Читать книгу Die Verstoßene - Eliette Abécassis - Страница 6

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Heute bin ich sechsundzwanzig. Es sind fast zehn Jahre, die ich mit Nathan verheiratet bin. Meine Schwester Naomi ist zweiundzwanzig. Sie ist eine junge, zierliche Frau mit langen braunen Haaren, olivfarbener Haut und schmalen, mandelförmigen Augen. Sie ist zweiundzwanzig, und es ist Zeit für sie zu heiraten. Nur ist sie in keinen Chassiden verliebt. Sie liebt Yacov, der unser Viertel verlassen hat, und sie liebt ihn seit sie sechzehn ist. Es ist Zeit zu heiraten, und Yacov ist es, den sie heiraten möchte, er ist es, der ihr Herz gewonnen hat. Aber hier wollen sie ihn nicht mehr, denn er ist zur Armee gegangen. Der Rabbi sagt, es sei eine Schande, diesem Land zu dienen, das zu nennen er sich weigert, denn er weigert sich, seine Existenz anzuerkennen, vor der Ankunft des Messias.

Wir wohnen in Jerusalem, aber in Wirklichkeit sind wir nicht dort. Wir sind woanders. Wir sind nirgends. Wir sind in Mea Shearim. Das ist ein Viertel zwischen der alten und der neuen Stadt mit niedrigen Häusern, ineinander verschlungenen Höfen, unendlich vielen Eingängen, Durchgängen, die kaum einer kennt, kleinen Zimmern, Mansarden und Kellern, schmiedeeisernen Balkonen, Räumen, Höfen, geheimen Nischen. Kommt herein, kommt zu uns, ihr werdet die Chassidim sehen, eiligen Schrittes, in den Jeschiwas, wo man nachts studiert, den Tag und wieder die Nacht. Kommt doch rein, seht die Männer mit den Schläfenlocken, den Gebetsmänteln und den schwarzen Bärten. Kommt herein, den Kopf bedeckt, aber kommt rein, denn hier tritt man immerfort ein, von Hof zu Hof, von Flur zu Flur, von einem Laden zum nächsten, kommt herein, und ihr werdet hinter den Spiegel dieses Landes springen, dessen Namen man nicht auszusprechen wagt. Dabei sind wir mitten in Israel, im Zentrum Jerusalems, nahe dem Damaskustor und des arabischen Viertels in der Altstadt. Also, kommt herein, und vielleicht wird die Zukunft euch gehören, wie uns, wenn ihr die Begeisterung erlebt, und dann werdet ihr vielleicht erfahren, warum die Welt erschaffen wurde. Es ist ein Geheimnis, daß nur die entdecken können, die eintreten, gemeinsam, Sand und Meer, in diese unsere große Familie. Kommt herein und seht: wir sind alle gleich mit unserer dunklen Kleidung, unserem geschäftigen Gang und vor allem unseren Augen, Sterne, müde vom Wachen Nacht um Nacht.

Unsere Augen, die sich senken, wenn sie einen Blick streifen, haben so viel gelesen, und sie wissen, daß unser Leben woanders ist, in den kleinen, vollen Straßen, in den verschachtelten Höfen, den engen Gassen und langen Häuserfluchten. Hundert Tore hat unsere Festung, die man zu öffnen bereit sein muß. Hier gibt es sie noch, die Schneider, und die Schreiber schreiben, und die Schlachter schlachten, und die Beschneider beschneiden, und die Perückenmacher fertigen Perücken, und die Hut- und Mützenmacher stellen Hüte her, aber nicht um zu verkaufen, sondern um sich zu ernähren, um zu überleben, denn wir sind arm vor dem Ewigen. Kommt herein, wenn ihr den schwarzgekleideten Mann sehen wollt. An der Tür seines Hauses befindet sich eine Rolle, die er küßt, unter seiner Kleidung ein Gebetsschal, auf seinem Kopf ein Hut, vor ihm eine Dynastie, hinter ihm eine Schar von Kindern. Versteckt in den Gängen und geheimen Toren seiner Seele, so ist er, der Chassid.

Hier, bei uns, heiratet man nicht aus Liebe. Man heiratet dank des Heiratsvermittlers. Die Liebe stellt sich nach Jahren des geteilten Lebens ein, den Kindern und all dem Alltäglichen, das Bindungen zwischen den Geschöpfen knüpft. Deshalb habe ich meinen Mann vor unserer Hochzeit nie gesehen. Als ich ihn jedoch das erste Mal erblickte unter dem weißen Zelt der Brautleute, bebte der Boden unter meinen Füßen, und ich war ergriffen. Ich wußte nicht, ob es Angst war oder starke Erregung. Später habe ich verstanden: für mich war mein Erstgeborenes die Liebe.

Die Verstoßene

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