Читать книгу Was soll's! - Elisa Behr - Страница 4
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ОглавлениеEs ist dunkel, mein Körper ist ein einziger schwerfälliger Klumpen, die Schwerkraft hat sich über Nacht vervielfacht. Ich liege im Bett, ziehe die Bettdecke über den Kopf, aber die Geräusche aus dem Rest des Hauses sind trotzdem noch zu hören. Tür auf. Tür zu. Wasser laufen. Morgen Max. Morgen Mama. Morgen Papa. Ist Karl schon auf „Karl, aufstehen!“ Mein Bruder reißt die Tür auf, fertig angezogen, perfekt gestylt, guter Laune wie immer, eben Max. „Soll dich wecken. Ist schon viertel nach sieben“, sagt er leise und selbst hier trifft er den perfekten Ton. „Mach hinne, sonst kommt Mama gleich hoch.“ „Danke für die Warnung“, murmele ich und drehe mich auf die andere Seite. Ich würde ja aufstehen, aber es geht nicht. Je mehr ich daran denke, aufzustehen, umso stärker drückt mich die Müdigkeit in die Matratze. Wie ein Monster hält sie meine Arme und Beine fest und pupst mir zum Abschluss ins Gesicht. Ich bleibe benommen liegen und döse wieder weg. Herrlich ruhig! Sehe mich gelassen mit dem Fahrrad mitten in einer Landschaft, nehme gerade einen Hügel mit Anlauf, aber dann hält mich jemand zurück. Es ist meine Mutter, die an meinem Arm zieht. Ich mache die Augen auf. Sie steht neben meinem Bett.
„Jeden Morgen dasselbe Theater. Jetzt bist du schon 14 und schaffst es immer noch nicht alleine aufzustehen. Ich hab es echt satt, so satt!“, zischt sie und verschwindet aus dem Zimmer. „Steh jetzt endlich auf! Du kommst sonst zu spät!“, ruft sie von der Treppe. Mir doch egal, denke ich, schäle mich widerwillig aus der Decke, tappe zum Schalter und mache die Deckenlampe aus, suche dann in dem Lichtkegel, der vom Flur ins Zimmer strahlt, meine Klamotten zusammen und streife sie mir über. Kurz darauf bin ich unten in der Küche und hoffe, unsichtbar zu sein. Mein Kakao steht mit labbriger Haut auf der Anrichte. Ich schütte ihn runter, greife in die Müslischale und lasse eine Handvoll Körner in meinen Mund rieseln. Den abschätzigen Blick meiner Mutter spüre ich im Rücken. Ich bin nicht da und sie auch nicht. Max ist natürlich schon weg und mein Vater sitzt auf dem Klo. Ich greife mir einen Apfel ab, packe ihn in meinen halb leeren Rucksack. Wahrscheinlich habe ich wieder die Hälfte vergessen. Kann nicht sein. Heute ist letzter Schultag vor den Faschingsferien und Zeugnistag. Alles andere ist unwichtig. Als ich mir die Jacke überziehe, kommt meine Mutter in den Flur.
„Kannst dich wenigstens ordentlich verabschieden.“
„Tschüss.“
„Und denk dran, heute Abend sind die Großeltern da. Wir haben einen Grund zu feiern.“
Ich öffne die Tür, die kalte Winterluft nimmt mir fast den Atem. Das Leben ist hart und unfair. Eben bin ich noch in hellem Sonnenlicht über einen Hügel gesprungen. Während ich im Dunklen die vermatschten Straßen entlang fahre, graut mir schon vor den langen Stunden. Es gibt doch immer noch Lehrer, die meinen, am letzten Tag vor den Ferien würde man noch was mitbekommen. Hoffentlich schauen wir nur Filme. Wir schauen tatsächlich nur Filme. Wird dann auch langweilig. Endlich ist die letzte Stunde und Kastner, unser Englisch-, Sport-, und Klassenlehrer kommt mit einer Mappe ins Klassenzimmer. Kastner ist der lebende Beweis dafür, dass auch mit 50 immer noch was geht. Das ist sein Lieblingsspruch. Da geht noch was. In der Turnhalle, mir hängt die Zunge nach dem Zirkeltraining schon bis an die Kniekehlen, grinst er mich an und schmettert mit niederbayerischem Einschlag: „A ge, da geht noch was. Noch eine Runde!“ Oder in Englisch sagt er eigentlich nach jeder Schulaufgabe: „Da wäre aber mehr gegangen.“ Jetzt schlendert er, die Mappe unter dem einen Arm, den anderen locker schwingend ins Klassenzimmer. Er scheint gute Laune zu haben.
„Noch 37 Minuten...“, sagt er mit Blick auf seine Armbanduhr, „noch 37 Minuten und wir sind alle in Freiheit. Setzt Euch hin, dann könnt ihr schneller wieder aufstehen.“ Ich habe vergessen zu erwähnen, dass er sich für einen Witzbold hält. Christian, die Flachpfeife, lacht, fehlt bloß noch, dass er sich hinsetzt und gleich wieder aufsteht. Er tut es und schaut erwartungsvoll zu seinen Anhängern rechts und links von ihm. Wie überraschend! Sie lachen, einer schlägt Christian anerkennend auf die Schultern. Der Rest der Klasse verdreht die Augen, selbst Kastner ringt sich nur ein müdes Lächeln ab.
„Netter Versuch, Christian. Aber ein bisschen länger musst du es schon aushalten.“
Er steht jetzt vor der Klasse und imponiert mit seinem Luxuskörper. Braungebrannt, selbst im Winter. Unter seinem eng anliegenden Shirt sind Bizeps, Trizeps und wie all die Muskeln heißen, sowie ein astreiner Waschbrettbauch zu sehen. So steht er vor uns und beginnt natürlich mit: „Vor Weihnachten hab ich ja gedacht, dass da noch was geht. Manche haben ja noch das Ruder rumgerissen, andere...“ Er lässt seinen Blick durchs Klassenzimmer schweifen, hält bei Jakob, Alina, und natürlich bei mir inne, „...andere haben scheinbar die Segel gestrichen.“ Es folgt eine Kunstpause, die er bis knapp zur Unerträglichkeit ausreizt, bevor er los schmettert: „Herrschaften, wer das Klassenziel erreichen will, der darf jetzt nicht schlapp machen. Selbst wenn ihr viel gelernt habt, a bissel was geht immer noch.“ Damit ist seine Ansprache beendet, er nimmt lässig die Mappe vom Pult und verteilt die Zeugnisse in alphabetischer Reihenfolge. Als ich drankomme, lässt er das Blatt mit einer lockeren, fast verächtlichen Bewegung aus dem Handgelenk auf meinen Tisch flattern.
„Da muss doch noch was gehen, Karl. Ich wunder mich schon, jedes Jahr wirst du schlechter. Deine Leistungen fallen proportional zu den ansteigenden Leistungen deines Bruders. Dass er nach den Ferien in die 11.Klasse geht, hat sich ja schon rumgesprochen. Man kann gar nicht glauben, dass ihr Brüder seid.“
Er wartet keine Antwort ab, sondern wendet sich dem nächsten Schüler zu. Ich glotze starr auf seinen dünnen Pferdeschwanz, der durch die schnelle Bewegung hin und her baumelt.
„Oh, da wird Mutti aber traurig sein“, höre ich aus Christians Ecke.
Ich reiße den Kopf herum und starre ihn an, die Augen zu Schlitzen. Ich hasse ihn.
„Was hast du gesagt?“, rufe ich quer durch die Klasse. Kastner schaut mich irritiert an.
„Nichts. Außer: Da wird Mutti aber traurig sein“, wiederholt Christian feixend. Er fühlt sich ziemlich sicher, schaut mich mit feist grinsendem Gesicht an, guckt dann nach rechts und links, um Zustimmung von seinen Sitznachbarn zu bekommen, die grinsen auch, nur Jakob sitzt dazwischen, zuckt erst hilflos mit den Schultern und bringt dann zumindest ein „Ach, jetzt… sei... ich meine... halt doch die Klappe“ in Richtung Christian raus.
„Was ist da los?“
Kastner hat sich genau in unsere Blicklinie gestellt und schaut mich fragend an. Ich sehe Christians Fratze nicht mehr und rege mich etwas ab.
„Nichts. Privatsache.“
Kastner dreht sich zu Christian um. „Was sagst du dazu?“
„Nichts. Privatsache.“ Na wenigstens darin sind wir uns einig.
„Dann bitte ich die Herren ihre Privatangelegenheiten nicht in meiner Stunde zu klären.“ Er schaut uns so lange mit herausforderndem Blick an, bis wir ihm zustimmen. Christian nickt, ich auch. Nach außen lasse ich mir nichts anmerken, innerlich koche ich. Auf das Zeugnis habe ich noch nicht geschaut. Ich will gar nicht wissen, was darauf steht. Der Rest der Stunde zieht sich quälend in die Länge. Auf dem Schulhausflur passe ich Christian ab. Er geht inmitten seines Clans mit lockerem Schritt Richtung Ausgang. Seinen langweilig dunkelblauen Rucksack hat er sich lässig um die Schultern geworfen. Er scheint irgendwas zu erzählen, denn alle schauen ihn an. Er lacht, die anderen fallen ein. Wahrscheinlich hat er sich wieder über mich lustig gemacht. Zeit, dass der Rächer das Kommando übernimmt. Entschlossen lässt er mich den Schritt beschleunigen. Es gibt nur noch ein Ziel: Genugtuung! Der dunkelblaue Rucksack! Als ich eine Armlänge von ihm entfernt bin, greife ich nach dem erstbesten Riemen und ziehe ihn ruckartig nach rechts. Ich sehe in Christians überrumpeltes Gesicht. Vorteil für den Rächer, der den Moment nutzt, um ihn mit beiden Händen nach hinten zu stoßen. Er strauchelt, rudert mit den Armen, versucht das Gleichgewicht zu halten. Mit zwei großen Schritten bin ich bei ihm und bringe ihn mit einem erneuten Stoß ins Wanken. Keiner der Umstehenden rührt sich. Meine Aura aus Entschlossenheit lässt es nicht zu.„Pass auf“, zische ich ihn an, „pass genau auf und merk dir ein für alle Mal: Deine blöden Sprüche kannst du dir sparen. Hast du gehört? Lass mich einfach in Ruhe! Halt deine Schnauze! Kein Wort mehr! Kein Kommentar!“ Die Hände vor mir, jeder Zeit zum Schlag bereit, schiebe ich ihn nun mit Worten weiter den Flur entlang. Meine Augen sprühen vor Hass. Mit einem letzten Schlag werfe ich ihn zu Boden, wende mich Jakob zu und sage betont lässig: „Lass uns gehen!“ Ich drehe mich nicht mehr um. Keiner wird es wagen, mir nachzukommen. Ich bin sicher. Ich bin der Rächer. Dann läutet die Schulglocke und ich bin wieder im Klassenzimmer. Kastner wünscht uns noch schöne Ferien. Ich nehme meine Sachen, gehe zur Tür und warte an die Wand gelehnt auf Jakob, der wie immer ewig braucht, bis er die fünf Stifte, die er besitzt, in seine Tasche verfrachtet hat. Christian und sein Fanclub ziehen wortlos, ein arrogantes Grinsen auf dem Gesicht, an mir vorbei. Ich fixiere sie mit zusammen gekniffenen Augen. Wenn ihr wüsstet, welche Kräfte in mir schlummern. Aber noch ist der Tag nicht gekommen. Noch nicht! Jakob stößt mir seinen Ellbogen in die Rippen.
„Alter, alles klar?“
„Alles klar. Was soll sein?“, höre ich mich reden. Die Realität ist wieder da und ich bin eben nicht der Rächer. Jakob versucht auf dem Weg zu den Fahrrädern herauszubekommen, wie mein Zeugnis ausgefallen ist. Ich zucke nur mit den Schultern.
„Hab es mir nicht angeschaut.“
„Wahnsinn, ...echt… irgendwie...also… ganz schön abgebrüht“, sagt er bewundernd.
„Brauch keinen Beweis für meine Unfähigkeit. Dass ich ein Loser bin, ist ja wohl allgemein bekannt.“
„Schlechter als meins... ne, das geht nicht ... kann irgendwie gar nicht sein.“ Er hält mir das Zeugnis in einer Klarsichthülle unter die Nase. Ich sehe Vierer, drei Fünfer und eine Sechs. Er hat Recht, so schlecht kann meins nicht sein. Noch nicht einmal anständig versagen kann ich. Absolutes, verabscheuungswürdiges Mittelmaß! Meine Laune sinkt tiefer und tiefer. An die abendliche Familienversammlung darf ich gar nicht erst denken. Schnell das Thema wechseln.
„Was gibt es heute bei euch zu essen?“
Alles ist besser als jetzt nach Hause zu gehen.
„Äh, weiß nicht... hab nicht gefragt… ich glaub… wie immer halt was Gutes.“
Jakob grinst und schwingt sich auf sein Fahrrad. Wir radeln über den Schulhof, biegen auf die Nebenstraße ein, erreichen die Hauptstraße. Wann fragt er endlich, ob ich mitkommen will. Erst als wir an der Kreuzung sind, an der sich unsere Wege trennen, stellt er die einzig richtige Frage: „Magst du ... irgendwie... mitkommen?“
Und ob ich will.
Schon vor der Haustür hören wir laute Musik. Frau Brandt singt noch lauter mit. Jakob schaut mich genervt an. Ich zucke mit den Schultern. Was regt er sich auf? Seine Mutter ist immer gut gelaunt, stresst nicht rum, schon gar nicht wegen Noten, ist Weltmeisterin im Kochen und immer freundlich zu mir. Auch heute darf ich mitessen und es schmeckt mal wieder genial. Nach dem Essen gehen wir in Jakobs Zimmer und zocken. Seine Mutter hat ihn noch nicht nach dem Zeugnis gefragt. Irgendwann beginnt es zu dämmern, schon nach 16 Uhr und ich weiß, dass ich schon viel zu spät bin. Auch schon egal, Ärger gibt es sowieso, also lieber noch ein Spiel auf der Playstation. Die Ziffern der Digitaluhr leuchten drohend: 16.45 Uhr.
„Geh jetzt endlich! Geh!“, raunt mir eine innere Stimme zu. Widerwillig nehme ich meine Tasche. Es fühlt sich an, als seien Gummibänder um mich gewunden, die mir jede Bewegung erschweren.
Auf dem Weg nach Hause ist es noch kälter und ein fieser Wind bläst mir ins Gesicht. Ich kann mich trotzdem nicht entschließen, schneller zu fahren.
Ich habe Glück, die Großeltern sind schon da. An der Tür empfängt mich meine Mutter mit verkniffenem Gesicht.
„Wo bist du so lange gewesen?“
„Bei Jakob.“
Sie verdreht die Augen. Jakob ist für sie nicht der Freund, den man sich wählen sollte.
„Und dein Zeugnis?“
„Mhm“, grummele ich, fingere an meinem Rucksack rum, um den Reißverschluss aufzubekommen, ziehe die Mappe raus und halte sie ihr hin. Sofort schlägt sie den Deckel der Mappe auf und wirft einen Blick darauf. Ich nutze die Gelegenheit und schlängele mich zwischen ihr und der Wand durch ins Wohnzimmer. War ja klar, dass es keine 20 Sekunden dauert, bis sie danach fragt. Im Wohnzimmer sitzen meine sämtlichen Großeltern. Auf dem Couchtisch stehen Tee- und Kaffeetassen, auf der Kuchenplatte liegen noch die letzten Krümel, zwei Kerzen flackern. Eben genau so wie man es sich bei einer ganz normalen Familie vorstellt. Omi ist die erste, die mich entdeckt.
„Da ist ja der kleine Ausbleiber“, ruft sie mit Vorwurf in der Stimme. Dann steht sie in Windeseile auf, kommt mit zwei Schritten auf mich zu und drückt mich an ihren knochigen Körper. Alles an ihr ist Muskel, Faser und Knochen, Fett sucht man hier vergeblich. Sie nimmt meinen Kopf zwischen ihre Hände und ihr strenges Gesicht rückt immer näher an meines.
„Deine Mutter hat sich schon Sorgen gemacht.“
Ihre trockenen Lippen berühren meine Wangen rechts und links, ein letzter Kontrollblick und ich werde weitergereicht an Opi, der mir ebenso dürr, beweglich und streng zuerst die Hand entgegenstreckt, um mich dann an sich zu ziehen und mit viel zu viel Kraft an sich zu pressen. Ich kriege kaum mehr Luft und versuche mich aus der Umarmung zu befreien.
„Karl, endlich. Schön, dich zu sehen!“
Er schiebt mich von sich weg, hält mich in Armeslänge auf Abstand und begutachtet mich von oben bis unten.
„Gut schaust du aus.“
Abschließend klopft er mir auf die Schulter. Jetzt stehen auch Nona und Nono, die Eltern meines Vaters, auf. Ich komme ihnen entgegen. Sie wirken schwerfälliger, sind es aber gar nicht, nur die Dynamik meiner anderen Großeltern kann niemand übertreffen. Nona streicht mir zärtlich mit ihrem Handrücken über die Backe. Selbst hier sind ihre Hände warm und weich. Ihre weißen Haare hat sie mit einem Tuch zurückgebunden, aus dem einige Locken hervorgucken. Die kitzeln mich jetzt als sie mich ganz ruhig in den Arm nimmt. Nono steht auch schon parat. Er schenkt mir sein strahlendstes Lächeln, dann wirft er seine Arme über meine Schultern und umarmt mich. „Wie geht es dir?“
„Gut.“
„Und wie ist dein Zeugnis ausgefallen? Max hat ja mal wieder ein brillantes.“
„Geht schon.“
Bevor jemand weitere Informationen fordern könnte, werfe ich schnell ein: „Wo ist Max eigentlich? Schließlich ist es ja sein Tag.“
Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelungen ist, das Thema Zeugnis so lange zu umgehen, bis Max und mein Vater endlich aufkreuzt sind.
Später am Abendbrottisch strahlen alle. Mama strahlt, Papa, Nona und Nono, selbst Omi und Opi, denen sonst selten ein Lächeln über die Lippen geht. Wir sitzen rund um den Tisch und feiern, dass Max eine Klasse überspringt. Sie strahlen ihn an und Max strahlt zurück. Zu mir schaut keiner. Ich könnte das Fleisch in die Blumentöpfe schmeißen, auf dem Tischtuch mit der Soße ein Muster zeichnen, die Rigatoni zu schiefen Türmen aufschichten, in der Nase bohren, Sturm im Wasserglas spielen. Ich bin mir sicher, keiner würde es bemerken. Alles dreht sich um Max. Ich sehe wie er geschickt sein Fleisch schneidet, nur antwortet, wenn er den Bissen vollständig heruntergeschluckt hat, ein freundliches Lächeln hierhin und dorthin schickt und auf alles eine Antwort hat, noch dazu die richtige. Mein Bruder ist ein Alien! Ein Nachkomme des Geschlechts der perfekten Überflieger. Level 210! Nicht zu übertreffen! Wie macht er das bloß?
„Hut ab, Sohnemann“, wiederholt Papa zum x-ten Mal und grinst. „Wenn das so weitergeht, müssen wir uns wohl bald um eine Schule für Hochbegabte kümmern“, fügt er mit einem Schmunzeln hinzu.
„Die Lehrer haben es ja schon vor einiger Zeit angesprochen“, erklärt Mama, „aber wir wollten nicht aus dem Rahmen fallen. Wir sind doch eine ganz normale Familie. Es ist ja auch wichtig, dass er in seiner gewohnten sozialen Umgebung bleibt. Und außerdem ist er ja in seiner jetzigen Klasse so beliebt. Das ist doch genauso wichtig wie gute Noten.“
„Ja, aber dann hat sich Max durchgesetzt“, fährt Papa stolz fort. „Er wollte es unbedingt.“
Papa klopft ihm auf die Schulter.
„Kommt halt ganz nach mir“, wirft Nono zwinkernd ein, „zielstrebig, intelligent, schnell.“
„Genau!“, singen alle im Chor, „genau, genau, hahahaha!“ Ich lache nicht, ich esse nicht, ich sage nichts, ich halte es einfach nicht mehr aus. Langsam schiebe ich meinen Stuhl zurück und stehe auf. Max bemerkt es, ich gucke ihn flehentlich an, er zwinkert komplizenhaft und lenkt die Erwachsenen ab. Rückwärts verlasse ich den Essplatz. Im Flur befinde ich mich auf sicherem Terrain und drehe mich um. Das Gerede und Gelächter wird leiser, ich bin schon an der Treppe, nehme die ersten Stufen, gelange oben an, öffne die Tür zu meinem Zimmer, gehe hinein, schließe die Tür. Ruhe! Endlich! Tut das gut! Ich wünsche mich weg in ein anderes Leben oder zumindest jemand anderes zu sein. Ein bisschen mehr wie Max. Zielstrebig, intelligent, schnell.
Ich weiß nicht wie lange ich in meinem dunklen Zimmer gesessen habe, die Zipfel des Sitzsacks über meine Ohren gezogen. Im Dunkeln, außer dem Streifen Licht, der von der Straßenlaterne einen Weg durch das Zimmer zeichnet. Vielleicht ist es eine Stunde gewesen, vielleicht waren es zwei. Ich habe kein Gefühl mehr für Zeit und auch nicht für den restlichen Kram. Ein dicker Kokon umgibt mich, weich wie Watte, durch den nichts zu mir durchkommt. Ich bin irgendwo im All, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation, allein auf einem Planeten. Die Krater sind ausgetrocknet, öde, zusammengepappter Sand, der sich versteinert anfühlt. Weit und breit kein Leben. Nur ich und die trostlosen Gesteinsmassen. Die Tür öffnet sich und der Lichtweg von draußen verbindet sich mit dem Streifen, der von innen einfällt. Ich bleibe starr sitzen. Mir doch egal, wer da kommt. Ich hoffe, es sind nicht Mama oder Opi, schlimmer noch Omi - Nono könnte ich gerade noch ertragen oder Papa oder Max. Am ehesten Max.
„Hey!“
Es ist Max. Er kommt ins Zimmer und stellt sich direkt vor mich, nicht aufdringlich, eigentlich ganz angenehm.
„Alles klar?“
Ich bleib stumm. Er setzt sich auf meinen Schreibtischstuhl. Eigentlich müsste ich ihn hassen. Nur Max kann man nicht hassen. Der ist einfach perfekt. Wir schweigen. Er hat den Stuhl so gedreht, dass er in die gleiche Richtung schaut wie ich. Wir sitzen also in diesem halbdunklen Zimmer und schweigen - ziemlich lange. Immer wenn ich ihn gefragt habe, wie er das alles hinkriegt, welche Zauberformel er benutzt, was ich tun müsste, dann hat er mich nur fragend angeschaut, mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Keine Ahnung! Wirklich keinen blassen Schimmer. Ist halt einfach so.“
Es hat eine Zeit gegeben, da hab ich es ständig wissen wollen, ihn gelöchert und immer die gleiche nichtsnutzige Antwort bekommen. Heute frage ich nicht mehr. Ist halt einfach so. Mama hat mich früher auch zu trösten versucht. Ich solle mich nicht mit Max vergleichen. Wenn er mal wieder in irgendetwas besser gewesen ist und ich vor Wut gebrüllt und um mich geschlagen habe, hat sie sich zu mir herunter gebeugt, mir in die Augen geschaut und mit fester Stimme gesagt: „Vergleiche dich doch nicht mit deinem Bruder.“ Dann hat sie mir über den Kopf gestrichen und gelächelt. Und ich habe dabei immer gedacht, Recht hat sie, das ist völlig sinnlos, da stinke ich eh nur gegen ab. Und dieser Gedanke hat weiter in meinem Kopf gehämmert, als sie mich in den Arm genommen und mir ins Ohr geflüstert hat: „Ich mag dich so wie du bist.“
Aber das ist Vergangenheit. Vorbei. Und überhaupt! Wie soll das denn gehen? Kein Mensch kann mich gern mögen, so langweilig, unfähig und hässlich wie ich bin.
Daran kann ich mich erinnern, aber wann es angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Ich glaub, in der Grundschule hat noch keiner gemerkt, dass ich so ein Nullchecker bin. Das ging erst im Gymnasium los. Obwohl, Fußballspielen konnte er immer schon besser und Mathe und bessere Aufsätze, mehr Freunde hat er auch gehabt und schon immer gesprochen, als hätte er den Text vorher auswendig gelernt. Egal wo, wie und was, Max ist immer besser. Und jetzt sitzt er mir gegenüber und macht mal wieder das einzig Richtige, Schweigen. „Ich geh dann mal wieder“, sagt er nach einer Weile. Ich sehe ihn aufstehen und aus dem Zimmer gehen. Er ist echt nicht von meinem Planeten. Aber besuchen darf er mich schon.
Immerhin sind jetzt Ferien. Anfangs habe ich Glück, weil die Großeltern noch da gewesen sind, Schonzeit. Das Programm ,Wir sind eine ganz normale Familie‘ läuft ohne Unterbrechung, Mamas Lieblingssendung. Das sieht dann so aus, dass man viel isst und viel rumsitzt, später wird spazieren gegangen und abends gespielt oder ferngesehen. Aber das kennt ihr ja eh. Ich hab mich von meiner besten Seite gezeigt, bin ein „guter Junge“ gewesen. Omi hat das gesagt. „Ein guter Junge ist er ja doch.“ Max und ich sind nach dem dritten Mal „Das verrückte Labyrinth“ nach oben und als ich später ins Bad gegangen bin, habe ich sie unten reden gehört. Mama sei mit ihrer Geduld und ihrem Latein am Ende, sie wüsste wirklich nicht mehr, was sie machen solle, der Junge ruiniere sich noch die ganze Zukunft. Papa ist cool geblieben und hat gemeint, das wächst sich schon aus.
„Und wenn nicht?“, ängstigt sich Mama.
Nono beruhigt, man solle es halt jetzt erstmal mit Nachhilfe probieren, das sei ja mittlerweile Usus. Er höre das von vielen Leuten, Nona pflichtet ihm bei, und meint noch, dass man mich jetzt nicht zu sehr unter Druck setzen dürfe, sonst gehe es womöglich nach hinten los. Disziplin und Struktur habe noch keinem geschadet, klinkt Opi sich in die Diskussion ein. Omi ist ganz seiner Meinung. Ein paar Minuten höre ich mir an, was ich brauche, dann trete ich auf Zehenspitzen den Rückzug in mein Zimmer an. Haue mich aufs Bett, verstecke mich vollständig unter der Decke. Was ich brauche, was ich brauche, ich brauche ganz einfach eine neue Matrix. Unter der Decke ist es dunkel und warm, es gibt keine Geräusche, nichts. Das gefällt mir. Nichts tun müssen und es trotzdem warm haben. Irgendwann kriege ich keine Luft mehr und stecke zumindest den Kopf oben raus. Und dann dauert es auch nicht lange und ich schlafe ein.
Am nächsten Tag haben alle so getan, als ob sie sich gestern nicht über mich unterhalten hätten. Waren schon fast übertrieben freundlich. Trotzdem ist mir klar gewesen, dass das nicht ewig so bleibt. Am Abend dann, die Großeltern sind gerade in ihre Autos eingestiegen und abgefahren, ich zittere vor Kälte, weil wir einfach viel zu lange draußen gestanden sind beim Verabschieden, will ich mich in mein Zimmer verdrücken, ist sie da gewesen, die Stunde der Wahrheit! Kein Entkommen mehr, da hilft auch der Rächer nicht. Da kannst du dich warm anziehen.
Als ich mich die Treppe hoch drücken will, hält mich Mama zurück.
„Moment mal, Freundchen, wir haben noch einiges zu besprechen.“
Ich tu nicht wissend.
„Äh,… ach… was denn?“
„Tu nicht so ahnungslos. Wir haben noch kein Wort über dein Zeugnis geredet.“
„Können wir nicht morgen…?“
„Nein. Da arbeite ich. Das weißt du doch.“
„Und abends?“
„Hör auf zu handeln. Wir sprechen jetzt“, bestimmt sie entschieden. Ich sehe ein, dass sich meine Chancen verschlechtern, wenn ich jetzt weiter diskutiere und willige ein.
„Ich hole mir nur noch schnell einen Pulli.“
Dann flitze ich nach oben. Warm anziehen, wie gesagt.
Sie ist nicht allein, Papa sitzt auch im Wohnzimmer. Jetzt fehlt eigentlich nur noch Max, dann ist das Familiengericht komplett. Zögerlich nähere ich mich der Couchgruppe. Ich finde mein Zeugnis gar nicht so schlecht. Mama lächelt mich einladend an, Untertitel „Nun komm mein Sohn, so schlimm wird es nicht werden, wenn du kooperierst.“
So stelle ich mir sie auf ihrer Arbeitsstelle vor. Sie ist Personalentwicklerin, weiß also wie man Menschen motiviert und zu Höchstleistungen antreibt. Als ich sitze, fängt sie gleich an.
„Was sagst du denn zu deinem Zeugnis?“
Ihr Mund ist ganz klein und die Lippen nach vorne gestülpt. So schaut sie immer aus, wenn sie was richtig ankäst.
„Ja, äh, nichts.“
Ihr Mund wird noch kleiner und runder.
„Bist du zufrieden?“
Was soll denn diese blöde Frage, denke ich. Vor allem weiß sie ja schon die Antwort, die sie hören will.
„Naja.“
„Was heißt `naja`?“
„Naja eben.“
„Mein Gott, jetzt lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“
Ich stelle mir vor, wie sich meine Mutter über mich beugt und mir jedes Wort aus der Nase zieht. Die Buchstaben sind wie bei diesen Happy Birthday- Bändern aneinandergereiht. Gerade kommt das n aus meiner Nase geploppt, das a, das j, das a und mein schönes Wort hängt zwischen ihrer Hand und meiner Nase an einer Schnur. Klar, dass ich kichern muss. Ich versuche es zu unterdrücken.
„Was ist daran bitte witzig?“, schnappt sie. Hat nicht geklappt mit dem Unterdrücken. Ich werde wieder ernst, tu schuldbewusst.
„Nichts.“
„Also zurück zum Thema.“
„Ja.“
„Also, was hast du vor, damit sich die Noten ändern?“
„Lernen?“
„Und wie soll das aussehen?“
„Na, lernen eben.“
„Das hast du doch bislang auch schon gemacht. Und wir haben ja gesehen, was dabei rausgekommen ist.“
Mein Vater räuspert sich, wie als wolle er sie zurückhalten. Bis jetzt hat er die ganze Zeit daneben gesessen und so getan, als ob er zuhört, aber ich glaube, er ist mit Gedanken ganz woanders. Alle paar Minuten schlägt er ein Bein über das andere.
„Na, was soll ich denn sonst machen?“, frage ich genervt.
„Kannst ja mal überlegen.“
Das hasse ich am meisten, wenn sie mir Fragen stellt und mich überlegen lässt, obwohl sie längst weiß, was zu tun ist, es aber nur zu gerne hätte, wenn ich selber auf ihre Idee komme. Ich tu so, als würde ich überlegen. Nehme mir eines der Sofakissen und knautsche es zusammen, lasse es sich langsam wieder entfalten, knautsche wieder, flop, es dehnt sich aus. Dazu mache ich ein angestrengtes Gesicht, sieht ziemlich nach Nachdenken aus, glaube ich.
„Ich finde, es wird Zeit, dass du Nachhilfe bekommst“, sagt sie ganz ruhig, und lehnt sich im Sessel zurück. Mein Vater nickt.
„Das ist doch eine gute Maßnahme, oder Karl? Lass dir helfen“, beteiligt er sich jetzt auch mal am Gespräch.
„So schlecht ist mein Zeugnis doch gar nicht“, werfe ich schnell ein. Meine Mutter schaut mich mit strengem Blick, Untertitel ,Das meinst du nicht ernst‘ an. Also füge ich noch schnell hinzu: „Andere Eltern wären froh, der Jakob zum Beispiel...“
„Jetzt miss dich doch bitte nicht am Jakob. Da erwarte ich schon etwas mehr Ehrgeiz.“
Also doch mit Max vergleichen oder was, denke ich. Am besten, ich sag nichts mehr. Nur noch eins muss ich loswerden: „Nachhilfe mach ich nicht. Das könnt ihr vergessen.“
Dann verkriech ich mich in meinen Pulli, ziehe die Kapuze tief ins Gesicht und die Ärmel so lang, dass meine Hände verschwinden. Wir schweigen. Ich schau aus dem Fenster und sehe nur tiefe schwarze Nacht.
„Setz mal wenigstens diese dämliche Kapuze ab. Ist ja lächerlich, hier drin“, unterbricht meine Mutter das Schweigen. Mechanisch setze ich die Kapuze ab, ärgere mich im gleichen Moment und will sie wieder aufsetzen.
„Danke“, sagt sie sanft. Ich guck sie an wie ne Kuh, lass die Hände sinken. Das ist ihre andere Seite. Freundlich, verständnisvoll, sanftmütig und damit kriegt sie mich fast immer.
„Schau mal, Karl, mittlerweile hat fast jeder Nachhilfe. Das ist doch gar nicht mehr zu schaffen, mit G8 und den hohen Anforderungen...“
Und Max?
„Es macht also nichts, wenn du dir ein bisschen unter die Arme greifen lässt.“
Und Max?
„Wir unterstützen dich gerne.“
„Ich halte das auch für eine gute Idee“, sagt mein Vater artig seinen Text auf.
„Ich nicht.“
Meine Mutter wird wieder ungeduldig. „Jetzt sei doch nicht so stur.“
Vater ebenfalls. „Wäre doch schade, wenn du weiter absinken würdest.“
Beide: „Lass dir doch helfen.“
„Nein. Das schaffe ich allein.“
Ich warte noch einen kurzen Moment bis sie den nächsten Versuch starten, aber es kommt nichts. So richtig glauben kann ich das noch nicht, beide sind ruhig, warten auf eine Reaktion von mir.
„Das schaff ich schon. Entspannt Euch!“, versuch ich ihnen klar zu machen, stehe auf und gehe Richtung Ausgang. Alle paar Schritte drehe ich mich um und erkläre: „Fang gleich morgen an. -Werdet es schon sehen- Ich schaff das.“
Am besten ist das Gefühl, wenn das Rad in die Biegung fährt. Ein Kribbeln arbeitet sich vom Unterbauch bis unter die Brust hoch, das Rad verlangsamt mit jedem Meter, den die Pipe wieder ansteigt. Jedes Mal will ich noch höher kommen. Cool ist es, wenn ich mich mit dem Vorderrad oben einhängen kann und für einen Moment in der Luft hänge. Eine falsche Bewegung, erst kippt das Gleichgewicht, dann das Rad. Ich bleibe oben, ziehe den Lenker hoch, drehe das Rad in der Luft und sause hinunter, ein kurzes Stocken, das Kribbeln und auf der anderen Seite wieder hoch.
Heute ist der letzte Tag der Ferien. Ich schaffe einen einfachen Bunny Hop, einen Cross up, ein Barspin, einen Footjam, irgendwann werde ich mal einen Tailwhip oder Decade hinkriegen, aber ich habe es nicht geschafft, mich in den Ferien hinzusetzen und zu lernen. Ich habe es probiert, auch weil Jakob seltsamer Weise nie Zeit hatte. Habe meine Sachen ausgebreitet, die Bücher, die Hefte, was man halt so braucht und dann in die Luft gestarrt. Irgendwann habe ich mein Zeugnis genommen, die ganzen Vierer gesehen, und mir vorgesagt, dass ich damit nicht durchfallen werde und das ist das Ziel. Jeglicher weitere Aufwand ist unsinnig.