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3.

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Dieser Raum ist unser Zimmer. Das eigentliche Zimmer, wo sich Nathans Bett, ein Schrank, ein Sessel und ein Schreibtisch befinden, und dann dieser kleine Alkoven, in dem ich mich eingenistet habe. Ich mag diesen Raum mit den weißen Steinen, der an die Tempelmauer erinnert.

Morgens sehe ich ihn seine schwarzen Strümpfe überziehen, seine schwarzen Hosen, ich sehe ihn seine Schuhe zubinden, seinen Mantel anziehen. Er setzt den großen Filzhut auf den Kopf, und dann ist er bereit. Manchmal folge ich ihm bis zur Synagoge, darauf achtend, hinter ihm zu gehen, um ihn nicht abzulenken. Ich liebe es, seinen Körper zu sehen, wie er von vorn nach hinten und von hinten nach vorn wippt, mit Ernst und Eifer. Ich liebe es, ihm zuzusehen, wie er seine Gebetsriemen anlegt. Ich liebe es, ihn zu beobachten, wenn er das letzte Gebet liest, das individuell und leise gelesen wird, mit geschlossenen Füßen und das Gesicht der Westwand zugewandt.

Ich liebe es, für ihn zu kochen. Ich liebe die Art, wie er das Essen ißt, das ich für ihn zubereitet habe, mit Appetit und Bestimmtheit. Ich kenne jeden Winkel seines Mundes. Ich kenne seinen Geschmack: ich weiß, was er mag und was nicht. Ich weiß, daß er nach dem Essen gern einen Kaffee ohne Zucker trinkt. Ich liebe es, wenn er sich beim Essen unterhält, sei es, daß er bestimmte Texte erinnert, die er am Morgen studiert hat, oder über Leute aus der Gemeinschaft spricht. Manchmal beobachte ich ihn so begierig, daß er zusammenzuckt. Ich betrachte ihn. Ich erforsche mich in seinem Blick. Meine Augen sind blau-grau, und ich habe kurzgeschnittenes schwarzes Haar, das ich unter einem Tuch verberge. Meine hohe Stirn ist von feinen Fältchen durchzogen. Als ich klein war, fielen meine langen schwarzen Haare in Locken, wie seine Schläfenlocken. Als ich heiratete, habe ich begonnen, ein Kopftuch zu tragen. Die verheirateten Frauen sollen keinem anderen als ihrem Ehemann gefallen. Deshalb zeigen sie ihr Haar nicht und kleiden sich unauffällig. An den Füßen trage ich flache, geschlossene Schuhe, meine Beine, in dicke Strümpfe gehüllt, sind unter langen Röcken verborgen. Ich bete, ich bereite den Sabbat vor und befolge alle Gesetze der rituellen Reinheit.

Mein Mann studiert in der Jeschiwa, und ich arbeite bei meinem Onkel als Buchhalterin. Vor dem Schaufenster des Ladens meines Onkels sehe ich immerzu Kinder vorbeigehen, verträumt oder frech, schelmisch oder brav, und Schläfenlocken umrahmen ihre blassen Gesichter. Jugendliche sind in schwarze Kaftane aus glänzender Seide gekleidet, über Hosen aus Satin haben sie um die Taille Kordeln gebunden; junge Mädchen tragen Schultertücher, die Beine verschwinden unter ihren Röcken, die Knöchel stecken in Wollstrümpfen.

So leben wir, so haben wir zehn Jahre lang gelebt, mein Mann und ich, bis zu dem Tag, da sich alles veränderte.

Es war am Vorabend des Sabbat, wir saßen am Tisch. Mein Mann tunkte das Brot in das Salz für den rituellen Segen. Dann nahm er ein kleines Stück Brot und aß es. Er biß die Lippen zusammen, rührte den Fisch nicht an, den ich ihm serviert hatte. Er sah auf den Teller, Fisch und Tomaten, ohne zu essen.

Ich fragte:

»Was hast du, Nathan. Warum ißt du nicht?«

Er senkte die Augen, seine Wimpern begannen zu zittern. Er begann zu essen, langsam. Die beiden Tischleuchter standen vor uns, leer, die Kerzen waren zuvor niedergebrannt.

»Das solltest du nicht, Rachel«, sagte er. »Du solltest nicht diese geheimen Treffen zwischen deiner Schwester und Yacov organisieren. Noch dazu im Laden deines Onkels.«

»Naomi und Yacov lieben sich, seit Jahren. Auch wir lieben uns seit Jahren...«

Nathan antwortete nicht.

»Ich erkenne deine tiefsten Gedanken«, sagte ich.

»Was erkennst du?«

»Ich sehe, daß du leidest. Du fragst dich, ob wir nicht fehlen. Deine Freunde sind bereits alle Väter von drei oder vier Kindern. Die Leute aus der Gemeinschaft verachten uns, die anderen Schüler verspotten dich, verspotten mich. Du willst ein Kind, Nathan, du willst einen Sohn. Wenn eine Frau nach zehn Jahren Ehe keine Kinder hat, hat ihr Mann das Recht, sie zu verstoßen.«

»Das Recht«, antwortete Nathan. »Nicht die Pflicht.«

Ich stand auf, öffnete den Herd. Ich nahm die Schüssel. Ich brachte sie. Ich tat Nathan, meinem Mann, auf. Dann sah ich ihn an. Er begann zu essen, langsam. Hin und wieder schob er mit einem Stückchen Brot etwas auf die Gabel. Dann hörte er auf zu essen und lächelte mir zu. Er schien entspannter, befreit von einem Gewicht, das auf ihm gelastet hatte. Er nahm meine Hand, wir standen auf. Wir gingen zum Alkoven.

Er setzte sich auf den Rand des Bettes, zog die Schuhe aus, rollte die Strümpfe herunter. Er glitt unter die Decke. Er zog das Laken hoch. Sein schwarzer Bart hob sich vom Weiß des Lakens ab. Er rückte seine Kippa auf dem Kopf zurecht, schloß die Augen. Dann öffnete er sie wieder und sagte:

»Komm!«

Später bereitete ich einen Tee und brachte ihn meinem Mann ans Bett. Er öffnete die Augen, seine Lippen bewegten sich, um den Segen über den Tee zu sprechen. »Gesegnet seist Du, der Du alles geschaffen hast durch Dein Wort.« Dann erhob er sich, zog sich wieder an, nahm die biblischen Bücher. Er schlug den Buchdeckel des Pentateuch auf und öffnete das Buch des Talmud. Mit einem Blick bedeutete er mir, mich zu entfernen. Weit hinter mir tanzten schwarze Buchstaben auf den vergilbten Seiten. Ich setzte mich auf einen Stuhl in der Küche. Ich hörte aufmerksam: mein Mann las.

»Am nächsten Tag setzte sich Moses, um dem Volk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und die Menschen liefen zusammen und versammelten sich um Moses, von morgens bis abends.«

Ich kannte diese Geschichte und alle Kommentare. Mein Vater hatte sie mich gelehrt als ich Kind war. Ja, ich kannte diese Geschichte. Sie spielt am Tag nach Kippur, an dem Tag, als Moses vom Berg herabstieg...

Die Verstoßene

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