aber das ignorierte ich.
„Meine blöde Schwester erwartet, dass ich studiere“, stammelte ich. „Der Vater. Die Mutter. Ich will sie nicht sehen“
Ich merkte, dass ich begann, wirr zu reden. Aber Rainer hörte geduldig zu.
„Du solltest Abstand nehmen von Dingen, die dir nicht guttun“, antwortete er.
„Ja“, sagte ich. „Ich brauch’ die doch nicht. Ich kann es alleine. Ich brauch’ die Mutter nicht, den Vater auch nicht und die Schwester schon gar nicht.“
Ich schlug mit der Faust auf die Theke.
„Du arbeitest gar nicht?“, sagte ein Mann, der mich schon kannte und hörte, wie ich in der Kneipe immer davon redete, dass ich einen super Job hätte.
„Kann dir doch scheißegal sein“, erwiderte ich.
„Ja, ja“, meinte er. „Auf unsere Kosten saufen.“
„Was?“, entgegnete ich bestimmt. „Wer gibt denn die ganzen Runden?“
„Penner“, sagte der Mann. „Vater bezahlt, was?“
„Lass’ ihn“, machte Rainer ihm klar.
Und dann verzog sich der Mann. „Du brauchst einen Job“, machte Rainer mir freundlich klar. „Du solltest sehen, dass du so schnell wie möglich unabhängig wirst.“
Wie denn? Das hatte ich doch nie gelernt. Sie hatten es nie zugelassen. Ich sollte studieren und weiter von ihnen abhängig bleiben.
„Das weiß ich auch“, sagte ich leise. „Schöne Scheiße.“
Ich unterhielt mich mit Rainer noch über Sachen, die ich glaubte, gut zu können. Bisschen Buchhaltung – hatte ich im Wirtschaftsgymnasium gelernt – bisschen Bürokram, schreiben… Ja, schreiben, das konnte ich. Vielleicht sollte ich Sekretär werden.
Immer mehr lallte ich, aber Rainer sah darüber hinweg.
Und anschließend kamen noch Marcel, David und zwei Männer, deren Namen ich mir nie merken konnte. Einer packte die Karten aus, und schließlich wurde wieder Poker gezockt.
Sieben Runden. Ich hatte Rund 60 Euro verloren – egal, ich hatte heute genug Geld mit. Sofern Carina meinen Vater noch nicht diese Lügenmärchen erzählt hatte, dass ich jeden Abend in der Kneipe verbringen würde, sollte es auch so bleiben. Es war nicht wichtig, und ich dachte nicht drüber nach.
„Hey, Benjamin“, meinte einer dann plötzlich. „Wie sieht es aus mit Arbeiten?“
Ich schaute ihn verwundert an.
„Hast du Bock, bei mir im Garten bisschen auszuhelfen? Es gibt 50 Euro und ein Mittagessen.“
Ich dachte nach.
50 Euro verdienen? Das wäre Geld, was mir keiner nehmen könnte, da es ja mein Eigenes wäre. Warum nicht?
„Klar“, sagte ich lallend. „Wann?“
„Sei morgen um 10 Uhr bei mir“, meinte der Typ.
Dann tranken wir weiter, lachten und spielten.
Und je mehr ich trank, je mehr lachten sie über mich.
„Der und arbeiten.“
„Was hast du dir da an Land gezogen?“
„Von Beruf Sohn. Der hat doch noch nie gearbeitet.“
Sie zeigten mit dem Finger auf mich und lachten und lachten.
Es störte mich nicht. Ich zog mich wieder in die Ecke zurück und trank weiter. Ein Bier nach dem Anderen. So lange, bis die Bilder verschwammen. Die Töne der Musik wurden immer angenehmer und ruhiger. Die Gespräche der Anderen waren längst schon in einer Sprache, die ich nicht mehr verstand. Das Licht wurde immer dunkler, aber gleichzeitig sah ich in meinen Augen immer mehr Blitze. So ein Funkeln, welches nur ich sehen konnte, huschte vor meinem inneren Auge vorbei.
Weit weg waren die Gedanken an meine bescheuerte Schwester. Ganz weit weg waren die Wut und der Hass, den ich auf meine Mutter hatte. Es war mir einfach egal. Das, was geschehen ist, war mir egal, obwohl es mir immer bewusster wurde. Aber ich hatte es noch nie vor irgendjemandem zur Sprache gebracht. Ich hatte es noch keinem erzählt. Nicht mal Jenny.
Jenny.
Wo war sie? Ich vermisste sie so scheiße. Was war passiert? Warum rief sie nicht an?
Ich konnte doch nicht bei ihr anrufen. Da würde vielleicht ihr Mann dran gehen.
„Verdammt, Jenny… komm her. Bitte komm her“, flüsterte ich unhörbar in mich rein.
Gegen ein Uhr nachts polterte ich wankend aus der Kneipe raus. Ich lief den Berg hoch zu meiner Wohnung… aber ich lief nicht zum Aufzug. Ich lief in die Tiefgarage. Ich schloss mein Auto auf und setzte mich rein. Dann machte ich den Motor an und fuhr los.
Ich wusste nicht, wohin ich fuhr. Ich sah ja kaum noch was. Matte Lichtscheine der Straßenlaternen zogen an mir vorbei und spiegelten sich in den beschlagenen Scheiben wider. Die Straße wurde immer enger und enger…
Plötzlich ein Knall.
Das Auto stand und ich stieg aus, so gut ich konnte. Ich sah mich um und lief einmal um den Wagen herum. Aus der Motorhaube rauchte es. Aber der Wagen sah nicht kaputt aus.
Ein anderer Wagen hielt kurz darauf neben mir, und ein Mann stieg aus.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.
„Reifen geplatzt“, sagte ich knapp. „Bin wohl gegen den Bordstein gefahren.“
Natürlich merkte er, dass ich total besoffen war.
„Können Sie einen Abschleppdienst rufen?“, wollte ich von ihm wissen.
„Ich rufe die Polizei“, meinte der Mann. Aber das bekam ich gar nicht mit.
„Ja, gut“, sagte ich.
„Sie wissen, was das für Konsequenzen hat?“
Ich lachte nur.
Wenig später kamen die Bullen, Sie kamen sogar mit Blaulicht. Ich wusste, was das bedeuten würde. Scheiße, verdammte.
Aber es war mir egal. Ich dachte nicht darüber nach. Ich ließ es einfach mit mir machen. Ich wusste, Jenny würde sauer werden, aber sie hatte sich ja sowieso seit zwei Wochen nicht gemeldet, und ich glaubte sowieso, dass es aus wäre. Und dann meine Familie – daran mochte ich gar nicht denken.
Unwichtig, dachte ich mir. Es war alles unwichtig.
Eine Stunde später saß ich, nachdem ich auf der Wache bei der Blutprobe war und sie meinen Führerschein einkassiert hatten, in der S-Bahn Richtung Köln. Es war drei Uhr morgens, und in Köln sollte schon noch was los sein. Ich hatte mal vom Eigelstein gehört, einer Straße, in der es Sex-Clubs und Porno-Läden gab. Das wollte ich mir unbedingt ansehen. Hatte ich schon immer mal vor. Hatte ich nicht nötig, solange ich eine Freundin hatte. Aber die hatte ich ja offenbar jetzt nicht mehr, also war es egal. Ich war besoffen. und hatte heute sowieso schon genug Scheiße gebaut, da kam es jetzt darauf auch nicht mehr an.
Die Bahn hielt am Hauptbahnhof. Schwankend stand ich irgendwie auf, knallte noch ein paar Mal gegen die Sitzlehne und suchte mir dann irgendwie den Weg zur Türe, die mich fast eingeklemmt hätte.
Ich spürte nicht mehr viel. Da war eine Treppe, die von den Gleisen hinunter zum Ausgang führte. Ich lief sie entlang. Unten angekommen merkte ich plötzlich nur noch, dass ich dringend musste. So eine Scheiße, ausgerechnet jetzt.
Ich muss es getan haben. Mir hinter dem Bahnhof, in einer, wie ich glaubte dunklen Ecke, die Hose runtergezogen haben, dahin gekackt haben und dann…
Leute lachten. Sie sahen mich und zeigten mit dem Finger auf mich.
Da lag die alte Wolldecke eines Penners. Während mein Kopf dröhnte, muss ich mir diese genommen haben. Ich stand da mit heruntergelassenen Hosen direkt hinter dem Kölner Hauptbahnhof und hatte diese Decke von dem Obdachlosen in der Hand.
Mir war alles egal. Ich wischte mich damit irgendwie ab und zog mir dann, so gut es ging, meine Hose wieder hoch.
Die Leute sahen mich an und lachten. Ja, jetzt war ich nicht besser als einer von diesen Säufer-Pennern. Ich stank nach Alkohol und wer weiß nach sonst was noch.
Lass’ sie doch lachen, dachte ich mir.
Benebelt lief ich in die nächste Kneipe, die ich hier fand. Wie ich dorthin gekommen war, bekam ich nicht mehr mit. Was dort vielleicht noch geschah, ebenfalls nicht mehr. Ich war so dicht, dass ich nur noch irgendwelche Lichtscheine an meinen Augen vorbei blitzen sah und irgendwelche Stimmen hörte, von denen ich nicht wusste, wo sie herkamen. Alles war egal. Mein ganzes Leben war mir gerade so scheißegal.
Im nächsten Moment sah ich mich wieder zu Hause, durch die Wohnung torkeln.
Wie ich nach Hause zurückgefunden hatte, wusste ich nicht mehr. Ich sah mich nur noch irgendwie neben mir stehen, den Telefonhörer in der Hand haltend.
„Jenny?“, fragte ich dann ins Telefon rein.
Ich war betrunken. Es muss früh am Morgen gewesen sein, und ihr Mann war noch zu Hause, als ich bei ihr angerufen hatte.
„Warum rufst du hier an, Benjamin“; sagte Jenny leise. „Wir haben ausgemacht, dass du diese Nummer nicht wählst.“
„Ich muss dich sehen“, sagte ich zu ihr. „Du fehlst mir. Jenny? Ist Schluss mit uns, oder warum meldest du dich nicht?“
„Jetzt nicht“, sagte Jenny daraufhin.
Und ich hörte ihren Mann irgendetwas sagen.
Aber Jenny machte ihm dann klar, dass es um eine Überraschung für ihn gehen würde, eine Freundin sei am Telefon. Und er solle bitte kurz raus gehen. Das tat er dann offenbar auch.
„Benjamin, du weißt nicht, was ich durchmache“, sagte sie schließlich.
„Was du durchmachst?“, fragte ich. „Weißt du, was ich durchmache? Ich bin scheiße alleine.“
„Bist du betrunken?“, wollte sie dann wissen.
„Ich bin nicht verrückt“, schrie ich plötzlich ins Telefon. „Ich bin nicht verrückt. Alle Welt denkt, ich bin verrückt. Aber ich habe doch gestern nur ein bisschen gefeiert.“
„Was ist los? Du hast doch Alkohol getrunken. Ich höre es doch. Gerade jetzt, Benjamin…“
„Ich habe keinen Führerschein mehr“, lallte ich. „Ich habe gestern in Köln gefeiert.“
„Benjamin… Wenn du es verstehen könntest, würde ich dich ja etwas fragen. Es wäre mir wichtig gewesen, dass du Verantwortung übernehmen kannst. Aber offenbar kannst du das nicht. Vielleicht sollten wir uns trennen. Du bist echt hilflos, und ich kann dir nicht helfen.“
„Jenny… nein… was ist, Jenny? Ich bin nicht verrückt…“
„Benjamin… ich glaube, du bist krank“, sagte sie dann leise.
„Na, und?“, schrie ich sie an, obwohl ich das gar nicht wollte. „Was ist schlimm dran, verrückt zu sein? Vielleicht bin ich verrückt. Krank. Was auch immer. Ist mir egal.“
Jenny sagte nichts.
„Jenny“, weinte ich dann. „Du bist mir nicht egal. Ich liebe dich.“
„Benjamin… ich bin schwanger.“
Stille. Ich sagte keinen Ton.
„Von dir“, warf sie nach. „Ich weiß es seit ein paar Tagen.“
Ich weinte. „Du bist schwanger?“, fragte ich leise. „Wir kriegen ein Kind?“
„Ich habe mit meinem Mann nicht mehr geschlafen, seit ich mit dir zusammen bin“, erklärte sie. „Das weißt du. Er will es nicht mehr, das habe ich dir erzählt. Und er kann es nicht mehr. Schon eine ganze Zeit lang nicht mehr. Es kann nur von dir sein, Benjamin“, schluchzte sie leise.
„Du kriegst ein Kind von mir…“, weinte ich.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll“, flüsterte Jenny. „Ich habe überlegt und überlegt… aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“
„Ich…“, stammelte ich. Aber ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich bekam gerade nichts mehr mit.
„Bitte komm zu mir“, stammelte ich. „Ich will mit dir zusammen sein.“
Jenny legte auf.
Ich heulte endlos. Ich hätte alles haben können. Ganz plötzlich, von der einen auf die andere Sekunde. Eine Familie, eine eigene Familie, in der ich das Oberhaupt war, Jenny meine Frau, und wir hätten ein gemeinsames Kind.
Jenny hatte ja schon mehrmals angedeutet, dass sie darüber nachdachte, ihren Mann zu verlassen und mit mir ein neues Leben zu beginnen. Ich habe eigentlich nie daran geglaubt, dass sie das wirklich durchziehen würde. Viel zu sehr hatte ich mich schon an die Rolle des heimlichen Geliebten gewöhnt, und es war ganz okay für mich.
Und jetzt?
Ich hatte alles verloren. Ja, das glaubte ich fest, und davon war ich überzeugt. Ich hatte alles kaputt gemacht. Keine zwei Monate war ich hier in Solingen, und schon hatte ich alles kaputt gemacht.
Warum nur? Wegen der Trinkerei? War sie mir wichtiger als alles andere sonst?
Es war das erste Mal, dass mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss. Jetzt, wo alles verloren war, jetzt, wo es augenscheinlich zu spät war, hörte ich eine Stimme. Und sie sagte: „Du bist ein Säufer.“
Mein Gott… Jenny war schwanger. Von mir.
Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich suchte nach irgendeinem Halt, nach irgendeinem Seil, das plötzlich von der Decke schweben würde und mich retten würde. An dem ich mich festhalten konnte, und es würde mich aus meinem verkorksten Leben rausziehen, und alles würde gut werden, weil am anderen Ende Jenny warten würde. Und dann wären wir zusammen. Endlich.
Aber so war es nicht. So konnte es nicht sein. Dieses Glück würde ich nie haben. Und in diesem Moment habe ich den Glauben, den letzten Glauben daran auch noch verloren.
Ich konnte nicht mehr denken. Ich weinte nur noch. Ich dachte nicht mehr an gestern Abend, an die Kneipe, den Job, den mir irgendeiner anbot, und den ich natürlich auch verkackte. Ich konnte nichts mehr sehen und spüren.
Ich vermisste Jenny so sehr. Aber eigentlich war ich ja schon tot. Alles war tot, weil ich alles verloren hatte. Sie würden mir die Wohnung nehmen und mich zurück nach Bielefeld holen. Sie würden mich zurück in mein altes, kontrolliertes Leben stecken, in dem ich eine Marionette war, ein Spielball, eine Figur, mit der sie machen konnten, was sie wollten.
Ich hatte kein bisschen Selbstvertrauen mehr und wusste, dass es vorbei war.
Noch immer benebelt lag ich auf meinem Bett und starrte nur apathisch an die Decke.
Irgendwann gegen Mittag muss ich erst eingeschlafen sein.