Читать книгу Eine ordentliche Fassade - Elisa Scheer - Страница 4

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Sie hatten auch den Sonntag in dieser verkniffenen Stimmung verbracht, die Ariane zunehmend auf die Nerven zu gehen begann: Sie igelte sich ein und räumte nahezu manisch herum (wieder landeten sieben volle Müllsäcke in den diversen Tonnen, und eine große Kiste wartete darauf, zum Wertstoffhof gekarrt zu werden), und Michael lief durch die Wohnung und spielte den Harmlosen, der sich doch schließlich immerhin entschuldigt hatte und deshalb nichts für die Funkstille konnte. Das machte er aber so überzogen, dass die Stimmung so nur noch gereizter wurde.

Außer Belanglosigkeiten (Ist noch Kaffee da? Kann ich ins Bad?) wechselten sie kein Wort miteinander, und Michael sah sich ab und zu seufzend im Wohnzimmer mit seinen leicht wackligen Ivar-Regalen um, als wollte er sagen Ist doch saugemütlich hier, ich weiß gar nicht, was du plötzlich hast.

Daraufhin verurteilte Ariane diese Regale im Stillen sofort zum Holzcontainer. Die unlackierte Oberfläche hatte den Staub auch magisch angezogen und ihn nicht mehr hergegeben, so dass das Kiefernholz ziemlich graustichig geworden war. Zehn Jahre waren die Dinger auch mindestens schon alt, das neben der Balkontür sogar noch mehr, das hatte sie schon in dieser unsäglichen WG gehabt, zu Beginn ihres Studiums. Andererseits sollte Michael sich dann ruhig selbst um die Entsorgung kümmern.

Und jetzt auf zu Onkel Albert! Das würde noch viel schrecklicher werden als die maue Stimmung zu Hause.

Sie traf um Viertel vor acht ein und achtete darauf, sich beim Albertle melden zu lassen. Einen Vorvertrag hatte sie in der Tasche, und den endgültigen Vertrag würden sie heute aufsetzen. Vorher durfte sie dem bösen Onkel eben nicht über den Weg laufen.

Eine etwas gedrückt wirkende junge Sekretärin mit blondem Pferdeschwanz und spießigem Twinset über einem ebenso biederen Tweedrock führte sie zu Albertles Büro. Der Gute hatte ordentlich zugelegt, stellte sie fest, als sie eintrat. Allmählich hatte er richtige Hamsterbäckchen.

„Hallo, Albert. Du suchst Hilfe gegen das Chaos, habe ich gehört?“

„Hallo, Ariane. Dass ausgerechnet du kommst? Ich dachte, du kannst Papa nicht leiden?“

„Du sagst es – aber man kann sich die Jobs nicht aussuchen, und eine Mitarbeiterin kann ich seinem Ton auch schlecht aussetzen, oder?“

„Stimmt wohl.“ Er erhob sich und trat ans Fenster, aus dem außer dem Hinterhof, wo ein Laster darauf wartete, beladen zu werden, nicht viel zu sehen war.

„Es ist wirklich dringend, wir haben zu wenige Leute, um das Chaos selbst in den Griff zu kriegen. Papas Personalpolitik, du weißt ja – und alles noch in Papierform. Es gibt in diesem Haus nur zwei Rechner, und einer davon ist mein Privatlaptop.“

„Der andere – lass mich raten – ein Commodore 64?“

Er grinste müde. „So ungefähr. Ariane, pass auf, wir müssen ordentlich was wegschaffen, bevor Papa merkt, was hier läuft. Sonst wirft er dich nämlich raus, du kennst das Spiel ja.“

„Klar. Von einer Frau lässt er sich nichts sagen, mein Ausschnitt ist ordinär, früher haben die Leute noch ordentlich gearbeitet und die Ablage selbstverständlich mit erledigt, Sieg Heil und so weiter.“

„Das Letzte war übertrieben, der Rest stimmt. Okay, er ist heute Vormittag nicht da, er musste zum Arzt, glücklicherweise. Sein Blutdruck, du weißt ja.“

„Weil er sich immer so aufregen muss über die unvollkommene Welt, schon klar. Pass auf, ich schau mir die Lage an, mache einen Status und dann machen wir den Vertrag niet- und nagelfest. Vor der Mittagspause. Und wenn er dann kommt und zetert, sag ich ihm, ich kann auch gerne wieder gehen, aber zahlen muss er trotzdem, sonst gibt´s eine Klage.“

Albert grinste etwas melancholisch. „Das dürfte klappen. Gut, dann komm mal mit.“

Er führte sie einige Zimmer weiter, nachdem er sie noch vor dem Chefbüro gewarnt hatte, und zeigte ihr einen Raum, der quasi vom Boden bis zur Decke mit Papier vollgestopft war. Ariane stieß einen langen Pfiff aus.

„Respekt“, hauchte sie dann, „sag mal, das ist die Ablage seit 1949, oder?“

„Ich habe auch fast den Verdacht. Manche neueren Sachen sind hier in diesen Mappen.“ Er wies auf hohe Stapel von Sortiermappen, die sich auf einem langen Tisch neben dem Eingang stapelten.

„Bravo. Immerhin ein erster Versuch. Sag mir noch schnell, worum es sich handelt und wo ich Material herbekomme. Oder soll ich es von uns bringen lassen?“

„Material?“

„Aktenordner, Etiketten, Register und so weiter. Wir haben das alles auf Lager. Und für das Aktuelle bräuchtet ihr einen Schrank mit Hängeregistraturen, denke ich.“

„Mach nur. Zwei Exemplare der Rechnung, eins weiß, eins gelb, am besten sortiert nach Kundennamen“, Ariane nickte – wie sonst? – „Personaldaten -“

„Die liegen hier rum? Habt ihr noch nie was von Datenschutz gehört? Mensch, Albert! Ich drohe deinem Vater mit einer Klage, das sag ich dir!“

„Ich sag ja, mach nur. Wenn du ihn ordentlich erschreckst, schaffst du mehr als ich. Ja, und dann gibt es auch noch Krempel zum Gebäude, zur Finanzplanung -“

„Wer macht die? Vielleicht gibt´s da ja schon so was wie eine Datenbank?“

Albert schüttelte etwas verlegen den Kopf. „Offiziell Petra, aber in Wahrheit macht er das meiste selbst, ab und zu darf ich mal. Und dann heißt es wieder, es ist alles Mist.“

„Wie könnte es anders sein!“

„Gut, ich schätze mal, drei Wochen werde ich brauchen. Inklusive Schulung der betroffenen Mitarbeiter.“

„Länger nicht?“

„Nein. Ich bin gut und schnell. Und im schlimmsten Fall nehme ich mir hier irgendeine Maus dazu, die mir helfen kann.“

Höhnisches Schnauben. „Leider haben wir nur zwei Sekretärinnen, und die sind total ausgelastet. Hier gibt´s keine Bürohilfen für Blödeljobs. Kannst du nicht noch jemanden von euch -?“

Ariane schüttelte den Kopf. „Wir haben nur hoch qualifizierte Kräfte, die sich vor Ort Hilfen suchen. Gut, dann mach ich´s alleine. Drei Wochen. Ich brauche zehn Minuten für einen Kostenvoranschlag und den verbindlichen Vertrag.“ Sie klopfte auf ihre Tasche, in der sie Laptop und Drucker hatte.

„Das machst du am besten bei mir im Büro, hier kannst du nicht arbeiten.“

Ariane ging an die Arbeit und hielt ihrem Cousin nach zehn Minuten einen Kostenvoranschlag über eine beträchtliche Summe und einen passenden Vertrag hin. Albert pfiff gedankenvoll und zückte seinen Füller. „Zeichnungsberechtigt bist du aber schon, oder? Wenn wir auf den Kosten sitzen bleiben, verklagen wir dich notfalls bis aufs Existenzminimum.“

„Doch, Verträge unterschreiben darf ich. Ich hab schließlich Prokura. Nicht, dass der Alte das sehr ernst nehmen würde, aber de iure darf ich.“

„Das genügt mir. So, damit ist Kornreuther festgenagelt. Danke dir. Hier, dein Durchschlag – leg ihn ordentlich ab, damit du ihn zur Hand hast, wenn der Alte dir den Kopf abreißen will. Und ruf mich zu Hilfe. Zu zweit schaffen wir ihn schon.“

Albert lächelte. „Wieso hab ich das Gefühl, dass jetzt alles in Ordnung kommt?“

„Weil jetzt alles in Ordnung kommt – he, das wäre kein übler Slogan für uns, wenn wir mal richtig werben. Im Moment sind wir mit Mundpropaganda super ausgebucht. Dann gehe ich mal an die Arbeit!“

Sie packte ihr Equipment wieder ein und verzog sich in die Papierkammer, in der es schon deshalb dämmerig war, weil die Birne höchstens zwanzig Watt hatte und das Fenster zugestapelt war.

Dort zog sie ihr Handy aus der Tasche und rief erst einmal im Büro an. Als sie eine lange Liste von benötigtem Material durchgegeben und sofortige Lieferung vereinbart hatte, erzählte sie kurz, wie es bisher gelaufen war, und sah sich dann tatendurstig um.

Am liebsten hätte sie sofort losgelegt, und Albert erwartete das sicher auch von ihr – bei dem exorbitanten Stundenlohn! – aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es besser war, erst einmal zu gucken und nachzudenken.

Hm. Weiß, gelb, Personal, Gebäude, Finanzen. Irgendwo mussten auch Kontobücher sein, denn ohne Hardware hatten die hier auch keine Buchhaltungssoftware, da konnte man sicher sein. Aber vielleicht hatte wenigstens der Buchhalter seinen Krempel im Griff. Musste er eigentlich, was wollten sie denn sonst machen, wenn mal eine Betriebsprüfung kam?

Wo sollte sie arbeiten? Und womit?

Sie lief zurück zu Albert. „Habt ihr wenigstens einen Kopierer?“

„Ja. Papa findet zwar Kohlepapier besser, weil die Leute dann ordentlicher arbeiten -“

„Geschenkt. Dann habt ihr auch Kopierpapier? Und die dazugehörigen Schachteln? Ich brauche drei Schachteldeckel. Für den Anfang reicht das. Ach ja, und etwa in einer halben Stunde kommt eine Lieferung Büromaterial. Lass die bitte in den Archivraum bringen.“

Sie kehrte in den Raum zurück, und fünf Minuten später brachte ihr die verschüchterte Sekretärin drei Kopierpapierdeckel.

„Danke“, lächelte Ariane sie an, „wie ich heiße, wissen Sie ja – und Sie?“

„Lemmert. Verena Lemmert. Und der Chef darf nicht wissen, dass Sie hier sind.“

„Ach, jetzt ist es egal. Ich habe ja einen Vertrag in der Tasche. Danke für die Deckel, die sind immerhin ein Anfang.“

„Ich kann ihnen gerne noch mehr bringen, wir haben die stapelweise.“

„O Gott, schmeißen Sie mindestens die Hälfte weg! Ich brauche nur die drei, um die erste Sortiermappe freizustellen. Vielen Dank noch mal!“

Sie lächelte, bis die Lemmert verschwunden war, und begann mit der ersten Mappe: weiß – gelb – Sonstiges. Die drei Kisten wurden nur halbvoll, so dass sie sich die zweite Mappe auch gleich vornahm.

Was den Personalkram betraf, musste sie sich mal die vorhandenen Ordner vornehmen, um zu sehen, wie bisher abgelegt worden war. Wenn überhaupt! Sie machte sich eine gedankliche Notiz, Albert nach der Personalverwaltung zu fragen.

Ach, wozu! Wetten, dass er oder der Alte das selbst machten und die Unterlagen überall verstreut waren? Außerdem war ja klar, dass man die Unterlagen nach Personen in Mappen zusammenfassen musste.

Also erst einmal weiß und gelb, dann sah man schon mal einen Fortschritt! Sie sortierte so viele entsprechende Zettel aus, bis die drei Pappschachteln überzuquellen begannen, dann klopfte es ohnehin und eine Riesenkiste wurde in dem Raum abgeladen.

Jetzt konnte man dort überhaupt nicht mehr treten.

Sie sah sich praktisch mit eingezogenem Bauch in dem Raum um. Gab es hier überhaupt Möbel, wenn man von dem von Papierstapeln zugemüllten Tisch absah? Erkennbar war nichts, aber das konnte auch an diesem unzureichenden Licht liegen.

Und staubig war es hier, dass man Atemnot kriegen konnte! Kein Wunder, nichts staubte ja bekanntlich mehr als altes Papier, und geputzt hatte hier garantiert noch nie jemand. Wahrscheinlich erwartete der Alte, dass das Personal das mit erledigte, weil er damals, beim Arbeitsdienst, auch immer... und so weiter.

Sie stapelte die Mappen, Schachteln und Stöße etwas enger aufeinander, bis sie am hintersten Ende des Tisches eine etwa einen halben Meter breite Fläche freigelegt hatte, dann suchte sie noch einmal Frau Lemmert auf.

Die saß in einem engen, vollgestopften Büro, das Ariane sich gleich als nächstes vormerkte, zusammen mit einer etwas rundlichen Frau um die Fünfzig an einem Doppelschreibtisch, und schaute, als würde sie gleich zu weinen anfangen.

„Frau Lemmert, ich störe Sie nur ungern, aber könnten Sie mir einen Lappen, eine Schüssel und ein einigermaßen aggressives Putzmittel besorgen?“

Die andere Frau erhob sich. „Holzmeister. Ich bin hier die Sekretärin.“ Sie reichte Ariane die Hand.

„Frau Löffelholz, nicht? Frau Lemmert hat mir schon von Ihnen erzählt – ganz im Vertrauen natürlich! Warten Sie einen Moment, ja?“

Ariane nickte lächelnd und sah sich den Raum weiterhin kritisch an, während Frau Holzmeister enteilte. Wie ein Polizeirevier aus „Stahlnetz“, mit einem Telefon auf einer Ablage mit Scherengitterarm, einer großen mechanischen Schreibmaschine, je zwei Rollschränken, die schamhaft geschlossen waren, einem Aktenschrank, der farblich nicht zum Rest passte, und Stößen von Papieren auf jeder verfügbaren Fläche. In einer Ecke ein Riesenhaufen Leisenberger Anzeiger. Ariane wies mit dem Kinn darauf. „Müssen Sie die sammeln oder was?“

Die Lemmert seufzte zittrig. „Nein... auswerten. Ob was über uns drinsteht... Ich wüsste nicht, wieso eigentlich. Aber wann ich das noch schaffen soll, weil ich auch nicht. Ich mache alles, was mit den Lieferungen zusammenhängt, und den Briefverkehr, und die Post überhaupt, und...“ Sie sah Ariane verzagt an.

„Ich bin sicher, das können wir so organisieren, dass Sie Ihre Zeit vernünftiger einsetzen können. Halten Sie noch ein paar Tage durch, dann sehen wir vielleicht schon ein bisschen Land, ja?“

Die Lemmert lächelte verzagt und nickte vorsichtig, und da kam auch schon die Holzmeister zurück – mit einem Senfeimerchen voller Wasser, einem ziemlich grauen Lumpen und einer Flasche Ökoreiniger.

„Danke“, sagte Ariane resigniert, „damit kriege ich vielleicht schon mal eine Ecke sauber. Und Sie halten dicht, so lange es geht, ja?“

„Klar doch! Wir wollen doch auch, dass hier mal irgendeine Art von Ordnung reinkommt. Wenn wir Ihnen irgendwie helfen können...“

Frau Lemmert schnüffelte zustimmend.

„Noch nicht“, antwortete Ariane, „aber das kann durchaus noch kommen. Ich muss erst einmal sichten, wie ich am besten vorgehe. Also, danke hierfür!“

Sie huschte in das Kabuff zurück. Obwohl – Kabuff? Der Raum hatte gut dreißig Quadratmeter, schätzte sie, wenn sie die dämmerigen Winkel auch nur ungenau ausmachen konnte.

Egal, wenn sie das Fenster erst einmal freigelegt hatte, konnte sie ja sehen, wie groß der Raum wirklich war. Aber besser als dieses Winzsekretariat wäre er bestimmt...

Egal. Sie schrubbte, so gut es ging, den freigelegten Teil der Tischplatte, und ging dann daran, die Kiste zu öffnen. Sehr gut, ungefähr hundert Ordner – ob die allerdings reichten? Sie zog einen heraus, klebte provisorisch einen gelben Punkt auf den Rücken und heftete die gelben Zettel unsortiert hinein. das gleiche machte sie mit den weißen Zetteln – und einem weißen Punkt.

In die Ordner passte noch etwas hinein, also nahm sie sich die nächste Mappe vor.

Danach hatte sie auch genug „Sonstiges“, um dafür einen (rot bepunkteten) Ordner anzulegen.

Gegen Mittag knurrte ihr der Magen, und sie hatte bereits vier gelbe, vier weiße und drei rote Ordner gefüllt und wieder einen halben Meter Tisch befreit und geputzt.

Ab jetzt musste man wohl mit Onkel Albert rechnen – aber sie fand, dass man durchaus schon einen Fortschritt sah. Naja, einen kleinen vielleicht. Jemand klopfte an die halb offene Tür.

„Ja?“

Albert. „Wie kommst du voran?“

„Och, ganz gut. Sag mal, der Raum ist doch eigentlich für ein Archiv viel zu schade, findest du nicht? Der hat mindestens dreißig...fünfunddreißig Quadratmeter, oder?“

„Fast vierzig“, gab Albert zu. „Du hast ja Recht, aber was soll ich machen? Der Alte fügt sich doch nur, wenn man ihn auf Schadensersatz verklagt. Mensch, mach doch mal Mittag, es ist ein Uhr durch!“

„Wo geht man denn da hin?“

Albert zuckte die Achseln. „McDonalds, Sandwichbar, Salatbar... wir haben natürlich nichts. Aber der Alte hat der Belegschaft erlaubt, mitgebrachte Butterbrote am Tisch zu verzehren, sofern man dabei seine Unterlagen nicht vollkrümelt.“

„Oh, wie großzügig! Na gut, dann gehe ich mal... Wenn ich die Türe zusperre, merkt der böse Onkel vielleicht nichts, bis ich zurück bin.“

„Höchstens, wenn er den vorderen Parkplatz kontrolliert und Gott behüte ein fremdes Auto entdeckt. Aber er parkt ja immer hinten, damit sein kostbarer Wagen nicht nass wird oder zuschneit.“

Ariane lachte spöttisch und lief schnell schräg über die Straße, wo die Sandwichbar mit einladenden Angeboten lockte. Eine Johannisbeerschorle und ein Thunfischsandwich, und es ging ihr schon wieder besser.

Mit frischen Kräften kehrte sie zurück. Niemand zu sehen auf den Gängen – Mittagspause oder zu wenig Personal? Letzteres, wie sie den Laden einschätzte. Ungesehen gelangte sie ins Archiv zurück und arbeitete fröhlich weiter.

Sicher, manche Leute würden dieses Sortieren als Blödeljob ansehen, aber ihr machte es Spaß, man konnte dabei so schön die Gedanken schweifen lassen und die Planung des Gesamtsystems war immerhin anspruchsvoller als das bloße Abheften. Außerdem gefiel ihr der Gedanke, etwas in Ordnung zu bringen, Übersicht ins Leben zu bringen, wenn auch nur in einem kleinen Ausschnitt. Sicher, es gab Wesentlicheres als eine aufgeräumte Ablage, aber wenn der Laden danach besser lief? Vielleicht rettete man dadurch indirekt sogar Arbeitsplätze, und das war dann doch etwas Wesentliches.

Die Reihe der Ordner wurde immer länger, auch wenn der Inhalt nur grob sortiert worden war. Erst gegen fünf wurde die Tür energisch aufgerissen, und Onkel Albert, groß, dürr, grau stand in der Tür.

„Was ist hier los?“, bellte er. „Was treibst du in meiner Firma?“

Ariane tat, als sähe sie gerade erst auf. „Grüß dich, Onkel Albert. Du siehst doch, was ich machte – ich bringe eure Ablage in Ordnung. Nötig ist´s ja, nicht?“

„Was hier nötig ist oder nicht, entscheide ich! Pack deine Sachen und verschwinde, aber sofort! Du bringst nur Chaos in meine Firma!“

Umgekehrt wird ein Schuh draus, dachte Ariane und lächelte besonders süß. „Kann ich schon machen, Onkel Albert – aber dir ist klar, dass dein Sohn einen Vertrag mit dem BüroNotDienst abgeschlossen hat? Wenn wir die Nichterfüllung nicht zu verantworten haben, musst du zahlen. Mit oder ohne Leistung. Wenn du natürlich für nichts zahlen willst...“

„Zeig mir den Vertrag!“, blaffte er sie an. Sein Gesicht rötete sich bedenklich.

„Nein. Lass dir Alberts Durchschlag zeigen. Mein Exemplar wandert nachher unversehrt in unseren Bürosafe.“

Albert schnaufte schwer.

„Aber wenn du schon gerade hier bist, lieber Onkel Albert, kannst du mir vielleicht sagen, ob es hinter diesen jahrzehntealten Stapeln eigentlich irgendwelche Regale gibt? Oder ob wir welche besorgen müssen?“

„Regale? Besorgen? Was erlaubst du dir eigentlich?“

„Na, irgendwo müssen eure sortierten Unterlagen ja aufbewahrt werden! Sag mal, was machst du eigentlich, wenn du einen älteren Vertrag suchst? Oder ein Kunde behauptet, er habe die Rechnung vom November 1991 nicht bekommen? Oder eine Betriebsprüfung ins Haus steht? Was macht denn das für einen Eindruck, wenn´s hier so ausschaut!“

„Das geht dich gar nichts an“, fand Onkel Albert, aber es klang schon etwas schwächlicher. Wahrscheinlich knabberte er noch an dem Gedanken, dass er so oder so zahlen musste.

„Gut, ich gebe dir vier Tage, dann muss hier alles glänzen!“

So ein Idiot.

„Erstens bin ich keine Putzfrau, sondern Spezialistin für Büroorganisation, und zweitens lautet der Vertrag auf drei Wochen. Und dabei bleibt es auch.“

„Eine Woche“, feilschte er.

„Drei Wochen.“ Ariane blieb ungerührt.

„Zwei.“

„Drei. Drei werden bezahlt, basta. Sollte ich wirklich früher fertig werden, kann ich entweder noch andere Probleme lösen oder den Endpreis neu berechnen. Aber hetzen lasse ich mich nicht. Wir liefern perfekte Arbeit ab, kein Gehudel. Habt ihr eigentlich seit Kriegsende mal was abgelegt?“

„Natürlich! Das ist doch alles hier!“

„Ah – ja“, machte Ariane spöttisch. „Sehr interessant. So geht´s natürlich gar nicht, das ist dir schon klar?“ Mit einem Fauchen wie von einem alten zahnlosen Kater stürzte Albert davon, und Ariane grinste hinter ihm her.

Das Geplärre von nebenan zeigte ihr, dass er jetzt seinen Sohn rundmachte, aber das Albertle brüllte tapfer zurück, und schließlich kehrte eine Art grollender Ruhe ein. Ariane arbeitete gemütlich weiter und schrieb zwischendurch eine E-Mail an Lilli, um ihr den Stand der Dinge mitzuteilen.

Am liebsten hätte sie ja zuerst die Stapel vor dem – vermuteten – Fenster abgetragen, um Licht ins Dunkel zu bringen, aber die Stapel waren bestimmt sieben, acht Jahre alt, wenn nicht noch mehr – und das neuere Zeug war leider dringender.

Um halb sechs, als draußen gewisse Geräusche auf Büroschluss zu deuten schienen, hatte sie insgesamt vierzig Ordner gefüllt. Da würde sie morgen eine neue Lieferung ordern müssen! Sie räumte beiseite, was sie bisher geschafft hatte, rückte sich die nächsten zehn Mappen zurecht, löschte das Licht und schloss die Tür ab. Den Schlüssel gab sie Frau Holzmeister, die sich gerade in ihren Mantel kämpfte. „Haben Sie mal rausgeschaut, Frau Löffelholz? Es hat den ganzen Nachmittag wie verrückt geschneit!“

„Oops – nein, das Aktenkabuff hat ja kein Fenster.“

Hätte schon, wenn man es freilegt“, war die vergnügte Antwort. „Na, schauen wir, dass wir ohne Crash nach Hause finden!“

Ariane schaute noch schnell bei ihrem Cousin herein. „Na, hast du´s überlebt?“

„Klar. Er war fast ein bisschen schwächlich, fand ich. Was hast du mit ihm gemacht?“

„Ihn geschimpft, wegen des Saustalls. Und gesagt, dass er so oder so drei Wochen zahlen muss. Dann war eigentlich ziemlich Ruhe im Karton.“

Albert grinste. „Verblüffend. Sonst ist er doch besser in Form? Und er hat auch die drei Wochen akzeptiert?“

„Er hat ein bisschen gefeilscht“, gab Ariane zu, „aber er war nicht richtig mit dem Herzen dabei.“

„Schön poetisch. Aber das trifft´s. Irgendwie ist er zurzeit ein bisschen komisch. Vielleicht hab ich das unbewusst einkalkuliert, als ich bei euch angerufen habe. Na, bis morgen dann. Und wenn du Material brauchst - ordere nach Belieben, so kann es schließlich nicht weiter gehen.“

Ariane fuhr nach Hause, sehr zufrieden mit sich, wenn sie auch höllisch aufpassen musste, dass ihr bei dem dichten Schneetreiben nicht noch einer reinrauschte. Als sie auf den – selbstverständlich ungeräumten – Hof fuhr, war sie doch erleichtert. Gut hingekriegt! Sie rannte förmlich zur Hintertür, um nicht zu viel Schnee ins Gesicht zu kriegen, und fühlte sich wieder mal wie Sibirien kurz nach dem Krieg und überhaupt sehr tapfer.

Ihre gute Laune verflog, als sie die Wohnung betrat. Michael war nicht da, der feige Hund, aber er hatte die Zimmer, die ihm zur Verfügung standen, flächendeckend zugemüllt.

Ariane beschränkte sich darauf, einige Lieblingsstücke in ihr Zimmer zu retten, das herumstehende Geschirr abzuspülen und aufzuräumen und Michaels schmutziges Lieblings-T-Shirt, das sie in einer Ecke des Wohnzimmers entdeckt hatte, in den Müll zu befördern. Sollte er nur ordentlich danach suchen! Seine übrigen Klamotten warf sie in den Wäschekorb – aber waschen würde sie für ihn nicht mehr!

Dann sammelte sie die herumstehenden Mülltüten ein und trug sie gleich zur Tonne (Adieu, Lieblingsshirt!), bevor sie einen schönen langen Spaziergang machte, bis in die Altstadt und wieder zurück. Der Schneesturm hatte sich ja wieder gelegt.

Komisch, dass Onkel Albert heute so zahm war!

Gar nichts über ihren Ausschnitt oder das gestörte Verhältnis von Frauen zu Organisation und ernsthafter Arbeit, nichts über ihre Eltern... reichte es wirklich, ihm eine Rechnung unter die Nase zu halten? Oder hatte ihm der Arzt gesagt, er dürfe sich nicht aufregen? Schlaganfallgefahr? Man konnte doch einen Schlag kriegen, wenn man Bluthochdruck hatte, oder?

Hatte er zu Hause Stress? Mit seiner Frau? Muckte Tante Irmtrud etwa endlich mal auf? Zeit war´s ja, sie lebten schließlich nicht mehr in der Adenauerzeit, auch wenn das bei Onkel Albert noch nicht angekommen zu sein schien.

Oder mit Sabine, das war sowieso die einzige Vernünftige... Obwohl, Albert ging eigentlich. Heute war er ganz nett. Vielleicht tat ihm die Ehe ja doch ganz gut.

Komische Familie. Und da behauptete Michael, sie sei spießig! Der sollte diese Bande mal sehen. Und schon war sie ganz geschmeidig wieder beim Thema Nr. 1 angekommen…

Warum machte Michael das? Und es schien ihm nicht mal peinlich zu sein, er hatte ja nur um Verzeihung gebettelt, weil sie sauer war und er um sein warmes Nest fürchtete. Er schien ansonsten wirklich zu glauben, ein bisschen Rumficken habe gar nichts zu bedeuten. Immer diese Männerunterscheidung zwischen Sex und Beziehung – dabei wollten sie in einer Beziehung doch auch nichts anderes als Sex. Nein, das stimmte nicht, sonst würden sie ja in einer Beziehung nicht immer so schnell in ihrem Eifer erlahmen. Oder? Brauchten sie ab und zu einfach was Neues? War das der alte Steinzeitdrang, die eigenen Gene möglichst weit zu streuen?

Warum waren Männer so viel steinzeitlicher als Frauen? Lag´s am defekten Chromosom oder daran, dass sie tausende von Jahren nicht domestiziert worden waren, weil sie ja die Macht gehabt hatten?

Oder hatten Frauen auch Steinzeitrituale und merkten es bloß nicht? War das Schuhekaufen der Tussen in den Witzen so was wie das Sammeln von Pilzen und Beeren? Hatten Frauen schon in der Horde vor der Höhle dafür gesorgt, dass die Schlägereien nicht ausarteten, und waren deshalb mit sozialer Intelligenz ausgestattet? Suchten Frauen nach reichen Männern, weil sie ein Männchen wollten, das genügend Mammuts für die Brut heimbrachte?

Schwer zu sagen. Sie fühlte sich eigentlich nicht als fellbekleidetes Weibchen, aber Michael würde in Fell (halb nackt, natürlich) und mit Keule bestimmt ganz niedlich aussehen. Und damals hatten die Männchen ja auch geschwächelt, wenn es darum ging, den Dreck aus der Höhle zu fegen: Ich muss nochmal weg, da kommt gleich ein Säbelzahntiger vorbei...

Es war kalt, aber wenn man zügig ausschritt, war es auszuhalten, und die frische, kaltfeuchte Luft tat ihr gut. Lüftete den Kopf aus, nach all diesem Papierstaub. Sie stellte sich vor, wie dieser Raum in drei Wochen aussehen würde – hell, sauber, an den Wänden Regale mit sorgfältig und einleuchtend beschrifteten Ordnern, an der Wand neben der Tür ein ordentlicher laminierter Aktenplan... jeder heftete alles sofort korrekt ab, denn alle hatten das System verstanden... Lemmert und Holzmeister saßen strahlend an ihren sauberen, leeren Schreibtischen in einem großzügigen, hellen Büro und arbeiteten mit vernünftigen Rechnern, wobei sie jedes gesuchte Dokument dank eines übersichtlichen Firmennetzes sofort fanden... das letzte würde sie nicht schaffen, musste Ariane zugeben, da müsste jemand vorher Onkel Albert aus dem Weg räumen. Aber der Archivraum würde wunderbar schön werden... Morgen sollte sie den alten Zustand noch schnell fotografieren, vielleicht konnten sie Vorher-Nachher-Fotos mal für die Werbung verwenden.

Sollte sie diese blöde Altbauhöhle auch mal fotografieren? Um später zu wissen, was sie hinter sich gelassen hatte? Keine üble Idee, und im Moment sah sie auch wirklich ziemlich typisch aus.

War mit Michael jetzt eigentlich Schluss oder nicht? Hatte er kapiert, dass sie ihm diesen zweiten – mindestens zweiten! – Fehltritt nicht mehr verzeihen würde? Oder glaubte er, sie würde sich schon wieder einkriegen, wenn er nur lange genug seinen babyblauen Blick an ihr ausprobierte?

Wollte sie überhaupt, dass Schluss war? Einerseits ja – er hatte völlig andere Lebensvorstellungen als sie, und außerdem war er ein verantwortungsloser Hund, der an ihr herummeckerte, weil sie mehr Erfolg hatte als er.

Andererseits hatte sie eigentlich immer einen Kerl gehabt, sie war das gewöhnt... gar niemanden haben, mit dem man sonntags frühstückte, auf dem Sofa hängend irgendwelchen Quatsch anschaute, über den Müll stritt und nach dem man nachts im Bett greifen konnte und auf willige Zustimmung stieß... Wie das wohl wäre, so ganz solo?

Bis jetzt hatte sie sich immer langsam abgeseilt, wenn sie sich schon einen Neuen, Besseren ausgeguckt hatte. Dann hatte sie bestenfalls alleine bleiben müssen, bis sie den Neuen überzeugt hatte, und so schwer war das meistens auch nicht gewesen. Aber jetzt, so ins Blaue hinein?

Pfui, Ariane, sagte sie sich streng, du wirst doch nicht kneifen, bloß weil du´s ohne Kerl nicht aushältst? Ein paar Wochen ohne Bettgymnastik können doch so schlimm nicht sein!

Ein klarer Schnitt, das war das einzig Vernünftige. Leider war sie dafür eben nicht der Typ, eher für ausgefranste Enden, für langsames Beziehungssterben. Dann eben so. Aber zurücknehmen würde sie ihn auf keinen Fall!

Wo war sie denn hier gelandet? Sie sah sich ratlos um. Ach so, da drüben war ja dieser eigenartig künstlerische Blumenladen... dann musste gleich danach der Floriansmarkt kommen. Gut, dann konnte sie jetzt wieder umdrehen. Sie dehnte und streckte sich, trabte ein paar Schritte und schlenderte dann wieder zurück.

Eine ordentliche Fassade

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