Читать книгу Eine ordentliche Fassade - Elisa Scheer - Страница 5
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ОглавлениеAls sie am nächsten Morgen die drei Waschbetonstufen zum Firmengebäude hinaufeilte und dabei in ihre Tasche linste, weil sie nicht sicher war, ob sie ihr Handy eingesteckt hatte, prallte sie mit jemandem zusammen. Sie entschuldigte sich mechanisch und sah dann erst auf.
Niedlich! Ein hübscher Kerl, groß, schlank, blond, ebenmäßige Gesichtszüge – und eine finstere Miene, die sich allerdings sofort entspannte, als er sein Gegenüber kurz gemustert hatte.
„Macht doch nichts“, sagte er dann. Angenehme Stimme, registrierte etwas in Ariane und vergab einen weiteren Pluspunkt – obwohl sie wusste, dass er am liebsten Können Sie nicht aufpassen? geraunzt hätte.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Nächster Punkt: charmantes Lächeln. Ariane lächelte unwillkürlich zurück. „Nein, danke, ich kenne mich schon aus. Mein Name ist Löffelholz, vom BüroNotDienst.“
„Jensen. Ich bin für die Verpackung zuständig.“
Sie bemerkte den grauen Kittel über den schwarzen Jeansbeinen. Packer also. Hatte nach mehr ausgesehen, fand sie und überlegte, ob sie damit arrogant oder unsozial war.
„Dann einen schönen Tag noch“, sagte sie und wollte an ihm vorbei und ins Gebäude hinein. Er hielt sie auf, indem er sie leicht am Arm packte.
Minuspunkt für Distanzlosigkeit.
„Warten Sie doch mal! Wollen Sie heute Mittag mit mir essen gehen?“
Ariane schüttelte den Kopf, ohne lange nachzudenken. „Ich arbeite durch.“
Das war zwar gelogen, aber immer noch einigermaßen höflich. Baggerte der immer so zügig? Noch ein Minuspunkt. Sie starrte auf seine Hand, bis er sie mit einer gemurmelten Entschuldigung losließ und den Weg zur Tür freigab.
War das der Bürocasanova? Wieso duldete Onkel Albert so etwas, er war doch sonst immer stark dahinter her, dass es keine Techtelmechtel innerhalb der Belegschaft gab? Und wenn, mussten die beiden wahrscheinlich vorher heiraten und sie musste ihren Job aufgeben, um ihm ein schönes Heim zu bereiten und seine Kinder aufzuziehen...
Typisch Onkel Albert. Aber dieser Jensen – eigenartig. Ziemlich ungeniert sogar. Genoss der Narrenfreiheit oder kriegte der Alte manches einfach nicht mehr mit?
Sie würde Albert jr. fragen. Aber jetzt rief das Rumpelstilzchenzimmer nach ihr!
Aus dem Sekretariat empfing sie einen vergnügten Gruß von Frau Holzmeister und einen schüchtern-bedrückten von Frau Lemmert. Die Frau hatte doch was! Hatte der Alte sie gemaßregelt? Weshalb wohl, die sah doch so brav aus? Und wie hatte die Holzmeister diesen Job ergattert? Geschworen, dass sie ledig war und bleiben würde? Ariane konnte sich richtig vorstellen, wie der Alte eine Bewerberin ins Gebet nahm. Und was sollen Ihr Mann und Ihre Kinder machen, während Sie sich hier – hm – selbst verwirklichen wollen? Finden Sie nicht, dass das reichlich selbstsüchtig von Ihnen ist?
Wahrscheinlich musste man dann sagen Mein Mann wünscht aber ausdrücklich, dass ich wieder arbeite. Das musste er akzeptieren, so ein Machtwort des Familienoberhauptes.
Das Zimmer sah eigentlich noch genauso furchtbar aus wie gestern. Sie fotografierte es schnell aus allen Blickwinkeln und ging dann wieder an die Arbeit.
* * *
Gegen Mittag, von niemandem gestört, hatte sie den ganzen Tisch neben der Tür frei geräumt und mit Ordnern vollgestellt, und allmählich ging ihr Ordnervorrat auch zur Neige. Sie rief im Büro an und bestellte noch einmal hundert Stück, dann machte sie sich daran, die Stapel vor der Stelle, an der sie das Fenster vermutete, zu sichten.
Oops- die ersten Unterlagen stammten von 1992! Leicht ältlich... das Zeug neben der Tür war immerhin aus diesem Jahrtausend gewesen.
Egal. Sie schnappte sich drei neue Ordner, markierte sie, schrieb 92 auf die Farbpunkte und machte sich daran, die Stapel zu zerlegen und immer dann, wenn die Pappschachteln wieder voll waren, die Papiere abzuheften. Immerhin ergab ein halber Meter Papier dann doch nur drei Ordner, denn es fand sich auch ziemlich viel völlig veraltete Werbung unter den Haufen, und die warf sie weg, ohne lange zu fragen.
Hinter dem Stapel, den sie gerade Stück für Stück abtrug, tauchte ein weiterer Stapel auf, und sie seufzte frustriert, aber dahinter schien es heller zu schimmern – Wand oder nur völlig verdrecktes Fenster? Sie würde hier doch auch putzen müssen.
Na, warum nicht, hier sah man doch wenigstens einen Unterschied! Das war befriedigender als die Alltagsputzerei zu Hause, wo der Dreckfaktor irgendwie immer gleich blieb.
Der hintere Stapel schien aus den Achtzigern zu stammen. Himmel, 1986 (aus diesem Jahr hatte sie gerade einige Rechnungsdurchschläge in der Hand) war Onkel Albert erst Mitte vierzig gewesen, und die Kinder waren – hm... genau, 15, 14, 13, 12. Wie die Orgelpfeifen. Und schon damals hatte er nicht eingesehen, dass man entweder einen eigenen Mitarbeiter für die Ablage brauchte oder doch wenigstens einer Sekretärin für so etwas Zeit lassen musste? Wann war die Firma eigentlich gegründet worden? Nicht von Onkel Albert. Eher von Opa Ernst. Ernst Albert, um genau zu sein. Dem blöden alten Nazi (auch wenn er das nie richtig zugegeben hatte, nach dem, was Mama so zu erzählen pflegte). Und der hatte den Laden gegründet... irgendwann in den Dreißigern. Gegründet oder billig übernommen? Wahrscheinlich tauchten ganz hinten auch noch die Arisierungspapiere auf, und der Alte wusste das und benutzte die Unordnung nur als Tarnung!
Das wäre natürlich echt eine Sensation. Und es beflügelte Ariane, eifrig weiter zu sortieren. Um halb drei wurde die nächste Kiste geliefert, keinen Moment zu spät, sie hatte gerade die letzten Ordner aus der alten genommen. Sie legte den übrigen Bürokram beiseite und ließ die alte Kiste abtransportieren; der BüroNotDienst benutzte die Dinger mehrfach, wenn es möglich war, und hier war für zwei Kisten auch absolut kein Platz.
Immerhin konnte man jetzt absehen, dass man pro Farbe und Jahr etwa vier Ordner brauchte – manchmal reichten vielleicht auch drei. Wie diese vier Ordner aufzuteilen waren, das konnte man erst nach der ersten Feinsortierung sagen. Grob legte Ariane A bis G, H bis M, N bis S und T bis Z fest; erfahrungsgemäß gab es bei M und S doch immer die meisten Namen. Sollte sie pro Kunde ein Registerblatt verwenden oder einfach nur eine Büroklammer? Oder Heftstreifen? Was würden die offenbar völlig überforderten Mitarbeiter hier noch am ehesten benutzen können?
Fraglich.
Sie arbeitete sich weiter in der rechten hinteren Ecke des Raumes bis zur Wand durch und hatte bis Arbeitsschluss immerhin ein Stückchen Fensterbrett und ebenfalls ein Stückchen Regalbrett freigelegt. Soweit sie erkennen konnte, war das Regal solide, aus Holz, stark eingestaubt an den wenigen Stellen, die nicht von Papierstößen bedeckt waren, und reichte bis nach vorne zur Tür. Fünf oder sechs Fächer übereinander, schätzte sie.
Gut, eine halbe Stunde noch, dann hatte sie wieder einen Stapel zerlegt und abgeheftet. Und niemand hatte sich den Tag über blicken lassen! Hatte der Alte der Parole Einfach gar nicht ignorieren ausgegeben?
Doch, jetzt kam jemand - das Albertle. „Na, wie geht´s?“
„Passt schon“, antwortete sie, „ich bin noch beim Vorsortieren, aber immerhin weiß ich jetzt, dass der Raum ein Fenster hat. Und ein Regal.“
„Ehrlich?“ Albert staunte übertrieben. „Ich hab – warte mal – 1994 hier angefangen, und da hat´s schon genauso ausgesehen. Damals wollte ich mal ganz zart anregen, ob man die Unterlagen nicht aufräumen... oder vielleicht sogar wegschmeißen... das Geschrei hättest du hören sollen!“
„Weggeschmissen habe ich auch einiges. Sämtliche Werbepost, die irgendeine Intelligenzbestie hier reingeschmuggelt hat.“
„Sehr gut. Bis zu welchem Jahr hast du dich denn schon zurückgearbeitet?“
„Mit Riesenlücken – wer weiß, was drüben auf der linken Seite noch alles auf mich wartet – bis 1986. Da waren wir noch schwer in der Mittelstufe.“
„Gott, ja...“ Er seufzte ekstatisch. „Scharfe Zeiten. Spitze Schuhe, schwere schwarze Anzüge - “
„- und literweise Clearasil“, ergänzte Ariane brutal, denn Albert war damals ein einziger Pickel gewesen. „Ach ja. So schön waren die Zeiten auch wieder nicht. Pickel, Mathefünfer, die süße Sabrina, die nichts von mir wissen wollte..."
„Die aus meiner Klasse? War die nicht ein bisschen zu jung für dich?“
Oops. Jetzt fiel ihr ein, dass Albert letztes Jahr mit strammen fünfunddreißig die dreiundzwanzigjährige Marie geheiratet hatte – aber er schien gar nicht einzuschnappen. Der Alte wirkte offenbar recht abhärtend.
„Die war für ihre zarten Jahre schon ganz schön kess drauf“, erinnerte sich Albert ganz versunken. „Hat mich regelrecht erschreckt...“
Ariane kicherte. „Wir hatten doch vor ein paar Jahren Klassentreffen, und da war sie zwar nicht da, aber ein paar andere haben mir erzählt, dass sie schon zweimal geschieden und gerade mit einem Nagelstudio pleite gegangen ist.“
Albert wischte sich theatralisch den Schweiß von der Stirn und lachte. „Da bin ich mit Marie dann ja wohl besser dran.“ Dann wurde er wieder ernst. „Wenn sie nicht bald die Nase voll davon hat, wie Vater sich ihr gegenüber aufführt.“
„Warum wohnst du denn auch noch da?“, fragte Ariane. „Hättet ihr was Eigenes, müsste sie den Alten praktisch nie sehen.“
„So toll zahlt er auch wieder nicht“, murrte Albert.
„Na komm, für drei Zimmer zur Miete müsste es doch wohl reichen, oder? Kann Marie sich nicht auch noch einen Job suchen? Die sitzt doch bloß zu Hause rum, oder?“
„Unfreiwillig“, versicherte Albert. „Der Alte will, dass sie sich auf den Nachwuchs konzentriert.“
„Oh... kann man schon gratulieren? Werde ich sozusagen Tante?“
„Nix. Ich weiß jedenfalls noch nichts. Jani, du kennst doch Vater! Wozu sind junge Ehefrauen auf der Welt?“
Ariane winkte ab. „Geschenkt. Was hat deine Marie eigentlich so gelernt? Vielleicht kann ich ihr was finden.“
„Reiseverkehrskauffrau“, sagte Albert. „Mensch... das wäre ja absolut Klasse!“
„Versprechen kann ich dir nichts, aber ich werde es auf jeden Fall versuchen. Uns kommen so viele Firmen unter... So, jetzt fotografiere ich noch den Status, und dann reicht´s mir für heute.“
„Du bist auch schon ganz schön weit, finde ich.“
„Wart´s ab, bis ich fertig bin!“
Sie fotografierte, schloss ab und setzte sich mit ihrem Laptop draußen hin, um Lilli Bericht zu erstatten und anzufragen, ob sie einen Job für eine Reiseverkehrskauffrau wusste. Auf die Antwort wartete sie nicht lange, die konnte sie auch zu Hause abrufen.
Dieser blöde Alte! Am liebsten hätte er wohl die ganze Familie unter seinem Dach versammelt, um über ihr Leben zu bestimmen. Wie in so einer bescheuerten amerikanischen Familien-Soap, aber da machten die das garantiert nur, um nur eine location zu brauchen, anstatt haufenweise verschiedene Wohnungen imaginieren zu müssen. Na, bei Albert und Petra war´s ihm ja auch gelungen – apropos Petra: Die arbeitete doch auch hier? Von der hatte sie ja noch gar nichts gesehen? Was machte sie hier eigentlich? Hatte Albert nicht mal was von Finanzplanung gesagt? Sie sollte ihn fragen – nein, der war schon gar nicht mehr da. Dann eben morgen. Komisch, dass er sie auch gar nicht weiter erwähnt hatte. Offenbar verstanden sich die beiden nicht besonders.
Vielleicht kein Wunder, überlegte Ariane auf dem Weg nach draußen; wenn sie sich recht an Petra erinnerte, war sie eine selten dämliche Pute, bieder und verkniffen. Wenn eine, die genauso alt war wie sie, immer noch zu Hause wohnte, in ihrem Kinderzimmer – das musste ja auf die Seele drücken. Oder sie war eben so ein braves Töchterlein...
Ariane erinnerte sich dunkel an einen dunklen Mozartzopf, zu starke Augenbrauen und etwas speckige Hüften. Ach ja, und eine fürchterliche violette Strickjacke, ganz offensichtlich selbst verbrochen. Genau, bei diesem schrecklichen Familienessen, bei dem Onkel Albert auch versucht hatte, Daniel zu beleidigen. Überhaupt alle zu beleidigen, wenn man es genau nahm!
Was hatte Petra damals eigentlich gesagt? Ariane konnte sich nur an arrogante Blicke erinnern.
Auf dem Parkplatz stieg gerade dieser Jensen in einen Sportwagen für Arme. Ariane kannte die Marke nicht, aber sie sah sofort, dass hier einer den geldigen Macho geben wollte, der gar nichts im Kreuz hatte.
Albern.
Und da drüben stieg einer in einen anthrazitfarbenen kleinen BMW, der ihr vage bekannt vorkam. Aber He, kenn ich Sie? konnte sie jetzt auch nicht quer über den Parkplatz plärren. Morgen würde sie unter einem Vorwand einfach mal durch alle Büros streifen. Genau, eine kleine Umfrage, ob es Wünsche bezüglich der Ablage gab! Das sollte sie sowieso machen – intelligente Angestellte wussten doch meist am besten, was praktikabel war und was nicht.
Sie schloss ihren Wagen auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen.
Interessanter Laden, das musste man zugeben. Dass reiner Zwischenhandel heute überhaupt noch etwas einbrachte? Waren die Einzelhändler zu altmodisch, um gleich online beim Hersteller zu ordern? Arianes Ansicht nach war diese Vertriebsart langfristig zum Sterben verurteilt; wenn das Albertle mal richtig ans Ruder kam, musste er sich neue Geschäftsfelder erschließen. Egal, jetzt musste sie mal abschalten. Lieber schauen, was Michael in der Wohnung nun wieder angestellt hatte!
Die Wohnung sah genauso aus wie am Vortag; Ariane nutzte Michaels Abwesenheit und fotografierte alle Räume, wobei der Kontrast zwischen dem allgemeinen Saustall und ihrem eigenen penibel aufgeräumten Zimmer sehr hübsch zur Geltung kam, und fragte sich dann doch, was sie hier eigentlich trieb. Geilte sie sich jetzt bloß noch an perfekter Ordnung auf?
Eher war das die Reaktion auf die mittlerweile erzwungene Bohème, überlegte sie, als sie flüchtig spülte und ein paar Sachen von Michael in die Ecken kickte. Ach – seine Shorts mit den kleinen Rennautos drauf? Ab in den Müll damit. Schade drum, aber warum räumte er sein Zeug auch nicht auf? Und wenn er fragte, konnte sie sagen Was weiß ich denn, wo du die liegen gelassen hast! Wo war er überhaupt schon wieder? Acht Uhr durch, an einem stinknormalen Dienstag – das konnte höchstens eine Privatparty sein. Gesagt hatte er nichts – aber bei der Funkstille...
Sie machte sich einen Salat aus einem Reisrest und einigen Mixed Pickles und goss ein Tütchen fettarmes Dressing darüber. Toll war das nicht, aber es würde reichen. Mit dem Schüsselchen zog sie sich in ihr Zimmer zurück, aß ein paar Löffel voll und verzog das Gesicht: Das fettarme Zeug schmeckte wirklich nach gar nichts. Sie angelte nach ihrem Handy und rief Sabine an, vielleicht gab es da ja ein paar Insiderinformationen.
Sabine fühlte sich mitnichten gestört; wie sie heiter berichtete, korrigierte sie gerade Übungsaufgaben, und nachdem ihre Neunte anscheinend den Satz des Pythagoras immer noch nicht verstanden hatte, konnte sie für eine Ablenkung von der deprimierenden Realität nur dankbar sein.
„Papa? Mensch, hör bloß auf! Den hab ich seit Jahren nicht gesehen. Ich bin doch tot, schon vergessen?“
„Nein, weiß ich. Dafür klingst du aber bemerkenswert lebendig.“
Sabine kicherte. „Gut, was? Die Nacht der lebenden Leichen. Was liegt denn genau an?“ Ariane erklärte ihr die Situation, und Sabine amüsierte sich noch mehr. „Du räumst Papas Saftladen auf? Ausgerechnet du? Mann, was muss ihm das stinken!“
„Tut´s auch. Aber Vertrag ist Vertrag, und der Geiz war mächtiger als der Frust.“
„Geschieht dem blöden Sack recht. Was wolltest du jetzt wissen?“
„Was Petra eigentlich in der Firma macht – Finanzplanung kann ja eigentlich nicht sein. Mit Albert hab ich ja ein bisschen geratscht, so zwischendurch mal, aber Petra hab ich noch nicht mal zu sehen gekriegt. Oder hat die Urlaub?“
„Ich hab nicht viel Kontakt zu ihr, eigentlich nur zu Mama und Albert. Ja, und Marie, die Arme... aber Urlaub? Petra? - ich wüsste nicht. Die macht doch höchstens Urlaub, wenn sie Mama beim Frühjahrsputz helfen muss. Als ob die sich dafür nicht ein paar kräftige Studenten leisten könnten! Was sie macht... gute Frage. Gelernt hat sie Bürokauffrau – du weißt ja -“
„- klar: Du gehst ein paar Jahre schön ins Büro und verdienst dir was für die Aussteuer. Mehr rentiert sich nicht, du heiratest ja eh. So etwa?“
„Haargenau. Nur, dass Petra bis jetzt nicht geheiratet hat, und jetzt ist sie ein ganz schön spätes Mädchen.“
„Na hör mal!“, entrüstete sich Ariane, „ich bin genauso alt wie Petra.“
„Du? Du bist kein spätes Mädchen, du bist eine erfolgreiche Frau. Du spielst doch in einer ganz anderen Liga! Petra sitzt muffig zu Hause und wartet, dass einer auf einem weißen Pferd kommt und sie wegheiratet. Das kann doch nichts werden!“
„Nicht bei dem mürrischen G´schau“, stimmte Ariane zu. „Oder hat sie sich jetzt mal die Augenbrauen gezupft?“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Die steht doch auf die bescheidenen Reize, die Gott ihr mitgegeben hat. Wahrscheinlich rasiert sie sich nicht mal im Sommer die Beine. Aber was sie in der Firma macht... ich würde ja auf Ablage tippen...“
Ariane lachte schallend. „Nee du, das weiß ich nun hundertprozentig – Ablage hat da noch niemand gemacht. Es sei denn, die haben irgendwo noch ein Paralleluniversum.“
„Ja, dann, irgendwas Sachbearbeitermäßiges. Mehr bestimmt nicht. Du weißt ja, Frauen können mit Macht nicht umgehen, und er lässt ja schon dem Albertle keine freie Hand. Wie viel weniger dann einer bloßen Tochter!“
„Im Vorzimmer sitzt sie aber nicht. Hat sie irgendwo ein eigenes Büro?“
„Lass mich mal überlegen, irgendwann hat sie mal was erzählt, von einem, der angeblich heimlich in sie verschossen ist. Du weißt ja, so heimlich, dass es sonst keiner merkt, am wenigsten der fragliche Knabe selbst. Und der sitzt bei ihr im Büro. Oder sie bei ihm oder wie auch immer. Wie der heißt und was er macht – sorry, Fehlanzeige.“
„Na, immerhin. Ich meine, außer diesem Baggerkerlchen in der Packerei und den beiden Sekretärinnen muss es ja noch ein bisschen mehr Personal geben. Morgen werde ich mal hübsch durch die Büros wandern, hab ich mir schon vorgenommen.“
„Baggerkerlchen? Lass mich raten – blond, niedlich, große Klappe, nix dahinter?“
„Ganz genau. Wollte nach fünf Minuten mit mir essen gehen. Ganz flotte Truppe.“
„Ole Jensen... Von dem hat mir Albert mal erzählt, der hat sogar Marie angebaggert, als sie Albert zum Essen abholen wollte. Der ist harmlos, der kann nichts dafür. Hat auch nicht viel im Kopf.“
„Dafür wahrscheinlich umso mehr in der Hose. Glaubt er wenigstens selbst.“
„Himmel, ist er gleich so deutlich geworden? Krass.“
„Ach wo. Aber so sind solche Typen doch immer, oder?“
„Kann sein. Ich treffe ja nicht mehr so oft auf derartige Flops.“ Sabine lachte zufrieden.
„Ja, du hast ja auch den Volltreffer gezogen – ist er noch der Volltreffer?“
„Und wie! Er steigert sich noch von Jahr zu Jahr. Und ein Supervater ist er obendrein. Steht sogar nachts auf, wenn Lisa oder Jan schlecht träumen, nimmt sich frei, wenn sie krank sind. Gut, ich mach das auch, aber es ist doch toll, wenn man sich das teilen kann und nicht einer die fette Karriere macht, während die andere als unzuverlässig dasteht, weil sie dauernd wegen Masern oder so daheim bleiben muss. Er ist richtig toll, wirklich. Und was macht dein Michael?“
„Ist auf dem Sprung. Allerdings nicht ganz freiwillig.“
„Willst du ihn abstoßen?“
„Ja“, seufzte Ariane und probierte es nochmal mit einem Stückchen Tomate mit Sauce, „irgendwie ist die Luft raus. Und dann ist er auch noch fremdgegangen, und das liefert mir eine prima Vorlage.“
„Würdest du ihm sonst verzeihen?“
„Vielleicht. Ich hab ihm ja schon mal verziehen. Aber jetzt mag ich nicht mehr. Der Typ wird einfach nicht erwachsen, und ich hab keine Lust mehr auf Weltreisegeschwafel und eine Wohnung, die ausschaut wie Sau und an allen Ecken dahinbröselt, auf endlos Party und keine Verantwortung.“
„Aha“, machte Sabine weise, „du willst ein Kind und er hat keinen Bock.“
„Woher weißt du das?“, fragte Ariane verblüfft.
„Glaubst du, du bist ein Einzelfall?“
„Glaubt das nicht jeder von sich? Du hast wohl kiloweise Kolleginnen, denen es genauso geht?“
„Richtig. Hauptgesprächsthema im Lehrerzimmer, wenn man von der Frage absieht, warum die Mädels in der 8 b so zickig sind und die Jungs in der 9 d so ganz besonders rotzig. Die biologischen Uhren rappeln, das reinste Wunschkonzert!“
„Naja, meine ist noch ziemlich leise. Aber ich könnte es so gut mit der Arbeit vereinbaren, gefragt, wie wir sind, und im besten Alter bin ich auch, warum also nicht? Und er sagt natürlich, er fühlt sich noch zu jung dazu, er will frühestens in zehn Jahren...“
„Na, aber dann ohne dich!“
„Hab ich ihm auch gesagt.“
„Und?“
„Hat er nicht kapiert.“
„Es gibt ja schon unglaublich beschränkte Männer“, fand Sabine. „Natürlich gibt es Ausnahmen, zum Beispiel den, der hier gerade zur Tür reinkommt...“
Lautes Schmatzen kam aus dem Hörer, gefolgt von ausgesprochen genießerischen Lauten. Ariane verdrehte die Augen, wie früher, wenn sich zwei auf dem Bildschirm küssten.
„Sabine? Hallo, Sabine?“
Sabine nahm den Hörer wieder auf. „Ariane?“
„Ja. Ich wünsche euch viel Spaß und dass kein Zwerglein mittendrin auftaucht, weil es mal muss.“
Sabine bedankte sich lachend und legte auf.
Ariane starrte vor sich hin. Dann saß Petra also mit einem Knaben im Büro, von dem sie stündlich eine Liebeserklärung erwartete – und der arme Hund ahnte nichts davon! Das musste sie sich morgen unbedingt näher anschauen. Hatte dieser Jensen eigentlich auch Petra angemacht oder hatte er sich zurückgehalten, um nicht vom Fleck weg geheiratet zu werden? Allerdings konnte Ariane sich nicht vorstellen, dass der Alte das geduldet hätte – seine kostbare höhere Tochter, die immerhin Abitur hatte machen dürfen, und der Casanova aus der Packerei?
Von draußen kamen die typischen Geräusche, die anzeigten, dass Michael nach Hause zurückgefunden hatte. Ariane nahm ihr Salatschüsselchen und trug es in die Küche. Im Flur nickte sie Michael freundlich zu und wünschte ihm einen guten Abend. Er schaute sie verblüfft an. „Was ist los?“
Sie kratzte die Salatreste in den Müll und sah nur kurz hoch. „Was soll los sein?“
„Du bist so höflich. Sind wir wieder gut?“
„Du meinst, ob ich dir die Sache verziehen habe? Nein. Aber deshalb kann ich ja wohl höflich sein, oder?“
„Was soll ich denn noch machen?“, fragte er mit einem Unterton von Verzweiflung. Echt?, überlegte Ariane. Na, eher nicht.
„Wieso noch machen? Hast du bisher schon irgendwas gemacht – außer Unordnung?“
„Ich hab dich um Verzeihung gebeten!“
„Ja, das ist ein bisschen wenig. Nicht, dass etwas anderes von Nutzen wäre, aber eins solltest du dir doch für dein weiteres Leben merken: Man kann nicht Blödsinn nach Belieben anstellen und dann Tschuldigung sagen. Und hoffen, dass alle wieder versöhnt sind. So läuft das nicht, wenn man älter als zehn ist.“
Michael gab einen unwirschen Laut von sich und angelte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. „Du redest mal wieder, als wärst du meine Mutter.“
„So komme ich mir auch manchmal vor“, fuhr sie ihn an, „und glaub mir, das ist kein schönes Gefühl.“
„Früher warst du nicht so“, klagte er nach einem tiefen Schluck.
„Früher war früher. Jetzt bin ich so. Und ich glaube, du solltest dir was Jüngeres suchen.“
„Bitte? Du bist doch jünger als ich!“
„Aber bloß zweieinhalb Jahre. Zwölf Jahre wären wohl besser. Schau, so ein Mädel Anfang zwanzig – die würde noch studieren, die fände dich toll, weil du schon Geld verdienst, die würde auch diese Wohnung und die Gegend hier lieben – und sie würde von dir viel weniger erwarten.“
„Was denn? Du hast von mir doch auch nichts erwartet. Kein Geld, kein gar nichts.“
„Du hast ja auch kein Geld. Aber Verantwortungsgefühl, etwas Mitarbeit... solche Dinge hätte ich schon erwartet, und jetzt tu nicht so, als hätte ich dir das nicht ziemlich oft auch gesagt. Du wohnst hier wie bei Muttern. Apropos Muttern, deine Mutter hat übermorgen Geburtstag. Kümmere dich mal drum.“
„O Gott! Kannst du das nicht machen? Ich weiß doch nie, was sie haben will.“
„Nein, kann ich nicht. Das ist deine Mutter. Wenn ich eine gute Idee habe, spare ich sie für meine eigene auf. Junge, wach auf! Du bist erwachsen, du musst dich selbst um deinen Kram kümmern.“
Brummen.
Ja, der Gedanke konnte schon bitter sein, amüsierte Ariane sich im Stillen. Da freute man sich über die eigene Volljährigkeit und kaum waren ein paar Jahre/Jahrzehnte vergangen, fiel einem auf, dass man nun immer selbst die Steuererklärung machen, die Schuhe zum Schuster bringen, den Ölstand kontrollieren und sich um Zahnarzttermine kümmern musste. Keine Mama mehr, die einem zuarbeitete. Deprimierend, vor allem für große Jungs. Große Mädchen akzeptierten das offenbar schneller. Sie stellte das Schüsselchen, das sie immer noch in der Hand gehalten hatte, in die Spüle und ließ heißes Wasser hineinlaufen, dann drehte sie sich um. „Ich geh ein bisschen spazieren. Schönen Abend noch.“
„He, warte mal! Wie ist es denn in dieser Firma von deinem Onkel gewesen?“
„Erheiternd“, antwortete sie schon von der Garderobe aus, wo sie sich in ihren langen Schal wickelte, „und sehr arbeitsintensiv. Aber es lohnt sich – ein gottvoller Saustall. Ciao.“
Ob er kapiert hatte, dass sie eben mit ihm Schluss gemacht hatte?, fragte sie sich, als sie den Weg zum Waldburgplatz einschlug. Zweimal rund um den Platz, das musste für heute reichen, sie wollte sich ja noch aufschreiben, wie sie morgen vorgehen wollte. Außerdem machte das Spazierengehen zwischen diesen Schneehaufen nicht übermäßig viel Spaß.
Ach, Michael. Er war wirklich ein lieber, aber leider doch etwas doofer Kerl. Eine Zwanzigjährige fände ihn bestimmt toll. So eine wollte auch noch keine Kinder, da konnte er noch länger ein großer Bub bleiben.
Nur wäre er eines Tages fünfzig (auch nur noch sechzehn Jahre, stellte sie mit leisem Erschrecken fest) und immer noch so ein Kindskopf. Dann hätten die Jungen kein Interesse mehr, es sei denn, er hätte es zu Millionen oder einem Ruf als Partykönig gebracht, und die Älteren hielten ihn doch nur für ein Leichtgewicht. Und dann säße er dumm da.