Читать книгу Eine ordentliche Fassade - Elisa Scheer - Страница 3
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ОглавлениеSie wachte tatsächlich schon um halb sieben auf und geisterte lautlos durch die Wohnung. Im Schlafzimmer hing ein braunes, haariges Bein aus dem Bett. Aha, der große Stecher erholte sich! Sie duschte so leise wie möglich, bügelte dann ihre Blusen und hängte sie so auf, dass sie nicht wieder verknitterten, zog sich an und betrachtete schließlich zweifelnd ihre Regale und Schränke im Arbeitszimmer. Feuer legen wäre wohl das Einfachste...
Vielleicht verhalf ihr ein Kaffee zu besseren Ideen?
Mit dem Becher und einem Käsebrot kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Was war das überhaupt alles für ein Kram?
Steuererklärungszeug, Durchschläge der Berichte ihrer Aufträge (dafür hatte sie doch mal einen Ordner anlegen wollen?), persönlicher Kram, Depotauszüge, Kontoauszüge, Briefwechsel mit der Krankenversicherung, die Rechnung wegen des TÜV, die Antwort der Hausverwaltung auf ihre Anfrage, wann die Balkongeländer denn nun gestrichen würden: Das sei gar nicht vorgesehen. Außerdem jede Menge Werbekrempel und anderer Abfall. Prospekte, Kataloge, Bücher, Notizen...
Peinlich – sie war der große Ablagefreak, der jedes Büro in eine Oase perfekter Übersichtlichkeit verwandeln konnte, und bei ihr sah es so aus? Wie bei Komikern, die zu Hause nur schlechte Laune hatten. Und wenn man im Fernsehen sah, wie manche glamourösen Popstars zu Hause herumliefen...
Halb acht... um acht musste sie gehen, das lohnte sich nicht mehr. Aber danach würde sie einen gemütlichen Tag damit verbringen, dieses Zimmer aufzuräumen. Das Wetter war ja entsprechend – Schneeregen, schon wieder!
Und nur für sich selbst kochen. Sollte Michael doch fragen, was sie hatte, dann würde sie ihm den immer noch gut sichtbaren Stempel auf ihrem Handrücken zeigen.
Sie beschränkte sich darauf, ihren Vorrat an Ordnern und Rückenschildern zu überprüfen und den Drucker an ihren Laptop zu hängen, dann legte sie sich noch ein paar Müllsäcke und den großen Klappkorb neben den Schreibtisch (ein hässliches Ding, noch aus ihrer Schulzeit, viel zu klein, Kiefernholz mit blauen Kanten, wahrscheinlich von IKEA). Rasch guckte sie in die Schubladen: o Gott! Am besten holte sie sich gleich eine ganze Rolle Mülltüten.
Was brauchte sie beim Notar? Einen Ausweis, etwas zu schreiben, vielleicht, ihr Handy? Geld... Sie warf alles in ihre Umhängetasche und sah wieder auf die Uhr. Viertel vor.
Make-up, Parfum, Haarspange. Gut, so konnte sie gehen. Und Michael konnte ihr gestohlen bleiben!
Sie war natürlich eine Viertelstunde zu früh vor dem Haus, in dem der Notar seine Kanzlei hatte, aber an so etwas war sie schon gewöhnt. In ihrem bisherigen Leben hatte sie sicher schon einen Monat damit verbracht, dumm herumzustehen, bis sie anstandshalber klingeln konnte.
Immerhin gab es im Nebenhaus einen Frauenbuchladen, und sie studierte das Schaufenster gründlich: Warum Männer so seltsam sind, Das fehlerhafte Chromosom, Starke Frauen... Sollte sie am Montag nach der Arbeit mal hier vorbeischauen?
Die schlossen um halb sieben – na, dann eben nicht. Selbst schuld, gute Kundin verprellt. Starke Frauen gab es anderswo sicher auch – eine Krimianthologie. Sollte sie Michael etwas Unbekömmliches ins Essen rühren? Nein, warum sich noch die Finger schmutzig machen?
Ah, dort kamen Papa und Mama mit Christina. Ihretwegen war der Termin auf Samstag gelegt worden, sie konnte am Freitag keinen Urlaub bekommen und hatte erst gestern Abend die letzte Maschine genommen. Sie und Ariane umarmten sich.
„Schön, dass man dich mal wieder sieht. Schaust toll aus“, lobte Ariane und bewunderte die winzigen, kurz geschnittenen Löckchen rund um Christinas freches Bubengesicht. Christina grinste. „Du aber auch. Ganz die toughe Geschäftsfrau. Diese Löckchen sind schon eine Pest, was? Wenn ich sie wachsen lasse, sagen wieder alle Einstein zu mir, und dann denke ich an Onkel Albert und mir wird schlecht.“
„Boah“, schüttelte sich Ariane, „weißt du was? Ich arbeite ab Montag bei ihm, aber ich glaube, er hat gar keine Ahnung davon.“
„Wie das?“, wollte ihr Vater wissen und drückte sie kurz.
„Das Albertle hat jemanden angefordert, um das Chaos zu bändigen. Na, und wer ist bei BND die Ablagespezialistin? Bingo. Schöne Scheiße. Aber er kann mich mal, egal, wie er sich aufführt, er muss den Auftrag bezahlen und wir berechnen ihm wirklich gnadenlos jedes Extra.“
Mama schüttelte den Kopf. „Manchmal glaube ich ja, den Albert haben meine Eltern irgendwo gefunden. Wie kann ich mit so was verwandt sein?“
„Ja“, sagte Christina, „aber wie kannst du mit dem alten Nazi verwandt sein und seinem supergehorsamen Frauchen? Vielleicht haben sie dich gefunden und du hast in echt viel coolere Eltern.“
Mama lachte. „Davon habe ich als Teenie immer geträumt, wenn sie wieder alle so richtig zum Kotzen waren. Kommt, es ist fast halb, gehen wir rauf. Daniel wird´s ja auch ohne uns finden.“
Daniel kam um die Ecke getrabt, als Ariane gerade die schwere Holztür aufdrückte. „Sorry, verpennt...“
„Sieht man“, spottete Christina. „Ist das da eigentlich ein Hemd – oder dein Schlafanzugoberteil?“
„Wenn du wüsstest, welche süße Maus mich gestern besucht hat, würdest du nicht nach Schlafanzügen fragen“, antwortete Daniel halblaut, als sie die düstere Treppe hinaufstiegen.
„Aha, kriegen wir endlich eine Schwägerin?“
„Erst wenn ich zwei Schwager habe.“
„Kannst du lange drauf warten“, versprach Christina. „Hier muss es sein. Heiraten ist nur was für Männer.“
„Genau!“, sekundierte Ariane.
Daniel schüttelte den Kopf. „Frauen und Mathematik... wie soll das denn gehen? Oder schweben euch lauter Schwulenehen vor?“
„Warum nicht?“, fragte Christina. „Dann wären die Kerle doch sehr schön aufgeräumt.“
„Manche Frauen, die mit gesunden Bedürfnissen, hätten da vielleicht was dagegen.“
„Jetzt hört mal mit dem Blödsinn auf“, mahnte Papa und läutete.
Ariane und Christina sahen sich an und kicherten albern.
„Was macht dein Eventtraumprinz?“, fragte Christina leise.
„Was wohl? Nervt rum“, gab Ariane ebenso leise zurück, denn da kam schon Dr. Schreyvogel und bat sie herein.
Das Testament, erst ein halbes Jahr alt, war recht ausführlich, weil Tante Hilde sorgfältig begründet hatte, warum wer was erbte. Dass sie nicht gerade arm gewesen war, hatten sie ja gewusst, Werner war ein kleiner Krösus gewesen. Aber zumindest Ariane hatte gedacht, Tante Hilde wohne in dieser relativ bescheidenen Wohnung in Mönchberg, weil ihre Ressourcen – nun ja, erschöpft waren. Drei Zimmer nach dieser Riesenvilla, das hatte doch sehr nach Abstieg ausgesehen.
Grober Irrtum.
Jeder bekam rund 200.000 €, und Ariane bekam statt dessen die Wohnung samt Inventar, „weil meine Nichte Ariane als einzige noch kein endgültiges Zuhause gefunden hat und wahrscheinlich auch als einzige Spaß daran haben dürfte, meine gemütliche Höhle zu entrümpeln und umzugestalten. Die anderen sind in dieser Hinsicht ja bereits versorgt und dürften mit Barem besser bedient sein. Meiner treuen Zugehfrau Frau Schöbl vermache ich 2000 € und die Standuhr im Wohnzimmer, die sie immer so bewundert hat. Den Teewagen aus Messing soll Frau Tremmel nebenan bekommen, die mich immer so um ihn beneidet hat. Ich hoffe, Ariane wird diese Vermächtnisse getreulich erfüllen.“
„Aber gerne!“, sagte Ariane spontan, und alles lachte. Teewagen wie Standuhr waren abgrundtief scheußlich, wie übrigens die meisten Möbel in dieser Wohnung.
Wahnsinn, eine Eigentumswohnung, offensichtlich abbezahlt und noch ziemlich neu. Guter Gedanke.
Süß von Tante Hilde. Und es stimmte – ihr würde so etwas Spaß machen, und die Wohnung kam genau in dem Moment um die Ecke, als ihr das Altbauchaos an der Uni auf die Nerven zu gehen begann.
Eigentlich eine schöne Aufgabe...
„Ich werde mich um alles kümmern, um den Erbschein und auch um die Schätzung des Inventars, wegen der eventuell anfallenden Steuern. Leider hält der Staat ja bei solchen Gelegenheiten immer recht deutlich die Hand auf...“
Daniel schnaufte, verkniff sich aber jede Gemeinwohlphrase.
„Frau Löffelholz...“
„Ja?“ Drei Gesichter wandten sich ihm wieder zu.
„Ariane Löffelholz“, betonte er, „ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen, wann Sie sich die Wohnung ansehen können. Da ich auch Testamentsvollstrecker bin, muss ich zunächst alle Unterlagen sichten und einen Vermögensstatus erstellen. Das verstehen Sie doch?“
„Natürlich. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Unglaublich – eine Wohnung...!“
„Und so nette Sümmchen – gute Tante Hilde“, fügte Daniel hinzu. „In zwei Jahren ist mein Wohnungskredit fällig, dann kann ich ihn schön tilgen und es bleibt noch ordentlich was übrig. Auch nach Steuern.“
„Und ich kann mir in Köln was Hübsches suchen“, sagte Christina. „Da sind die Preise nämlich etwas happiger als hier.“
„Und wir, Schatz?“, fragte Mama und drückte Papas Hand.
„Wir renovieren mal, jetzt wo wir alle Kinder endlich los sind, und kaufen uns das Wohnzimmer, das wir immer schon haben wollten. Und dann verreisen wir ordentlich. Und den Rest -“
„- den Rest sparen wir fürs Alter“, bestimmte Mama.
„Michael würde jetzt sagen, Spieß nicht rum, Mensch – aber du hast natürlich ganz Recht“, rutschte es Ariane heraus.
„Aha“, machte ihre Mutter prompt, „entzaubert er sich doch so langsam? Früher hast du nie geduldet, dass wir sein göttliches Wort in Frage stellen.“
„Das ist nicht wahr, so hirnlos war ich doch nie!“, protestierte Ariane sofort.
Es entspann sich ein gut gelaunter Streit, den sie im nahe gelegenen Café Fugger fortsetzten – mit Kuchen, Kaffee und pro Nase einem Gläschen Prosecco.
„Auf Hilde“, sagte der Vater schließlich und hob sein Glas, „sie war mir immer eine gute Schwester. Dass sie so jung gestorben ist... wenn wir gewusst hätten, dass sie´s wirklich am Herzen hat...“ Er trank.
„Dafür können wir aber doch nichts“, protestierte Daniel sofort und leerte sein Glas. „Sie hat´s doch gewusst und sich gekümmert, und es ist ja nicht so, dass wir ihr bei einem Herzanfall die Hilfe verweigert hätten oder so.“
„Nein, ich glaube, euer Vater meint, wir hätten nicht so viel darüber gewitzelt, wenn wir es gewusst hätten“, begütigte seine Mutter. „Ich finde jedenfalls, Hilde war eine liebe Person, und dass sie jetzt so toll für uns gesorgt hat, ist doch auch sehr nett. Prost!“ Sie hob ebenfalls ihr Glas.
„Dem ist nichts hinzuzufügen“, meinte Ariane und starrte in ihren Kaffee. „Wahnsinn, diese Wohnung...“
Christina lachte. „Also, ich weiß ja nicht, wie´s da jetzt ausschaut, aber wenn es noch so ist wie früher, dann hast du viel Spaß vor dir.“
„Weiß ich. Siebenunddreißig Serviettenhalter und die gesammelten Fernsehzeitschriften der letzten zehn Jahre...“
Daniel schnaubte höhnisch und Ariane sah ihn streng an. „Ich bin sicher, du kannst noch ein paar Serviettenhalter vertragen. Ich leg sie dir dann einfach vor die Tür, ja?“
„Untersteh dich!“
„Nee, ernsthaft, Leute, sie hatte doch auch Silber, Schmuck und solche Sachen... wenn ihr davon was haben wollt...“
Mama tätschelte ihr die Hand. „Lieb von dir, Kind, aber ein Satz Silber reicht ja wohl für uns. Freu dich nur an deinem Erbe.“
Ariane verzog das Gesicht.
„Ja, freu dich nur daran“, spottete Christina, „ich schlepp dir von dem Zeug bestimmt nichts weg.“
„Guck doch erst mal“, warb Ariane verzweifelt, aber Christina wehrte lachend ab. „Was willst du mit der Wohnung machen?“, fragte Daniel. „Verkaufen oder behalten?“
„Behalten denke ich“, antwortete Ariane langsam. „Von der Katharinenstraße hab ich nämlich manchmal schon ziemlich die Nase voll. Der Boiler spinnt immer öfter, und kalt duschen ist nicht so mein Ding.“
„Ist Tante Hildes Bad nicht moosgrün gekachelt?“, sinnierte Christina.
„Wenn schon. Kann man ja notfalls ändern, nicht?“
„Und du musst tatsächlich für den unsäglichen Albert arbeiten?“, fragte ihr Vater. Er nannte seinen ungeliebten Schwager immer den unsäglichen Albert.
Ariane seufzte. „Ja, ausgerechnet mich hat es erwischt. Ich glaube, das ist europaweit der einzige Laden, der noch ohne Netz auskommt. Deshalb haben sie wahrscheinlich den Überblick über ihren Papierwust verloren. Das wird noch ein Spaß!“
„Sag mal“, kam Daniel auf das vorige Thema zurück, „wenn du diese Wohnung eventuell behältst... das sind doch nur drei Zimmer?“
„Ja?“, ermunterte ihn Ariane.
„Und jetzt habt ihr fünf. Wird euch das nicht zu eng?“
„Mir nicht“, antwortete sie, „und über Michael ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.“
„Oh-oh“, machte Christina, „was hat er jetzt wieder angestellt?“
Ariane zuckte die Achseln. „Er wird nicht erwachsen. Und gestern hat er mich betrogen, aber er weiß nicht, dass ich´s gesehen habe. Noch nicht.“
„Dem Stempel zufolge hat er bei der Arbeit ein Schnäppchen mitgenommen“, spekulierte Daniel.
„Na, ob das so ein Schnäppchen war“, höhnte Ariane, „ich sag euch, soo ein Arsch. Total schwabbelig!“ Sie vollführte mit den Händen einen elefantenmäßigen Kreis in der Luft und staunte dabei über sich selbst. Dass sie so locker darüber sprechen konnte? Musste sie nicht tief betroffen sein und die Kränkung in ihrem Herzen begraben? Und musste sie jetzt dermaßen in Klischees denken? „Tief getroffen klingst du ja nicht“, fand ihre Mutter, und Ariane zuckte die Achseln. „Mir scheint, die Luft ist raus.“
„Manche Beziehungen erreichen eben schnell ihr Verfallsdatum“, steuerte Christina bei. „Leute, wenn ich mir wirklich noch diese Fotos bei euch anschauen soll, müssen wir´s packen. Um drei geht mein Flieger zurück.“
„Was, schon?“, fragte Daniel. „Hast du einen Süßen in Köln?“
„Eher eine kritische Versuchsreihe. Wir müssen die morgen scharf im Auge behalten, Sonntag hin oder her. Also?“
Ariane zahlte für alle, weil sie den Verdacht hatte, dass die Wohnung samt Inhalt mehr wert war als die Fixsummen für die anderen, und die anderen nahmen mit gutmütigem Spott für die Immobilienbesitzerin an.
* * *
Als Ariane nach Hause kam, war es gerade mal elf Uhr durch, und Michael schlief immer noch. Sie zog sich schnell um und nahm sich Putzzeug und den Ghettoblaster aus der Küche mit in ihr Zimmer und ging an die Arbeit. Saugemütlich, fand sie, leise mitsummend und sortierend, was ihr in die Hände fiel. Der Altpapiermüllkorb füllte sich rasend schnell, und sobald sie absehen konnte, was sich an Finanzkram herausschälte, beschriftete sie einen leeren Ordner entsprechend, bastelte ein Registerdeckblatt und heftete ordentlich chronologisch sortiert ein, was sie bis jetzt gefunden hatte.
Ein einziges Regalfach war hoch genug für die Ordner; sie räumte die Bücher heraus, wischte das Fach sauber (dieser Staub überall!) und stellte diesen Ordner schon einmal hinein. Ja, das würde gut aussehen...
Sie arbeitete weiter, und am frühen Nachmittag hatte sie wenigstens das gesamte herumliegende Papier auf einen einzigen Stapel reduziert, der Rest war korrekt abgelegt oder in der Papiertonne versenkt. Beim Wegtragen des Altpapiers hatte sie die Haustür zunehmend lauter ins Schloss krachen lassen, aber Michael hatte sich immer noch nicht gerührt. Tot oder feige?
Eher feige, beschloss sie. Umso besser. Und sie hatte jetzt Hunger!
Als sie sich eine sorgfältig abgemessene Portion Spaghetti kochte, kam Michael doch endlich zu ihr.
„Hi.“ Das kam gähnend heraus, und er schlurfte auch sofort zur (natürlich leeren) Kaffeemaschine. Ariane grinste in sich hinein, denn obwohl es in der Wohnung nicht übermäßig warm war (diese mistigen Ölöfen!), war er nur mit hautengen Jeans bekleidet. Glaubte er, angesichts seines – zugegebenermaßen sexy – Oberkörpers wurde sie vergessen, was sie gestern gesehen hatte? Da musste er aber schon mehr aufbieten!
„Hi“, antwortete sie nur, goss ihre Spaghetti ab und rührte einen halben Esslöffel Pesto darunter. Er setzte die gefüllte Maschine zusammen und präsentierte dabei seinen knackigen Hintern, wie Ariane beim Spaghettischaufeln gleichgültig registrierte. „Hunger hätte ich jetzt auch“, versuchte er es dann.
„Dann mach dir halt was, ist ja genug Zeug da“, antwortete sie. „Ich kann schließlich nicht wissen, wann du aufstehst.“
Brummen. Die Kaffeemaschine antwortete ihm mit einem tiefen Rülpser und begann zu arbeiten. Ariane schluckte den letzten Bissen Spaghetti herunter und stand auf, um den Teller und den Topf zu spülen.
„Du bist heute so komisch“, beklagte sich Michael.
Sag´s nicht!
„Kriegst du deine Tage?“
Doch. Trottel!
„Und wenn schon, deswegen bin ich auch nicht anders als sonst.“
„Finde ich schon.“ Er hob endlich mal den Blick, leicht blutunterlaufen. Sie wedelte ein bisschen mit der linken Hand, als müsste sie mit dem Topfschwamm winken, und es funktionierte: Er sah den Stempel. Etwas blass mittlerweile, aber noch gut erkennbar.
Weniger blass jedenfalls als Michael, der sich ziemlich abrupt entfärbte. „D-du warst gestern in der Halle? Du wolltest doch gar nicht kommen?“
„Ich hab´s mir eben anders überlegt. Ich dachte nämlich, du freust dich.“
„Hätte ich bestimmt auch – aber ich hab dich gar nicht gesehen.“
„Ich dich schon – und ich kann dir versichern, du hättest dich nicht gefreut, wenn ich dich – euch – dabei gestört hätte.“
„Oh.“ Er senkte demütig den Kopf, dann hob er ihn wieder, mit dem aufrichtigsten Blick aller Zeiten. Ariane überlegte, ob sie ihm eine scheuern oder nur fragen sollte, wie lange er diesen Unschuldsblick vor dem Spiegel geübt hatte. Sie ließ beides und wartete auf das Unvermeidliche.
„Es war nicht so, wie es vielleicht ausgesehen hat.“
„Nein, klar. Du hast nur was gesucht, stimmt´s?“
„N-nein, das nun nicht. Ach, ich weiß nicht, wie ich´s erklären soll...“
Ariane wandte sich wieder dem Spülbecken zu. „Dann lass es. Ich glaub dir sowieso nicht.“
„Jani, bitte! Du musst mir doch noch eine Chance geben!“
„Hab ich doch. Die Chance, die du gerade vermasselt hast. Weißt du noch, diese – wie hieß sie gleich? Susi?“
Michael nickte unglücklich.
„Wie hieß denn die gestern? Ich hab ja nur ihren eindrucksvollen Hintern gesehen, aber ich tippe mal auf – Rita. Oder etwas Exotisches aus dem Osten, Sändy mit ä oder so?“
„K-keine Ahnung“, murmelte Michael.
„Schade. Das ist aber schon ein bisschen unhöflich, findest du nicht? Du solltest dich doch vor dem Vögeln wenigstens vorstellen und nach dem Namen fragen. Oder sagst du zu allen einfach Baby?“
„Jani!“, flehte er und vergrub das Gesicht in den Händen. Ariane drehte sich um, die Spülbürste in der Hand, und betrachtete ihn interessiert. Schöne Geste, ganz der verzweifelte Liebhaber.
Oder ganz der Loser, der es selbst vergeigt hatte.
„Es war doch bloß, weil du so gemein zu mir warst!“
„Ach klar. Natürlich ist es meine Schuld, dass ich dich bis zum Anschlag in einer anderen steckend erwische. Hätte ich eigentlich wissen müssen. Was hab ich denn bitte gemacht, außer das ich ab und zu mal abends nicht da bin? Was auf dich übrigens genauso zutrifft!“
„Du nimmst mich nicht ernst!“
„Dafür hast du jetzt ja deine schöne Unbekannte.“
„Jani!!“
Sie probierte den Unschuldsblick nun selbst, und anscheinend gelang er ganz gut, denn Michael guckte ziemlich gequält. „Was denn?“
„Warum bist du so?“
„Weil du fremd gegangen bist, du blöder Wichser! Wär´s dir lieber, ich hätte gleich in der Nacht alle deine Sachen aus dem Fenster geschmissen? Das wäre nämlich die einzige Alternative gewesen.“
„D-du könntest mir natürlich auch verzeihen“, schlug er leise vor, „es hatte doch nichts zu bedeuten.“
„Jaja. Dummer Männerspruch. Nein, verzeihen werde ich dir nicht.“
„Nicht sofort natürlich...“
„Niemals. Vergiss es.“
Michael schlich aus der Küche, jeder Zoll ein geschlagener Mann. Das Herz gebrochen, das Leben ruiniert... Armer Bub.
Blöder Wichser.
Nein, eigentlich eben nicht, dann hätte er ja Fettärschle nicht gebraucht. Ariane grinste vor sich hin und verräumte das abgetrocknete Geschirr. Ach, in diesem Schrank war ja auch das nette blaugelbe Kaffeegeschirr. Das würde sie gleich mal in ihr Zimmer schaffen. Und vielleicht konnte sie in absehbarer Zeit in Tante Hildes Wohnung ziehen und Michael mit der unheizbaren Scheune sitzen lassen. Und mit allem Schotter, den sie nicht mehr haben wollte. Sollte er´s doch in den Wertstoffhof fahren!
Gerechte Strafe.
Sie verräumte das Kaffeeservice in ihrem Regal und machte sich daran, alles aus dem Papierstapel herauszusuchen, was sich auf die Wohnung bezog. Wie sah es denn eigentlich mit den Kündigungsfristen aus?
Gut, stellte sie fest. Sehr gut sogar. Drei Monate, und sie konnte einen Nachmieter benennen (Michael?) oder auch nicht, das hing von seinem Wohlverhalten ab. Aber erst musste sie mal die Wohnung von Tante Hilde sehen, vielleicht dauerte es ja Jahre, bis sie da rein konnte. Oder sie gefiel ihr doch nicht. Heute musste sie das ja auch nicht entscheiden, Hauptsache, Michael fürchtete sich. Lange hielt das Kleinlaute bei ihm ja leider nie an.
Sie sortierte gemütlich weiter und schreckte erst am frühen Abend hoch, weil ihr Magen mal wieder knurrte. Alle Papiere waren sortiert und eingeheftet, die Ordner waren auf das Sauberste beschriftet, und die Bücher standen gerade in den Regalen. Und – das Allerbeste: Aller herumliegende Kram, soweit nicht ohnehin reif für den Müll, war in einer (leider rosenbedruckten) Schachtel untergebracht. Das Regal, sauber ausgewischt, sah richtig wesentlich aus. Der Schrank daneben sollte eigentlich als Archiv für alte Akten dienen, so jedenfalls hatte Ariane es geplant, als sie ihn aus dem Keller ihres Elternhauses entführt hatte. Er war kein schlechtes Stück, ein sauber abgebeizter kleiner Dienstmädchenschrank aus Fichtenholz, glatt gewachst, sanft glänzend und mit polierten Beschlägen. Nur abschließen konnte man ihn nicht, die Schlösser waren bloßer Schmuck.
Was war da eigentlich drin? Sie öffnete vorsichtig die Türen.
Lieber Himmel! Was ihr da alles entgegen polterte – und das war doch zum Teil gar nicht ihr eigener Krempel?
Auf den Schreck brauchte sie erst einmal etwas zu essen! Sie wühlte in der Küchenschublade herum, in der sie die Flyer aufbewahrten, und bestellte sich dann eine Portion scharf gebratene Ente und einmal Wan-Tan. Dann kehrte sie an den Schrank zurück und nahm sich die erste Mülltüte. Ein ältlicher Lautsprecher – Michael. Ein verknautschter Shetlandpullover in graubraun... Michael, solch trübe Farben trug sie nicht. Ein paar vergammelte Szenemagazine vom vorletzten Jahr – Michael. So ging es weiter, höchstens zehn Prozent des Krempels gehörte ihr selbst, und davon war wieder gut die Hälfte reif für die Tonne.
Sie entsorgte erst einmal den Tonnenkram, dann stellte die Michael die drei randvollen Säcke vor die Tür, drückte auf den Summer, nahm ihr Essen entgegen, zahlte und verzog sich damit in ihr Zimmer.
Besteck...
Als sie gerade eine Gabel holte, hörte sie ein Scheppern und einen lauten Fluch aus dem Flur.
„Was ist das denn?“, schimpfte Michael.
Sie kam mit der Gabel aus der Küche. „Der Schotter, den du heimlich in meinen Schrank gestopft hast. Ich benutze dein Zimmer ja auch nicht als Müllkippe!“
„A-aber da war doch noch Platz!“, stotterte er hinter ihr her.
Sie drehte sich in der Tür ihres Zimmers noch einmal um. „Ja? Mag sein – aber das ist mein Platz, verstanden?“ Das Essen schmeckte gleich noch einmal so gut, als sie sich sein dummes Gesicht dazu vorstellte. Zufrieden gabelte sie Ente, Reis, Gemüse und hinterher die Wan-Tans in sich hinein. Leider roch chinesisches Essen hinterher immer so streng... Nun gut, irgendwo war doch noch dieses etwas penetrante Orangenholzöl...
Sie warf die Essensschälchen weg und holte Tuch und Öl, dann ließ sie den leeren Schrank sorgfältig ein, bis ihr von dem betäubenden Duft leicht schwindelig wurde.
Okay, Fenster auf. Boah, war es draußen kalt! Sie öffnete die Zimmertür auch, damit die Mischung aus Orangenduft und eisiger Luft abziehen konnte, und hörte Michael schimpfen.
Grins.
Na gut, Fenster wieder zu. Michael tauchte in ihrer Tür auf, als sie gerade die erste Schreibtischschublade aufzog und den Inhalt stirnrunzelnd musterte.
„Was treibst du da eigentlich? Jetzt kommt Asterix bei den Briten, den magst du doch.“
„Aufräumen. Und den Film hab ich schon x-mal gesehen.“
Er lümmelte sich gegen den Türrahmen. „Hier schaut´s so leer aus. Richtig ungemütlich.“
„Ich mag´s so. Komm ja nicht auf die Idee, hier noch mal deinen Schotter reinzuschmuggeln.“
„Mhm.“ Kurze Pause. „Wie war´s denn jetzt beim Notar?“
„Oh, gut. Ich hab die Wohnung geerbt.“ Sie räumte weiter und warf erst einmal eine Menge unbrauchbarer und eingetrockneter Stifte in den Müll. Tüte siebzehn, vermutlich.
„Die Wohnung?“, echote er ungläubig. „Kein Geld?“
„Die Wohnung. Tante Hilde dachte wohl, ich kann sie brauchen. Die anderen haben das Geld gekriegt.“
„Boah...“ Er schien nachzudenken.
„Soll ich schnell einen AnzeigenExpress holen? Der Kiosk hat noch auf.“
„Wozu?“
„Na, wir brauchen doch einen Entrümpler und einen Makler, oder?“
„Wir?“, fragte Ariane und linste in die Schublade, um herauszufinden, was dahinter zu klemmen schien, „Wir brauchen gar nichts. Und ich wüsste nicht, was ich mit einem Makler sollte.“
„Was? Wir hatten doch gesagt, dass wir mit dem Geld eine Weltreise machen wollten!“
Ariane zog einen verknüllten Briefumschlag hinter der Schublade hervor, richtete sich auf und sah ihn an, so lange, dass er unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten begann. „Was guckst du so?“
„Ich will keine Weltreise machen, und das weißt du. Ich habe ganz andere Ziele. Und mit diesem ewigen wir wäre ich an deiner Stelle im Moment ein bisschen vorsichtiger.“
„Aber wir – naja, also du hast doch eine Wohnung! Hier!“
„Michael, ich bitte dich! Das ist eine Bruchbude! Nicht mal das heiße Wasser geht. Und gehören tut sie mir auch nicht. Gott sei Dank, kann ich da nur sagen.“
„Wirst du jetzt auch noch zur Bausparerin? Sag mal, dieser Nestbautrieb... bist du womöglich schon schwanger?“
„Wie denn?“, spottete Ariane, „Du machst es doch nie ohne. Und ehrlich gesagt – ich glaube, du wärst ein lausiger Vater. Also keine Sorge. War´s das?“
Michael verstand wenigstens diesen Hinweis und trollte sich. Sehr gut. Wenn er jetzt noch nicht verstanden hatte, dass seine Tage gezählt waren, war er dumm. Und dumm hatte sie ihn bis jetzt eigentlich selten gefunden.
Wie schnell eine Liebe dahin schwinden konnte! Obwohl, überlegte Ariane, während sie den Kram aus den Schubladen holte, die Hälfte wegwarf, den Rest putzte, sortierte, ablegte und dann auch die Schubladen mit diesem olfaktorisch alles übertönenden Öl putzte, eigentlich war schon länger der Wurm drin. Wenn sie an diesen letzten Urlaub dachte – nichts wie Streit und halblautes Gemaule. Ballermann-Stimmung gegen Kultur, Nacktbadestrand gegen Hotelterrasse. Da hatte er auch schon gefunden, sie sei so spießig geworden. Und sie hatte ihn peinlich gefunden, zu alt für dieses bescheuerte Teenieverhalten.
Eigentlich hatte das Ganze schon angefangen, als sie mit Lilli und Andreas kurz vor dem Diplom in der Cafeteria des BWL-Instituts auf einer ketchupbeschmierten Serviette den Plan für den BüroNotDienst entworfen hatte. Unzählige Zeitarbeitsjobs hatten ihnen gezeigt, welcher Bedarf an so etwas bestand, und viel Kapital hatte das Ganze auch nicht erfordert, nur die Miete für ein Büro und für jeden einen Dienst-Laptop mit der stets neuesten Software. Naja, dazu Telefon und die Gehälter von Holger, Diana und Jens. Aber fast sofort strömte das Geld nur so herein, und obwohl die drei Inhaber fleißig Rücklagen bildeten und keinerlei Bankschulden hatten, verdienten sie alle nicht übel. Dreieinhalb Jahre war das jetzt her, und ab diesem Zeitpunkt hatte Michael, der damals noch halbherzig versuchte, seinem Kommunikationswissenschaften-Studium ein erfolgreiches Ende zu setzen, gemeckert, über ihre Bürokostüme, über ihren penibel geführten Zeitplaner im Riesenformat, über ihre Meetings, ihr sauber aufgeräumtes Auto, das sie ihm nur sehr ungern lieh, weil dann wieder alles voller halb gegessener Hamburger lag und der Tank leer war, über – über alles eben. Und sie hatte begonnen, Versager zu denken, wenn sie ihn ansah. Nur manchmal, anfangs. Wenn er ihr wieder einen vom Pferd erzählt hatte, warum er diese oder jene Klausur unmöglich mitschreiben konnte, wenn er versucht hatte, zu erklären, warum es ganz natürlich war, dass das Referat schiefgelaufen, die Diplomarbeit immer noch nicht fertig und der Job mal wieder weg war. Und warum sie logischerweise die Wohnung alleine finanzieren musste – und meistens auch das Essen.
Gut, die Finanzlage hatte sich gebessert, als Michael endlich an der Uni rausgeflogen war – ohne Examen – und als Hilfswürstchen bei EventMachine unterkam. Das schien ihm zu liegen, den Job hatte er nun schon fast drei Jahre und er verdiente zwar nicht gerade üppig, aber wenigstens so viel, dass er zum Haushalt beisteuern konnte.
Bloß seine panische Angst, bürgerlich zu werden! Dieser Job bei EM war wahrscheinlich das Äußerste, was er annehmen konnte, ohne sich als geregelt Angestellter zu fühlen. Eigentlich wäre er der geborene Freiberufler, wenn er nur irgendetwas Geeignetes könnte, dachte Ariane. So, die Schubladen waren sauber und leer, und auf der Tischplatte lag nicht mehr viel, ein paar Klarsichthüllen, Etikettenbögen, Kugelschreiber, Taschenrechner, ein Döschen Büroklammern.
Politisch war diese Angst nicht begründet, nicht wie bei Cousin Karlheinz, der immer noch mehr oder minder hauptberuflich beim AStA tätig war. Und biografisch lief da auch nichts – Michaels Eltern waren so ähnlich wie ihre eigenen und auch ganz nett. Ja, wenn Onkel Albert sein Vater wäre! Dann würde sie Michael ja alles verzeihen, ihm sogar eine Therapie finanzieren.
Sie räumte den Schreibtisch wieder ein, polierte die Platte und fand, so schlecht sah er gar nicht aus. Natürlich, wenn sie tatsächlich umziehen würde, musste er auf den Sperrmüll. Das Geschirr kam jetzt in ein Schrankfach, und als sie hörte, dass Michael vor dem Fernseher saß und über verprügelte Gallier lachte, holte sie sich ihre wichtigsten Klamotten aus dem Schlafzimmer und hängte sie in den Schrank.
So, ganz nett. Andererseits natürlich bescheuert – das war ihre Wohnung, und sie hauste hier praktisch im Kinderzimmer, während Michael ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, sein eigenes Zimmer und das Gästezimmer zur Verfügung hatte. Wirklich idiotisch - das durfte auf jeden Fall nicht zur Gewohnheit werden.