Читать книгу Pyria - Elin Bedelis - Страница 15
Fallen
ОглавлениеAls die Prinzessin sich im Stande sah, wieder aus dem Holzhaus, in dem man sie untergebracht hatte, zu treten, war es bereits erschreckend spät. Das sanfte Sonnenlicht des Abends war wahrlich viel angenehmer als die stechende Hitze des Tages. Koryphelia hatte mit ihrer hellen Haut große Probleme gehabt. Es war ihr ein Rätsel, wie die anderen Cecilian es aushielten, sich durch diese Hitze zu schlagen. Es war schlimmer als in Hareth und hier kam auch noch hinzu, dass es sich um eine garstig verwilderte Umgebung handelte. Sie musste zugeben, dass es sehr hübsch anzusehen war, doch war der positive Anblick von schwirrenden Insekten, weglosem Wald und natürlich beißendem Sonnenlicht überlagert. Wenigstens einen Hut hätte man ihr doch beschaffen können, oder etwa nicht?
Ihre Gedanken an angemessene Kopfbedeckungen und über den primitiven Zustand des Dorfes waren durch die Aussicht, in die Unterwelt zu müssen, stark in den Hintergrund gerückt. Hätte ihr noch beim letzten Sonnenaufgang jemand gesagt, er wollte sie in die Unterwelt bringen, hätte sie vielleicht gelacht, vielleicht hätte sie die Flucht ergriffen und vielleicht hätte sie diese Person über Bord geworfen. Unter keinen Umständen hätte sie erwartet, dass sie ohne jede Widerrede zustimmen würde. Fast interessiert war sie nun an den infernalischen Tiefen aller Welten. Wie maliziös war jener Ort tatsächlich? Niemals hatte die Prinzessin mit jemandem gesprochen, der sich hinabgewagt hatte. Nicht die ältesten Werke der Bibliothek hatten eindeutige Belege aufzuweisen gehabt, nicht die arriviertesten Schriften vermochten Beweise für ihre Theorien über die Unterwelt zu liefern. Die Hoffnung, all die grausamen Dinge könnten allzu sehr pointiert sein, bestand immerhin. Koryphelia hatte in ihrer kurzen Zeit in Machairis Gegenwart bereits gelernt, dass Entscheidungen des Schattens unumstößlich feststanden. Freiwillig war sie hergekommen und wenn sie nun für diese Reise designiert war, würde sie sich dem stellen. Zudem fühlte sie sich verpflichtet, unter Beweis zu stellen, dass sie eminent nützlich sein konnte. Auch wenn ihr bisher nicht bis ins letzte Detail klar war, wie sie jenen Nutzen selbst erkennen sollte.
Unter anderem deshalb hatte sie die Aufforderung der insolenten Faust angenommen. Ein marginales Grundwissen in diversen Verteidigungstechniken hatte sie bereits über die Jahre akquiriert. Sogar ihr Privatlehrer hatte sich dazu hinreißen lassen, ihr nach langem, höchst unköniglichen Drängeln einige tradierte Kampfstile vorzustellen. Die Umsetzung jener alten Überlieferungen war allerdings sowohl beim Lehrer selbst als auch bei Koryphelia am Talent gescheitert. Ein anderes Mal hatte sie einen jungen Soldaten überzeugen können, ihr ein paar wichtige Kampfschritte zu zeigen. Leider hatte ein doppelzüngiger Diener ihrem Vater davon berichtet und dem Soldaten waren infolgedessen Respektlosigkeit und unhaltbares Verhalten vorgeworfen worden. Die Strafe war so grausam ausgefallen, dass jeder Kontakt mit der Prinzessin von da an unter Soldaten gefürchtet war. So war die Prinzessin nun geradezu erleichtert, dieses Angebot des anderen Mädchens erhalten zu haben, weil sie endlich die Gelegenheit bekam, zumindest ein kleines Maß an Selbstverteidigung in der Praxis zu erlernen. Bedauerlich war nur, dass die Zeit dafür so gering ausfiel.
Es galt also, keine Zeit mehr zu verlieren. Sicherlich würde es schwierig werden, wenn die Sonne erst vollends der Nacht Raum gegeben hatte. Das rothaarige Mädchen lehnte an einem mächtigen Baumstamm. Sie beobachtete eine Gruppe junger Zhaki-Männer dabei, wie sie unter Anleitung einer mittelalten Dame eine höchst skurrile Gerätschaft aufbauten. Der Nutzen der vielen Balken und Seile blieb der Prinzessin verborgen, aber da es sich vermutlich um eine profane Alltagsarbeit handelte, hielt sich die Neugierde des Monarchenkindes in Grenzen. Aufrecht und möglichst würdevoll trat sie auf das andere Mädchen zu. »Ich wäre dann bereit«, erklärte sie und lächelte verbindlich. Ein wenig grauste es ihr doch davor, die nächsten Stunden mit dieser impertinenten Person zu verbringen, aber der Aufenthalt an einem vermutlich garstigen Ort wollte ordentlich vorbereitet sein.
»Ich hoffe, du hast dir nicht allzu viel Mühe gegeben, als du dir die Nase gepudert hast«, spottete die Faust, während sie voranschritt, um den Weg zum Übungsfeld zu weisen. »Es wird mir gehörig Spaß machen, dich in den Dreck zu werfen.«
Das bezweifelte Koryphelia nicht. Ein Schatten wie die Faust empfand gewiss ein absonderliches Maß an Genugtuung, wenn sie die Möglichkeit bekam, ein Mitglied des Königshauses bloßzustellen. In diesem Zuge nahm die Prinzessin sich vor, es ihr nicht allzu leicht zu machen. Haltung zu bewahren war stets von allerhöchster Wichtigkeit. Trotzdem honorierte sie eine solch provokante Aussage nicht mit einer Antwort und folgte dem roten Wirbelwind über ein schmales Brett, das als Brücke über den Fluss fungierte. Eine wackelige Angelegenheit, fraglos. Dennoch schaffte es die Prinzessin, die mit einem guten Gleichgewicht gesegnet war, problemlos trocken auf die andere Seite. Die Sonne versank gerade jenseits des Dorfes und tauchte die Welt mehr und mehr in Zwielicht. Die sogenannte Trainingsfläche war allerdings weiter nichts als eine sehr zertrampelte erdige Wiese.
»Nun gut.« Die Faust nahm eine militärisch anmutende Haltung ein und musterte ihre Schülerin streng. Ein Blick, den auch Koryphelias Lehrer gemeistert hatten. »Grundsätzlich musst du immer davon ausgehen, dass niemand dir etwas Gutes will. Wenn ich so an das Reiseziel denke, kann man denk ich sogar mit Sicherheit sagen: Alles will dich töten!«
Das wagte Koryphelia in Frage zu stellen. Schließlich war man technisch gesehen im Normalfall bereits tot, wenn man in die Unterwelt gelangte. Außerdem empfand die Prinzessin es als reichlich kleingeistig, aus Prinzip nicht an ehrenhafte Absichten zu glauben. Möglicherweise war alles unter Generalverdacht zu stellen ein Nebeneffekt, wenn man unter dem Abschaum des Bienenstocks aufwuchs, auch wenn eine Prinzessin sich nicht selten mit linkischen Personen und pelzigen Zungen konfrontiert sah. Nichts davon sprach die Hochwohlgeborene aus.
»Wir als Frauen müssen uns unseren Respekt meistens härter erkämpfen als die Mistkerle.« Grimmig grinsend warf die Faust die roten Locken zurück. »Deshalb schlage ich immer zuerst.« Etwas herablassend musterten die grünen Augen dann die Prinzessin und sie runzelte die Stirn. »Allerdings wirst du wohl keine Zeit haben, dir dort unten einen Ruf aufzubauen, aber es ist trotzdem ein gut gemeinter Rat, wenn ich so an die Schnösel denke, die dir unter den Rock kriechen wollen.«
Bei allen Göttern, die Frivolität dieser Person war wirklich unglaublich. Mit jedem Wort hatte Koryphelia das Bedürfnis, sich zu verteidigen. Sie stellte sogar die Theorie auf, dass dies das eigentliche Ziel der Faust war: Sie so sehr zu beleidigen, dass sie sich wehrte. Nun, da konnte der Schatten lange warten. Wenn man als Thredians Tochter eines lernte, war es, herabwertende Tiraden über die eigene Person zu ignorieren, und Koryphelia würde ganz sicher nicht dazu übergehen, bei jeder Kleinigkeit mit Gewalt zu reagieren.
Wieder musterte die Faust sie und seufzte schließlich. »Im Grunde geht es nur darum, die nächsten Schritte des Gegners vorauszusehen und selbst möglichst unberechenbar zu sein. Im Zweifelsfall musst du immer mehr austeilen als einstecken, im Idealfall wirst du gar nicht erst getroffen.« Sie stellte sich etwas breitbeiniger hin und federte auf und ab. Möglicherweise war die Hose, die das Mädchen trug, tendenziell besser geeignet als das Kleid, das Koryphelias zarte Figur einhüllte. Außerdem war sich die Prinzessin sicher, dass es Situationen gab, in denen beides unmöglich war. Wenn sie beispielsweise an den Dämon dachte, schien es wahrscheinlicher, dass sie überhaupt nicht dazu kommen würde, irgendetwas auszuteilen, aber gehörig einstecken würde. Selbstverständlich galt selbiges auch für die Faust selbst. Das rothaarige Mädchen konnte nicht behaupten, dass sie irgendeine Chance gegen den Dämon hatte. Nicht einmal Zedian, der die exzellente Ausbildung eines Prinzen erhalten hatte, hatte auch nur einen einzigen erfolgreichen Angriff gestartet.
Die nächsten Stunden waren vielleicht die anstrengendsten ihres Lebens. Alles an dieser Situation war befremdlich. Niemals ließ die Faust eine Gelegenheit verstreichen, um diverse Sticheleien auszuteilen und auch Korys Schwachstellen nutzte sie gnadenlos aus. War die Prinzessin zu Anfang noch steif und darauf bedacht, sich dieser Übung würdevoll zu stellen, merkte sie selbst, wie ihr eigenes Verhalten ihr immer fremder wurde. Je häufiger der Schatten sie zu Boden warf, desto ehrgeiziger wurde sie, und in diesem Zuge legte sie auch ihre gewohnten Verhaltensmuster ab. Bald schmerzten ihr der Rücken und die Beine von unzähligen Stürzen und ihre Hände waren wund. Die Anstrengung trieb das Blut in ihren Kopf und Schweiß verklebte ihre blonden Haare, die inzwischen wirr und zerzaust in alle Richtungen standen. Niemals hätte ihr Vater sie so sehen dürfen. Doch trotz allem, trotz der ermüdenden Erniedrigungen und der nervenaufreibenden Langwierigkeit, machte es Spaß, mit der Faust zu trainieren. Zum ersten Mal hatte die Prinzessin das Gefühl, dass ihr Titel ihr nicht im Wege zu einer ganz gewöhnlichen Beziehung zu einem anderen Menschen stand. Schließlich war die Faust zu jedem so und hinter ruppigen Gesten und genervten Kommentaren glaubte Koryphelia, eine aufrichtige und gutherzige Person zu erkennen. Es war erfrischend.
Außerdem war die Faust überraschenderweise eine gute Lehrerin. Sie zeigte Koryphelia, wie sie bestimmten Schlägen am besten ausweichen konnte, verriet ihr Tricks, wie sie ihre mangelnde Stärke ausgleichen konnte, und brachte ihr bei, Angriffe abzuwehren. Viel zu oft machte die Prinzessin Fehler, ärgerte sich darüber und hatte das unfassbare Bedürfnis, in dieser Disziplin Talent zu beweisen. Generell fand sie selbst, dass sie sich für eine allererste Kampferfahrung gar nicht schlecht schlug. Natürlich war sie der Faust hinterher noch immer horrend unterlegen und würde vermutlich auch gegen die meisten anderen Gegner verlieren, was nennenswert an ihrem Selbstvertrauen kratzte. Dennoch musste sie sich auch dafür loben, dass sie es später zumindest schaffte, einigen Schlägen auszuweichen, sich gefährlichen Situationen vorerst zu entwinden und zumindest dazu zu kommen, den ein oder anderen Angriff zu setzen, auch wenn die stets ins Leere trafen. Im Endeffekt hatte Koryphelia das Gefühl, wirklich etwas gelernt zu haben, ob es nun ausreichend war oder nicht.
Erst als sie einander nicht mehr erkennen konnten, weil sich das dunkle Tuch der Nacht endgültig über die Trainingsfläche gedeckt hatte, hielt die Faust inne. Jenseits des Baches schien das Licht zahlreicher Leuchten vom Dorfe herüber und ließ das dunkle Wasser glitzern. »Gut, das reicht.« Die Silhouette der Faust streckte sich und strich sich den weißen Handschuh wieder über, den sie während der Übung abgelegt hatte. Immerhin war auch sie angestrengt. Ein kleines Gefühl von Triumph erfüllte die Prinzessin, während sie sich aufrichtete und den Dreck aus ihrem Kleid schlug, der sich notgedrungen darin verfangen hatte. Ein Bad wäre nun eine angenehme Abwechslung gewesen. Außerdem war Koryphelia so müde, dass sie sich sehnlichst ein Bett wünschte. Schließlich würde sie ihre Kraft am nächsten Tage wohl brauchen.
Ein wenig mutete die Stimmung an, als sei sie gerade aus einem höchst skurrilen Traum erwacht, und die Prinzessin schämte sich, so bereitwillig aus ihrer Rolle gefallen zu sein. Diese Menschen sollten kein Umgang für sie sein und ganz sicher sollte sie keine Sympathien für sie hegen. Es änderte nichts daran, dass es ihr gefallen hatte. Was ein unheimlich schlechtes Zeichen hätte sein sollen, fühlte sich nicht wie eines an. Möglichst schnell versuchte sie, in ihre Rolle zurückzufinden, was nur halbwegs gelang. »Nun, vielen Dank für den Unterricht.« Koryphelia straffte die Schultern. Dummerweise war es so dunkel, dass man keine Gesichtsausdrücke mehr ausmachen konnte.
»Du hast dich gar nicht so dumm angestellt, wie ich erwartet hatte.« Amüsiert schlug die Faust ihr gegen die Schulter, was vermutlich eine freundliche Geste darstellen sollte, allerdings einen dumpfen Schmerz durch ihren Oberarm jagte. Koryphelia war zufrieden mit sich, dass sie die Erwartungen übertroffen hatte. »Vielleicht wäre es trotzdem besser, wenn du vorerst doch nur im Notfall darauf zurückgreifst«, relativierte die Faust dann sogleich.
»Ich bin ohnehin eine Freundin der Diplomatie anstelle von Gewalt«, versicherte die Prinzessin, während sie über das Brett zurückbalancierten und auf das erleuchtete Dorf zuhielten. Nun in den Abendstunden saßen die Menschen um offene Feuerstellen herum oder tanzten sogar zu sehr rhythmischer Musik. Es war ein fröhliches Bild. Auch wenn alles hier primitiv wirkte, war es doch sehr harmonisch und geradezu makellos. Ein seltsamer Gedanke, besonders wenn sie die Situation vor sich mit Festlichkeiten und feierlichen Anlässen zuhause verglich, das so weit entfernt war und dem sie sich mehr und mehr entfremdete, obwohl sie doch noch gar nicht so lange fort war. Unsinnigerweise war das die größte Angst, die sie mit der Reise verband, die noch vor ihnen lag. Eines nicht allzu fernen Tages würde sie in ihr Leben als Prinzessin zurückkehren und wenn sie sich bis dahin so sehr verändert hatte, wie diese ersten Tage suggerierten, dann würde niemand sie wiedererkennen und es war nicht gesagt, dass sie ihren Weg zurück in ihre Rolle überhaupt selbst finden würde. Alles wehleidige Klagen würde da jedoch keinen Unterschied machen und niemand konnte sie davor bewahren, Machairi in die Unterwelt folgen zu müssen. Wozu verschwendete sie also ihre Zeit?
Ein offener Flur säumte das Haus, in dem man sie untergebracht hatte, wie eine Veranda und die einzelnen Räume glichen einem Gasthaus. Die Prinzessin fragte sich, ob vielleicht Pilger und Reisende hierherkamen, um den Frieden und die eindeutige Nähe der Götter zu genießen, die hier an jedem Blatt zu haften schien. Eine andere Erklärung hatte sie nicht für ein Gebäude, das eindeutig für Besucher eingerichtet worden war. Nun, da sie wieder im Fackelschein standen, betrachtete das junge Mädchen die Faust genauer. Liebend gern wollte sie fragen, wie sie dazu gekommen war, zu sein, wer sie heute war. Auch wenn man im Schloss nicht viel über den schwarzen Fürsten und seine Schatten herauszufinden vermochte, war ihr klar, dass man nicht einfach so diesen gefürchteten Titel erhielt. Was konnte ein Mädchen, das nicht viel älter war als Koryphelia selbst, dazu gebracht haben, dass sie bereits seit einiger Zeit unter diesen brutalen Menschen waltete? Es war nicht die einzige Frage, die ihr auf der Zunge brannte. Alle ihre Reisebegleiter waren auf ihre eigene Weise von Rätseln umwoben und auch wenn sie nicht alles voneinander zu wissen schienen, fühlte sie sich noch mehr wie ein Außenseiter, weil sie nichts von dem verstand, was sie verband. Schließlich war sie noch nicht dabei gewesen, als sich die Gruppe durch die gnadenlose Wüste von Hareth geschlagen hatte, um sie zu retten. Wie gerne hätte sie sich etwas effektiver angepasst, anstatt diese Menschen in ihren Annahmen zu unterstützen.
»Nun, ich denke, ich werde mich nun zurückziehen«, sagte sie stattdessen und schenkte der Faust ein verbindliches Lächeln. Etwas auffordernd musterte sie ihr Gegenüber, versuchte noch immer verzweifelt zurückzufinden zum richtigen Verhalten.
»Was schaust du so?«, fragte die andere skeptisch und ihr Tonfall wurde wieder bissiger. »Du erwartest jetzt nicht ernsthaft einen Knicks von mir, oder?« Etwas bedrohlich funkelte sie sie an und in ihren Augen spiegelte sich das flackernde Licht der Fackel, die am Haus hing.
Es sah so einschüchternd aus, dass Koryphelia große Probleme hatte, den Kopf gerade zu halten und die Schultern zu straffen. »Ein ›Gute Nacht, Prinzessin‹ würde schon reichen«, gab sie möglich selbstbewusst zurück und schmunzelte. Sie hatte bereits bei ihrer ersten Begegnung im Palast des Sultans von dem Gedanken Abstand genommen, jemals Respekt von einer der Bienen zu erwarten. So waren diese Leute nicht erzogen und sie tat gut daran, sich dessen zu erinnern.
Schnaubend schüttelte die Faust den Kopf. »Du hast Nerven! Ich hoffe, dass du morgen schrecklichen Muskelkater hast.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, musste allerdings selbst grinsen. »Marsch ins Bett, Prinzessin.« Mit einem letzten Augenrollen wandte sie sich ab und hielt auf eine der Feuerstellen zu. Offenbar war sie noch nicht gewillt, selbst ins Bett zu gehen, aber sie musste ja auch am nächsten Tag nicht in die Unterwelt.
Doch etwas beleidigt, aber auch ein Stück weit amüsiert, hielt Koryphelia auf ihre Tür zu und verschwand in ihrem Zimmer. Ein richtiges Bad hätte ihr besser gefallen, als sich nur in der Waschschüssel vom Dreck zu befreien. Die Vorstellung, jemanden nach einer Wanne fragen und dafür ihr schrecklich schlechtes Silou verwenden zu müssen, war allerdings so abstoßend, dass sie sich lieber mit den Gegebenheiten arrangierte. Als Prinzessin eines Reiches, in dem sowohl Cizethi als auch Silou gesprochen wurde, hatte sie natürlich auch Unterricht in der Sprache der Zhaki erhalten. Da allerdings selbst die meisten Zhaki mehr und mehr dazu übergingen, die Sprache ihres Heimatkontinents zu sprechen, und ihr Vater die Sprache der Gegner als wichtiger ansah, hatte der Fokus häufiger auf Hack gelegen. Infolgedessen sprach sie das nun so gut, dass sie sich auch über komplexe Themen einigermaßen eloquent unterhalten konnte. In Silou dagegen hatte sie nie die Grundlagen überschritten und war entsprechend nicht besonders erpicht darauf, es anwenden zu müssen. Wie hätte sie auch voraussehen sollen, dass sie jemals an einem Ort wie diesem sein würde, wo insgesamt weder Cizethi noch Hack gesprochen wurde?
Das Wasser in der Schüssel war kalt. Eine weitere Unannehmlichkeit, mit der sie nicht gerechnet hatte. An Bord des Schiffes war sie schon allzu sehr verwahrlost, da es in diesen Kreisen scheinbar unüblich war, ordentliche Körperpflege zu betreiben. Nach langem Drängen hatte der Kapitän sich jedoch dazu durchgerungen, ihr jeden Tag einen Eimer mit Frischwasser zukommen zu lassen, was von der Besatzung mit einem großen Stirnrunzeln quittiert worden war. Dabei war sie sich fast sicher, dass der Schatten etwas Ähnliches in Anspruch genommen hatte, ob seines tadellosen Aussehens. Machairi war ohnehin eine höchst rätselhafte Person. Stets schien er sehr genau zu wissen, was er tat, doch das führte auch dazu, dass er niemandem sonst Fehltritte durchgehen ließ. Alles hatte so zu laufen, wie er es geplant hatte. Niemals hätte sie ihm das sagen dürfen, aber es erinnerte sie stark an ihren Vater. Starrsinn war eine Eigenheit, die viele Mitglieder der Königsfamilie, teils auch Koryphelia selbst, an den Tag legten. Dabei waren Flexibilität und Nachsicht wichtige Tugenden. Zudem wirkte es, als habe gerade Machairi die nötigen Ressourcen und Talente, um Fehltritte ohne großes Risiko auszugleichen. Warum also war er so kleinlich mit denen, die ihm folgten?
Unendliche Gedankenströme hielten die Prinzessin wach, als sie sich endlich in ihr Bett gekuschelt hatte. Auch wenn sie vom Training und der Reise müde war, konnte sie in Anbetracht des kommenden Tages nicht zur Ruhe kommen. Ständig sann sie wieder über die Unterwelt nach, jenen furchtbaren Ort, an dem ihre Götter ihr nicht zu helfen vermochten. Sie dachte an die Angst, die sie verspürte, und an den Messerdämon, über den sie eigentlich zu wenig wusste, um ihm an einen solchen Ort zu folgen. Auch über das Harethimädchen dachte sie nach, das noch mit ihnen kommen würde. Ihre eigenen Veränderungen trieben sie um und als sie es im Bett nicht länger aushielt, weil sie sich nicht nur schlecht vorbereitet, sondern auch uninformiert fühlte, stieg sie aus dem Bett, trat ans Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Friedliches Zirpen klang aus dem nahen Wald und noch immer drangen leise Stimmen und Musik durch die Nacht bis an ihr Ohr. Ob Rish ebenso wach lag wie sie? Das andere Mädchen wirkte stets überfordert, vielleicht gar ängstlich und keiner der anderen schien eine besonders hohe Meinung von ihr zu haben. Trotzdem hatte sie etwas bei oder an sich, was sie für diese Reise qualifizierte. Gegen wie viele Wesen der Unterwelt konnte Machairi kämpfen? Man brauchte keine allzu hohen Kompetenzen im logischen Denken, um zu wissen, dass ihre Reise in beunruhigend vielen Fällen zum Tod führen konnte.
Von neuer Angst ergriffen ließ sich die Prinzessin von Cecilia auf die Knie sinken und begann zu beten. Wenn die Götter sie hörten, dann wohl an einem Ort wie diesem. Sie betete zu Zylon, dass er seinen Schutz über sie legen und sie mit den Kräften seiner Welt lenken möge. Sie betete zu Amila, dass ihr Verstand dort unten nicht vernebeln und zu Jico, dass ihr Körper der Belastung standhalten möge. Sie betete zu Mella, dass ihr Herz nicht verzagen und zu Bico, dass die Dunkelheit ihre Seele nicht korrumpieren möge. Koryphelia betete. Sie betete und betete, bis ihr die Augenlider schwer wurden und sie die Angst nicht mehr so sehr spürte. Die Götter waren nah an diesem Ort und irgendwann senkten sie sie sanft in ruhigen Schlaf.
Es war nicht die Sonne, die das Mädchen mit dem ersten Licht des Tages wachkitzelte. Ein lautes Hämmern an der Tür ließ Koryphelia hochfahren. In einer äußerst unbequemen Position lag sie auf dem Boden und hatte für einen Moment das Gefühl, jeder Muskel in ihrem Körper sei verspannt. Stöhnend setzte sie sich auf und fuhr sich durch den Nacken.
Erneut hämmerte jemand gegen die Tür. »Prinzessin?« Die Stimme des Magiers trug durch das unebene Holz der Tür. »Seid Ihr wach?« Immerhin einer, der ihren Titel anerkannte. Leider übertrieb er es zeitweise, sodass sie sich veralbert vorkam. Seufzend stand sie auf und streckte sich.
»Ja!«, sagte sie laut und versuchte das Gewand zu ordnen, in dem sie geschlafen hatte. »Ich bin allerdings noch nicht fertig.« Es fehlte noch, dass er auf die Idee kam, hereinzukommen und sie in diesem Zustand zu sehen. Waren die Kleider, die man ihr gegeben hatte, auch leicht schmutzig vom Kampftraining und nicht besonders fein, waren sie doch besser als das Unterkleid, das sie in diesem Moment trug. Leider würde das orange Ding ihr in der Unterwelt im Wege stehen, aber eine Alternative hatte sie wohl nicht. Einzig das blaue Kleid, mit dem sie aus dem Palast geflüchtet war, befand sich noch in ihrem Besitz. Das eignete sich wohl noch weniger. Man musste sich zu behelfen wissen.
Als habe er ihre Gedanken gelesen, erklang die Stimme erneut. »Darf ich eintreten? Ich habe neue Kleider für Euch!«
Mit einem leisen Seufzen griff Koryphelia nach der Decke, die noch auf dem Bett lag und wickelte sich hinein wie in einen Morgenmantel. »Na gut«, antwortete sie und straffte sich, als die Tür sich öffnete. Der Cecilian wurde schrecklich entstellt von einer Narbe, die sich quer über sein Gesicht zog. So frisch wie sie noch war, konnte er immerhin hoffen, dass sie verblassen würde, wenn mehr Zeit verging, doch sie würde stets auf den ersten Blick auffallen. Er trat ein und verneigte sich angemessen. Über einem Arm trug er einige Bahnen Stoff, von denen ein Ärmel hinabhing. Jemand hatte die Gewänder schwarz gefärbt und Koryphelia spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Händler trugen schwarz, Adlige und reiche Männer und jeder, der mit Toten arbeitete. Eine Dame trug Farben und aufwändige Schnitte – je extravaganter desto besser und das nicht nur in Hareth. Das letzte Mal, das Koryphelia schwarz getragen hatte, war zur Beisetzung und Trauerzeit ihrer Mutter gewesen. Der Tod der Königin hatte das Leben der Prinzessin stark verändert und sie dachte noch oft mit Sehnsucht an die liebevolle Frau zurück, die ihre Mutter gewesen war. Ob sie vielleicht dort war? Welch absonderlicher Gedanke. Selbstverständlich war eine rechtschaffene Frau wie Königin Laurena an Zylons Tafel aufgenommen worden. Sie hatte ein Leben voller Ehrfurcht vor den Göttern gelebt und all ihre Pflichten erfüllt. Wie konnte ihre Tochter das anzweifeln?
»Bitte beeilt Euch, Hoheit.« Der Magier riss sie aus ihren Gedanken und legte die Kleider auf das Bett. »Wir erwarten Euch draußen.« Kurz blieb er noch stehen, wie ein Diener, der weitere Befehle erwartete, und Koryphelia schloss erneut, dass man ihn in einem reichen Haushalt zum Diener erzogen hatte oder er anders mit der Oberschicht in Berührung gekommen war. Ein solches Verhalten gehörte bedauerlicherweise nicht zum Grundwissen eines Bürgers.
»Danke«, sagte sie und der Cecilian verschwand mit einer weiteren Verneigung. Es hatte den willkommenen Nebeneffekt, dass sie sich wieder etwas mehr fühlte wie sie selbst. Vielleicht fehlte ihr der Respekt sogar, auch wenn es furchtbar nervenaufreibend sein konnte, niemandem in die Augen blicken zu können. Das Gefühl schwand, als sie sich in die Kleider zwängte. Sie sonderten einen ausgesprochen abstoßenden Geruch nach Färbemitteln ab und fühlten sich hart und schwer auf der Haut an. Außerdem war es kein Kleid, sondern nur eine Tunika, und entriss sie damit erneut der behaglichen Gewohnheit. Eine Hose mochte praktisch sein, war aber keineswegs damenhaft. Wenigstens war das Oberteil lang genug, um ihr fast bis zu den Knien zu reichen. Es war überraschend, dass die Zhaki solche Kleidung bereitliegen hatten, schließlich mussten sie diese gestellt haben. Sie bezweifelte, dass Machairi einen Satz Ersatzkleider für alle Beteiligten in seinen Manteltaschen hatte. Doch lange Ärmel und Schwarz schienen etwa das Gegenteil dessen zu sein, was in diesem Klima angebracht war.
Eine unwillkommene Nervosität überkam die Prinzessin und paarte sich mit einer tiefen ruhelosen Anspannung, als sie aus dem Holzhaus trat und sah, dass sie bereits erwartet wurde. Die Harethi war in ähnliche Kleider gehüllt wie die Prinzessin selbst, auch wenn sie noch eine Tasche bei sich trug. Der Magier und die Faust standen wartend bei ihnen und der Messerdämon sprach in der Nähe mit Reolet, die heute weit weniger lächelte. Schweigen hüllte den Rest der Gruppe ein und die dunkle Haut der Harethi wirkte gräulich, weil sie so blass war. Koryphelia selbst gab sich Mühe, ihre Gedanken nun so weit wie möglich von ihrem Reiseziel fernzuhalten. So hatte sie es schon immer gemacht, wenn das Lampenfieber ihr sonst den Verstand geraubt hätte. Natürlich war dies kein Ball und die Palette an Fehlern, die sie machen konnte, viel größer, doch das Gefühl war sich dennoch ähnlich, auch wenn es albern wirkte.
Als Machairi wieder zu ihnen trat, waren selbst die beiden, die sie nicht begleiten würden, blasser als gewöhnlich, und eine unheimliche Ernsthaftigkeit lag ihnen auf den Zügen. Noch einmal musterte der Messerdämon die beiden Mädchen genau. Ob er nach etwas Bestimmtem suchte? Es war schwer zu sagen, ob er es gefunden hatte, als er sich nach einem nervenaufreibenden Augenblick abwandte. »Wenn wir in drei Tagen nicht zurück sind, macht ihr euch auf den Weg zurück nach Kefa«, sagte er zu den beiden Cecilian, die das Glück hatten, nicht mit ihnen kommen zu müssen.
»Humbug, wenn ihr nach drei Tagen nicht zurück seid, kommen wir euch holen!« Entschieden funkelte die Faust ihn an. »Du glaubst doch nicht, dass ich ohne dich nach Kefa zurückkehre und dem Fürsten erkläre, dass du in der Unterwelt verloren gegangen bist, oder?« Trotzig wie ein Kind schob sie das Kinn vor.
»Ich gehe nicht verloren«, antwortete der Schatten scharf. Es war interessant, dass die Faust erneut so besorgt um Machairis Gesundheit schien, auch wenn der das nicht zu schätzen wusste.
»Das sagst du jetzt«, fauchte die Faust und man konnte ein Flackern von Angst darin hören.
»Gina.« Die klare Stimme wurde noch eisiger und Koryphelia verfolgte die Situation etwas pikiert. »Du gehst nicht in die Unterwelt.« Der Befehl hatte so viel Nachdruck, dass mehr dahinterstecken musste als reines Prinzip. Vielleicht hatte er noch eine Aufgabe in Kefa für sie, wer wusste schon, wie weit ein Verbrecher wie er plante.
»Wehe, du kommst nicht zurück«, knurrte sie und die Prinzessin wunderte sich, ob das wirklich eine Zustimmung gewesen sein konnte. Was sie allerdings viel mehr beschäftigte, war die Aussage, dass sie drei Tage brauchen konnten, um zurückzukehren. Ohne echten Grund hatte sie geglaubt, dass sie vielleicht einen Tag fort sein mochten. Wie groß konnten die Hallen von Ebos‘ Reich schon sein, auch wenn zahlreiche gequälte Seelen dort unten vegetierten?
Es gab keinen echten Abschied, keine großen Worte, keine Umarmungen. Von dem Magier kam ein knappes »Viel Glück« und die Faust nickte ihnen mit bitterem Gesichtsausdruck zu. Dann begann ihre Reise und die Prinzessin hätte, ebenso wie die Harethi, alles darum gegeben hierbleiben zu können.
Die Vulkaninsel war ein wundervoller Ort oder vielmehr eine Ansammlung wundervoller Orte. Die Natur wusste eine solche Vielfalt aufzuweisen, das Koryphelia sie niemals hätte erträumen können. Schon die Farben waren atemberaubend. Abertausende von Blüten und einzigartigen Pflanzen berührten ihren Weg zwischen saftigen Bäumen und exotischen Tieren. Ein süßer Duft lag in der Luft und bizarre Wesen tummelten sich hier. Die meisten von ihnen waren kaum mehr als ein Schatten oder ein Rascheln im Gebüsch, doch manche schienen in keiner Weise menschenscheu. Ein kleiner schwarzgelber Affe schwang sich durch die Bäume über ihnen und ein pelziges Flughörnchen streifte Koryphelias Schulter, bevor es zu einem neuen Baum sprang. Kunterbunte Vögel glitten durch die Luft oder saßen zwischen den Sträuchern und alles brummte vor Leben. Immer weiter hielten sie auf den Vulkan zu und die Erde unter ihnen wurde steiniger. Faszinierend roter Fels lag unter der ergrauten Haut und glasklare Wasserläufe suchten sich ihren Weg durch Ritzen und Fugen. Bald stiegen auch Wolken warmen Wasserdampfes aus Löchern im Gestein auf und dampfende Wasserbecken waren in der Ferne zu erkennen. Hier und da erstreckten sich noch immer saftige Grünstriche und in der Ferne konnte man das Meer glitzern sehen. Nichts an dieser Schönheit ließ vermuten, welchem Ziel sie sich näherten, und Koryphelia konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wo der ominöse Eingang liegen mochte.
Sie sprachen nicht. Machairi wählte seine Worte ohnehin sparsam, die beiden Mädchen waren zu eingenommen von der Schönheit um sie herum und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, hätten sie wohl nicht gewusst, worüber sie reden sollten. Koryphelia konnte die Harethi dabei beobachten, wie sie ab und an den Blick von der atemberaubenden Natur um sie herum losriss, um nachdenklich den Schatten zu mustern, der ihnen unermüdlich voranschritt. Ob er wohl wirklich kein Interesse an dem Paradies hier hatte? Anspannung ging von ihm aus, ergriff auch das Herz der Prinzessin, und je weiter sie gingen, desto weniger konnte sie die Schönheit genießen. Ihr Ziel drängte sich mit belastender Vehemenz wieder in ihren Kopf und schließlich erdrückte das Schweigen sie zu sehr. »Welch bittere Ironie, dass ein Tor zur Unterwelt inmitten solcher Schönheit liegt.«
Machairi ignorierte sie, aber Rish löste den Blick vom Krater des Vulkans über ihnen und wandte sich stattdessen der Prinzessin zu. »Stimmt. Auch wenn ich das gar nicht so überraschend finde… ganz im Sinne des Gleichgewichts.«
Schmunzelnd nickte Koryphelia. »Ein Hort der Dunkelheit, weit ab jeder Zivilisation und umgeben von schier unwirklicher Schönheit.« Noch einmal sah sie sich um und beobachtete einen kleinen Vogel, der eine Nuss gegen den roten Stein schlug. Jeden Moment erwartete sie, alles um sie herum könnte zerfallen. Es wirkte nicht unwahrscheinlich, dass es sich um nichts als ein Trugbild handelte, das mit einem Wimpernschlag vergehen könnte.
»Was meinst du, wie es aussehen wird?«, fragte die Harethi dann und ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Inzwischen hatten sie einen echten Aufstieg angetreten und das Gehen wurde anstrengender.
Gerade für eine Prinzessin mit Muskelkater, der sich nun mehr und mehr bemerkbar machte, war langes Gehen äußerst gewöhnungsbedürftig und neu. So wurde der Anstieg zum Problem und ihre Atmung beschleunigte sich, während sie sich bemühte, über die Frage nachzudenken. Daran gedacht hatte auch sie schon, aber eine wirkliche Vorstellung hatte sie nicht. Zunächst hatte sie sich einen schwarzen Strudel vorgestellt, hinter dem sich endlose Schwärze erstreckte, dann eine düstere Höhle im Boden, aus dem Ungeziefer gekrochen kam. Beides erschien ebenso wahrscheinlich wie unwahrscheinlich und brachte sie daher nicht weiter. »Düster«, antwortete sie deshalb, um sich einer würdelosen Spekulation zu entziehen.
Das andere Mädchen nickte und entfernte sich ein paar Schritte, um einem Felsen auszuweichen, der mitten in ihrem Weg stand. »Wie weit ist es noch?«, fragte sie dann an den Schatten gerichtet, der bisher vorgeben hatte, sie nicht zu hören. Mit unwahrscheinlicher Leichtigkeit schritt er über den steil ansteigenden Untergrund und fand stets sicheren Halt, während die beiden Mädchen mehr und mehr stolperten und ins Straucheln gerieten.
Eine Antwort erhielten sie nicht. So deckte sich wieder Schweigen über ihre kleine Reisegemeinschaft, während Koryphelia versuchte, sich einigermaßen elegant den Vulkan hinaufzubegeben, und die Harethi damit fortfuhr, zwischen Stolpern und Stürzen den Schatten zu mustern. Worüber mochte sie nachdenken? Was sah sie in ihm?
Schließlich endete der Aufstieg abrupt. Gerade als die Prinzessin befürchtet hatte, würdelos keuchend nach einer Pause bitten zu müssen, verschwand der Schatten einfach hinter einem Felsen. Niemand hätte die Höhle sehen können, bevor sie direkt davorstanden. Vollkommen unauffällig durchbrach sie die zerklüfteten Hänge des Vulkans. Obwohl sie Ausschau gehalten hatte, wäre sie einfach daran vorbeigelaufen, obschon das gähnende Loch doch recht breit war. Man hätte bequem eine Kutsche hineinfahren können. Machairi war zielstrebig hineingetreten und bereits um eine Ecke verschwunden und die beiden Mädchen tauschten einen Blick, bevor sie ihm zögerlich folgten. Koryphelia warf einen sehnsüchtigen Blick zurück, sah die Schönheit der Insel, die sich nun weit unter ihnen erstreckte und einen atemberaubenden Anblick bot, und fragte sich, ob sie jemals wieder Tageslicht erblicken würde. Vielleicht würden sie auf ewig gefangen sein in den dunklen Hallen der Unterwelt.
Fast enttäuscht war die Prinzessin, dass sie nur durch eine gewöhnliche Höhle liefen. Nichts mutete verdorben oder verflucht an. Es war dunkel und unwegsam und man konnte die Hand vor Augen kaum sehen, aber es fühlte sich nicht bedrohlich an. Zuvor hatte sie die Präsenz der Götter eindeutig spüren können und sie vernahm noch immer den verblassenden Schimmer ihrer Macht um sich herum. Dies konnte nicht schon jenes Tor sein, oder etwa doch? Weil sie große Schwierigkeiten hatte, nicht gegen eine Wand zu laufen, fragte sie jedoch nicht, bis es vor ihnen wieder hell wurde. Tageslicht fiel ihnen vom Ende des Tunnels entgegen. Sie waren nur wenige Minuten gelaufen und verwirrt blickte sie zu Rish, um zu sehen, was die dachte. Auch die Harethi blickte dem Tageslicht skeptisch entgegen und warf einen noch verwirrteren Blick auf den Schatten, der mit unverändertem Tempo die letzten Meter durch die Höhle schritt. Er wandte sich nicht um, überprüfte nicht, ob seine Reisegefährtinnen noch hinter ihm waren, und hatte die Höhle schneller wieder verlassen, als sie es begreifen konnten.
Hastig eilten Koryphelia und Rish ihm nach, verwirrt und überrascht, und blieben am Ausgang des Tunnels noch verblüffter stehen. Vor ihnen ging es steil nach unten und sie befanden sich in schwindelerregender Höhe über einer rußschwarzen Steinschicht. Über ihnen thronte der Krater des Vulkans und Tageslicht fiel hinein. Staunend betrachteten sie die Muster, die flüssiges Magma in das Gestein des Berges gegraben hatte und das unter jener Steinschicht brodeln musste. Selbst auf die Entfernung glaubte Koryphelia, feurig schimmernde Risse im Schwarz zu sehen, und erschauderte. Dies war doch wohl nicht das Tor zur Unterwelt, oder etwa doch? Einen Sprung dort hinab würden sie ganz sicher nicht überleben. Der Weg in die Unterwelt konnte damit offen sein, wenn man ein entsprechendes Leben gelebt hatte, doch der Weg zurück musste ein Problem darstellen.
Dann folgte ihr Blick dem Schatten, der bereits mit alter Zielstrebigkeit einen schmalen Pfad entlanglief, der sich vom Ende des Tunnels hinabwand. Kaum zwei Meter konnte er breit sein und an manchen Stellen waren Stücke hinausgebrochen. Jeder mit Verstand hätte diesen Abstieg nicht angetreten. Der Weg endete auf einer Plattform, die zu einer weiteren Höhle führen mochte, denn ein Durchgang schien sich dort zu befinden. Man konnte beobachten, wie die Harethi schluckte, und ein leichtes Zittern ergriff das Mädchen, bevor sie dem Schatten den Abstieg hinabfolgte. Die Kehle der Prinzessin war trocken, doch sie trat den Weg dennoch an. Immerhin passte ein Tor zur Unterwelt hier besser hin als in die Vollkommenheit der Welt außerhalb des Vulkans.
Im Endeffekt musste Koryphelia einsehen, dass der Weg nicht halb so gefährlich war, wie er ausgesehen hatte. Man musste sich nur nah genug an der warmen Wand halten und seine Schritte vorsichtig setzen. Wenn man musste, konnte man vielleicht sogar auf einem Pferd hinabreiten. Es war recht warm im Inneren des Vulkans. Als Mädchen aus Cecilia war es ihr, schon seit sie den ersten Fuß nach Hareth gesetzt hatte, dauerhaft zu heiß. So fiel ihr der Hitzeunterschied kaum mehr auf. Unangenehm war es dennoch und sie begann, unter den langen schwarzen Kleidern zu schwitzen. Am liebsten hätte sie eine Pause gemacht und dann schlug ihr das Adrenalin in den Magen.
Sie waren nur noch wenige Meter vom Ende des Weges entfernt und die Mädchen hatten erfolgreich zu Machairi aufgeschlossen. Jetzt plötzlich spürte sie Dunkelheit und einen weiteren Schritt später konnte sie den gemeißelten Bogen sehen, der in den Stein um den Eingang der Höhle geschlagen war, auf die sie nun zuhielten. Der Torbogen wölbte sich in feiner Meißelarbeit aus dem Stein über den Eingang und Schriftzeichen waren hineingraviert. Sie waren Koryphelia nicht fremd, aber die Könige von Cecilia hatten irgendwann in den letzten hundert Jahren aufgehört, über sie zu lernen, und so hatte die Prinzessin nicht das nötige Wissen, um die Worte im Zusammenhang zu entziffern, die dort in den Stein gebannt standen.
Mit einem unruhigen Gefühl im Magen stand sie direkt vor jenem Torbogen und blickte in die gähnende Leere, die sich dahinter erstreckte. Dunkelheit schlug ihnen entgegen und plötzlich schienen die Geräusche der Höhle um sie herum mehr wie ein weit entferntes Echo. Aus dem Augenwinkel sah sie wie Rish strauchelte, Halt suchte und mit einer unsanften Geste von Machairi davon abgehalten wurde, sich am Tor abzufangen. »Kontrolle, Rish«, knurrte er leise und die Melodik der klaren Stimme wackelte. Mit Abfälligkeit betrachtete der Messerdämon das Tor und ein Ausdruck von Hass zierte seine Züge. Eine solch starke Emotion hatte die Prinzessin noch nie bei ihm gesehen und sie war so furchteinflößend, dass sie beinahe einige Schritte zurückgewichen und in den Abgrund gestürzt wäre.
Mühsam und äußerst wackelig stand Rish, als der Schatten ihren Oberarm wieder losließ, an dem er sie aufgehalten hatte, und man musste sich Sorgen machen, dass sie vielleicht über die Kante stolpern könnte. Koryphelia straffte sich und versuchte, die Angst fortzudrücken, die ihr Herz in kalten Klauen umklammert hielt. »Du bist absolut sicher, dass es keine Alternative gibt, als hier hindurchzugehen?«, erkundigte sie sich ein letztes Mal und musterte Machairi so forschend sie konnte. Sah sie da etwa ein Zögern?
Panik ergriff sie und beinahe wäre sie fortgelaufen. Wenn nicht einmal er sich sicher war, dass er die Situation im Griff hatte, konnte sie nicht aus… Bevor sie den Gedanken beenden konnte, schloss sich ein weißer Handschuh fest um ihr Handgelenk und sie wurde durch das Tor gezerrt. Mit der anderen Hand zog er Rish in gleicher Manier hinter sich her und Koryphelia konnte nur empört aufquietschen, bevor Dunkelheit sie umgab.
Es war, als hätte sich plötzlich Druck auf ihre Ohren gelegt. Es gab kein Geräusch, nicht einmal ihren eigenen panischen Aufschrei konnte sie hören, als sie begriff, dass sie fiel. Sie fiel und fiel und fiel durch die Schwärze. Sah nichts, hörte nichts. Alles, was sie spürte, war ein eiserner Griff um ihr Handgelenk und das grausame Gefühl in ihrem Bauch, das nur entstand, wenn man mit rasanter Geschwindigkeit irgendwo hinabraste.
Sie würden sterben. Egal was am Ende dieses Falls lag, wenn es denn ein Ende gab, den Aufprall würden sie nicht überleben. Die Prinzessin erwartete, in Tränen auszubrechen, aber nicht einmal das konnte sie. Erstarrt fiel sie durch die Dunkelheit und erwartete den Aufprall. Der Dämon hatte sie alle getötet. Konnte man trotzdem an Zylons Tafel landen, wenn man beim Aufprall in der Unterwelt starb? Oder war sie vielleicht in dem Moment gestorben, als Machairi sie durch das Tor gezerrt hatte? Immerhin war es dann schmerzfrei gewesen. Doch sie konnte doch nicht für den Rest der Unendlichkeit durchs Nichts fallen.
Je weiter sie fielen, desto kälter wurde die Angst um ihr Herz und sie war sich schrecklich sicher, das Sterben noch vor sich zu haben. Sie verlor das Gefühl von Zeit und Raum und wurde wahnsinnig in der anonymen Schwärze. Wäre Machairis Griff nicht so spürbar gewesen, hätte sie sicherlich den Verstand verloren. Es war so furchtbar leer.
Der Aufprall war ähnlich unerwartet wie der Fall. Plötzlich war der Boden einfach da. Es war nicht schmerzhaft. Sie spürte kein Bremsen, als sie plötzlich aufhörte hinabzurasen. Stockstarr lag sie auf steinigem und sandigem Untergrund, der zuvor schlicht nicht dort gewesen war, und konnte ihr eigenes Keuchen wieder hören.
Unheimliche Schwermut fing sie ein und erst langsam kehrte das Gefühl, die Gewalt über ihre Gedanken und ihren Körper zu haben, zurück. Jede Faser ihrer physischen Form schien überreizt zu sein und zu schmerzen. In einem unheimlichen Kraftakt öffnete sie die Augen einen Spalt und fühlte sich so schrecklich schwer. Ganz langsam kehrte das Leben in sie zurück. War sie tot? Nein. Hatte sie sich alle Knochen gebrochen? Vermutlich. Es fühlte sich jedenfalls unmöglich an, sich zu bewegen.
Es dauerte einen Augenblick, aber sie schaffte es, die Augen ganz zu öffnen. Ihre Hand lag direkt neben ihrem Gesicht und sie betrachtete die Haut an ihren Fingern. Sie wirkte farblos und grau. Vorsichtig versuchte sie, einen Finger zu bewegen, und zu ihrer Überraschung war es überhaupt kein Problem. Tatsächlich kam mit dieser Bewegung die Wahrnehmung ihres eigenen Körpers fast schlagartig zurück und Koryphelia sah sich in der Lage, vorsichtig die Extremitäten zu bewegen und sich dann langsam auf die Seite zu drehen, damit ihr Gesicht nicht weiter auf einer Seite in den Dreck am Boden drückte.
Langsam und bedacht setzte sie sich auf und betrachtete sich. Die schwarzen Kleider waren noch da und sie saß auf einem vollkommen grauen Boden voller kleiner Steinchen. Ein graues Grasbüschel wuchs neben ihrem Fuß und langsam drehte sie den Kopf. Das Erste, was sie sah, war Machairi, der neben einem Körper am Boden hockte und auf das Mädchen einredete. Rish bebte. Ihr Körper zitterte, als schüttle jemand sie unkontrolliert und schnell, und ihre Körperteile zuckten willkürlich. Die Augen hatte sie weit aufgerissen und Panik lag darin. Hatte sie einen Anfall irgendeiner Art?
Mühselig kam die Prinzessin auf die Beine. Es war, als würde man hier stärker an den Boden gezerrt. Erst als sie die graue Haut der beiden anderen sah, fiel ihr ihre eigene Hautfarbe wieder ein, und sie sah erneut an sich herab und danach panisch in die Umgebung. Alles war grau. Es war, wie durch einen Trauerschleier zu blicken. Sie standen in einer dürren Steppe aus grauem Sand und sogar robuste Pflanzen wuchsen aus dem kargen Boden. Nirgends war auch nur der kleinste Fleck Farbe zu sehen. Es war beängstigender, als es hätte sein sollen. Auch die seltsame Verzweiflung war nicht gewichen. Alles an diesem Ort war frustrierend und machte ihr Herz schwer. Unkoordiniert, als müsse sie das Laufen erst neu lernen, stolperte sie zu dem Harethimädchen und fiel neben ihr wieder zu Boden. »Was ist mit ihr?«, fragte sie ängstlich und schrie aus Versehen viel lauter als beabsichtigt. Waren die Farben verschwunden, schienen Klänge hier ganz neue Nuancen zu bekommen und ihre Stimme war ein hässliches Knarren, das durch viele Schichten gleichzeitig gedrückt zu werden schien.
Das Schwarz der Augen des Dämons war fast beruhigend, weil sich nichts daran geändert hatte. Er musterte sie kurz und warf dann einen Blick hinab auf das Mädchen. »Leén«, sagte er sanft und Koryphelia starrte ihn perplex an. Nicht wegen des Namens, sondern weil seine Stimme hier noch eindrucksvoller war als zuvor. In der seltsamen Feinheit des Klanges an diesem Ort trug seine Melodie perfekt durch die Ödnis. »Erinnerst du dich an gestern?« Der beinahe weiße Handschuh legte sich an ihr Kinn und er zwang das zitternde Mädchen ihn anzusehen. »Kontrolle.«
Es war ein nicht zu verleugnendes Maß an Zärtlichkeit in der Art, wie er mit ihr umging, auch wenn es unter der Grobheit der Aufforderung fast verloren ging. Koryphelia erinnerte sich, dass er Rish am Vortag nach der unseligen Offenbarung des Reiseziels mitgenommen hatte. Noch immer zitterte die Harethi, aber ihre sonst braunen Augen hafteten an dem Schatten und die Panik wich tiefergehender Angst. Trotzdem wurde das Zittern etwas weniger und Koryphelia konnte sich gleich mit beruhigen. Ihr war noch immer unwohl und immer wieder sah sie über die Schulter, weil sie sich schrecklich beobachtet fühlte und erwartete, jeden Moment irgendwelche Monster auftauchen zu sehen. Sie hatte mit steinernen Hallen gerechnet. Nicht mit farbloser Steppe. Irgendwie hatte sie nie in Betracht gezogen, dass die Unterwelt tatsächlich eine Welt sein mochte. Wie groß war dieser Ort wohl?
Zögernd sah sie zurück zu Rish, die sich langsam entspannte und dann von Machairi in eine sitzende Position gezogen wurde. Noch immer schüttelte sie von Zeit zu Zeit ein Zittern, aber langsam kam sie dazu, sich auch einmal umzusehen. Dann sah sie noch unglücklicher aus. Ihre Lippen bebten. Koryphelia zog instinktiv auch die Knie an und schweigend saßen sie beide im Dreck und fragten sich, was nun geschehen sollte. Schwermut übertrug sich von einem zum anderen und zusammen mit ihren schweren Körpern und der hoffnungslosen Taubheit dieses Ortes gab es keinen Grund mehr für Zuversicht.
Machairi dagegen stand auf und drehte ein Messer durch die Hand. Kurz sah er sich um und schien nach etwas zu suchen. »Los«, sagte er schließlich, die Stimme so unnatürlich perfekt, dass sie nicht an diesen Ort passen wollte – was es noch schrecklicher machte, hier festzusitzen. Es gab nicht einmal einen Torbogen wie auf der anderen Seite, durch den sie hätten gehen können. Wohin sollten sie also los?
Machairi sah das anders. »Aufstehen«, forderte er in einem etwas schärferen Tonfall. Der war hier noch durchdringender als in der echten Welt, in der sie besser geblieben wären.
»Warum?«, murmelte die Prinzessin und starrte auf den grauen Boden zwischen ihren Füßen. »Wir sitzen hier fest.« Es war eine grausame Wahrheit und sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie es längst gewusst hatte, bevor sie durch die Unendlichkeit gefallen war. Sie hatten die Welt der Sterblichen verlassen. Es gab keinen Weg zurück. »Niemand ist je zurückgekehrt. Es gibt kein Tor von dieser Seite. Also können wir genauso gut hier sitzen bleiben.« Es war nicht üblich für die Prinzessin so schnell aufzugeben, doch dieser Ort wollte nichts anderes zulassen. Er drückte ihr aufs Gemüt und machte jedes Hoffen überflüssig und selbst ihre Stimme monoton.
»Auf die Füße. Jetzt!«, befahl Machairi und der Griff um das Messer verstärkte sich sichtlich. »Das ist kein Ort zum Sterben.« Hart sah er auf beide hinab und war dabei nicht halb so furchteinflößend für Koryphelia, wie er es sonst gewesen wäre.
»Wir sind doch schon tot.« Sie schüttelte den Kopf. Warum war ausgerechnet er derjenige, der törichte Hoffnung hegte? Rish sagte nichts. Sie saß starr da und war bereits weit abwesend. Vielleicht war es besser so. Früher oder später verlor man ohnehin den Verstand hier. Je früher man nichts mehr mitbekam von dem Elend, desto besser.
Der Schatten stieß ein wütendes Geräusch aus und plötzlich saß der weiße Handschuh in Koryphelias Tunika und er riss sie äußerst unsanft auf die Füße. Die Klinge blitzte sogar in der grauen Welt um sie herum. »Muss ich dir ein Muster in die Haut ritzen, oder glaubst du mir, dass du noch sehr lebendig bist?« Der eisige Tonfall hallte durch die vielschichtige Klangwelt dieses Ortes. Eine Spur von Wahnsinn blitzte in den schwarzen Augen und vielleicht hatte sogar er Angst an diesem Ort. Koryphelia schluckte vorsichtig und schüttelte den Kopf. Wer wusste schon, wie viel sie hier fühlen würde? Und wenn er sie zwingen wollte, hatte sie keinen Grund, ihm nicht zu folgen. Viel zu verlieren gab es schließlich nicht, auch wenn sie sich schrecklich träge und mutlos fühlte. Noch einen Augenblick hielt er ihren Blick, bevor er sie losließ und dann wandte er sich an Rish. Wortlos hielt er ihr eine Hand hin und sah sie auffordernd an. Kommentarlos und etwas unwillig ließ auch das andere Mädchen sich auf die Füße ziehen und wirkte fast zu müde, um zu stehen. »Da oben ist unser Tor.« Er deutete gen Himmel. »Je schneller wir hier fertig sind, desto schneller können wir zurück.«
Zögernd legten beide Mädchen den Kopf in den Nacken. Der Himmel war ebenso farblos wie der Rest der Welt. Fünfzehn Monde hingen über ihren Köpfen mit blassem Licht am Firmament. Bis auf drei waren diese Monde alle verdunkelt, als habe sich ein Schleier über sie gedeckt. Kaum zu erkennen waren sie vor dem grauen Himmel, aber der, auf den Machairi deutete, war erleuchtet und so schön, dass es sich schon fast wie ein Hoffnungsschimmer anfühlte. Natürlich war ein Mond unerreichbar. Wenn die Monde tatsächlich die Tore waren, was angesichts der Anzahl nahelag, war es nicht weiter verwunderlich, dass niemand sie je erreicht hatte.
»Wie sollen wir die erreichen?«, fragte auch die Harethi leise. Ihre Stimme war ebenfalls viel schöner an diesem Ort, auch wenn sie rau klang. Warum war nur Koryphelias Stimme so eine Katastrophe?
»Zuerst das Orakel«, war die einzige Antwort. Bestimmt wusste er es selbst nicht. Es war doch ohnehin Zeitverschwendung. Sie sollten sich hier hinsetzen und es nicht versuchen. So würden sie sich wenigstens die Enttäuschung sparen. Hätte Rish sich nicht in Bewegung gesetzt, als der Schatten sich in eine Richtung drehte, um ihm zu folgen, wäre Koryphelia einfach zurück auf den Boden gesunken. Sie wollte allerdings noch viel weniger allein sein, als enttäuscht zu werden. So stapfte sie Machairi hinterher, während Traurigkeit wie Blei an ihren Füßen hing. Verloren …