Читать книгу Was soll's! - Elisa Behr - Страница 5
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ОглавлениеDie Schule geht wieder los. Jeden Morgen der Kampf gegen das Monster der Schwerkraft, jeden Vormittag gegen die Langeweile und das Gefühl, dass man einfach nicht in diese Welt passt. Kastner hat ein wettergegerbtes, sonnenverbranntes Gesicht und ist vor Energie kaum zu bremsen. In der ersten Stunde nach den Ferien erzählt er von seiner Ski-Trekking-Tour durch Norwegen. Wie viele Kilometer sie täglich gegangen sind, wie viele Höhenmeter sie bezwungen haben, welchen Gefahren sie ausgesetzt waren und dass sie niemals, egal wie eisig der Wind, wie tief der Schnee, wie schrecklich das Wetter gewesen sei, nie, nie, nie haben sie aufgegeben. Sie haben allen Anstrengungen und Gefahren getrotzt. Und dass erwartet er jetzt auch von uns, denn ein bisschen was... Ich werde ihn für eine Mount Everest Expedition vorschlagen, denke ich mir, als er den Satz beendet, dann bin ich diesen Adrenalinjunkie wenigstens für ein Jahr oder so los. Als ich ihn gerade erfolgreich in die Bergwelt abgeschoben habe und mir vorstelle, wie er im dritten Basis-Camp noch schnell eine zehn Kilometer Trainingsrunde läuft, verwundert mich der Schatten, der auf meinen Tisch fällt.
„Noch ganz in den Ferien, was?“
Kastner steht neben mir. Wie ist der denn dahin gekommen? „Äh, ja“, stammele ich.
„Na, die müssen wohl ganz besonders gewesen sein?“
„Wer?“
„Na, deine Ferien.“
Ich zucke die Schultern.
„Was hast du denn gemacht?“
„Dies und das.“
„Du willst uns wohl nicht daran teilhaben lassen?“
„Ja.“
Er scheint nach Worten zu suchen, denn er sagt erstmal nichts, sondern fährt sich mit der Hand übers Kinn. Stimmt nicht. Er hält die Hand ans Kinn und bewegt den Kopf hin und her. Das dauert eine Weile und ich will schon wieder auf Standby schalten, als er freundlich sagt: „Na, hast ja Recht, wenn du nicht erzählen magst. Ist ja deine Sache.“
Richtig, meine Sache. So verkehrt ist er gar nicht. Also vielleicht doch nicht auf den Mount Everest schicken.
Nach der ersten Woche will er mit mir reden, von wegen warum ich mich so hängenlasse. Er könne sich das gar nicht mit anschauen. Ob irgendwas passiert sei, das mich fertig machen würde? Ich schüttele den Kopf, zucke die Schultern und nuschele ab und zu: „Äh ja, ne, ... keine Ahnung.“
Als er endlich am Ende ist, schaue ich ihn aufmunternd an und verlasse mit den Worten „Machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich krieg das schon hin.“ das Klassenzimmer.
Er hat mir nicht geglaubt, denn ein paar Tage später, ruft er genau zur Abendessenszeit an. Meine Mutter rollt mit den Augen, ist schon halb aufgestanden und schimpft: „Ist ja typisch, gerade wenn man beim Abendessen sitzt.“
„Dann lass es halt klingeln“, versucht mein Vater sie zurückzuhalten.
„Und wenn es was Wichtiges ist?“
„Dann rufen die nochmal an.“
„Deine Ruhe möchte ich mal haben“, ist das Letzte, das sie zu uns sagt, bevor sie den Telefonhörer abnimmt. Als sie zurückkommt, seufzt sie: „Über dich kann man sich nur wundern, Karl.“
„Na, dann haben wir ja zwei Wunderkinder“, versucht mein Vater witzig zu sein, erntet aber nur einen eiskalten Blick. Max schaut mich anerkennend an, reckt den Daumen in die Höhe und haut mir seinen Ellenbogen in die Rippen. Ich verschlucke mich fast.
„Das war dein Klassenlehrer. Ich soll diese Woche noch in seine Sprechstunde kommen. Hast du vergessen, mir irgendetwas mitzuteilen?“, fragt meine Mutter genervt.
„Uns“, wirft mein Vater ein, „uns, ich bin ja auch noch da.“
„Dann kannst du ja auch hingehen“, fährt sie ihn an.
„Tut mir leid, du weißt, dass es bei mir vormittags nur in den allergrößten Notfällen geht und diese Woche, du weißt, wir stehen kurz vor dem Abschluss, da ist nichts zu machen.“
Sie lässt ihn einfach links liegen und nimmt mich wieder ins Verhör. „Also, hast du vergessen, mir irgendetwas mitzuteilen?“
Ich zögere einen Moment, weiß erstmal auch nicht, was er will. Dann fällt mir die Situation aus der Schule wieder ein.
„Ich glaub wegen den Noten und so.“
„Ich dachte, du wolltest daran was ändern“, schnaubt sie und schiebt ihre Lippen wieder so komisch nach vorne.
„Will ich ja auch.“
Erst ist kurzes Schweigen, man hört nur die Geräusche, die wir so beim Essen machen, also Schmatzen, Rülpsen, und Pupsen. Ist natürlich Quatsch. Außer ganz leisen Kaugeräuschen hat man nur gehört wie das Besteck auf den Tellern kratzt. Fast gespenstisch. Nach einer Weile geht sie in die nächste Runde.
„Man kann sich wirklich nur über dich wundern. Du hast die besten Voraussetzungen: eine intakte Familie, die dir jede Unterstützung gibt, die du brauchst, Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf. Du hast alles. Also, was verdammt nochmal ist mit dir los?“
Ich bin ihr die Antwort bis heute schuldig geblieben. Ich weiß ja selbst nicht, was mit mir los ist.
Im Unterricht habe ich mein Interesse für Maße und Gewichte wiederentdeckt. Ich weiß nicht, warum. Es war einfach da. Während die Lehrer vorne irgendetwas faseln, überlege ich mir, wer wie schwer und wie groß ist. Christian wiegt wahrscheinlich fast 60 Kilo, so muskelbepackt wie der ist. Jakob, den Kleiderständer, schätze ich auf 45 Kilo. Die Tafel ist zwei auf drei Meter, zugeklappt. Irgendwann habe ich begonnen mit dem großen Lineal alles nachzumessen. Sehr zur Belustigung meiner Klassenkameraden. Ich stehe mit dem Lineal vor der Tafel, hantiere herum, sage immer „aha“, oder „da lagst du ja völlig daneben“ und interessiere mich nicht für die anderen. Die glotzen nur blöde. Christian fragt: “Was soll das denn werden?“ Ich antworte nicht. Er stellt sich genau vor mich. „He, ich habe dich was gefragt! Was das werden soll, möchte ich wissen!“
„Erstens geht dich das einen Scheißdreck an und zweitens geh mir aus dem Weg.“
Aber er bleibt einfach stehen. Ich schiebe ihn zur Seite und will weiter messen, aber der Idiot packt mich an der Schulter und reißt mich rum. „Spinnst du jetzt völlig?“
„Wahrscheinlich“, sage ich ohne ihn anzugucken. Mir ist es tatsächlich egal, was er denkt. Keine Spur vom Rächer vorhanden. Den gibt es nicht mehr. Es gibt nichts zu rächen und nichts, was sich zu verteidigen lohnt, keine Ehre oder Ansehen oder so ein Blödsinn, von dem man meint, dass man es im Leben braucht. Das Einzige, was ich brauche, ist meine Ruhe und die Maße der Gegenstände, die ich vorher geschätzt habe. Mit so was kriegt man einen Schulvormittag schnell rum. Nur Christian gibt nicht nach, steht mir immer noch im Weg und dagegen muss ich etwas unternehmen. Ich hole mit dem Lineal aus, schwinge es in seine Richtung, treffe ihn und zack hängt er an der Tafel. Das hat er natürlich nicht auf sich sitzen lassen können. Im nächsten Moment springt er wie ein wildgewordener Habicht auf mich zu, hängt sich an mich dran und zieht mich zu Boden. Ich lasse es einfach geschehen. Als ich unter ihm liege, den harten Linoleumboden im Rücken und seinen Pfefferminzatem ganz nah an meinem Gesicht spüre, wird unser Kampf durch Kastners Schrei unterbrochen.
„Was ist denn hier los? Auseinander sofort!“ Er zieht Christian hoch und schiebt ihn von mir weg zur Tafel. Dann hält er mir die Hand hin, um mir beim Aufstehen zu helfen. Ich drehe mich zur Seite, knie mich hin und komme alleine wieder auf die Beine. Hilfe brauche ich wirklich nicht. Als wir dann da stehen, Christian rechts von ihm, ich links, wiederholt er seine Frage: „Was war da los?“
Christian sieht mich wütend an und zetert:
„Der ist jetzt völlig durchgedreht! Ich sag‘s Ihnen, ich schwör. Der haut hier mit dem Lineal in der Gegend rum. Das war reine Notwehr.“
Kastner hat sich ihm zugewandt, die Hand mal wieder am Kinn, aber jetzt geht der Kopf nicht hin und her, sondern rauf und runter. Er dreht sich zu mir.
„Und wie ist deine Sicht der Dinge?“
„Äh ja, keine Ahnung, wenn der auch so dämlich im Weg rumsteht.“
Kastner zieht die Augenbrauen nach oben und runzelt die Stirn.
„Wobei im Weg steht?“
„Beim Messen.“
Er beißt sich auf die Lippen, neigt den Kopf nach rechts und links. Sieht aus, als ob er schwer nachdenkt.
„Was wolltest du denn messen?“
„Na die Tafel und so.“
„Warum?“
„Warum nicht?“
„Du gibst einem echt Rätsel auf.“
Bestraft hat er uns nicht, aber abgemahnt. So etwas solle nicht wieder vorkommen, man könne doch über alles reden. Kann man das? Also ich kann das nicht.
Ich habe mich jedenfalls nicht davon abhalten lassen, weiter zu messen. Das Lineal und ich sind richtig gute Freunde geworden. Keiner macht es mir streitig. Alle, auch Christian, haben es einfach akzeptiert, dass ich der Spinner mit dem Lineal bin. Zwischen den Stunden ist es meins. Mal spaziere ich durch den Raum und nutze es als Stock, mal kauere ich mich hinter meine Bank und ziele auf alles, was rumläuft. Wer sich bewegt, ist tot. Es hat etwas gedauert, bis ich Jakob überredet hatte, mit mir zu kämpfen. Er mit Zeigestock, ich mit dem Lineal und dann aufeinander los wie die Musketiere und sich einen ordentlichen Fechtkampf liefern. Die anderen halten Abstand, haben wohl Angst, dass sie eine drüber kriegen. So viel Respekt habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehabt, glaube ich zumindest. Berühmt bin ich auch für mein Timing, genau mit der Schulglocke das Klassenzimmer zu betreten. So bin ich keine Minute zu früh, keine zu spät. Niemand kann mich aufschreiben. Denkste! Kastner hat es meist durchgehen lassen. Aber die dicke Wollenweber, die ich eh hasse, begrüßt mich immer mit: „Karl, du bist zu spät.“
„Wieso? Ich bin doch da.“
„Aber noch nicht mit vorbereiteten Sachen am Platz und bereit für den Unterricht.“
„Von mir aus können Sie anfangen.“
Die anderen lachen. Ich genieße es. Ich bin wer.
Die Wollenweber schnaubt wie ein Walross, dabei setzt sich ihr ganzer Körper, jedes einzelne Röllchen inklusive in Bewegung und schaukelt bedenklich. Dann wischt sie sich ihre grundsätzlich schweißnassen Hände an der Seite ihres Kleides ab, schnauft laut, schüttelt den Kopf und dann legt sie los mit ihrem unsagbar langweiligen Unterricht: Mathe. Und ich suche mir neue Gegenstände, die ich schätzen kann. Alles andere ist mir egal. In einer Englischstunde steht Kastner vor mir und will wissen, wie man das Present Perfect bildet. Er hat mich aus einer komplizierten Schätzung gerissen. Ich brauche einen Moment bis ich die Frage kapiere, dann schaue ich ihn gelangweilt an und sage: „Sie wissen doch eh, dass ich es nicht weiß. Warum fragen Sie mich dann immer wieder?“ Ihm bleibt die Spucke weg. Er schaut zu mir, atmet, zieht die Augenbrauen hoch. Na, komm lass deinen Spruch ab.
„Bei dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren.“
Jetzt hat er es auch verstanden und ich habe einen Punkt mehr auf der Versagerkarte. Klappt gut. Man muss nur wollen. Wäre nur meine Mutter nicht gewesen. Die hat mir schon vor den Ferien nicht geglaubt, dass ich mich alleine hinsetze und lerne. Das Gespräch mit Kastner hat ihr den Rest gegeben und so sitze ich jetzt nach diversen Gesprächen, die alle ungefähr so abgelaufen sind wie das erste und mit denen ich euch nicht langweilen will, bei einer Nachhilfelehrerin. Und die, die bringt mich wirklich um. Ich weiß nicht, wo meine Mutter die gefunden hat, auf der Resterampe oder was? Wo sie doch sonst so auf Qualität bedacht ist, da darf es auch ein bisschen teurer sein, wir können es uns ja leisten. Also Frau Herger, ich dürfte sie auch Anja nennen, tu es aber aus Trotz nicht, ist jung. An sich ist das ja schon mal gut, also könnte es sein. Sie sieht aus als ginge sie in meine Parallelklasse, klein, zierlich, lange, braune, kerzengerade Haare bis auf die Schultern und rotlackierte Nägel. Wenn ich etwas hasse, dann sind das lackierte Nägel. Jedes Mal, wenn sie mir die Tür aufmacht, muss ich lachen, nicht, weil sie komisch aussieht, sondern weil ich immer an Hägar denken muss. Das ist so eine Comicfigur, die mir mein Vater mal gezeigt hat. Der ist dick, bärtig und ungehobelt, denkt immer nur an Kämpfen, Essen, Saufen und Spaß haben - und dann steht sie vor mir klein, gebildet, humorlos. Sie öffnet die Tür, schaut mich nur kurz an, dann sofort auf ihre Uhr. Ich muss lachen und sie ist irritiert. Sie weiß ja nichts von Hägar. Wenn sie irritiert ist, wird sie richtig fies streng. Wehe, ich bin zehn Sekunden zu spät, dann hält sie mir einen Vortrag über Pünktlichkeit und Respekt. Das kommt eigentlich jedes Mal vor. Beliebt sind auch Konzentration, Struktur, Disziplin. Mit einem leichten Kopfnicken folgt dann in säuselndem Ton: „Und daran müssen wir zwei noch ordentlich arbeiten.“
Dabei lächelt sie nach jedem zweiten Wort so künstlich, dass ich denke, da stimmt was nicht in der Mechanik. Ich nehme ihr das Lächeln nicht ab. Es ist definitiv verlogen. Und wenn jemand verlogen ist, dann geht bei mir gar nichts mehr, also konzentrationstechnisch, meine ich. Ich ärgere mich die ganze Zeit nur über diese Verlogenheit. Die muss doch merken, dass die anderen mitkriegen, wie unecht dieses Lächeln ist. Und wenn sie mir dann auch noch ihre Hand mit den roten Nägeln auf die Schulter legt, um mich zum Lernen zu bewegen, schüttelt es mich nur. Die zwei Stunden täglich sind Folter. Anders kann man gar nicht dazu sagen. Trotzdem gehe ich seit vier Wochen jeden Tag hin. Bleibt mir auch gar nichts anderes übrig. Ich hoffe nur, dass meine Mutter nun endlich zufrieden sein wird.
Das Wetter ist besser geworden, wir können wieder in den Skatepark. Wegen der Nachhilfestunden bin ich jetzt immer der Letzte. Die anderen, also Paul, Gregor und Jakob sind schon längst da. Als ich über den Parkplatz auf das Gelände zusteuere, sehe ich zwischen den noch leeren Ästen der Bäume, wie sie hin- und herfahren. Paul wird immer besser, bald hat er mich überholt, wenn ich weiterhin so wenig Zeit zum Trainieren habe. Gregor ist keine Gefahr, der murkst immer noch an den billigsten Tricks rum und Jakob, der sitzt auf der Bank und starrt auf sein Handy. Ein großer Biker war er noch nie, aber in der letzten Zeit ist er immer komischer geworden. Ich fahre erstmal zur Pipe. Hintern hoch, mit Kraft in die Pedale und schon rase ich die Transition hoch an Gregor vorbei. Oben angekommen habe ich noch genug Geschwindigkeit, hebe ab, drehe mich in der Luft, lande sicher zurück auf der Bahn, pumpe, um erneut Tempo aufzunehmen, die ansteigende Transition auf der anderen Seite zu nehmen, schieße über das Vert hinaus, Drehung, freier Fall, aufkommen, Fahrt gewinnen, abheben, fliegen, landen. Ist das geil. Ich fahre gut zehnmal hin und her. Dann ist mir warm, meine Knie und Hände zittern ein bisschen und ich bin völlig außer Atem. Ich lasse das Rad in Richtung Bank ausrollen. Paul schaut mich anerkennend an.
„Cool, Alter. Wie oft?“
„Hab nicht mitgezählt“, antworte ich lässig.
Gregor sitzt die ganze Zeit nickend und grinsend daneben. Sieht fast so aus, als ob er Paul oder mich verarschen wollte. Tut er aber nicht. Der wackelt immer so. Ist jetzt auch nicht der Angesagteste in der Klasse, genauso wie Paul, aber irgendwie kennen sie mich nur hier im Park, in der Schule machen wir nichts zusammen. Jakob fläzt auf der Bank und nimmt mich gar nicht wahr. Dann fangen seine Augen an zu flattern und flackern, die Mundwinkel kommen mit immer schneller werdenden Zuckungen hinzu. Während seine Daumen wie wild auf der Tastatur herumhämmern, breitet sich das Zucken über das gesamte Gesicht aus, und nimmt zuletzt auch den Oberkörper in Beschlag. Das ist der Moment, in dem die Augen starr werden. Völlig konzentriert schaut er auf das Spiel, wirkt ruhig, während Hals abwärts das Chaos ausgebrochen ist. Alles zuckt und wackelt, hektisch, panisch, fast spastisch. Kurz darauf sitzt er wieder völlig ruhig da. Das Spiel ist vorbei. Erst jetzt bemerkt er mich.
„Hi, bist du schon lange da?“
Ich gucke ihn an wie ein Fragezeichen.
„Schon ne ganze Weile. War schon auf der Pipe.“
„Ach so“, antwortet er knapp und startet das nächste Spiel. Ich setze mich hin und lasse ihn neben mir zappeln. Wundere mich wirklich. Als er fertig ist, frage ich ihn: „Ist eigentlich alles klar bei dir?“
Er schaut kurz zu mir rüber, nickt.
„Ja, schon, klar ist alles klar. Warum fragst du?“
„Äh, nur so. Weil, wir haben schon lang nichts mehr gemacht. Bock auf ein bisschen Playstation zocken bei dir?“
Obwohl er im Moment nicht spielt, antwortet er nicht. Ich lasse ihm noch ein bisschen Zeit, bevor ich wieder anfange: „Also was ist? Ich hab noch ne Stunde, bevor ich heim muss.“
Jakob schaut abwechselnd zu mir und auf seine Handy und stammelt: „Weißt du, also im Moment, da ist, da geht... meine Eltern, die, wir …“
Ich schaue ihn irritiert an, wie er da neben mir sitzt, meinem Blick ständig ausweicht und vor sich hinstammelt. Dann muss ich lachen. Es sieht einfach zu komisch aus. Zuerst lacht er mit, dann steht er abrupt auf und geht zu seinem Fahrrad.
„Ich muss gehen.“
Ich bin total verwirrt. Jakob muss nie gehen. Seine Eltern sind die coolsten, die ich bisher kennengelernt habe. Jakob darf alles. Jakob darf zocken, wegbleiben und Freunde mit nach Hause nehmen, so oft und so lang er will, sogar schlecht in der Schule sein. Seine Mutter hat trotzdem immer gute Laune und sein Vater sagt zu dem Ganzen nur: „Mein Gott, dann machst du halt ne Lehre und später, wenn du es begriffen hast, kannst du ja immer noch über den zweiten Bildungsweg.“ Das nenn ich mal gechillt.
„Wohin musst du denn?“, frage ich verwundert.
„Weg halt.“
„Hoho, was ganz Geheimes“, frotzle ich.
Die anderen lachen. Jakob sagt nichts, hebt sein Fahrrad auf. Ohne noch einmal aufzublicken, verschwindet er. Irgendwas hat er. Ich brauche einen Moment, bis ich das begreife, schwinge mich dann auf mein Fahrrad und rase ihm hinterher. Kurz vor seiner Haustür hole ich ihn ein. Er ist gerade dabei, sein Fahrrad an die Hauswand zu lehnen, wirkt ganz versunken, als ihn meine quietschenden Bremsen aus seinen Gedanken holen. Langsam hebt er den Kopf.
„Was machst‘n du hier?“
„Hast du nicht doch Lust auf ein Spiel? Hab‘s nicht so gemeint.“
Er ist ein Stück näher an mich rangekommen, steht verloren vor mir und druckst rum: „Also, ich hätte irgendwie schon Lust, nur weiß ich nicht, ob das gerade so gut... meine Eltern, ich kann ja mal fragen.“
Was ist denn mit dem los? Der hat noch nie ein Spiel abgesagt, vor allem nicht gegen mich. Da besteht eine 100% Chance auf Gewinn. Die wird er sich doch nicht entgehen lassen. Aber er steht immer noch unentschlossen herum und scharrt mit der Fußspitze im Kiesweg.
„Was ist mit deinen Eltern?“, bohre ich nach.
„Naja, also, ich soll, ich mein, ich darf, sie haben es halt gerade nicht so gern, wenn ich jemanden mitbringe.“
Mir fällt erstmal nicht ein, was ich darauf antworten kann. Wir stehen blöd rum. Ich kapier einfach nicht, was da los ist.
„Seit wann das denn?“
Keine Antwort. Mittlerweile ist schon ein kleines Loch im Kiesweg entstanden, daneben das Häufchen Steine, die weggeschoben wurden. Ich schiebe mein Fahrrad zur Hauswand, er scharrt weiter. Als ich zur Haustür gehe und klingeln will, erwacht er aus seiner Lethargie und stürmt auf mich zu.
„Spinnst du, ich hab doch einen Schlüssel.“
„Na, dann schließ auf, du Pfeife.“
Er steht vielleicht noch so eine Minute unschlüssig vor mir und ich frage mich, ob es ihm jetzt auch peinlich ist, mit mir gesehen zu werden, bis er sagt: „Bei dir wird es schon irgendwie gehen.“
Dann fummelt er seinen Schlüssel aus der Hosentasche und sperrt die Tür auf. Es ist keine Musik zu hören. Das Erdgeschoss wirkt leer und trostlos. Irgendwas hat sich verändert. Genau, es fehlen Bilder und Möbel.
„Was ist denn bei euch los?“, frage ich neugierig, während ich wie gewohnt den Weg Richtung Küche nehme. Mal sehen, was Frau Brandt heute gekocht hat. Jakob stellt sich mir in den Weg.
„Geht dich nichts an.“
Im ersten Moment schlucke ich. So abweisend habe ich Jakob noch nie erlebt. Eigentlich will ich klein beigeben, entscheide mich dann doch dafür, ein bisschen für gute Laune sorgen zu wollen.
„Hey, schon vergessen? Wir sind Freunde.“
Jakob zuckt zusammen und schaut mich nur hilflos an.
„Kann ich trotzdem nicht sagen.“
Er steht da wie ein nasser Sack. Ich versuche über seine Schulter zu schauen und sehe, dass im Wohnzimmer statt des großen Flachbildfernsehers ein kleineres Modell dasteht.
„Lass uns nach oben gehen“, reißt er mich aus meiner Betrachtung und drängelt mich zum Treppenabsatz. Auf dem Weg nach oben schaffe ich es, noch einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen. Die Vitrine, in der schrecklich kitschige vergoldete Tässchen gestanden haben, ist leer. Das ganze Haus wirkt gespenstisch, vor allem die Ruhe. Keine Musik, keine Frau Brandt, die singt. Während Jakob mich die Treppe hoch manövriert, frage ich, wo sie ist. Bekomme wieder keine Antwort. In seinem Zimmer ist alles wie immer. Er hat noch den gleichen Fernseher, die PSP, den Computer, keine Veränderung. Wie ferngesteuert geht er von Gerät zu Gerät und schaltet sie ein, setzt sich wortlos auf den Boden vor den Fernseher, drückt mir den Joystick in die Hand und startet das Spiel. Er ist absolut nicht zum Reden aufgelegt, wir fangen an zu spielen. Er zuckt wild neben mir und ich kann mich nicht auf das Spiel konzentrieren. In meinem Kopf toben lauter Fragen: Was ist hier los? Wo sind die ganzen Sachen hin? Warum ist Frau Brandt nicht zu Hause? Jakob gewinnt ein Spiel nach dem anderen. Als es ihm reicht, raunzt er mich an: „Was ist denn?... Du wolltest doch.. streng dich mal ein bisschen an, so macht das echt keinen Spaß.“
Ich versuch mir etwas mehr Mühe zu geben und bin gerade dabei, ein paar Punkte einzuheimsen, als es an der Tür klopft. Bevor Jakob irgendwas sagen kann, ist sie offen. Herr Brandt, Jakobs Vater, steht im Türrahmen. Er sieht ziemlich müde und durcheinander aus. Sein Hemd sitzt völlig schief unter dem Pullunder, der sein Markenzeichen ist. Seitdem ich ihn kenne, hat er diese etwas zu weiten, lässig sitzenden Pullunder in matten Farben an. Er sieht mich, glotzt mich völlig überrascht an, dann geht sein Blick zu Jakob und wird streng. Schnell gewinnt er wieder Fassung und begrüßt mich freundlich: „Ah! Hallo Karl, schön dich mal wieder zu sehen.“
Schlechter Schauspieler. Ich glaube ihm kein Wort. Gerne würde ich fragen, was los ist, traue mich aber nicht, sondern grüße nur freundlich zurück. Kaum habe ich fertig gesprochen, wendet er sich an seinen Sohn: „Jakob, kannst du bitte kurz kommen. Ich brauch dich mal eben.“ Jakob nickt, steht sofort und ohne Widerwillen auf.
„Bin gleich wieder da.“
Das Spiel läuft weiter. Er verschwindet mit seinem Vater und ich sitze alleine im Zimmer und schaue dem Geschehen auf dem Bildschirm zu. Spielen tu ich nicht mehr. Ich lasse meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Hier ist wirklich alles wie immer. Ich stehe auf und gehe hin und her. Jakob bleibt ganz schön lange weg. Dann setze ich mich auf den Sessel, der am Schreibtisch steht, drücke die Lehne mit Kraft nach hinten, gebe nach, sodass ich nach vorne geschleudert werde. Nach ein paar Malen lasse ich es und starre auf die Sachen auf dem Schreibtisch. Lauter Schulzeug! Nichts Interessantes! Und schon gar nichts, was mir irgendeinen Hinweis darauf geben könnte, was hier los ist. Herr Brandt hat immer mit mir geredet, zumindest immer gefragt wie es mir geht. Heute nicht! Ich stoße mich vom Boden ab, sodass sich der Sessel zu drehen beginnt, hol mir immer mehr Schwung, nehme die Beine dann ganz hoch und lasse mich ausdrehen. Etwas schwindelig gucke ich zur Tür. Der könnte jetzt echt mal wieder kommen. Und mir vor allem erzählen, was hier los ist.
Aber es bleibt ruhig. Ich drehe mich noch ein paar Mal in jede Richtung, dann reicht es mir. Als ich aufstehe, wanke ich ein bisschen. Die Dinge um mich rum wirken, als bewegten sie sich. Ich schwanke zu meiner Jacke, hebe sie auf und torkele weiter zur Tür, öffne sie. Im Treppenhaus ist es still. Ich kann Jakob und seinen Vater nirgendwo hören oder sehen. Zuerst will ich noch in der Küche und dem Wohnzimmer nachgucken, fühle mich aber komisch dabei und gehe direkt zur Haustür und raus. Als ich zu Hause angekommen bin, gehe ich sofort auf mein Zimmer und schreibe Jakob eine Nachricht auf WhatsApp.
„Musste weg. Was ist los?“
Erst als ich schon im Bett liege, vibriert mein Handy. „Kann ich nicht sagen.“
„Warum nicht?“
„Darf nicht.“
„Wer sagt das?“
„Mein Vater“
„Ich halt dicht.“
Es dauert eine Ewigkeit, bis sich wieder was rührt.
„Geh online, ruf dich auf facetime an.“
Ich stehe auf und schalte meinen Computer ein, aktiviere das Programm und die Kamera. Das Fenster öffnet sich, dahinter Jakob, der abwechselnd auf seinen Tisch und die Kamera starrt.
„Also was ist los?“, beginne ich ohne lange Vorrede.
„Äh na, du hast ja gesehen... also es geht schon ziemlich lang so, der hat uns gar nichts, selbst meine Mutter hatte keine Ahnung...“
Ich hasse es, dass er immer so in Brocken redet und bin kurz davor, ihm ins Wort zu fallen, beherrsche mich aber und versuche mir die Geschichte aus den Puzzleteilen seiner Rede zusammenzusetzen.
„... der hat die ganze Zeit so getan, als ob alles in Ordnung wäre. Pustekuchen, kein Auftrag, seit zwei Jahren schon nicht mehr, keinen Auftrag. Das sind die Fakten. Und nichts gesagt, hat er. Dann, in den Faschingsferien, steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür und alles kommt raus. Selbst meine Mutter hatte keine Ahnung davon, dass mein Vater schon lange pleite ist.“
Jakob lässt die Schultern hängen. Ich weiß nicht, ob er traurig oder wütend ist. Er holt ein paar Mal tief Luft, ich suche nach irgendwas, was ich sagen kann, aber mein Mund geht nur auf und in dem Moment, in dem ich ein Wort aussprechen will, halte ich es für das so ziemlich unpassendste überhaupt.
„Und jetzt?“, frage ich endlich.
Jakob wettert los: „Jetzt haben meine Eltern beschlossen, dass es das Beste ist, in das Heimatdorf meines Vaters zu ziehen. Meine Großeltern haben da ein großes Haus, da kommen wir unter und er sucht sich einen Job.“
Er macht eine längere Pause, spielt mit irgendwas auf seinem Schreibtisch rum. Ich bin total geplättet von der Geschichte und völlig sprachlos. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, um das alles zu begreifen. Zu nichts anderem bin ich in der Lage. Nach einer Weile sagt Jakob: „Ich darf eigentlich gar nicht darüber reden. Strengstes Verbot! Der macht mich fertig, wenn er erfährt, dass ich dir...“
„Mach dir mal keine Sorgen. Ich halt die Klappe! Ehrensache!“
Aber ich versteh nicht so ganz, warum das ein Geheimnis bleiben soll? Jakob scheint meine Gedanken zu erraten, denn er redet weiter: „Es ist ihm so peinlich. Der fühlt sich so dermaßen als Versager, der kann meiner Mutter nicht mehr in die Augen sehen.“
„Und deine Mutter? Wo war die eigentlich heute Nachmittag?“, falle ich ihm ins Wort.
„Arbeiten. Hat sich gleich mal einen Job gesucht.“
„Dann könnt ihr ja vielleicht doch bleiben.“
„Vergiss es. Mein Vater will so schnell wie möglich weg von hier. Das Haus verkaufen und allen seine Lügengeschichte erzählen, damit keiner auf die Wahrheit kommt.“
„Aber er kann doch nichts dafür, dass er keine Aufträge mehr bekommen hat.“
„Sagt meine Mutter auch... egal, es ist beschlossene Sache. Zwei Wochen, dann sind wir weg.“ Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, wenn Jakob weg ist. Jakob ist immer da gewesen. Auch als ich noch mit Christian befreundet war, bin ich manchmal mit ihm losgezogen. Dann wurde es immer öfter und dann waren wir die besten Freunde.
„Was für eine Scheiße“, sage ich.
„Absolut. Riesenscheiße...“
Jakob wischt auf seinem Tisch rum und ich auf meinem. Was soll man dazu auch sagen?
„Und dich? Hat dich jemand mal gefragt, was du davon hältst?“, will ich wissen.
Jakob schiebt weiter Staubfusseln oder was auch immer sich auf seinem Tisch befindet von einer Seite zur anderen. Ich gucke ihm zu und warte auf eine Antwort. „Klar. Schon. Aber ist doch egal, was ich will. Ist halt so“, sagt er schließlich nach einer Ewigkeit. Dann sitzen wir uns wieder gegenüber, schauen in den Bildschirm und dem anderen beim Schweigen zu. Irgendwann meint Jakob, er müsste jetzt mal und fragt, ob er sich wirklich auf mich verlassen könne.
„Mein Vater bringt mich um, wenn das rauskommt“, fügt er verängstigt hinzu.
„Ich halt die Klappe, ich schwör. Von mir erfährt keiner was“, versichere ich ihm.
„Alter, ich verlass mich echt auf dich. Kein Mensch darf das wissen. Der hat‘s ja nicht mal geschafft, mit uns darüber zu sprechen. Das musst du dir mal reinziehen: zwei komplette Jahre tut der so, als wäre alles in Ordnung. Spielt den Helden, bis alles zusammenbricht. Das ist doch nicht normal.“
Jakob sucht mit seinem Blick Bestätigung.
„Echt krass das Ganze“, antworte ich ihm, „und Mann, echt in zwei Wochen bist du schon weg. Das will mir gar nicht in die Birne.“
„Frag mich mal!“, kommt von ihm zurück. Wir verabschieden uns. Jakob trennt die Verbindung. Ich bin darüber fast froh. Das Ganze überfordert mich. Jakob weg! In zwei Wochen! Ich schalte den Computer aus und lege mich ins Bett. Lange kann ich nicht einschlafen. Mir geht die Sache einfach nicht aus dem Kopf. Herr Brandt hat immer so erfolgreich getan und jetzt ... Rückzug zu Mama und Papa? Jahrelang Arbeit und Stress und Gezerre! Und dann nichts außer sich schämen! Ich bin noch überzeugter davon, dass ich das nicht will.