Читать книгу Pyria - Elin Bedelis - Страница 19
Stadt der Lügen
ОглавлениеDie Unterwelt war so unwirklich, dass Leén beinahe geglaubt hätte, durch einen besonders finsteren Traum zu laufen. Noch immer war sie benommen und es kostete sie einiges an Kraft, auf den Beinen zu bleiben. Machairis Dunkelheit war stets nur temporär gewesen. Überwältigend und plötzlich hatte sie sie erdrückt und dann nach kurzer Zeit wieder losgelassen. Hier war es anders. Die Finsternis war allgegenwärtig. Von allen Seiten drückte sie auf Leén ein und ihr Licht focht tief in ihrem Inneren einen unaufhörlichen Kampf dagegen, den es nicht gewinnen konnte. Es war ihr am Vortag kaum gelungen, das Licht zurückzuhalten, und sie hatten viel zu schnell aufhören müssen. Nun konnte sie es kaum erreichen, spürte nur einen Schatten der üblichen Kraft und wünschte sich, Machairi hätte sie gezwungen, weiterzuüben. Hätte sie echte Kontrolle gelernt, hätte sie es vielleicht festhalten können.
Schon im Fall hatte sie die Kontrolle verloren. Die plötzliche Dunkelheit und Leere waren so allgegenwärtig und unendlich gewesen, dass sie keine Chance gehabt hatte, dagegen zu stehen. Als das Licht nicht hatte ausbrechen können, hatte die Panik sie überkommen und für viel zu lange Zeit war sie in einen unangenehmen Zustand verfallen, in dem ihr Körper trotz ihrer Ohnmacht gezuckt hatte und versucht hatte, sie in Sicherheit zu bringen. Es war ihm natürlich nicht gelungen. Ironischerweise war es ausgerechnet Machairis Stimme gewesen, die sie zurückgebracht hatte. Sie würde wohl nie ganz verstehen, was dieser Dämon an sich hatte, dass er sie in beiden Extremen beeinflussen konnte.
Wie durch ein Wunder hatte sie trotzdem genug Hoffnung schöpfen können, um aufzustehen und dem Dämon durch seine Heimat zu folgen. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie irgendetwas Lebendiges von hier kommen sollte. Erst recht nicht etwas so Perfektes wie Machairi. Doch was sollte er anderes sein als ein Dämon oder eine andere Kreatur aus der Unterwelt, wenn die Dunkelheit ihm so anhaftete wie ihr das Licht? Vielleicht war er ihr Gegenstück, oder sie sein Gegenstück. Wenn immer Gleichgewicht herrschen musste, konnte es doch sein, dass einem Götterkind ein Dämonenkind folgte, oder? Der Gedanke, dass Ebos persönlich sein Vater sein könnte, drängte sich unweigerlich auf und ließ ihr jedes Mal wieder beinahe die Beine einknicken. Ihn fürchtete sie am meisten. Es war hier schließlich nicht ausgeschlossen, dem Herrn der Unterwelt persönlich zu begegnen.
Sie hätte kotzen können, aber glücklicherweise war ihr Magen leer. Immerhin schien auch Machairi diesen Ort nicht zu mögen. Sie hatte trotz ihres Schwindelanfalls mitbekommen, dass er eindeutig gezögert hatte, bevor er sie hier hinabgezerrt hatte, und er hatte auch schon zuvor mit Bitterkeit von der Unterwelt gesprochen. Vielleicht hatte er Streit mit seiner Familie oder gar mit Ebos selbst und wollte deshalb nicht hierher zurück. In dem Fall waren sie sicher dazu verdammt, hier ihr Ende zu finden. Stöhnend rieb Leén sich die Stirn. Es war schwierig, hier klare Gedanken zu fassen, so sehr wie ihr die Dunkelheit aufs Gemüt drückte. Trotzdem war es der einzige Weg, um bei Verstand zu bleiben.
Es war fast ermutigend zu sehen, dass es Koryphelia noch schlechter ging als ihr. Die Prinzessin schien durch die Mutlosigkeit, die hier sogar in der Atemluft hing, so eingenommen, dass sie dort an Ort und Stelle sitzen geblieben wäre, hätte Machairi sie nicht gezwungen weiterzugehen. So einfach hätte nicht einmal Leén aufgegeben, auch wenn sie die Versuchung gespürt hatte. Inzwischen drehte sich Leén immer wieder um, um zu überprüfen, ob das jüngere Mädchen überhaupt noch da war oder ob sie sich einfach irgendwo hatte zu Boden sinken lassen. Wieder wirkte es, als würde Machairi sie ausblenden und sich gar nicht darum kümmern, dass es gut passieren konnte, dass sie aus Versehen einen von ihnen verloren. Immerhin war die Landschaft hier so eben, dass man sie noch eine ganze Weile hätte sehen können, bevor sie für immer verloren war. Überhaupt war es Leén ein Rätsel, wie der Schatten wusste, in welche Richtung er sich halten musste. Es gab keine Sonne, keine Sterne und die Monde waren im gleichen Abstand als Kreis im Himmel über ihnen verteilt. Wie sollten sie überhaupt wieder entkommen, wenn sich die Portale in solcher Höhe befanden? Es war schön und gut, dass ihr Licht, falls es denn erreichbar sein würde – denn gerade fühlte es sich weit fort und unerreichbar an –, das Tor vielleicht öffnen konnte, aber dafür waren sie noch lange nicht nah genug dran, um es überhaupt zu versuchen. Sie hoffte, dass Machairi diese Frage bedacht hatte. Sie tröstete sich damit, dass er vermutlich schon einmal hinausgegangen war – außer er war wie sie unter den Menschen geboren, dann waren sie vielleicht doch verloren. Der Gedanke, dass er sie anhand einer Vermutung hier hinabgezerrt hatte, die ihn hoffen ließ, dass sie es auch zurückschaffen würden, war beängstigend. Der Gedanke war leider nicht besonders abwegig, schließlich schien er stets überzeugt, dass er genau die richtigen Schlüsse zog. Doch was, wenn er nicht unfehlbar war? Es war nutzlos, sich darüber jetzt Sorgen zu machen. Das hielt sie nicht davon ab, es trotzdem zu tun.
Je länger sie sich durch die Steppe schlugen, desto verwirrter war Leén davon. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es eine so große leere Fläche in der Unterwelt geben würde. Überhaupt war es komisch, dass es sogar Pflanzen gab. Wovon lebten die hier, wenn es weder Wasser noch Sonnenlicht gab? Es war zwar nicht ausgeschlossen, dass es Nacht war und die Sonne bald aufgehen würde, aber besonders wahrscheinlich kam das Leén nicht vor. Kein Ort von solcher Trostlosigkeit konnte jemals von einem Sonnenstrahl berührt worden sein. Seltsam war auch, dass es keine Geräusche gab. Ihre Stimmen hatten unheimlich seltsam und viel feiner geklungen, aber von der Umgebung drang kein Laut an ihr Ohr. Schon nach kurzer Zeit fühlte es sich an, als habe sich Druck auf ihre Ohren gelegt. Zwischendurch glaubte sie gar, es wäre noch schlimmer als unter Wasser, aber dann schnippte sie mit den Fingern neben ihrem Ohr und hörte, wie das Schnalzgeräusch die Stille durchdrang. Es war viel leiser, als es oben gewesen wäre, und auch ihre Schritte auf dem teils sehr steinigen Boden waren kaum zu hören. »Weißt du, wo du hinmusst?«, fragte sie schließlich laut an Machairi gewandt, um endlich wieder etwas zu hören und die Stille zu durchbrechen und die Gedämpftheit zu überwinden. Wenn sie ehrlich war, wollte sie auch gerne noch einmal hören, wie seine wundervolle Stimme hier klang. Es war ein lächerlicher Gedanke, aber seine feine Melodik fuhr ihr hier noch mehr in den Magen als vorher. In der Taubheit dieser Welt war das beinahe angenehm und inzwischen brauchte sie dringend etwas neue Motivation, sonst würde sie bald die sein, die sich auf den Boden sinken ließ und nicht weiterlief.
»Nicht so laut, Rish. Wir wollen keine ungewollte Aufmerksamkeit«, antwortete er mit alter Ruhe und in perfekter Harmonie. Diese Stimme war ebenso unnormal wie die Präzision, mit der er seine Messer warf. Sie wollte mehr davon hören, außerdem hatte er ihre Frage nicht beantwortet. Nebenbei fragte sie sich, wer oder was ihnen hier Aufmerksamkeit schenken sollte. Bis auf das farblose Gras gab es hier nichts, dem sie irgendeine Lebendigkeit zugeschrieben hätte.
Etwas leiser versuchte sie es noch einmal. »Weißt du, wo es ist?«, fragte sie. Ihre Stimme war zwar unangenehm fremd, aber tatsächlich überraschend wohlklingend. Es klang, als würde sie in der Luft in ihre Bestandteile zersetzt und in ihrem Ohr neu und besser wieder zusammengefügt.
»Ja.« Er wandte sich nicht zu ihr um, aber immerhin antwortete er ihr. Seit sie ihn kannte, hatte sie eine Antwort ernsthaft zu schätzen gelernt.
»Weißt du auch, wie wir dahin kommen?« Die Faszination über die Präzision der Töne rückte hinter ihrer Sorge zurück. Wissen, wo es war, konnte er auch über irgendwelche Überlieferungen oder Reolet, schließlich musste auch jemand das Orakel hier hinabgebracht haben. Vielleicht war jene Person erfolgreich in die Welt der Lebenden zurückgekehrt?
Dieses Mal ließ die Antwort länger auf sich warten. Ein wenig hoffte sie, dass er einfach nur genervt von ihren Fragen und nicht wirklich unsicher war. »Theoretisch«, sagte er schließlich und das klang überhaupt nicht verheißungsvoll.
Etwas schockiert starrte sie seinen Rücken an und ballte die zitternden Finger zu Fäusten. Auch die Prinzessin schien aufgehorcht zu haben. Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen, die selbst in der Farblosigkeit hier zu sehen waren. Sah Leén selbst etwa auch jetzt schon so aus, als habe sie tagelang nicht geschlafen? Vielleicht, so fühlen tat sie sich allemal. »Was soll das denn heißen?«, fragte die Königstochter alarmiert und beide Mädchen erwarteten bangend eine Antwort.
Machairi blieb stehen und drehte sich zu ihnen um. Es hätten ebenso gut Funken von den schwarzen Augen stieben können. »Ich bin nie dort gewesen. Hört auf mit der Panik. Beide! Das zieht den Ärger an.« Der scharfe Unterton klang hier ebenfalls stärker aus seiner Stimme als sonst. Es war wahrlich faszinierend und in diesem Falle geradezu furchteinflößend. Kurz machten sie sich klein unter dem tadelnden Blick, den er ihnen zuwarf, dann drehte er sich um und ging weiter.
Korys Lippen bebten und sie sah aus, als würde sie im nächsten Moment in Tränen ausbrechen. Ihre Augen schwammen und Leén sah gerade noch rechtzeitig, dass sie Anstalten machte, sich hinzusetzen. Hastig griff sie nach dem Arm der Prinzessin und zog sie weiter. Sie mussten weitergehen, das hatte sie in der Wüste gelernt. Es war bezeichnend, dass Hareths Wüste gegen diesen Ort geradezu einladend wirkte, obwohl sie gedacht hatte, dass es keine unangenehmeren Voraussetzungen geben konnte. Sie war nicht bereit herauszufinden, wie viel schlimmer die Unterwelt werden konnte, denn Machairis Anspannung war zwar subtil, aber trotzdem vorhanden. Er versteckte sie noch besser als damals, als er den Drachenbiss zu verbergen versucht hatte, aber seit sie hier waren, war er noch wachsamer und wirkte fast besorgt. Vielleicht äußerte sich dieser Zustand darin, dass er Antworten gab, wo er sonst geschwiegen hätte. Er war eben doch nicht vollkommen. Dämon oder nicht, er hatte zumindest ein wesentliches Maß Menschlichkeit und damit musste es möglich sein, ebenso stark zu sein, wie er es war.
Leén beschloss, dass sie ihm wohl oder übel vertrauen mussten, wenn sie nun schon hier waren. Das Einzige, was sie tun konnten, war, ihm kein Klotz am Bein zu sein. Es konnte doch nicht so schwierig sein, sich ebenso zusammenzureißen wie er. Schließlich musste er die niederdrückende Schwere hier ebenso fühlen. Mit diesem Beschluss zog sie Kory mit sich und brachte sich selbst neuen Antrieb.
Diese neue Motivation aufrechtzuerhalten, war anstrengend und wurde hart auf die Probe gestellt, doch irgendwann tauchten vor ihnen dunkle Schatten auf, die zuvor nicht dort gewesen waren. In einer Welt aus Graustufen war das schwer festzumachen, aber je näher sie kamen, desto mehr glaubte sie, dass es sich um eine Art Dorf handeln mochte. Lebten Dämonen in Dörfern? Wie viele Dämonen gab es überhaupt?
Leén wusste nicht, worauf sie da zusteuerten. Klar war nur, dass Befestigungen bedeuteten, dass dieser Ort bevölkert war oder es zumindest gewesen war. Das war unvorstellbar. Sie hatte sich die Unterwelt als eine einzige große Folterkammer mit Lavaflüssen und einer Menge Feuer vorgestellt. Dämonen als entstellte Menschen oder unwirklich perfekte Menschen wie Machairi würden die Folter ausführen und über alldem hätte ein Thron gestanden, von dem der Herr der Unterwelt das Leiden überwachte. Ein Dorf passte in dieses Bild nicht hinein.
Bald schon konnte man die ersten Häuser von den anderen abgrenzen und als sie noch etwas näherkamen, konnten sie hinter jenen Gebäuden eine gewaltige Mauer emporragen sehen. Bedrohlich erhob sich das Bauwerk über die Ebene und schon von Weitem wollte man am liebsten die Flucht ergreifen. Andererseits wollte Leén ohnehin schon die ganze Zeit die Flucht ergreifen und immerhin sah es aus, als kämen sie ihrem Ziel so näher. Kory wimmerte leise und stemmte sich mehr und mehr gegen Leén, sodass sie bald Schwierigkeiten hatte, die Prinzessin zum Weitergehen zu bewegen. Der Anstrengung war Leén nicht gewachsen und als das Mädchen sich schließlich endgültig auf den Boden sinken lassen wollte, konnte sie sie nicht daran hindern. »Komm schon«, bat Leén sie flehend. »Mach es uns doch nicht noch schwerer.« Aufzugeben war keine Lösung, das musste ihr doch klar sein.
»Was immer hinter dieser Mauer liegt, ist nichts für mich«, hauchte die Prinzessin, starrte angstvoll auf die Mauer und kauerte sich weiter am Boden zusammen. »Es ist furchtbar hier«, wimmerte das Mädchen und von ihrem Stolz war nichts mehr übrig.
Leén seufzte und hockte sich vor ihr hin. »Die Ewigkeit hier zu verbringen ist doch auch keine Lösung, oder?« Sie streckte eine Hand aus. »Wenn wir wieder zurückwollen, müssen wir jetzt weitergehen.« Es kostete sie ein riesiges Maß an Beherrschung, sich ein Lächeln abzuringen, aber ihr Überlebenswille hatte endlich wieder angeschlagen. Sie wollte nicht für alle Ewigkeit in dieser grausigen Melancholie feststecken und es würde ihr gelingen, einen Weg zu finden. Machairi hatte zumindest einen Plan und wenn der nicht funktionierte, würde sie eben auf etwas anderes zurückgreifen müssen. »Wirklich etwas zu verlieren haben wir nicht, oder?«
Koryphelia schniefte und sah erneut der Mauer entgegen und zu Machairi, der immerhin stehen geblieben war und auf sie wartete. Interessiert musterten seine schwarzen Augen die beiden Mädchen und wie so oft fragte sich Leén, was er wohl dachte. Korys Tränen fielen auf den staubigen Untergrund und wurden sofort davon verschlungen. Kein feuchter Fleck blieb zurück und nichts zeugte davon, dass vor wenigen Sekunden ein Tropfen zu Boden gefallen war. Nicht einmal Fußspuren hatten sie hinterlassen. Was ein verfluchter Ort. Vielleicht war es innerhalb befestigter Mauern besser als in dieser trostlosen Endlosigkeit. Zögernd schob Kory die Finger in Leéns Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. Noch immer unglücklich, aber vielleicht etwas weniger entmutigt ging sie weiter und immerhin dieses Hindernis war für den Moment überwunden.
Die Häuser entpuppten sich aus der Nähe als Ruinen. Manche waren einfach leerstehend, ohne Türen in den Angeln und mit gähnend leeren Fenstern. Bei anderen war der Dachstuhl eingefallen und ins Innere gebrochen und bei wieder anderen stand nicht mehr als das Fundament und kleine Umrisse ließen erahnen, dass dort mal ein Haus gewesen sein mochte. Direkt vor der Mauer lag das kleine Dorf und als sie zwischen den Häusern entlangschlichen, fühlte Leén sich unangenehm beobachtet von den leblosen Ruinen und dunklen Ecken. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht zu fragen, wer hier gelebt hatte. Jedes Geräusch, so wunderschön es auch durch die Luft getragen werden mochte, konnte sie verraten. Wer wusste schon, was in diesen alten Gemäuern lauerte? Ein eiskalter Schauer nach dem anderen rann ihr über den Rücken und auch Koryphelia ging nun wieder von sich aus schnell genug. Sie konnte es wohl genauso wenig abwarten wie Leén, endlich dieses Nichts zu verlassen, und sie wollte sicher nicht allein zurückbleiben.
Aus der Nähe war die Mauer noch höher, als sie aus der Ferne ausgesehen hatte. Bestimmt hundert Schritt ragte das Bollwerk vor ihnen in die Höhe, aus so ebenem Stein erbaut, dass es aussah, als wäre sie aus einer einzigen Felsmasse geschliffen worden. Dunkle Mächte mussten am Werk gewesen sein, um dieses Ungetüm zu schaffen. Welche Seite sollte diese Mauer wohl vor der anderen schützen? Widerwillig beeindruckt legte Leén den Kopf in den Nacken und blickte den schwarzen Stein empor. Es machte ihr erst richtig bewusst, dass es hier Dinge gab, die in ihrer Welt undenkbar gewesen wären, obwohl es auch dort Magie und Unglaubliches gab. Das Beunruhigende daran war, dass sie den Bedrohungen der Unterwelt so vollkommen unvorbereitet gegenüberstanden. Warum hatte sie nicht wenigstens mehr Zeit gehabt, um ihr Licht zu trainieren? Das wiederum schien weiter fort denn je. Je näher sie der Mauer gekommen waren, desto dunkler war es geworden, und anstatt sie geradewegs in die Ohnmacht zu schicken, lähmte es Leén.
In Sichtweite eines Tores, das ebenso düster wie das Gestein vor ihnen lag, blieb Machairi stehen. Leén trat neben ihn, um sein Gesicht sehen zu können. Grimmige Entschlossenheit lag auf seinen Zügen und leider schien sich auch ein Hauch von Sorge dazuzugesellen. Wenn selbst er seine Besorgnis nicht verbergen konnte, war etwas im Argen. Ihre Sorge wuchs noch weiter an, als der Schatten nun endlich das Wort an seine Begleiterinnen richtete, denn es klang die Anspannung in der wundervollen Vielschichtigkeit seiner Stimme mit. »Die Stadt jenseits dieser Mauer ist trügerisch. Lasst euch nicht ansprechen, antwortet nicht und lasst euch nicht auf Versprechungen, Drohungen oder Bitten ein. Es ist eine Stadt der Lügen, die sich nicht um Wahrheit schert.« So eindringlich und vor allem ausführlich hatte sie Machairi niemals sprechen hören. Er hatte sich zu ihnen gedreht und sah sie beide so ernst mit seinen schwarzen Augen an, dass Leén erschauderte. Sie würde die Schönheit darin niemals ganz verstehen. Selbst hier war sie noch da, wo es doch nichts zu geben können schien, was in irgendeiner Form Schönheit versprechen mochte. »Vertraut niemandem«, fügte er noch einmal hinzu, als beide Frauen ihn nur anstarrten.
Leén nickte mit einem dicken Kloß im Hals und versuchte, sich diese Worte ins Gedächtnis zu brennen. Auch Kory nickte zögernd und die Angst in ihren Augen hatte nur noch zugenommen. Die Harethi selbst ballte eine Hand zur Faust, um sie am Zittern zu hindern. »Wieso gibt es hier eine Stadt? Leben dort Dämonen?« Das Wort allein reichte aus, dass ihr das Herz in die Kniekehlen rutschte. Erneut erinnerte sie sich an die dunkle Gestalt in ihrem Schlafzimmer und dass Machairi behauptet hatte, es habe sich nicht um einen Dämon gehandelt.
»Hier gibt es nichts, was die Bezeichnung ‚Leben‘ verdienen würde.« Da. Da war eine Emotion auf seinen Zügen. Nur für einen Bruchteil einer Sekunde und doch eindeutig flatterte Abscheu über sein Gesicht, bevor die glatte kalte Entschlossenheit zurückkehrte. »Die Stadt ist für die Toten. Die Verdammten und Verlorenen gehen hier ihren Aufgaben nach.« Dieses Mal schlich sich keine Emotion in Machairis Kälte, aber sie glaubte ihm trotzdem anzusehen, wie sehr ihm dieser Ort missfiel. Er sah nicht aus wie ein Heimkommender. Es wirkte mehr, als wolle er in den Kampf ziehen.
»Aufgaben?«, fragte Kory überrascht und es war das erste Mal, dass sie tatsächlich etwas sagte, was die Grenzen ihrer Schwermütigkeit überschritt. »Jene, die nicht in der Gnade der Götter stehen, sollen doch hier gefoltert werden, oder nicht?« Das hörte sich schon wieder mehr nach der geschwollenen Ausdrucksweise der Prinzessin an oder aber als habe sie es geradewegs aus einem Text der Zylonkirche zitiert.
»Nicht jede Folter wird in einer Folterkammer mit Peitschen und Streckbänken ausgeführt«, antwortete Machairi und blickte erneut der Stadtmauer entgegen. »Unendlichkeit in eintöniger Ausführung einer verhassten Arbeit ohne Ausweg, Ablenkung oder Amüsement ist eine ganz eigene Art von Folter.«
Das klang tatsächlich grausam, auch wenn Leén ebenfalls erwartet hatte, dass die Strafe mit dem Vergehen zusammenhing. Doch vielleicht war der Sinn der Unterwelt gar nicht, zu vergelten, sondern einfach nur zu strafen. »Was passiert, wenn man sich weigert oder doch irgendeine Form von Vergnügen sucht?«, fragte sie, obwohl sie nicht sicher war, ob sie die Antwort hören wollte.
»Die Konsequenzen für Verweigerung willst du hier ebenso wenig tragen wie oben und was dich erwartet, wenn du wegläufst, hast du ja gesehen.« Er deutete auf die leere Weite, aus der sie gekommen waren. Die Frage nach der Freude ließ er unbeantwortet, aber vielleicht konnte sie sich das auch selbst denken. Schließlich wirkte es unmöglich, die drückende Verzweiflung abzuschütteln. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass man sich je daran gewöhnte, und es war gut möglich, dass sich jede gefundene Freude augenblicklich ins Gegenteil kehrte. Die Stadt machte ihr Angst, aber skurrilerweise war sie fast neugierig zu sehen, wie die Dinge hier liefen. Wenn sie die Wahl gehabt hätte, hätte das niemals ausgereicht, um sie in diese Stadt zu bringen, aber es reichte jetzt, um sie nicht zur vollen Verzweiflung zu bringen. Deshalb nickte sie und straffte sich, allen Mut zusammenklaubend, den sie noch hatte, und bereitete sich darauf vor, Machairi in die Stadt der Lügen zu folgen.
Kory sagte nichts weiter, aber auch sie schien in der Lage, sich zusammenzureißen, als sich ihre beiden Reisegefährten wieder in Bewegung setzten. Leén beschloss, weiterhin ein Auge auf das Mädchen zu haben. Sie war schließlich erst fünfzehn. Es war sicher leichter, sie mit gesäuselten Worten und falschen Versprechungen hinters Licht zu führen. Leén selbst hatte sich vorgenommen, einfach nicht zuzuhören, egal was gesagt wurde.
Sicheren Schrittes trat Machairi auf das Tor zu. Er hatte nicht erwähnt, wie sie hindurchkommen sollten. Beinahe glaube sie, schon am Tor auf den ersten Ärger zu treffen, aber er schritt unbeirrt weiter auf die geschlossene Pforte zu. Ohne dass er auch nur klopfen musste, schwangen die Flügel des Tores auf und gaben den Weg frei. Völlig unverhofft hallte ihr plötzlich eine fast vergessene Stimme durch den Kopf. Kratzig und rau war sie gewesen und die alte Frau hatte mehr Sinnlosigkeiten von sich gegeben, als dass sie tatsächlich etwas Zielführendes gesagt hatte, aber trotzdem echote Leén in diesem Moment eines von Guras Worten durch den Kopf. Schattenprinz.
Tatsächlich schien sich die Dunkelheit nach ihm auszustrecken, ein Effekt, den sie schon häufiger beobachtet hatte. Er verschmolz mit dem Schwarz der farblosen Welt um sie herum und für einen kurzen Moment war sie doch wieder sicher, dass er Ebos‘ Sohn sein musste. Es klang wie ein dummes, abergläubiges Gerücht, aber sie waren in der Unterwelt und Gerüchte enthielten doch auch immer einen wahren Kern. So kostete es mehr Überwindung als erwartet, sich wieder in Bewegung zu setzten und dem Schatten durch das Tor der Stadt zu folgen.
Leén hatte noch nie einen vergleichbaren Ort erlebt. Wie schwerer Regen hingen Niedergeschlagenheit und Gram in der Luft. Es deckte sich über die ganze Stadt und ließ die grauen Häuser noch trister erscheinen. Die geraden Straßen, die sich gesäumt von gleichförmigen Häusern vor ihnen erstreckten, erinnerten an Kefa. Doch selbst die enge Hauptstadt Cecilias, die für Leén eindrucksvoll, aber auch beängstigend gewesen war, war mit ihren grauen Steinen freundlicher als diese Stadt. Noch immer gab es keinen einzigen Farbklecks. In der Ödnis hatte sich das Auge an die vielen Graustufen gewöhnt, aber hier, wo es hätte Farben geben müssen, war es zum Verrücktwerden. Außerdem war es schrecklich still für so eine große Stadt. Die seltsame Akustik der Unterwelt blieb ungenutzt und nur selten trug der Hauch eines Flüsterns an ihre Ohren. Es war windstill wie schon in der Steppe und obwohl gelegentlich die ein oder andere Person über die Straßen eilte, hätte es sich ebenso gut um eine Geisterstadt handeln können. Hier wohnte Traurigkeit. Es löste seltsame Beklemmung in ihr aus, diese bedrückten Menschen zu sehen. Die Harethi hatte sich gefragt, ob sie nicht auffallen würden, wenn sie mitten durch eine Stadt liefen. Sie hatte gedacht, dass die Menschen sie erblicken und in wildes Getuschel ausbrechen oder sie gar direkt ansprechen würden, aber sie wurden kaum eines Blickes gewürdigt. Den meisten Leuten schien ihre Anwesenheit geradezu egal zu sein.
Taube Niedergeschlagenheit schloss sich noch fester als zuvor um Leéns Herz und sie fühlte sich, als könnte sie augenblicklich in Tränen ausbrechen. Die Ängste, die sie auf dieser Reise mit sich trug, waren nur noch gewachsen und ihre vorher aufgekommene Neugierde war zerbröckelt. Sie konnte sich kaum mehr dazu motivieren, sich umzusehen, anstatt einfach auf die Kopfsteinpflasterstraße hinabzublicken. Das Tor hatte sich hinter ihnen geschlossen und weckte zusätzlich zur tiefen Traurigkeit ein Gefühl der Ausweglosigkeit. Leén glaubte nicht, dass sich das Tor wieder so leicht für sie öffnen würde, wenn sie die Stadt verlassen wollten. In der Ferne, ähnlich wie in Kefa, erhob sich eine gewaltige Festung, die noch erdrückender über ihnen thronte als die Mauer. Schwarze Fahnen wehten an den Türmen, auch wenn es kein Lüftchen zu geben schien, und kalter schwarzer Stein bildete Wände und Zinnen. Wie Wolken oder Schwaden umfing die Dunkelheit jene Festung und ließ keinen Zweifel daran, wer dort residieren mochte. Leén wusste, dass ihr diese Finsternis sonst schrecklich auf den Magen geschlagen wäre und sie das Licht niemals hätte zurückhalten können. Doch Licht schien so fern an diesem Ort, dass nicht einmal die stärkste Finsternis es zu rufen vermochte.
Mit schwerem Herzen und Trauer in den Augen schleppte sie sich durch die Straßen, achtete kaum mehr auf Koryphelia, der die Tränen über die fahlen Wangen rannen. Während sie durch diese lieblose Welt voller Unheil und Gram liefen, verstand Leén, weshalb niemand hier Freude zu spüren vermochte. Noch nie hatte sie etwas derartig Niederschmetterndes erlebt und je länger sie hier waren, desto mehr drängten sich Erinnerungen auf. Sie wirbelten durch ihren Kopf und zwangen sie unaufhörlich, sich an Dinge zu erinnern, die sie lieber in sich verschloss. Der Tod ihrer Mutter. Die Gefangennahme ihres Vaters. Der Hunger im Bienenstock. Der Hass, der ihr so oft wegen ihrer Herkunft entgegenschlug und die Angst, die sie seit einiger Zeit kaum mehr ablegen konnte. So gut sie konnte, verbannte sie jeden Gedanken, drückte sie dahin zurück, wo sie hergekommen waren. Mehr und mehr wühlte sie selbst ihr Inneres auf und doch schien es nichts zu geben, was sie dagegen tun konnte. Sie reihte sich ein in den schwermütigen Reigen, der diese Stadt in seinen Bann riss. Endlos und schwer, gezeichnet von dem Horror, den hunderte Menschen in ihrem Leben erlebt hatten und jeden Tag aufs Neue rekapitulierten, während die Erinnerungen an glückliche Zeiten verblassten, das Grau der Stadt annahmen und zu nichts als Rauch wurden.
Die Menschen, an denen sie vorbleiliefen, während Machairi sie zielsicher durch die farblosen Straßen führte, blickten sie mit der gleichen Traurigkeit an. Verzweiflung und Schmerz hatte tiefe Furchen auf alle Gesichter gezeichnet. Es machte die Leute älter und keiner hielt sich mehr aufrecht. Sie alle bückten sich unter dem Joch, das diese Welt ihnen aufbürdete. Nichts ließ einen Schluss darüber zu, wer diese Menschen im Leben gewesen waren. In der Farblosigkeit verschwammen die Grenzen, die Kleider hätten ziehen können, und es schien keine Rolle zu spielen, in welcher eintönigen Tätigkeit man für immer festsaß. Obwohl es echte Berufe zu geben schien, war es kaum vorstellbar, dass irgendjemand hier eine Arbeit verrichten durfte, die ihm gefiel. Endlos schien die Stadt, wenn auch nicht groß genug, um all die Menschen zu fassen, die im Laufe der Geschichte in die Unterwelt verbannt worden sein mussten. Für einen kurzen Moment flammte die Hoffnung auf, dass es vielleicht doch eines Tages einen Ausweg geben konnte für die unglücklichen Seelen an diesem Ort. Dann fiel Leén ein, dass sie nicht sagen konnte, wie groß das Ausmaß dieser Stadt war, und dass Ebos sicher niemanden freiwillig aus seinen Fängen entließ.
Als Machairi einen schnellen Schritt in einen der Schatten machte, konnten die beiden Mädchen gar nicht schnell genug reagieren. Von einer Sekunde auf die nächste war er verschwunden und einen Augenblick später bogen zwei Gestalten in die Straße ein, auf der sie sich gerade befanden. Wie automatisch wich Leén an den Rand der Gasse zurück und senkte den Kopf. Furcht durchschlug die Traurigkeit wie eine Faust eine dünne Membran und sie hielt den Atem an. Die Gestalten hatten keine feste Masse oder erkennbare Züge. Es war, als spiele man ein Daumenkino mit einer anderen schwarzen Gestalt auf jeder Seite ab. Eine nicht enden wollende Ansammlung düsterer Silhouetten umwoben von leichten Schlieren dunkler Masse.
Kory und Leén wichen den Gestalten aus, so gut sie konnten, versuchten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und hielten es so wie alle anderen Menschen auch. Machairi war nirgends zu sehen und Leén fragte sich, ob er nicht gesehen werden wollte oder ob er von dem gleichen Gefühl, diesen Wesen aus dem Weg gehen zu müssen, ergriffen worden war. Waren dies nun Dämonen? Ihre flüssige und doch menschliche Gestalt war jedenfalls, wie Leén es sich vorgestellt hatte. Es musste sich um Kreaturen handeln, die ohne Gutes geschaffen worden waren. Furcht, dass sie sie angreifen mochten, weil sie erkannten, dass sie sich hergeschlichen hatten, ergriff Leén und plötzlich hätte sie alles darum gegeben, ebenso in den Schatten verschwinden zu können wie Machairi. Wo war er hin? Warum ließ er sie hier allein? War dies der Moment, in dem Korys Blut von Bedeutung war? Warum hatte sie Tränen in den Augen, obwohl sie an nichts denken konnte als die lähmende Angst, die ihr Herz zerfleischte?
Doch die Schattenwesen beachteten sie nicht. Sie blieben vor einem nahen Haus stehen, das sich äußerlich nicht von den anderen unterschied. Die Tür dieses Hauses war verschlossen und die Fenster waren dunkel. Bekamen die Toten Schlaf? Oder durchbrach nicht einmal die Nachtruhe ihre unendliche Eintönigkeit? »Kedrick.« Vielschichtig und wie von hunderten Stimmen gleichzeitig gesprochen echote das Wort durch die Luft. Es ließ Leén das Blut in den Adern gefrieren. »Kedrick Wellentriel«, sprachen die Schattenkreaturen und es hallte durch die graue Straße. »Todestag.« Wieder und wieder wurden die drei Worte zurückgeworfen, echoten von überall her und schienen nicht verstummen zu wollen. Es war nicht auszumachen, ob die Wesen noch sprachen, oder ob es sich tatsächlich um ein Echo handelte.
Der Mann, der die Tür öffnete, musste von Sinnen sein vor Angst. Leén wäre es gewesen. Sie wusste nicht sicher, was am Todestag geschehen mochte, aber es konnte nur ebenso grauenvoll sein, wie alles an diesem Ort vermuten ließ. In seinen unnatürlich blassen Augen lag der gleiche Ausdruck von besiegter Niedergeschlagenheit, wie ihn auch der Rest der Menschen hier trug, und es mischte sich Resignation hinzu. Auch wenn Leén Furcht in den Augen des Mannes zu sehen glaubte, wirkte er doch, als habe er sich auf abstruse Weise mit seinem Schicksal abgefunden. Was auch immer ihn nun erwartete, musste wahrlich grausig sein, und doch stellte er sich dem. Es mochte an scharfen hohen Wangenknochen liegen, doch sein Gesicht wirkte noch etwas fahler als die Haut anderer Cecilian. Eine Welle von Mitleid überrollte Leén, als sie beobachtete, wie Kedrick Wellentriel sich von den beiden Schattenkreaturen in die Mitte nehmen ließ und mit ihnen ging. Für einen kurzen Moment streifte ein besiegter Blick aus blassen Augen über tiefen Augenringen Leén und die Prinzessin, bevor er ihn auf den Boden richtete und von den Kreaturen um eine Ecke aus Leéns Blickfeld geführt wurde.
Noch einen Moment sah Leén dem Mann hinterher. Erstarrt und schockiert von der Resignation, die sicher nicht nur er hier angenommen hatte. Es machte ihr die Wirkung der Unterwelt auf ganz neue abscheuliche Weise bewusst und sie konnte nicht aufhören zu denken, dass kaum etwas im Leben schlimm genug sein konnte, dass ein normaler Mensch etwas Derartiges verdient haben mochte.
»Rish.« Kalte vielschichtige Melodik riss sie aus ihren Gedanken und sie fuhr zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. »Je weniger du darüber nachdenkst, desto besser.« Er war aus der Dunkelheit hinter ihr aufgetaucht. Eigentlich war dort eine Wand, aber er stand so selbstverständlich neben ihr, als sei dort eine Gasse oder wenigstens eine Tür, durch die er hätte kommen können. Sie bezweifelte, dass er durch das nahe Fenster geklettert war.
»Was passiert am Todestag?«, fragte sie und ihre Stimme zitterte noch immer vor Angst und dem Schauer, der einfach nicht aufhören wollte, sie zu erschüttern, weil sie nicht aufhören konnte, sich vorzustellen, was für Grauen den Mann erwarten mochte.
»Konkrete Strafen für konkrete Vergehen im Leben.« Jetzt erst nahm er die Hand von ihrer Schulter, weil sie sich endlich aus ihrer Starre löste und die dunkle Jacke enger um sich zog.
»Für immer?«, hauchte sie und konnte sich den Horror nicht vorstellen, den das bedeuten musste, wenn man jedes Jahr aufs Neue wusste, dass der Tag kommen würde und dass es kein Entrinnen gab. Sicher wie der Tod und nicht weniger angsteinflößend, aber wiederkehrend und vorhersehbar. Allein das war Strafe genug, wie sie fand. Wie diese Strafen am Todestag dann aussehen mochten, überschritt die Grenzen dessen, was sie sich vorstellen konnte und wollte.
»Denk nicht darüber nach«, riet Machairi ihr noch ein zweites Mal und dann ging er weiter. Sie folgten nicht der Straße, die die Dämonen genommen hatten. Leén war damit beschäftigt, verzweifelt zu versuchen, seinem Rat zu folgen und nicht weiter über die Unterwelt, ihre Strafen und das Grauen nachzudenken, das jeden hier ereilte. Sie versuchte, die drückende Trauer und die aufblitzenden Erinnerungen fortzudrücken, doch sie konnte an nichts anderes denken. Jeder schöne Gedanke, mit dem sie sich abzulenken versuchte, zerfiel unter ihren Fingern, bevor sie ihn zu fassen bekommen und seine süße Wohltat in diesem Schrecken fühlen konnte.
Schließlich zwang Leén sich, sich umzusehen. Wenn sie sich nicht mit dem ablenken konnte, was in ihrem Kopf war, musste sie versuchen, sich auf das zu konzentrieren, was sie sah, ohne anzufangen, darüber nachzudenken, wie grausam das war. Kory schlurfte mit gesenktem Kopf hinter ihr her, vermutlich ebenso in bösen Gedanken gefangen. Leén betrachtete die Menschen und die Häuser und versuchte zu raten, wo sich das Orakel befinden mochte. War es vielleicht möglich, dass es sich um einen Menschen gehandelt hatte? Eine Wahrsagerin vielleicht oder eine andere magische Person, die nie tatsächlich herabgebracht worden war, weil sie sterblich und nicht in der Gunst der Götter gewesen war? Wieder überrollten die Befürchtungen sie und Bilder von der Beerdigung ihrer Mutter blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Was, wenn sie auch hier war? Früher hätte sie gedacht, dass ihre Mutter eine so sanfte und wundervolle Person gewesen war, dass sie unmöglich in die Unterwelt geschickt worden sein konnte. Aber es gab so viele Dinge, die sie nicht über ihre Eltern gewusst hatte, und vielleicht waren die anderen Götter wütend auf die Frau, die der Grund war, dass Jico seine Göttlichkeit aufgegeben hatte. Was geschah mit den Menschen, die eigentlich in der Gunst ihres Vaters gestanden und deshalb nicht hierher gemusst hätten nach ihrem Tod? Vertraten die anderen Götter ihn oder hatte er seine Anhänger dazu verdammt, die Ewigkeit in diesem Hort der Grausamkeit zu verbringen? Der Gedanke schmerzte fast so sehr wie der, hier ihrer Mutter zu begegnen. Jede Harethifrau, die ihnen entgegenkam, jagte Leén einen Adrenalinschub von Angst durch den Magen und jedes Mal war sie erleichtert zu sehen, dass das eingefallene Gesicht nicht ihrer Mutter gehörte.
Gerade als sie glaubte, dass sie nicht mehr lange würde weitergehen können, ohne den Verstand zu verlieren, erreichten sie eine schwarze Wand. Stunden musste es her sein, dass sie das riesige Tor durchschritten hatten. Wie hatte ihr nicht auffallen können, dass sie inzwischen fast direkt vor der Festung standen? Leén fühlte sich schrecklich klein und verletzbar zu Füßen dieses Kolosses. Drohend bohrten sich die Türme den Monden entgegen und der glänzende schwarze Stein schien dunkler als die Dunkelheit selbst. Ihre Kehle schnürte sich zusammen und der Gedanke, dass Machairi sie offenbar geradewegs hineinführen wollte, war so einmalig abstoßend, dass sie sich nicht im Stande sah, ihm zu folgen. Das war keine Frage von mangelndem Vertrauen. Sie konnte einfach nicht. Ganz davon abgesehen war nirgends ein Eingang in Sicht.
»Oh nein«, hauchte Kory plötzlich und Leén fuhr zusammen und sah sich panisch in alle Richtungen um. Waren sie nun doch entdeckt worden? Sie suchte nach weiteren dieser teerartigen Wesen, die sich auf keine Gestalt festzulegen vermochten. Fast glaubte sie, bereits die dunklen Schwaden zu sehen, die sie umgaben.
»Was ist?«, quietschte Leén, als sie keine direkte weitere Bedrohung erkennen konnte, und fragte sich, ob die Prinzessin vielleicht noch später als Leén gemerkt hatte, wohin ihr Weg sie führen würde.
»In einer Übersetzung einer Nietali-Schrift habe ich gelesen, dass …« Sie brach ab, als Machairi ihr ins Wort fiel.
»Die Übersetzung ist schlecht«, knurrte der Schatten. »Hätte dein Großvater nicht beschlossen, dass die Königsfamilie kein Nietali mehr lernt, hättest du das Original gelesen und wüsstest das selbst.« Der Kommentar war erstaunlich scharf, wenn man bedachte, dass Kory nichts dafür konnte. Außerdem drängte sich die Frage auf, was Nietali sein konnte. Offenbar handelte es sich um eine Sprache oder eine Schrift, aber Leén hatte noch nie davon gehört.
»Woher weißt du das?«, fragte die Prinzessin und obwohl sie noch immer kaum Stimme hatte, klang sie nun eher skeptisch als angsterfüllt. Dass die Prinzessin von Cecilia Zugriff auf alte Schriften und Bücher hatte, konnte Leén sich vorstellen. Sie wusste sogar, dass Machairi in die Bibliotheken von Kefa eingebrochen war, um etwas über eine Person zu recherchieren. Vielleicht war er dabei auf den gleichen Text gestoßen – wobei sie auch nicht verstand, weshalb mit der Erwähnung der Sprache sofort klar war, um welchen Text es sich handelte. Woher er dann wusste, dass die Übersetzung fehlerhaft war, oder auch nur, dass der König erlassen hatte, diese Sprache nicht zu unterrichten, war dagegen unklar. Trotzdem wäre das nicht ihre erste Frage gewesen. Sie wollte viel lieber wissen, was denn überhaupt dort gestanden hatte, was die Prinzessin so erschreckt hatte.
»Ich habe das Original gelesen.« Er war hier wirklich gesprächiger. Vielleicht wollte er sie so dazu bringen, möglichst schnell keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Eines seiner sagenumwobenen Messer tauchte in seiner Hand auf. Er stieß es direkt in den glatten Stein. Die Frage, die eines der beiden Mädchen zweifellos als nächstes gestellt hätte, blieb ihnen im Hals stecken und sie sahen zu, wie er das Messer ruckartig nach unten zog. Wie eine so kleine Klinge in solch massiven Stein schneiden konnte, war nicht mit den Regeln einer Welt, wie sie sie kannten, erklärbar. Doch dies war schließlich nicht mehr ihr Pyria. Dies war die Unterwelt und in der Unterwelt hinterließ Machairis Messer einen Schnitt im Stein, der ebenso gut in einer Zeltplane hätte sein können. Er klaffte auf wie eine Fleischwunde und dahinter lag völlige Dunkelheit. Es erinnerte Leén an den Riss in der Felswand am Vortag, nur dass dieser tatsächlich bedrohlich war und wohl leider nicht nur von harmlosen kleinen Spinnen bewohnt wurde. Obwohl sie keine Spinnen mochte, hätte sie eine ganze Horde davon in diesem Moment vorgezogen. »Alles ist eine Lüge«, sagte der Schatten und Leén fragte sich, ob das eine Erinnerung oder eine Erklärung war.
Fragen konnte sie nicht, denn er griff Leén und Kory je an einem Handgelenk, wie er es schon vor ihrem Sturz in die Unterwelt getan hatte, und zog sie durch den Schnitt, bevor sie ihren Unwillen auch nur äußern konnten.
Dunkelheit umfing sie und für einen schrecklichen Augenblick fürchtete Leén, dass sie wieder fallen würden. Doch dann gewöhnten ihre Augen sich langsam an die Lichtverhältnisse (wenn man sie denn so nennen konnte) und sie konnte Umrisse erkennen. Machairi zog sie eine Treppe hinab und es war kaum möglich, die nächste Stufe zu erkennen. Sie spürte jemanden hinter sich. Das musste bedeuten, dass er Kory nicht mehr an einem Arm durch die Finsternis zog, sondern sie allein laufen durfte. Vielleicht fürchtete er, dass Leén der Dunkelheit erliegen würde, wenn er sie losließ. Tatsächlich fühlte sie die drückende Schwärze hier stärker gegen ihr naturgegebenes Licht drücken, aber wie vermutet war dieser Ort zu düster, als dass ihr Licht sich hervorgewagt hätte. Sie versuchte, gar nicht erst an die Frage zu denken, ob die Treppe erschienen war, weil er ein Loch in die Wand geschnitten hatte, oder ob er genau gewusst hatte, wo er schneiden musste, um perfekt auf die Treppe zu treffen. Endlos führten die Stufen hinab. Die Wände waren nah und Leén spürte, dass sie zu zittern begonnen hatte. Alles hier war beklemmend. Es war eng in ihrer Brust und ihr Hals war wie zugeschnürt, während sie verzweifelt versuchte, ihren Körper am Zittern zu hindern und das Klappern ihrer Zähne zu unterdrücken.
Die Treppe nahm ein so abruptes Ende, dass Leén viel zu fest auf den Boden trat. Kurz knickte ihr Knie ein und sie stolperte, weil Machairi ihren Arm noch immer festhielt. Der Raum hatte sich geöffnet, sodass die Wände nicht länger in Reichweite waren, und man konnte etwas mehr erkennen. Die Gewölbe, die sich vor ihnen erstreckten, glichen schon viel mehr dem, was sie sich unter der Unterwelt vorgestellt hatte. Der kalte Stein bildete lange dunkle Gänge, die sich teilten und in gähnende Unendlichkeit zu erstrecken schienen, und Leén ahnte, dass es leicht war, hier verloren zu gehen. Sie mussten sich unter dem Palast befinden und wenn sie an die Größe der Stadt und der Festung dachte, würde sich dieses Labyrinth schier endlos ziehen.
Nach einer Leidensgenossin suchend traf ihr Blick automatisch Kory. Sie war auf Machairis anderer Seite. Er hielt auch ihr Handgelenk weiter fest und ihre helle Haut war selbst in den wesentlich dunkleren Graustufen dieses Ganges bleich. Ihre Blicke trafen sich und blanke Angst stand der Prinzessin ins Gesicht geschrieben. Leider fühlte sich Leén davon nicht nur bestätigt, sondern angestachelt. Sie fühlte es also auch. Hier fühlte sie sich direkt beobachtet und bedroht und das Einzige, was zumindest einen Hauch von Sicherheit versprach, war ausgerechnet Machairis Nähe. Während sie die Angst fast wie einen Griff zu fühlen glaubte, die sich wie eine kalte Hand in ihren Nacken legte und die Kälte durch ihren ganzen Körper jagte, rückte sie näher an ihn und griff mit der freien Hand ganz freiwillig nach seinem Arm.
Schweigend gingen sie weiter und sie starrte in die Finsternis vor sich, jeden Moment ein Ungetüm erwartend, das ihnen entgegenspringen würde, während sie die Finger in den schwarzen Stoff von Machairis Ärmel grub und sich auf Korys fast unhörbare Schritte hinter ihr konzentrierte, um sich irgendwie zu beruhigen. Sie versuchte, sich zu sagen, dass er auch in der Unterwelt unschlagbar mit einem Messer war und sie bei ihm so sicher war, wie sie eben sein konnte. Langsam löste Machairi den Griff um ihr Handgelenk und ihr vor Angst rasendes Herz geriet ins Flattern, als sich das weiche Leder des Handschuhs stattdessen richtig um ihre Hand schloss.
Das beruhigte sie so lange, bis sie Korys Blick auf Machairis anderer Seite begegnete, die noch immer nur am Handgelenk gehalten wurde und sie peinlich berührt hoffte, dass die Prinzessin nichts von der Hand des Schattens in ihrer mitbekam. Die siedend heiße Erkenntnis traf sie einen winzigen Augenblick später: Die Gestalt hinter ihr konnte nicht Kory sein.