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KAPITEL 3: BENJAMINS GESTÄNDNIS

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Schon am frühen Morgen – es musste vielleicht so 6 Uhr herum gewesen sein – hörte ich im Halbschlaf, dass es an meiner Türe klingelte. Aber ich war noch zu müde, um aufzustehen. Ich blieb einfach liegen.

„Zeit, bleib’ einfach stehen“, flüsterte ich.

Wenig später hörte ich, wie jemand meine Türe aufschloss und die Wohnung betrat.

Ein Schatten huschte an der Türe meines Schlafzimmers vorbei.

Ich richtete mich langsam auf, öffnete meine Augen – und dann sah ich sie dort stehen.

„Jenny“, ich lächelte.

Sie kam an mein Bett und setzte sich zu mir.

„Bist du bereit für den großen Tag?“, sagte sie dann.

Ich nickte. „Heute halte ich meinen Vortrag an der Fachhochschule“, sagte ich stolz.

Dann legte sie sich zu mir und nahm mich in den Arm.

„Wie geht es dir?“, wollte sie wissen.

Ich ließ einen tiefen Seufzer los und verschränkte meine Arme über meinem Bauch. „Bisschen nervös bin ich ja schon“, beantwortete ich ihre Frage. „Es ist lange her, dass ich vor so vielen Menschen gesprochen habe. Ich glaube, das letzte Mal war in der achten oder neunten Klasse.“

„Du kriegst das schon hin“, machte sie mir Mut.

Ich gab ihr einen Kuss. Dabei streichelte ich ihr über ihren Bauch.

„Weißt du, warum Männer immer über den Bauch von schwangeren Frauen streicheln müssen?“, fragte sie mich dann lachend.

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es auch nicht“, ergänzte sie.

Wir mussten beide lachen.

„Oh, Jenny…“ Ich machte ein seufzendes Geräusch.

„Sechzehnte Woche“, hauchte Jenny leise. „Ich war gestern beim Ultraschall. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen…“

Dann wurde sie ganz ruhig und sah mich mit ihren großen Augen an.

„Du weißt, was es wird“, mutmaßte ich. „Meine Güte… Jenny, du weißt, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird.“

Sie nickte lächelnd.

Mein Herz schlug schneller und schneller.

„Bevor ich es dir sage, möchte ich aber gerne wirklich ernst mit dir sprechen“, erklärte sie dann auf einmal.

Ach, Jenny. Warum brachte sie mich manchmal mit ihren Worten so durcheinander? Und wie aus dem Nichts hatte ich plötzlich wieder das Gefühl, dass ich etwas falsch gemacht hätte. Wieder schlichen sich Zweifel ein, die mein ganzes Selbstwertgefühl in Frage stellten. Und dafür brauchte es nichts weiter als einen ernsten Satz.

„Ich kann es“, versuchte ich mich gleich zu rechtfertigen. „Ich will es. Jenny, ich will mit dir zusammen sein. Ich will diese Aufgabe auf mich nehmen, und…“

Sie unterbrach mich. „Benjamin, es ist gut“, sagte sie. „Ich glaube dir ja.“

„Aber was möchtest du dann mit mir bereden?“

Sie atmete tief aus und sah mich dann an.

„Das ist alles nicht so einfach“, sagte sie.

„Wann sagst du es ihm?“, wollte ich wissen.

„Ich werde ihn verlassen, das habe ich dir gesagt. Und ich habe es dir versprochen.“

„Wann?“, beharrte ich.

„Der richtige Moment ist noch nicht da“, entgegnete sie.

„Aber wir bekommen ein Baby“, sagte ich schüchtern. „Wir haben doch eine Zukunft vor uns.“

Jenny sah nachdenklich an die Decke.

„Jenny?“, fragte ich leise.

„Benjamin, ich mache mir Sorgen“, kam es dann aus ihr heraus.

Fragend blickte ich in ihre Augen.

„Du bist nach wie vor noch öfters in der Kneipe.“

Jetzt hatte sie es gesagt. Daher wehte der Wind.

Ich nahm sie fest in den Arm und küsste sie wieder. „Jenny“, entgegnete ich. „Bin ich jetzt betrunken? War ich es letzte Woche oder letzten Monat? Ich trinke viel weniger seit unserem Streit damals. Ich habe dir doch gesagt, dass ich das für unser Kind tun will. Und ich bemühe mich, wirklich.“

„Dass du dich bemühst in Ehren“, sagte sie. „Aber ich würde mir wünschen, dass du deinen Alkoholkonsum ganz einstellen würdest. Und dass du darüber nachdenken solltest, ob du nicht doch ein Problem damit hast.“

Ich schüttelte den Kopf und wischte mir eine Angstträne aus den Augen.

Wieder fühlte ich mich angegriffen, ganz typisch für mich. Zitternd sah ich sie an.

„Ich will wirklich mit dir zusammen sein und eine gemeinsame Zukunft haben, Jenny“, hauchte ich. „Ich will es.“

„Benjamin“, beruhigte mich Jenny. „Mach’ dir doch keine Sorgen. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich alleine lassen würde. Das tu ich nicht. Ich will dich nur unterstützen und dir sagen, dass, wenn es ein Problem gibt, du alles mit mir besprechen kannst. Wirklich.“

Mein Problem? Was mein Scheiß Problem ist, willst du wissen, Jenny?

Ich war still und sah wieder diese düsteren Bilder aus meiner Vergangenheit. Die Bilder, die ich nicht sehen wollte. Jedes Mal, wenn Jenny Andeutungen machte, die mit meinem psychischen Befinden oder meinen Problemen zu tun hatte, kamen diese Erinnerungen. Und mit jedem Mal wurden sie deutlicher.

Nein, das durfte nicht sein, und das konnte nicht sein.

Ich glaubte ganz oft selbst nicht daran und deshalb schwieg ich. Noch nie konnte ich Jenny etwas darüber sagen. Darüber, warum ich meine Familie so sehr hasste, so sehr, dass ich mich bei keinem mehr von ihnen – außer ab und an bei Vater, wenn ich Geld brauchte – gemeldet hatte, seit Monaten nicht mehr.

Warum hakte sie so nach?

„Ich habe keine Probleme“, log ich sie an. „Ich bin doch glücklich. Und das mit dem Trinken kriege ich in den Griff, wirklich. Ich schwöre es.“

„Du brauchst mir nichts zu schwören“, sagte sie ruhig. „Ich möchte nur, dass du wirklich bereit bist, Verantwortung zu tragen. Für unser Kind und für mich, aber in aller erster Linie für dich selbst.“

Ich hielt ihre Hand ganz fest.

„Du bist jetzt für dich selbst verantwortlich, Benjamin, das weißt du. Und ich weiß, dass du das kannst.“

„Danke, Jenny“, sagte ich mit zittriger Stimme.

„Dann will ich es auch“, sagte Jenny. „Ich werde es ihm sagen. Und dann trenne ich mich von ihm und komme zu dir.“

Mein Herz raste. Mein Gott, dieses Wechselbad der Gefühle zwischen Angst, mangelndem Selbstvertrauen und Glück waren so groß, und sie wechselten sich in Sekunden ab – abhängig von dem, was Jenny sagte.

Jetzt hatte sie gesagt, sie kommt zu mir. Sie trennt sich, und sie will eine gemeinsame Zukunft mit mir und dem Baby.

Es passierte wirklich. Ich konnte es nicht glauben, aber es passierte wirklich.

„Es wird ein Mädchen“, flüsterte sie mir dann ins Ohr. „Willst du den Namen hören, den ich für sie ausgesucht hatte?“

Ich nickte wortlos.

„Mathilda“, sagte sie leise. „Mathilda Mirielle Foster.“

Ich glaubte, in diesem Moment ist mein Herz geplatzt, so laut schlug es. Man konnte es richtig hören.

„Sie… sie bekommt meinen Nachnamen?“

„Ja“, lächelte Jenny. „Du sollst sie als deine Tochter anerkennen, und wenn es in einigen Jahren soweit ist, werden wir heiraten, und ich werde deinen Nachnamen annehmen. Deswegen soll Mathilda jetzt schon den Nachnamen ihres Vaters tragen.“

Ich brachte keinen Ton heraus, so voller Stolz, Zuversicht und Mut war ich. Ja, ich wollte es, und wie ich es wollte.

Ich glaube, das war der erste Moment in meinem bisherigen Leben, mit meinen 26 Jahren, in dem ich so etwas wie Glück spürte. Das erste Mal, das ich wirklich glücklich war, einfach nur glücklich. Der erste Tag, an dem ich dachte, es ist etwas Wert, zu leben. Das erste Mal.

Die Straße würde noch lang sein, und der Weg mochte zuweilen steinig und schwer werden. Aber, ja, ich wusste, ich würde es können.

Ich glaube, der Kuss, den mir Jenny dann gab, bevor sie wieder fahren musste und ich mich auf den Weg zur Fachhochschule machen würde, war endlos und ich wollte auch nicht, dass er endet.


Das Gelände war sehr groß. Von der Straßenbahnhaltestelle bis zum Saal, wo ich heute hinmusste, waren es bestimmt 10 Minuten zu laufen. Düsseldorf war zwar eine ganze Ecke von Solingen entfernt, aber es war die einzige Fachhochschule, die für mich erreichbar war.

Seit drei Monaten war ich immatrikuliert und konnte hier studieren. Mehrere Vorlesungen hatte ich hier schon besucht, aber mehr als einmal die Woche konnte ich natürlich nicht hierherkommen. Da musste ich mir ganz genau überlegen, welche Kurse ich bräuchte, und welche Vorlesungen ich besuchen sollte.

Mein Vater freute sich natürlich, dass es mir jetzt endlich geglückt ist, einen Studienplatz zu bekommen. Und Soziale Arbeit war ja ein Fach, was nicht allzu schwer war. Man brauchte keine medizinischen Kenntnisse, keine Mathematik – man musste nur aufgeschlossen gegenüber Menschen sein. Auch wenn dies eine große Herausforderung für mich war, wollte ich es versuchen.


Es war jetzt Sommer 2004. Mittlerweile lebte ich seit gut einem halben Jahr in Solingen. Noch immer kannte ich kaum jemanden – bis auf Jenny – aber ich hatte mich in meine neue Heimat ganz gut eingelebt. Vor allem jetzt, wo ich angefangen habe, etwas Vernünftiges zu machen.

Klar, ich tat meinem Vater einen Riesengefallen mit dem Studium, welches ich gerade erst richtig begonnen hatte. Für mich war es aber eher das Gefühl, dass ich mich wieder fügte und einfach machte, was man mir sagte.

Egal. Ich hatte nun offiziell eine Beschäftigung, und das zählte.

Einmal in der Woche fuhr ich nach Düsseldorf an die Fachhochschule. Weil ich ja keinen Führerschein mehr hatte, konnte ich natürlich nicht mit dem Wagen fahren. Ich benutzte die Bahn, was jedes Mal ewig lang dauerte. Aber ich schaffte es jede Woche.

Jenny hatte mir bei der Auswahl des Studiums sehr geholfen. Sie hatte immer wieder gedrückt und gesagt, was ich tun müsse. Wenn ich unserem Baby ein guter Vater werden will, sollte ich was aus mir machen. Im Herbst sollte es zur Welt kommen. Und der Tag, an dem sie ihrem Mann dann endlich sagen würde, dass sie ihn verlässt, würde näher und näher rücken.

Er wusste es noch nicht. Nach vier Monaten konnte man es noch nicht so richtig sehen. Aber Jenny wusste, dass sie es nicht mehr lange vor ihm verbergen konnte.

Sie machte mir immer solche Hoffnung.

„Ich werde ihn verlassen“, versprach sie permanent. „Wenn die Zeit gekommen ist, sage ich ihm, dass ich einen Freund habe, von dem ich schwanger bin, und dass ich bei ihm leben werde.“

Ich betete jeden Abend, dass der Tag kommen würde. Ich tat alles dafür. Ich ging abends weniger weg, machte so gut wie keinen Unsinn mehr und suchte mir sogar diesen Studienplatz, von dem mein Vater dachte, dass ich es für sein Prestige getan hätte, dabei tat ich das für die gemeinsame Zukunft mit Jenny.

Heute war ich mir mehr als sicher, dass all diese Träume wahr würden. Nach unserem Gespräch von heute Morgen spürte ich es.


In der heutigen Vorlesung ging es um Psychologie in Verbindung mit Theaterpädagogik. Die Fachhochschule Düsseldorf machte eigentlich Spaß, da das Studium sehr praxisorientiert war. Ich sollte heute einen Vortrag halten.

ICH sollte heute einen Vortrag halten. Den ersten, den ich je gehalten haben würde.

Mann, war ich nervös. Dass man mich mal ernst nehmen würde, das hatte ich irgendwie erst durch Jenny gelernt. Auch wenn sie manchmal mehr eine große Schwester war, sie war nach wie vor meine Freundin. Und trotz, dass sie mich so sehr leitete, mir Tipps gab und ich mich eigentlich oft durch sie geführt fühlte, was mich nicht störte, hatte ich den Eindruck, dass sie mich ernst nahm.

Meine Kneipen-Eskapaden sind auch weniger geworden. Ich wollte es nicht herunterspielen, aber ich hatte einfach nicht mehr den Eindruck, dass das für mich ein Problem wäre, wenn ich so zwei- oder dreimal die Woche ins Lokal ging und dann einiges trank.

Heute war ich nüchtern.

Und als ich in den Saal hinein ging, saßen die Leute und die Professorin schon dort. Fast charmant kündigte die Leiterin des Seminars mich an und verwies mich gleich ans Pult.

Nun stand ich da.

Ach, du Scheiße.

Und dann holte ich meine Aufzeichnungen raus und setzte mich. Wenig später legte ich die Aufzeichnungen beiseite und stellte mich vor das Pult.

„Wisst ihr“, begann ich, „eigentlich wollte ich jetzt vorlesen, was ich geschrieben habe und herausgefunden habe über die psychologische Entwicklung am Beispiel der Theaterpädagogik. Aber ich denke, ich versuche es frei.“

Und dann redete ich. Ich berichtete von den verschiedenen Projekten an Schulen und Hochschulen. Ich erzählte von Präventionsprojekten zum Thema Integration, stellte das Konzept einer Theatergruppe in Neuss vor und las dann Ausschnitte aus einem Theaterstück vor, welches Kinder einer Grundschule zusammen mit einem Jugendzentrum, entwickelten.

Anschließend berichtete ich noch über Fakten zum Thema psychologische und kognitive Entwicklung.

Fremdwörter über Fremdwörter. Fachbegriffe, Themen, für die ich echt lernen musste, aber ich habe es geschafft. Die Professorin erteilte mir im Anschluss an meinen Vortrag ein echtes Lob, und ich war sehr zufrieden mit meiner Leistung.


Kaum nach Hause gekommen, konnte ich es kaum erwarten, meiner Schwester diesen Erfolg an den Kopf zu knallen. Dachte sie doch, ich bringe es zu nichts.

Aber es lief anders als erwartet. Eigentlich wollte ich sie nicht mehr anrufen. Ich konnte sie so wenig leiden, dass ich damit abgeschlossen hatte – fast. Aber als ich sie dann doch anrief, aus lauter Trotz, um sie über meine Erfolge aufzuklären, waren plötzlich ganz andere Gedanken wieder präsent.

Warum hatte ich sie nur angerufen? Warum?

„Carina“, sagte ich am Telefon. „Ich habe heute eine sehr gute Note für meine Vorlesung erhalten.“

Das interessierte sie aber überhaupt nicht. „Papa geht es nicht gut“, meinte sie.

„Was?“, fragte ich.

„Er hatte einen Schwächeanfall und war ein paar Tage im Krankenhaus. Aber er erholt sich. Mutter nimmt das sehr mit. Sie fühlt sich sehr alleine. Es wäre wirklich gut, du wärst hier, damit sie sich um dich kümmern kann. Sie braucht eine Aufgabe, wenn Vater weg ist.“

„Papa stirbt vielleicht?“, wollte ich wissen.

„Es kann sein, dass du mit seinem Geld nicht mehr rechnen kannst“, betonte sie. „Ganz gleich, ob er sich erholt oder nicht. Und spätestens, wenn er nicht mehr da ist, musst du nach Bielefeld zu Mutter zurückkommen und bei ihr wohnen. Ich habe ja keine Zeit, ich bin ja eine Geschäftsfrau. Ich kann mich nicht um dich kümmern, wenn Vater stirbt. Mama wird das tun.“

„Aber ich baue mir gerade hier ein neues Leben auf“, traute ich mich dann zu sagen. „Ich studiere. Ich habe heute eine Vorlesung gehalten.“

„Du wirst es nie schaffen, dein Studium zu beenden. Bevor du das erreichst, ist Papa schon Jahrzehnte tot.“

Ich schnaufte aus und sagte nichts.

„Papa wollte mich nächste Woche besuchen kommen“, sagte ich. „Ich sprach letzten Monat mit ihm am Telefon. Er war vor zwei oder drei Monaten schon mal da.“

„Hörst du nicht, was ich sage?“, schrie Carina. „Papa ist krank. Er ist sehr schwach. Und dass er bei dir war, das weiß ich. Er hat ja mit dir eingekauft. Mama sagt, du schaffst es ja nicht mal, alleine einzukaufen. So ist es auch. Was soll aus dir werden, wenn Papa dir kein Geld mehr geben kann? Du hast keine Ausbildung, und ein Studium kostet Geld. Du hast keinen Job. Du kannst nichts. Mutter wird auf dich aufpassen müssen.“

„Nein“, sagte ich ruhig. Aber offenbar klang meine Stimme für Carina verwirrt.

„Mutter vermisst dich“, sagte Carina. „Ich erwarte, dass du sie besuchen kommst, und zwar alle zwei Wochen. Sie soll wissen, dass sie ihren Lieblingssohn nicht verloren hat.“

„Aber das hat sie“, wollte ich schreien. „Ich hasse sie.“

Ich sagte nichts.

Ich wollte von Mutter nichts mehr wissen. Aber ich war zu schwach, das meiner bestimmenden und bevormundenden Schwester mitzuteilen, die mindestens genauso schlimm wie meine Mutter war.

Nach dem Telefonat war ich total durcheinander. Ich hatte Angst. Dass Papa nicht mehr arbeiten konnte – er war ja auch schon 70 Jahre alt – würde definitiv bedeuten, dass er mir kein Geld mehr schicken konnte. Er finanzierte auch das Studium. Ich musste von den 1000 Euro, die ich jeden Monat von ihm bekam, auch mein Semesterticket bezahlen. Jetzt hatte ich noch knapp 600 Euro in der Tasche… Wie lange sollten die reichen, wenn ich nichts mehr kriegen würde?

Carina hatte Recht. Ich hatte nichts gelernt. Ich könnte nicht einfach auf einen anderen Job umsatteln. Und dass mich jetzt noch jemand für eine Ausbildung nehmen würde, mit 26 Jahren, war eher unwahrscheinlich. So auf die Schnelle würde ich auch nichts mehr finden. Und wenn ich am nächsten Ersten kein neues Geld hätte… Was sollte dann werden? Wie sollte ich dann für Jenny und Mathilda sorgen?

Ich saß zitternd in der Wohnung und wusste nicht, was ich machen sollte. Ich grübelte, und meine Gedanken wurden immer wirrer.


Es war nicht das erste Mal, dass ich wirre Gedanken hatte. Aber so deutlich, so intensiv wie jetzt, hatte ich sie noch nie bemerkt. Plötzlich wurden Dinge real, die sonst nicht existieren. Personen, die ich selten oder gar nicht sah, waren auf einmal hier und machten mir das Leben zur Hölle, oder sie versuchten gleich, es zu beenden, indem sie mir so zusetzten, dass ich starb.

Mein Vater war tot. In meiner irrationalen Phantasie ist er gestorben. Jetzt gab es nur noch meine drangsalierende Schwester und meine Mutter. Beide wollte ich nicht sehen, beide hätte ich am liebsten für immer aus meinem Leben gestrichen.

Die Tür von meiner Wohnung ging auf. Schwester und Mutter kamen herein.

„Papa ist tot“, sagte Carina.

„Ich habe hier ein Leben“, entgegnete ich.

„Du hast kein Geld mehr“, sagte meine Mutter. „Du kannst nicht weiter studieren, wir können es nicht mehr bezahlen. Und Carina ist eine viel beschäftigte Geschäftsfrau. Du musst nach Hause kommen. Ich kümmere mich um dich.“

„Wie du dich um mich kümmerst, das kenne ich“, widersprach ich. „Und ich will es nicht. Nie mehr.“

„Du hast kein Recht auf eine eigene Meinung“, sagte Carina. „Du bist schwach, klein und abhängig von Mutter. Du brauchst sie.“

„Komm mit, das Auto steht unten“, sagte die Mutter. „Carina fährt uns nach Hause.“

Ich wusste nicht, ob sie mich fesselten, oder ob ich freiwillig mitgegangen bin. Freiwillig sicher nicht, aber ich konnte mich nicht wehren. Ich konnte mich ihnen einfach nicht widersetzen.

Ich habe mich Mutter nie widersetzen können. Wenn einem Kind so etwas angetan wird, sagen sie dem Kind ja immer, es soll reden. Es soll erzählen, was war, damit es das Geschehene verarbeiten kann.

Mir hat noch nie jemand etwas gesagt. Es wusste auch keiner. Ich hatte noch nie mit jemandem darüber reden können. Und schon gar nicht hätte ich mich getraut, meine Schwester oder meine Mutter selbst damit zu konfrontieren, dass ich es nicht vergessen hatte. Und vor allem, dass es mir noch immer höllisch weh tat, obgleich es Jahre her war.

Wir fuhren nach Bielefeld in mein früheres Elternhaus. Mein Zimmer – Mutter nannte es noch heute Kinderzimmer – war unverändert. Sogar die Spielsachen, die ich als Kind hatte, waren noch da. Ich hatte eine Rennbahn, eine Eisenbahn und ein Puppenhaus. Mutter hatte mich als Kind oft als Mädchen gesehen, deswegen kaufte sie mir irgendwann dieses Puppenhaus. Manchmal zwang sie mich, damit zu spielen und sah mir dabei zu.

Carina ging dann wieder in ihre eigene Wohnung, in ihr eigenes Erwachsenenleben, und sie ließ mich mit Mutter zurück. Und während ich in meinem Zimmer saß, kam Mutter rein.

„Willst du mit deinen Puppen spielen, Mädchen?“, fragte sie. „Papa wäre stolz auf dich. Er würde sagen, das macht sie sehr gut.“

„Ich bin ein Junge“, entgegnete ich ihr. „Ich bin ein Mann. Ich bin fast 27 Jahre alt.“

„Du wirst immer mein kleiner Junge sein“, erwiderte meine Mutter. „Oder mein Mädchen, so wie du es als kleines Kind immer wolltest.“

„Ich wollte nie ein Mädchen sein.“

„Du wolltest, dass ich dir Mädchennamen gebe“, erläuterte sie. „Jede Woche hast du dir einen anderen Namen ausgesucht. Wie willst du heute heißen, Mädchen?“

„Mutter, du bist krank“, antwortete ich.

„Du bist krank, mein Junge“, stellte sie klar. „Aber mach’ dir keine Sorgen. Ich werde mich um dich kümmern. Du musst nicht raus gehen, wo dich alle sehen. Du kannst hier bei deiner Mutter bleiben.“

Ich glaube, sie legte mir dann Ketten oder so was an. Auf jeden Fall war ich in der nächsten Minute ans Bett gefesselt. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich versuchte, mich zu befreien, aber es gelang mir nicht.

„Mutter ist bei dir“, hörte ich diese Frau immer sagen.

Und auf einmal war ich kein Mann mehr. Ich war tatsächlich ein kleiner Junge, hilflos, ausgeliefert und wehrlos. Vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Ich lag da, gefesselt auf dem Bett, und dann wurde es mir schwarz vor Augen.

Das nächste, was ich sah, war eine dunkle Straße, durch die ich lief.

Wo zum Henker war ich? Kannte ich diese Straße? Sie kam mir bekannt vor, obwohl ich gleichzeitig das Gefühl hatte, noch nie hier gewesen zu sein. Es war alles so real und gleichzeitig so surreal.

Ich lief einen Hügel hinunter. Dann kam ich an einen Bahnhof. Ich erkannte ihn wieder.

Solingen. Hier war ich zu Hause. Dieser Bahnhof, dieses alte Haus mit der Neonaufschrift, die in großen Lettern das Wort „Boxer“ zeigte. Meine Stammkneipe.

Ich ging rein.

Mit jedem Bier, das ich trank, verschwanden die negativen Gedanken ein Stückchen mehr. Und mit jedem Schluck fühlte ich mich ein besser. Apathisch saß ich in der Ecke und trank.

Als Rainer reinkam, sah er mich und setzte sich zu mir.

„Meine Güte, was ist denn mit dir los, Benjamin?“, fragte er.

„Ich…“, stammelte ich. „Mein Vater ist krank. Meine Schwester sagt, ich soll nach Bielefeld zurückgehen.“

„Aber du studierst doch hier“, meinte Rainer.

„Ich werde nicht weiter studieren können“, antwortete ich. „Mein Studienplatz wird mir genommen werden, weil ich ihn mir nicht mehr leisten kann.“

„Nur die Ruhe“, versuchte er mich zu beruhigen. „Ich weiß, was in so einem Fall zu tun ist. Wenn du kein Bafög bekommst, dann musst du dich zwar exmatrikulieren, aber du kannst zum Amt gehen. Die geben dir Geld, solange du noch keinen Job hast.“

„Und die Wohnung?“ Fast weinte ich. „Ich werde sie auch verlieren. Ich kann mir die Nebenkosten nicht leisten.“

„Sie werden dir eine kleinere Wohnung geben“, erklärte Rainer. „Und wenn du das erreicht hast, dann bist du unabhängig von deiner Familie. Lass nicht zu, dass deine Schwester und deine Mutter dich bevormunden.“

Rainer war von Allen, die hier in der Kneipe saßen, noch der Vernünftigste.

Aber ich hatte eine Wahnsinnsangst. Ich wusste nicht, was werden sollte. Ich trank den ganzen Abend, um meine Angst zu vergessen. Ich trank, um den Schmerz zu vergessen, an den ich mich in letzter Zeit immer wieder erinnern musste. Ich trank, um alles zu vergessen. Ich wollte nicht mehr, nur noch trinken.


Am nächsten Mittag – ich hatte keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen war, oder was in der Nacht sonst noch passiert ist, geschweige denn, wo ich überall noch war – wachte ich auf dem Sofa auf. Der Fernseher war an, und mein Portmonee lag auf dem Tisch.

Mein Portmonee. Da hatte ich gestern die letzten 600 Euro drin, die auf unbestimmte Zeit reichen sollten. Ich hatte ja keine Ahnung, wann ich das nächste Mal an Geld kommen sollte.

Vorsichtig nahm ich es und sah nach…

Alles war weg. Alles bis auf drei oder vier Euro, die noch im Schubfach für Kleingeld waren.

Nein… ich hatte gestern mein ganzes Monatsgeld ausgegeben. Ich hatte nichts zu essen, ich hatte kein Geld mehr für die nächsten Wochen und kein Geld mehr, bis ich neues kriegen würde. Ich hatte niemanden, den ich fragen konnte, niemanden, den ich um Rat bitten konnte.


Jetzt wusste ich es. Jetzt war es mir klar. Es war mir schon viel länger klar, aber ich wollte es nie wahrhaben. Ich hatte immer nach einem Grund gesucht zu trinken. Ich hatte immer versucht, Ausreden dafür zu finden, warum ich trinken musste, statt mich meinen Problemen zu stellen. Nie habe ich mich ihnen gestellt, bin immer davongelaufen und habe getrunken. Und ich habe nicht bloß getrunken, ich habe hemmungslos gesoffen. Immer wieder, fast jeden Tag.

Ich habe heimlich gesoffen, auch als ich Jenny schon kannte. Ich habe weiter gesoffen, auch als sie mir sagte, dass sie mit mir zusammen sein will. Und als ich hier in Solingen angekommen bin und endlich bei Jenny war, der einzigen Person bis jetzt, der ich vertrauen konnte, habe ich heimlich weiter gesoffen.

Ich habe alles verloren. Mein Studium, meine Wohnung – und sicherlich auch Jenny. Das würde sie mir nie verzeihen.

Sie hatte ja keine Ahnung, wie schlimm es mir wirklich ging. Sie hatte keine Ahnung von diesen todbringenden Gedanken und Erinnerungen, die ich an das Leben in Bielefeld hatte. An das Leben, als ich noch ein Kind war. Ich hatte noch nie mit ihr – oder überhaupt mit jemandem – darüber gesprochen. Und vielleicht käme es auch nicht mehr dazu, denn ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt sterben wollte.

Jetzt wusste ich es. Ich war ein Säufer. Ein Alkoholiker. Ein Opfer, der seine missbrauchte Kindheit im Alkohol ertrank.

Es war das erste Mal, dass ich diese Worte verwendete und ganz klar vor mir sah.

Alkoholiker.

Opfer.


Ich hörte das Schloss von meiner Türe, und wenig später kam Jenny herein.

„Benjamin…“, sagte sie zitternd, als sie mich da so liegen sah, auf dem Sofa.

„Ich…“, stammelte ich. „Ich habe alles verloren“

Sie sah mich an.

„Ich habe nichts mehr“, sagte ich. „Mein Vater ist krank, er kann nichts mehr für mich tun. Meine Schwester will mich nach Bielefeld zurückholen, aber da kann ich nicht mehr hin, weil ich sonst vor Scham und Schmerzen sterben würde. Ich verliere meine Wohnung.“ Ich weinte. „Ich habe meinen Studienplatz verloren, muss mich exmatrikulieren. Ich soll zum Amt. Ich habe nichts mehr, ich habe alles verloren. Mein ganzes Geld ist weg.“

„Was ist passiert?“, sagte Jenny ruhig, als sie sich neben mich setzte.

„Ich… ich habe alles vertrunken“, gab ich dann endlich zu. „Jenny, ich bin ein Säufer. Ich bin ein Alkoholiker.“

Ich weinte, und Jenny saß still neben mir.

„Ich will nicht mehr“, stammelte ich. „Ich kann nicht mehr.“

Jenny nahm ein Taschentuch und wischte mir meine Tränen aus dem Gesicht.

„Du wirst es müssen“, sagte sie dann leise. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Ich schnäuzte mir die Nase und weinte dann weiter.

„Wir bekommen eine Tochter, Benjamin“, sagte sie. „Mein Mann wird meine Wohnung verlassen, und dann wirst du zu mir ziehen und gemeinsam mit unserer Tochter und mir dort leben. Es wird alles gut.“

Ich sah sie durch meine verheulten Augen an.

„Das Wichtigste ist jetzt, dass du schnellstmöglich eine Therapie machst“, stellte sie klar. „Wenn du möchtest, helfe ich dir dabei. Wir werden schnell einen Platz finden, und du wirst alles aufarbeiten können, was dich bedrückt. All die zahlreichen Gründe, die dich zum Trinken gebracht haben. Der Psychologe wird dir helfen. Du musst mir nicht sagen, was du mit ihm besprichst, aber das Wichtigste ist jetzt, dass du es für dich machst.“

Vorsichtig nickte ich.

„Glaubst du mir?“, fragte Jenny dann.

Ich nickte wieder.

„Willst du es wirklich, und kannst du dann versprechen, dass du nicht mehr trinkst?“

Ich zitterte am ganzen Körper.

Ich hätte es ihr so gerne versprochen. Aber ich konnte nichts sagen. Meine Stimme war wie gelähmt, ich brachte keinen Ton heraus.

Ich sah sie einfach an. Und ich hoffte, dass sie sah, dass ich es versuchen wollte. Ich wollte es mehr als versuchen.

Ein neues Leben sollte jetzt beginnen, und das war der erste Tag gewesen.


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