Читать книгу Detailarbeit - Elisa Scheer - Страница 3
ZWEI
ОглавлениеSamstag vor Weihnachten sollte man eigentlich verbieten, ärgerte ich mich, während ich wie aufgezogen im Laden herumrannte, selteneren Kram im Lager suchte, Kunden nach Kräften beriet, Sonja half, Bücher an der Kasse gleich weihnachtlich zu verpacken, Bestsellerstapel gerade rückte und ab und zu von einem Fuß auf den anderen trat, was meine schmerzenden Füße entlasten sollte, aber wie immer absolut nichts half.
Die Kunden waren wenn möglich noch gereizter als gestern und noch entschlossener auf der Suche nach dem idealen Weihnachtsgeschenk: Es sollte ordentlich was hermachen, das eigene Bildungsniveau zeigen, beim Beschenkten einen Freudentaumel auslösen (obwohl – war das wirklich so wichtig?) und vor allem so gut wie gar nichts kosten. So wurden wir sogar den Stapel von Vom Zauber alter Steinschlosswaffen los, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass sich jemand ernsthaft dafür interessierte. Aber vierfünfundneunzig und einfach zu verpacken...
Ich sah Sonja einen Moment lang gedankenverloren zu, wie sie den Sondersupertiefstpreisaufkleber in schreiendem Gelb von der Folie kratzte und dann routiniert unser Weihnachtsmannpapier knapp zuschnitt, erläuterte einer Kundin ein Lernspielzeug und das dazu passende Buch und lotste sie rasch zur Kasse, bevor sie es sich anders überlegte. Allerdings bestand wohl keine große Gefahr mehr, wenn „es sich anders überlegen“ gleichbedeutend war mit „noch mal in die Stadt müssen“.
Zehn nach drei, und ich war schon völlig tot!
Trixi schlurfte vorbei und warf mir einen mitleidheischenden Blick zu, den ich genauso erwiderte. Heute sah man doch, dass sie nicht mehr wirklich neunundzwanzig war: Die feinen Fältchen kamen im staubigen Neonlicht, das mühsam gegen die grauen Schneewolken draußen ankämpfte, besonders gut zur Geltung. Gut erhalten und gut hergerichtet – aber kein Teenie mehr.
Ich hätte nicht für alles Geld der Welt noch einmal ein Teenager sein mögen, aber Trixi? Noch einmal alle Chancen haben? Noch einmal wissen, dass man sich mit Heiraten und Kinderkriegen noch etwas Zeit lassen konnte? Oder schon in der Kollegstufe zuschlagen und mit Dreißig diesen Teil des Lebens schon abhaken können? Wäre Trixi wohl froh, wenn sie jetzt nicht nur einen Mann (wahrscheinlich mit Abseiltendenzen), sondern auch zwei Kinder in der Frühpubertät hätte? Wenn die Großmutterschaft schon um die Ecke lauerte?
Wohl auch wieder nicht, beschloss ich und ging den Bestsellertisch aufräumen und auffüllen. Je größer der Blödsinn, desto höher die Verkaufszahlen. Waren die Menschen immer schon dermaßen niveaulos gewesen oder hatte sich solches Prollvolk früher einfach nicht in die Buchhandlungen getraut? Gab es noch Schwellenängste vor Buchhandlungen, so wie Frauen wie ich Schwellenangst vor wirklich feinen Parfümerien verspürten? Weil die Verkäuferinnen dort hundertmal schöner waren als ich, jedenfalls hundertmal besser gestylt?
Manche hatten sicher auch Angst vor Computerläden – kaum war man drin, fragte einen ein arroganter Sechzehnjähriger mach dem Begehr, und man nannte das falsche Teil oder sprach es verkehrt aus oder wusste nicht, dass man dafür ein Spezialkabel brauchte oder andere Systemanforderungen, wusste die Daten des eigenen Rechners nicht und wurde mit einem verächtlichen Lächeln in die Arme des einzigen volljährigen (sprich: ebenso vergreisten) Fachmanns im Laden geleitet, der einen dann betont nachsichtig befragte und beriet.
Trixi sah wirklich fertig aus. Sollte ich hoffen, dass sie das Belle Époque für heute Abend strich? Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust auf so eine Nobeldisco. Die Türsteher waren zwar erstaunlich harmlos, aber bei dem Lärm kriegte ich ja doch nichts über ihren geheimnisvollen Schnuckelputz heraus. Und Tanzen? Wo mir jetzt schon die Füße abfielen? Ja doch, die anderen Bände der Serie um den russischen Ermittler hatten wir im Lager, natürlich, sofort.
Essen gehen, vielleicht.
Schon wieder? Wenn ich so weiter machte, wäre ich bald fett und pleite.
Narrensichere Computerhandbücher? Hier im Regal... Dieses hier war wirklich gut und leichtverständlich geschrieben, das konnte ich sehr empfehlen. Durfte es sonst noch etwas sein?
Sogar Ferdi zog ein Gesicht, als bereute er es, sich keinen Bürojob gesucht zu haben, dabei hatte er immer wieder einen Vorwand gefunden, sich auf dem Weg zum Lager irgendwo hinzusetzen. Vorhin erst hatte ich ihn dabei ertappt, dass er alte Laufkarten sortierte – im Sitzen, der Schwächling!
Die schönsten Skigebiete der Ostalpen? Ja, da hatten wir gleich zwei Bildbände zur Auswahl. Dieser hier enthielt sogar sehr übersichtliche Karten und Tabellen... Ja, leider war es deshalb auch etwas teurer...
Lieber mit Trixi bloß auf ein Bier. Stopp, einen Cocktail. Trixi war eine Dame und trank kein Bier. Im Charlie´s vielleicht, niemand konnte behaupten, dass das keine Nobeltränke –
Studienberatung? Aber natürlich, für ein spezielles Fach? BWL, soso. Ja, da gab es eine reiche Auswahl... Ich führte den besorgten Vater an die richtige Stelle und merkte zu spät, dass der geleckt wirkende Geschäftsmann mit dem Zeitplanratgeber, den er so angelegentlich untersucht hatte, zur Tür hinaus war, ohne den lästigen Umweg über die Kasse zu nehmen. Mist!
Warum machte so einer das? Wenn er erwischt wurde, war er doch ruiniert! Und das für vierundzwanzig neunzig? Ich schrieb einen Zettel für Ferdi und reichte ihn ihm. Er zuckte philosophisch die Achseln. „Bei dem Zirkus hier kommt das vor, du kannst deine Augen ja auch nicht überall haben.“
Der stille Kunde drückte sich heute bei der Kunstgeschichte herum, wählte, als ich ihn scharf ansah, einen Führer durch den Louvre und zahlte bei Trixi, die ihn kurz anfuhr, weil er bloß einen Hunderter hatte. Dann lächelte er vage in die Runde und verzog sich. Wahrscheinlich hatte er kapiert, dass keine hübsche junge Kundin heute die Muße für einen Flirt hatte, nicht, wenn sie noch siebzehn Weihnachtsgeschenke brauchte. Apropos – Scheiße, ich hatte ja auch noch keine!
Ich sollte allmählich mal darüber nachdenken... Wie wär´s mit Kostenloser Alltag für Dorle? Wahrscheinlich rieten die, bis vierzig bei den Eltern zu wohnen und den kostenlosen Service mitzunehmen, aber Dorle fand sicher den einen oder anderen Tipp darin. Und dieses Esoteriklexikon für Maggie? Da konnte sie sich gleich einen neuen Spleen raussuchen, Pendeln oder Wiedergeburt oder was auch immer und ihr Ihr-versteht-mich-alle-nicht-ihr-unsensiblen-Trampel weiter kultivieren.
Ich legte mir die beiden Bände zurück. Papa hatte ich ja schon, aber Mama? Nö, kein Buch. Die freute sich auch, wenn man sie als sinnliches Wesen wahrnahm. Ein richtig reiches (sprich: fettiges) Ölbad zu ihrem Lieblingsparfum? Mit passendem Deo und passender Bodylotion? Sie wusste, dass das Zeug nicht billig war, außerdem war ich die einzige Tochter, die sich merken konnte, wie es hieß. Gebongt, die Parfümerie an der Ecke (nicht nobel, gut sortiert in Sonderangeboten) hatte länger auf als wir.
Und eine große Schachtel Baumkuchenspitzen, die fraß die ganze Familie wie nichts weg, die würden auf den bunten Tellern keine Viertelstunde überleben und uns allen den Appetit aufs traditionelle Fondue verderben. Sehr gut, Weihnachten war abgehakt.
Nein, andere Weihnachtskarten hatten wir leider nicht mehr, nur, was der etwas lückenhaft bestückte Ständer noch hergab. Lesezeichen bekommen Sie an der Kasse, in den verschiedensten Ausführungen.
Zehn vor vier immerhin schon, das Ende war absehbar. Nur gut, dass wir nicht bis acht aufhatten! Sonja streckte sich ächzend, Trixi wischte sich über das rechte Auge und verschmierte ihre Wimperntusche. Ich löste sie hinter der Kasse ab, damit sie den Schaden beheben konnte, und versuchte, die Kassenschlange abzubauen. Ferdi trat neben mich und tütete ein – für exakt sieben Minuten, dann schloss er die große Eingangstür ab und wünschte den letzten Kunden, die ich gerade abzufertigen versuchte, ein schönes Wochenende und besinnliche Festtage. Ich kicherte. Das Wort besinnlich hatte leider immer diese Wirkung auf mich.
Schließlich war der Laden leer, um fünf nach vier. Gute Leistung, fand ich und zahlte schnell meine Weihnachtsgeschenke. Ferdi schloss die kleine Tür ebenfalls ab und ging daran, die Endabrechnung auszudrucken. Als er zufrieden grunzte, schlug ich halblaut eine Gratifikation vor, was das Grunzen in ein Knurren verwandelte. Wahrscheinlich speiste er uns wieder mit einer Flasche Billigsekt pro Nase ab, und das auch erst an Heiligabend!
Immerhin hatte ich am Montag frei. Dafür musste Trixi am Dienstag nicht arbeiten, und Sonja hatte sich den Freitag und den Samstag nach den Feiertagen geschnappt. Trixi kam frisch bemalt von der Toilette zurück. „Ihr seid schon fertig?“ Das würdigte keine einer Antwort.
„Willst du heute echt ins Belle Époque?“, fragte ich sie stattdessen. „Wollen wir nicht lieber gemütlich im Charlie´s einen trinken? Mit den kaputten Füßen können wir doch eh nicht tanzen. Ich würde dich auch abholen", lockte ich.
„Och... nö, ich will schon noch ein bisschen abdancen. Und im Belle Epoque sind die Cocktails besser. Abholen musst du mich eh, mein Wagen ist in der Werkstatt. Inspektion.“
„Dann werde ich aber nicht alt“, warnte ich, „von Lärm und Plattfüßen hab ich eigentlich genug.“
„Sei nicht so schlapp. Tanzen verbraucht ja auch Kalorien“, versuchte sie mich zu ködern.
Ich brummte. „Na, meinetwegen. Wann soll ich bei dir sein? Um acht?“
„Neun genügt. Vorher ist da noch keiner.“
Am liebsten hätte ich sie gefragt, wozu sie noch einen zweiten Kerl abschleppen wollte, aber ich traute mich nicht so recht. Ich nahm mir vor, gemütlich etwas Alkoholfreies zu trinken und Trixi beim Männeraufreißen zuzuschauen – erheiternd war das, keine Frage. „Und mach dich schön!“, rief sie mir nach, als ich mich endlich davonmachen konnte, um die Parfümerie nebenan zu überfallen. Im Alltag war ich wohl nicht schön, was?
Trixis Worte schienen in mir weiter zu wirken, jedenfalls kaufte ich nicht nur den Kram für Mama, sondern auch einen Lippenstift in hellem Braun mit extra Glitzer-Diamant-Effekt, der laut Werbung alle Männer zu meinen willenlosen Sklaven machen würde. Vielleicht half´s ja was.
Was sollte ich anziehen?
Ich fror an der Bushaltestelle vor mich hin und überlegte. Ganz in Schwarz, vielleicht. Das machte schlank. Und unter dem schicken schwarzen Blazer das Top aus zinnfarbenen Pailletten... Dann müsste ich mir ja auch die Nägel noch passend lackieren, stöhnte ich innerlich. Nö, da genügten farbloser Lack und eine Grundreinigung, um den Bücherstaub zu entfernen. Bequeme Schuhe, keinesfalls High Heels. Ballerinas? Wahrscheinlich rutschte ich mit denen auf dem Parkplatz vom Belle Époque aus und fiel auf die frisch lackierte Fresse. Lieber die Collegeslipper mit dem Rest von Profil!
Wo waren die eigentlich? Ich schaute aus dem Busfenster und ging im Geiste die wilden Häufchen in den Ecken meiner Wohnung durch. Wahrscheinlich unter irgendwelcher Schmutzwäsche begraben und total ungeputzt.
Bis neun hatte ich noch reichlich Zeit, ich sollte vielleicht mal waschen und aufräumen. Und wenn ich den blöden Tannenzweig nicht bald an die Wohnungstür hängte, konnte ich es für dieses Jahr auch ganz lassen.
Die Lessingstraße kam mir heute ganz besonders lang vor und ich bildete mir sogar ein, eine nie zuvor bemerkte Steigung wahrzunehmen. Blödsinn – aber ich musste wirklich sofort aufräumen und waschen, wenn ich erst einmal aufs Sofa gefallen war, käme ich wahrscheinlich nie mehr hoch.
Meine Wohnung deprimierte mich mal wieder zutiefst: Wo sollte ich denn da anfangen? Ich stellte die Tasche mit meinen Weihnachtsgeschenken beiseite, warf die Stiefel in die Ecke und die Jacke hinterher und ging daran, alle blauen Klamotten, die herumlagen, einzusammeln und mit einem ordentlichen Schuss Pulver in die Maschine zu stopfen.
Schon besser. Sobald das Geschirr ins Spülbecken gestapelt und mit heißem Wasser und ordentlich Schaum bedeckt war, sortierte ich den zweiten Haufen (weiß und hellgrau) und ging auf die Suche nach den Collegeslippern, die ich verblüffenderweise auf dem Boden des Kleiderschranks entdeckte, unter der Reisetasche – verknautscht und ungeputzt. Ich putzte sie mit reichlich Schuhcreme, um die abgeschabten Ecken zu tarnen, und zog sie auf Spanner.
Wenigstens war der schwarze Anzug sauber! Das Paillettentop blieb unauffindbar, aber ich hatte noch ein goldenes T-Shirt, das ging auch. Ich wollte ja schließlich keinen aufreißen, sondern bloß Trixi zuschauen und vielleicht etwas über den Superlover erfahren. Je geheimnisvoller sie tat, desto neugieriger wurde ich. Wahrscheinlich fing ich bald an, Klatschzeitschriften zu lesen.
Langsam spülte ich das verdreckte Geschirr ab und bedauerte mich heftig. Andere Leute hatten samstags frei und verbrachten den Abend gemütlich auf dem Sofa... Obwohl, auf Wetten, dass...? hatte ich schon gar keine Lust, dann lieber noch Disco. Die Waschmaschine kam mit dem üblichen Schlussrülpser zum Stehen; ich verteilte den blauen Krempel (und ein Paar ehemals gelber, nun grüner Socken) auf dem Wäschegestell und warf den grauweißen Haufen in die Maschine, dann ließ ich mir ein heißes Bad ein und goss ordentlich Schaumbad (Orange/Mandelblüte, penetrant, aber schön) dazu.
Sollte ich noch staubsaugen? Man konnte es auch übertreiben, beschloss ich und beschränkte mich darauf, ein paar wirklich große Krümel so aufzusammeln und drei leere Chipstüten unter dem Sofa hervorzuholen. Chips und eine schöne DVD... Ach ja! Na, morgen war Sonntag, und Chips hatte ich irgendwo auch noch. Und wenn nicht – zwei Ecken weiter gab es eine Tankstelle mit Shop. Die kannten mich dort schon, und das nicht vom Tanken.
Der Ächzer, mit dem ich mich, einen kitschigen Schmöker in der Hand, im heißen Wasser ausstreckte, kam so richtig von Herzen. Wie das duftete! Und wie angenehm die Schaumberge mich umschmeichelten!
Und wie hinreißend doof der Roman war! Ich las von einer zunächst hässlichen Erbin, die aber in der Ehe mit dem bösen Mitgiftjäger immer schöner und selbstbewusster wurde, bis ihr Filou von Ehemann sich rettungslos in sie verliebte und sich zu einem verantwortungsbewussten Menschen wandelte, das Glücksspiel und die Balletttänzerinnen aufgab und sich viele Kinderchen wünschte. Sie hingegen traute ihm nicht und glaubte, er hoffte, sie werde im Kindbett sterben, damit er das Vermögen ungehindert für seine diversen Laster verbraten konnte. Ich gab ihr im Stillen Recht – die Wandlung war wirklich nicht realistisch – und aalte mich im heißen Wasser.
Gemütlich – und erst kurz vor sechs!
Sehr ungern entstieg ich schließlich dem warmen Mutterleib und machte mich daran, meine Haare zu entwirren – nass am Ansatz, verfilzt in den Spitzen, wirklich toll. Vielleicht sollte ich mir wirklich mal wieder so eine Kur gönnen, mit der sie dann zwar strähnig und fettig wirkten, aber wenigstens kämmbar waren.
Ich hatte zwei Zacken aus meinem Kamm gebrochen, bis ich die Mähne endlich soweit gebändigt hatte, dass ich eine paillettenbestickte goldene Samtrüsche darum wickeln konnte. Fröstelnd suchte ich mir frische Wäsche heraus, zog mich halb an, hängte die zweite Ladung Wäsche auf (morgen würde ich gemütlich bügeln und mir dabei Mädchenjahre einer Königin reinziehen, das war die perfekte Bügelware) und belud mein Abendtäschchen mit Geld, Ausweis – ach nein, lieber in die Hosentasche – Handy und Zigaretten, falls ich mich richtig verworfen fühlen sollte. Vielleicht musste ich ja den Mann meiner Träume um Feuer bitten?
Der Mann meiner Träume trieb sich doch nicht im Belle Époque herum! Nein, er war ein Gelehrter, ein Schriftsteller vielleicht. Er würde sich bei Gothing von mir beraten lassen und wäre tief beeindruckt von meinem umfassenden Wissen, meiner Einfühlsamkeit und meiner Schönheit... okay, von meinem einigermaßen sympathischen Aussehen, bleiben wir realistisch. Er hatte tiefblaue Augen und nachtschwarzes Haar. Ja, und am besten noch einen Herzogstitel und ein Schloss in Sussex! Ich sollte meine Badewannenlektüre wirklich sorgfältiger auswählen, da verblödete man ja. Trotzdem, tiefblaue Augen gefielen mir. Mit langen dunklen Wimpern drumherum.
Ich schlüpfte in das goldene Top und hängte die schwarze Jacke an die Garderobe. Und jetzt? Ich hatte noch mehr als zwei Stunden Zeit. Vielleicht sollte ich was essen, damit ich eventuellen Alkohol besser vertrug. Etwas Fettiges, das war bekanntlich die beste Grundlage. Ich verdrängte den Gedanken daran, dass ich fahren musste und ohnehin nichts trinken durfte, und verzog mich mit dem Mitgiftjäger und einer Tüte Chips (Barbecue-Geschmack) aufs Sofa. Schließlich wollte ich ja auch nicht mitten in der Disco wegen Unterzuckerung in Ohnmacht fallen.
Während die Heldin ewig lang brauchte, um zu erkennen, dass ihr charmanter Ehemann es ehrlich meinte und bloß wegen seiner lieblosen Kindheit nicht imstande war, Ich liebe dich zu sagen, und während der treusorgende Cousin (der war mir gleich verdächtig vorgekommen!) sich zunehmend als Finsterling entpuppte, der die Gerüchte über den edlen Lord in die Welt gesetzt hatte, fraß ich die ganze Tüte leer, tippte noch die Krümel in den Ecken mit dem feuchten Zeigefinger auf, schob die leere Tüte unters Sofa und wartete darauf, dass die ziemlich frisch gebackene Lady Orwood endlich mit ihrem Angetrauten ins Bett stieg. Außer ein, zwei sinnenbetörenden Küssen (solche Küsse waren immer sinnenbetörend, das hatte ich mittlerweile gelernt) war noch nichts passiert, und so konnte es schließlich nicht bleiben.
Leider rief Trixi nicht an, um mir zu sagen, sie habe es sich anders überlegt und doch keine Lust auf die blöde Disco, also schlug ich das Buch gegen halb neun seufzend zu – die Orwoods hatten sich mittlerweile zwar eine heiße Nacht gegönnt, aber der Cousin war noch nicht entlarvt, und was dieses nervöse Hausmädchen umtrieb, wusste ich auch noch nicht. Ach, jetzt weiterlesen dürfen! Nein, ermannte – erfraute? – ich mich und schlurfte ins Bad. Grundierung, Puder, Kajal (der meine blassgrauen Augen auch nicht gerade feucht-exotisch wirken ließ), ein bisschen Lidschatten, braune Wimperntusche. Und als Krönung der neue Lippenstift!
Naja, sehr üppig war der Glitzer-Diamant-Effekt nicht, aber es schimmerte wenigstens ein bisschen. Ich nebelte mich großzügig mit einer Parfumprobe ein, da mein geliebtes Estée leider mal wieder leer war, schlüpfte in den schwarzen Blazer und die Collegeslipper und fand mich akzeptabel. Keine Sirene, aber sie würden mich schon reinlassen, mit Trixi zusammen auf jeden Fall. Die war sicher wieder aufgerüscht bis zum Gehtnichtmehr. Ich freute mich schon auf den Fasching, da hatte sie immer die irrsten Kostüme – mit ihr auf ein Fest zu gehen, war wirklich ein Erlebnis.
Im Hof kratzte ich erst einmal die Scheiben ab und stieg dann in das eisig kalte Auto, in dem mein Atem sofort innen an der Scheibe wieder anfror. Mit angehaltenem Atem steckte ich den Zündschlüssel ein – wahrscheinlich sprang er überhaupt nicht an. Doch. Schwächlich, aber er kam. Gott sei Dank, dann arbeitete auch die Heizung hoffentlich bald, bevor ich wieder nichts mehr sah. Vorsichtig arbeitete ich mich aus der Parklücke heraus und rollte vom Hof, den Kopf tief gesenkt, weil die Frontscheibe direkt über dem Armaturenbrett schon klar wurde. Ach, ein Königreich für eine Tiefgarage! Oder für eine neue Batterie.
Ich sollte mir mal solche Abdeckpappen für die Scheiben zulegen, beschloss ich. War da vorne eigentlich rot? Sah ganz so aus. Ich rollte langsam dorthin und blieb stehen. Keine Spur von Rennsemmel bei diesem Wetter! Auch kaum eine Spur von anderen Gestörten auf der Straße – die waren nicht so doof, die saßen friedlich zu Hause auf dem Sofa.
Ich gab wieder Gas und tuckerte weiter Richtung Selling. Zehn vor neun, ich schaffte es garantiert noch pünktlich. Es gab sogar einen Parkplatz fast direkt vor dem Haus. Ich schloss ab und schlug einen Haken durch die verkrüppelten Büsche neben dem Bürgersteig, denn der Eingang befand sich seitlich in dem Winkel, den die beiden verschieden großen Flügel des Hochhauses bildeten. Ein hässliches Ding, stellte ich wieder mal fest, als ich an der Fassade hochsah: teils verspiegelt, teils mit ziemlich kleinen knallblauen Balkonen verziert. Hinter Trixis Balkon brannte Licht, wenn ich mich nicht in den Stockwerken verzählt hatte, und in den verspiegelten Partien konnte man die Straßenlaternen erkennen.
Ich bog um die Ecke und strebte auf den pompösen Eingang zu, und dabei wäre ich – Teufel, war der Weg schlecht beleuchtet! – fast über einen Müllsack gestolpert oder über etwas anderes Großes, Dunkles. Auch in diesem Möchtegernnobelbau wohnten also Ferkel!
Ich besah mir das große dunkle Ding näher. Nein, kein Müllsack.
Dunkler Stoff, etwas Glitzerndes – und etwas Helles, fast wie Haut.
Ich ging ächzend in die Hocke, in der Hoffnung, aus der Nähe etwas mehr zu erkennen, und tatsächlich sah ich mehr - Blut auf dem Kopfsteinpflaster und ein Stück Hals mit einer mir nur zu gut bekannten Straßkette. Trixi?
Ich berührte den Hals vorsichtig. Kein Puls. War sie kalt? Schwer zu sagen, schließlich lag sie auf dem kalten Pflaster, das stellenweise verschneit war. Ich zog das Handy heraus und rief den Notarzt und die Polizei.
Kaum hatte ich das Telefon wieder eingesteckt, begann ich zu zittern, und ich spürte zu meiner Beschämung, dass mir schlecht wurde, wenn ich mir die Blutlache näher anschaute. Sicherheitshalber wich ich einige Schritte in Richtung Bürgersteig zurück, von wo ich Trixi im Auge behalten, aber sie nicht so genau sehen konnte. Außerdem fühlte ich mich im Licht der trüben Laterne irgendwie sicherer.
Dort stand ich und schluckte krampfhaft, während ich versuchte, mich enger in die schwarze Jacke zu wickeln, weil mir dermaßen kalt war. Wie konnte das passiert sein? War sie gefallen, gesprungen oder was? Oder einfach unglücklich gefallen, vielleicht, als sie mir entgegen gehen wollte? Ich schielte auf die Uhr. Sieben nach neun, nein, ich war nicht zu spät gewesen. Aber von hier aus konnte ich ihre Füße sehen, und sie trug diese aberwitzigen Stilettos aus schwarzem Lack. Auf denen konnte man ja gar nicht sicher laufen!
Ich stand immer noch unter der Laterne und dachte ziellos im Kreis herum, als die Sirenen näher kamen und schließlich mit einem Jaulton abbrachen. Ein Krankenwagen hielt mit quietschenden Bremsen, und die Insassen rannten an mir vorbei. Einer winkte mich nach ein paar Minuten näher. „Sie haben sie gefunden?“
„Ja“, murmelte ich und spürte, als ich so nahe bei Trixi stand, wieder meinen Magen – und einen dicken Kloß im Hals. „Haben Sie sie berührt?“
„Nein – ja. Ich habe nur kurz gefühlt, ob sie einen Puls hat, am Hals. Mehr hab ich mich nicht getraut. Ich wusste ja nicht...“
„War schon richtig so“, meinte einer freundlich und blinzelte zu mir hoch, „Sie hätten ihr sowieso nicht mehr helfen können. Kennen Sie die Frau?“
„Ja. Ich wollte sie abholen, in die Disco...“ Ich wandte mich hastig ab. „Tut mir Leid“, antwortete der Notarzt, aber das ging in neuem Aufjaulen unter. Diverse Uniformierte bevölkerten nun die Szenerie, Funkgeräte knatterten, starke Scheinwerfer wurden aufgestellt. Hinter der Glasfassade über dem Eingang gingen immer mehr Lichter an und man konnte sehen, wie Vorhänge beiseite geschoben wurden. Ich zog mich etwas zurück und setzte mich auf einen Poller. Ich spürte zwar, wie mir die Kälte des Betons durch die Hose drang, aber das war egal, ich fror ja ohnehin.
Ach, Trixi! Was konnte da bloß passiert sein? Sie war so lebendig gewesen, so überzeugt von ihrer Wirkung auf Männer, so gierig auf das Leben – und jetzt lag sie da, ein blutiges Häufchen Discoklamotten. Man müsste ihre Familie... und ihren Freund... ja, wie denn?
„Wer sind Sie denn?“, fragte jemand unfreundlich. „Das ist ein Tatort, gehen Sie bitte aus dem Weg.“
Ich stand auf und setzte mich weiter weg wieder hin. Dort kramte ich mit zittrigen Händen in meiner Tasche herum, bis ich die Zigaretten gefunden hatte, und zündete mir mit mehreren Anläufen eine an. Schmeckte scheußlich, wie die Galle, die mir dauernd hochkommen wollte. Ich rauchte und starrte auf meine Collegeslipperbommel. Ach, Trixi... Vielleicht sollte ich aufstehen und jemand Wichtigen fragen, ob sie mich noch brauchten, aber dann stand ich bestimmt bloß wieder im Weg. Lieber einfach hier sitzen bleiben und frieren. Wieso hatte ich auch keinen Mantel mitgenommen? Zwei Uniformierte kamen auf mich zu und ich ließ hastig meine Zigarette verschwinden.
„Sie haben die – äh – die Tote gefunden?“
Ich nickte. „Kommen Sie bitte mit?“
Ich folgte ihnen zu zwei Männern in Zivil, die sich gerade gereizt umsahen. Der hübschere der beiden stellte sich als Kommissar oder so was namens Spengler hervor, den Namen des anderen verstand ich nicht. Ich nickte beiden müde zu und warf auf die Ausweise nur einen mehr als flüchtigen Blick.
„Wie heißen Sie, bitte?“
„Caroline Conradi“, antwortete ich. „Ich bin eine Kollegin von Trixi Berger, wir wollten zusammen ins Belle Époque gehen.“
„Ach deshalb“, murmelte der andere, der, der mich vorhin weggescheucht hatte. Die Stimme erkannte ich, tief und unfreundlich. „Was deshalb?“ fragte ihn der andere. „Na, der Glitzerlook, Chef“, antwortete er. Ich nahm befriedigt zur Kenntnis, dass der Stoffel bloß der Knecht war.
„Haben Sie eine Idee, warum Frau Berger aus ihrem Fenster gesprungen sein könnte?“, fragte dieser Spengler. Ich sah ihn verblüfft an. „Aus ihrem Fenster gesprungen? Das kann doch gar nicht sein.“
„Ach nein? Warum nicht? Weil sie keinen Grund gehabt hat?“
„Das auch – obwohl, wer weiß so was schon. Nein, ihre Wohnung geht nach Süden raus, da wäre sie nie hier gelandet. Und die Treppenhausfenster kann man nicht öffnen.“
„Wie soll es denn dann passiert sein?“, erkundigte sich Spengler etwas skeptisch. „Vom Dach“, antwortete ich. „Vom Dach hat man den irrsten Blick über die Stadt, sie hat es mir mal gezeigt. Und das Dach hat nur eine niedrige Brüstung, ich fand das damals ein bisschen unheimlich.“
Spengler gab seinem Hiwi eine stumme Anweisung, und der verschwand im Haus, Handschuhe überstreifend. Ich starrte blicklos auf Trixi, die gerade fotografiert wurde. Immer, wenn das Blitzlicht aufleuchtete, glitzerte ihr buntes Paillettenwestchen lustig, und die auf Hochglanz polierten Schuhe reflektierten das Licht. „Könnte sie also einen Grund gehabt haben?“, wiederholte Spengler seine Frage von vorhin.
Ich überlegte. „Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen“, antwortete ich dann. „Ich meine, sie hatte einen ordentlichen Job und nach dem, was sie in der Arbeit so erzählt hat, den absoluten Superfreund, sie hat uns sogar schon zur Hochzeit eingeladen. Ohne konkreten Termin, allerdings. Und heute hat sie sich durchaus aufs Weggehen gefreut. Ich war eher die, die keine rechte Lust auf Disco hatte.“
„Warum nicht?“, fragte er weiter, nahm mich beim Arm und drehte mich ein wenig, so dass ich nicht mehr auf Trixi schauen musste. „Weil wir schon den ganzen Tag gestanden hatten und ich mir nicht vorstellen konnte, mit den Plattfüßen auch noch zu tanzen.“
Spengler nickte. „Und sie arbeiten wo?“
„Gothing & Cie. in der Katharinenstraße.“
„Die Akademische Buchhandlung?“
„Genau. Sie können sich sicher vorstellen, wie es da am letzten Wochenende vor Weihnachten zugeht.“
„Kann ich. Aber wenn es Sie tröstet – wir spüren die Saison auch schon. Leute, die beim Streit um eine bestimmte Blautanne das Messer ziehen, zum Beispiel.“
„Ehrlich?“ Das lenkte mich sofort ab. „Ich dachte immer, Mord und Totschlag gibt es erst an Heiligabend, wenn alle krampfhaft glückliche Familie heucheln müssen.“
„Das ist dann der Höhepunkt, aber vorher gibt es auch schon Streitfragen – feiern wir bei deinen oder bei meinen Eltern, feiert er Weihnachten mit seiner Frau oder seiner Geliebten – na, Sie können es sich sicher vorstellen.“
Ich nickte. „Kein Problem. Aber jedenfalls wirkte Trixi heute eigentlich ganz vergnügt. Ich wollte lieber mit ihr ins Charlie´s, um sie über ihren Lover auszuhorchen.“
„Ach ja, dieser Liebhaber. Sagen Sie mir seinen Namen?“
„Gerne – wenn ich ihn wüsste! Trixi hat um ihn ein solches Geheimnis gemacht, dass ich manchmal schon geglaubt habe, sie hätte ihn einfach erfunden, um nicht als solo dazustehen. Okay, das ist gemein, aber ich weiß von diesem Typen wirklich nur, dass er ganz, ganz toll ist und ganz, ganz toll aussieht und sein Monogramm auf dem Nummernschild spazieren fährt.“
„Spießig“, fand Spengler. „Wie das Monogramm heißt, wissen sie aber nicht zufällig?“
„Sorry.“ Ich zuckte die Schultern und fröstelte wieder. Spengler rief einen von den Sanitätern her und ließ mir eine Aludecke umlegen, unter der mir sofort wärmer wurde. Ob ich einen Schock hatte? Unsinn, wahrscheinlich hätte ich bloß einen Mantel mitnehmen sollen.
„Warum haben Sie eigentlich keinen Mantel an?“, fragte Spengler in diesem Moment, und ich zuckte zusammen. Konnte er Gedanken lesen?
„Ich dachte, für die paar Meter zu Trixis Klingel – und in den Discos sind die Garderoben immer schweineteuer, man muss ewig warten und dann reißen sie einem bloß die Aufhänger ab. Außerdem sieht man im Mantel immer so uncool aus, und auf das klassische Dukommsthiernetrein hatte ich keine Lust.“
Spengler schien zu grinsen. „Von dem gleichen Kerl wie Wasguckstdu?“
„Ja, ich glaube. Haben Sie was dagegen, wenn ich rauche?“
„Aber nein. Möchten Sie eine von mir?“
„Danke, ich hab selber.“ Er gab erst mir, dann sich selbst Feuer, und wir rauchten friedlich. „Ich verstehe das alles nicht“, sagte ich dann. „Trixi hatte echt keinen Grund. Heute Nachmittag war sie richtig gut drauf, aber das war sie in letzter Zeit immer. Und so – ich glaube es einfach nicht.“
„Was glauben Sie nicht? Dass sie es selbst getan hat?“
„Genau. Trixi ist – war – ziemlich eitel. Naja, auf ihr Aussehen bedacht. Und nicht furchtbar hart im Nehmen. Ihr wäre doch klar gewesen, dass das scheußlich wehtun würde und sie keine Kontrolle darüber hätte, wie sie hinterher aussähe. Nein, so hätte sie das nie gemacht.“
„Wie dann?“ Nett, dass er mich einfach reden ließ.
„Ich weiß es auch nicht. Vielleicht ihr schönstes Kleid, frisch geduscht und geschminkt, dekorativ auf dem Bett drapiert und dann Schlaftabletten... ich weiß, das klingt gehässig, aber ich meine es nicht so – nur, dafür war sie einfach nicht der Typ.“
„Vielleicht hatte sie keine Schlaftabletten. So leicht kommt man da auch nicht ran, wissen Sie?“
„Ja, gut – aber es gäbe doch noch andere Methoden. Notfalls in der Badewanne und die Pulsadern... das soll doch schmerzlos sein, oder? Wir haben in der Schule den Tod des Seneca gelesen.“
„Naja, schmerzlos... Nicht so arg wie das hier, da haben Sie wohl Recht.“
Er sah auf, weil sein Assistent angetrabt kam, mit einer Plastiktüte in der erhobenen Hand. „Chef, das haben wir auf dem Dach gefunden. War sogar noch was drin, und nicht mal abgestanden.“
Die Tüte enthielt ein Sektglas mit violettem Stiel.
„Das ist eins von Trixis Gläsern“, sagte ich. „Auf dem Dach? Nur eins?“
Der Assistent ignorierte mich, sein Chef aber nicht. „Warum nur eins?“
„Naja“, zögerte ich, „nachts auf dem Dach... Sternenhimmel, Blick auf die Stadt, Sekt – das klingt mir irgendwie mehr nach Zweisamkeit. Vielleicht hat ihr geheimnisvoller Lover auf einen Sprung vorbeigeschaut. Aber wenn da nur ein Glas war... Ich kann mir bloß nicht vorstellen, dass sie alleine mit einem Glas Sekt nach oben fährt, um sich für die Disco einzustimmen. Dann hätte sie den Sekt beim Aufbrezeln getrunken.“ Spengler stand auf. „Wir gehen in ihre Wohnung, vielleicht erfahren wir da noch mehr. Los, Daniel! Frau Conradi, kommen Sie bitte mit?“
„Gerne“, sagte ich, erhob mich etwas ungelenk und hielt die Aludecke einen Moment lang ratlos in der Hand, bevor ich sie diesem Daniel in die Hand drückte und einen kurzen giftigen Blick aus dunkelbraunen Augen erhaschte.
„Ich habe Ihren Namen vorhin nicht richtig verstanden“, murmelte ich und sah ihn voll an.
„Weiß“, brummte er und knüllte die Decke in der Hand zusammen. Er sah wirklich wütend aus. Warum eigentlich? Bloß wegen der Decke?
„Nur der Ordnung halber“, fragte er, „wo waren Sie eigentlich, bevor Sie uns angerufen haben?“
Ich sah ihn erstaunt an. „Auf dem Weg hierher natürlich. Da drüben steht mein Auto, der schwarze Seicento.“
„Wie lange dauert die Fahrt?“
„Eine Viertelstunde etwa, die Straßen waren ziemlich leer. Und davor – das wollen Sie doch wissen? – war ich zu Hause. Alleine. Erst habe ich gelesen, dann habe ich mich aufgetakelt.“
„Nicht zu übersehen“, brummte er. Blöder Hund, er kam bestimmt in keine Disco rein, nicht in dieser hässlichen Jacke mit den tausend Taschen und nicht in den verbeulten Jeans. Und rasieren hätte er sich auch mal wieder können. Diese Dunkelhaarigen mussten eben nachmittags noch mal ran, wenn sie ordentlich aussehen wollten. Das sollte ihm mal jemand sagen. Aber nicht ich, von mir aus konnte er gerne den Verbrecherschreck geben.
„Was ist jetzt, Daniel?“, rief Spengler, und wir setzten uns in Bewegung.
Spengler sah eindeutig besser aus, gepflegter, zivilisierter. Er hatte auch die besseren Manieren und nicht eine Art, die einen sofort dazu brachte, pampig zu werden. Vielleicht spielten die beiden auch guter Cop - böser Cop. Oder machten sie das nur im Film? Wahrscheinlich. „Haben Sie den Wohnungsschlüssel?“, fragte ich, als wir vor dem stahlverkleideten Lift standen.
Spengler klopfte auf Trixis Täschchen, das er unter den Arm geklemmt hatte.
Bewundernswert – ein Mann, der erhaben über die Lächerlichkeit war, mit einem schwarzen paillettenbesetzten Täschchen herumzulaufen. Dieser Weiß hätte bestimmt herumgeknurrt und finster geschaut, damit ja keiner grinste. Spengler grinste selbst, aber nur kurz, dann öffneten sich die Lifttüren und wir stiegen ein.
Verbissenes Schweigen bis zum zehnten Stock. Ich war mir sicher, dass das Verbissene von diesem Weiß ausging. Was hatte er eigentlich gegen mich? Hielt er mich für verdächtig? War ich ihm zu stark geschminkt? Himmel, der sollte mich mal tagsüber sehen! Oder war er immer noch wegen der Decke sauer? Aber er hatte mich doch vorher schon nach Kräften ignoriert? Wahrscheinlich mochte er einfach keine Frauen.
Was ging´s mich an!
Die Lifttüren öffneten sich mit dem üblichen Surren, und ich ging voraus den Gang entlang. Vor Trixis Tür blieb ich stehen, Spengler fischte einen Schlüsselbund mit einem roten Plexiglasherz als Anhänger aus der Tasche und schloss auf. Weiß zog seine Waffe, entsicherte sie, hielt sie nach oben und stieß die Tür auf. Er benahm sich so kinomäßig, dass mir ein leises Prusten entfuhr, das ich schnell in ein Hüsteln verwandelte, aber nicht schnell genug – er warf mir einen beleidigten Blick zu und sprang in den kleinen Flur, wo er beinahe über mehrere Jacken und Taschen gefallen wäre. Er sah rasch ins Wohnzimmer und in die Schlafnische und kam zurück. „Niemand da. Aber die Wohnung scheint durchsucht worden zu sein.“
Das widersprach aber der Selbstmordtheorie, dachte ich mir und wunderte mich über mich selbst. Müsste ich nicht weinen und völlig wirr im Kopf sein vor Trauer? Immerhin war Trixi doch eine nette Kollegin und durchaus so etwas wie eine Freundin gewesen, und nun war sie tot. Stattdessen stand ich hier, sah mich kühl um und dachte so logisch wie schon lange nicht mehr. Kalt wie eine Hundeschnauze. Hatte Maggie doch Recht und ich war ein unsensibles Stück? „Darf ich mich mal umsehen?“, fragte ich.
Spengler nickte. „Aber nichts anfassen!“
Weiß sah ihn entrüstet an. „Aber Chef, sie ist doch -“
„Was?“, fragte ich. „Eine Verdächtige? Kommen Sie eben mit, damit sie sicher sind, dass ich keine Beweisstücke verschwinden lasse.“
„Dazu dürfte es wohl zu spät sein“, brummte Weiß und behielt mich misstrauisch im Auge, während ich meinen Blick über das Wohnzimmer und die Schlafnische schweifen ließ. Berge von Klamotten, teils aus dem Schrank gerissen, teils reif für die Wäsche, dazwischen jede Menge einzelner Schuhe, Handtaschen, Zeitschriften, leere Reisgebäcktüten (Trixi glaubte, Reisgebäck sei fettfrei), auf einem Teller recht ältliche Orangenschalen, die etwas schimmelig rochen.
Ich schüttelte den Kopf. „Die Wohnung ist nicht durchsucht worden. Das ist mehr oder weniger der Normalzustand.“
Weiß starrte mich ungläubig an, die schokoladenbraunen Augen weit aufgerissen. „Aber es sieht so grauenhaft aus!“
„Da gebe ich Ihnen Recht. Ich vermute, das ist eine Mischung aus Überstunden wegen des Weihnachtsgeschäfts und der Hektik vor einem Discobesuch – was soll ich bloß anziehen und so. Schauen Sie, der Schreibtisch ist ganz unberührt. Trixi hat nur alle ihre Klamotten anprobiert, die fürs Weggehen in Frage kommen – der Sportkram ist noch im Schrank, die Bettwäsche auch – und seit Tagen keine Zeit gehabt, die Essensreste aufzuräumen.“
Spengler nickte. „Sieht es bei Ihnen genauso aus?“
„Heute Nachmittag war´s nicht viel besser, bloß, dass ich beim Discooutfit keine große Auswahl habe. Bevor ich hergekommen bin, habe ich nicht nur gelesen, sondern auch mal ordentlich was weggewaschen. Wir arbeiten zurzeit sechs Tage die Woche elf Stunden lang – da hat man abends wirklich null Lust, noch den Staubsauger rauszuholen. Geht es Ihnen denn anders, wenn Sie viele Fälle haben?“
Spengler schüttelte den Kopf, Weiß sah sich weiter streng um. Wahrscheinlich ließ der seine Frau putzen und kürzte ihr das Taschengeld, wenn er noch Staub fand.
Ich warf einen Blick in die Küche, wo man sah, dass Trixi genauso wenig fanatisch abspülte wie ich. Salatschälchen vom Lieferservice, mit Plastikgabeln und angetrockneten Dressingresten, leere Energy-Drink-Dosen, zusammengeknüllte Tüten vom Backshop, alte Teebeutel, Teller, Besteck, verschmierte Töpfe. Ich seufzte. „Wenn es nicht wegen der Spuren wäre, würde ich am liebsten aufräumen, damit ihre Eltern nicht merken, wie unordentlich sie sein konnte.“
„Wenn wir hier fertig sind, können Sie“, versprach Spengler.
„Meinen Sie, vor Ihnen hätte sie sich weniger geniert?“, fragte Weiß.
„Offensichtlich, ich hätte den Verhau ja auch gesehen, wenn ich sie wie geplant abgeholt hätte. Wie gesagt, wir haben den gleichen Job, also kann ich das verstehen. Ihre Eltern, glaube ich, wären doch leicht erschüttert. So wie Sie“, fügte ich hinzu und grinste kurz.
„Ich war nicht erschüttert!“, fuhr er mich an. „Nein? Aber Sie haben geglaubt, die Wohnung sei durchsucht worden, oder? Würden Sie mir mal diesen Schrank da öffnen? Sie haben Handschuhe an, ich nicht.“
Weiß warf mir einen mörderischen Blick zu, zog aber brav die Schranktür auf. Ich musterte Trixis Gläsersammlung. Wein, Bier, Saft, Sekt... vier Sektgläser mit violettem Stiel. „Es fehlen zwei Gläser“, stellte ich fest. „Eins war auf dem Dach... wo ist das andere?“
„Woher wissen Sie, dass zwei fehlen?“
„Ich hab sie ihr zum Geburtstag geschenkt, und es waren sechs Stück.“
„Mit lila Stiel?“ Weiß sah mich verachtungsvoll an.
„Das hat sie sich so gewünscht. Sie wollte genau diese Gläser, und ich glaube nicht, dass sie seit September schon eins zerdeppert hat. Obwohl, wissen kann man es natürlich nicht. Bloß, dass sie sich hier ein Glas einschenkt und dann damit nach oben fährt, einen Schluck trinkt und vom Dach springt – nein.“
„Wieso nicht?“ Weiß gab wirklich nicht auf!
„Einmal passt es nicht zu ihr, das hab ich Ihrem Kollegen schon erklärt, und außerdem – mir kommt das so blöd vor. Entweder betrinke ich mich doch vorher oder ich nehme die Flasche mit rauf, anstatt mit einem vollen Glas herumzuzittern.“
Spengler brummte und sah sich um. „Wo ist überhaupt die Flasche?“
„Welche Flasche?“, fragte Weiß und wurde schlagartig rot, als er merkte, wie dumm die Frage war. „Oh, die Flasche! Also, auf dem Dach war sie nicht.“
„Kühlschrank?“, schlug ich vor.
Im Kühlschrank fand sich ältliches Gemüse, ein Paket Vollkorntoast und ein abgelaufener Joghurt mit 0,2 % Fett. Erdbeergeschmack. Keine angebrochene Sektflasche.
„Müll“, schlug Spengler vor und Weiß wühlte sich gehorsam durch die beiden Supermarkttüten, die vollgestopft an der Türklinke hingen. „Mit Mülltrennung hatte sie´s auch nicht“, schimpfte er halblaut und holte allerlei ekliges Zeug aus den Tüten. Keine Flasche. „Und dass sie sich ein Glas eingießt, den Rest wegschüttet, die Flasche korrekt im Glascontainer entsorgt und dann aufs Dach steigt und – äh - Schluss macht...“
„Blödsinn“, fand Weiß. „Sonst hat sie´s ja auch nicht mit der Umwelt, oder? Gut, vielleicht war´s bloß ein Pikkolo und schon das zweite Glas...“
„Könnte gut sein.“ Ich wollte mal großmütig sein.
„Aber deshalb muss die Flasche trotzdem irgendwo sein“, unterbrach Spengler unsere kurzfristige Einigung. Damit hatte er leider Recht, aber die Flasche war trotzdem nirgendwo zu finden. „Sehr seltsam“, stellte er schließlich fest und sah zufällig aus dem Fenster. „Heilige Scheiße!“
„Was ist denn?“, fragte ich benommen. In den letzten Minuten hatte ich gemerkt, wie ich schlagartig müde wurde. Die Aufregung war wohl doch ein bisschen viel gewesen. „Presse. Und der Lokalsender. Gibt´s hier einen Hinterausgang?“
„Klar, durch die Tiefgarage. Ich zeig´s Ihnen. Soll ich noch mit ins Präsidium kommen?“ Spengler sah mich grübelnd an. „Morgen. Morgen um zehn? Dann machen wir ein Protokoll. Daniel, lassen Sie sich die Personalien geben.“
Weiß sah ihn konsterniert an. „Aber Chef – haben Sie das denn nicht längst -? Das ist aber nicht korrekt!“
Spengler seufzte. „Daniel, haben Sie immer noch nicht gemerkt, dass ich öfter mal nicht korrekt bin? Solange wir keine Formfehler machen... Also, los jetzt!“
Im Aufzug diktierte ich Weiß Namen und Adresse, die er mit einem Schnaufen quittierte. „Passt Ihnen die Gegend nicht? Mir gefällt´s da“, merkte ich mit einem letzten Rest Energie an.
Ich lotste die beiden in die Tiefgarage und durch eine Ausfahrt, die schön weit vom Vorplatz entfernt war, wieder hinaus. Allmählich war ich so müde, dass ich aufpassen musste, nicht zu stolpern. Einmal geriet ich tatsächlich ins Straucheln und Weiß packte mich mit eisenhartem Griff am Arm. „Vorsicht! Sie haben wohl auch vorher ein Gläschen Sekt gekippt?“
„Blödsinn!“, fauchte ich, „Ich bin todmüde! Es scheint Ihnen entgangen zu sein, dass es schon nach Mitternacht ist. Und dass meine Freundin tot ist.“
„Lassen Sie mal das alberne Gezänk“, mahnte Spengler, „sonst hören uns die Pressefuzzis noch. Wo jetzt lang?“
„Links durchs Gebüsch, dann kommen wir auf die Straße.“
Ich kämpfte mich durch die angefrorenen Sträucher und landete fast gegenüber meinem Wagen. Spengler und Weiß betrachteten den geringen Abstand zwischen ihrem Fahrzeug und dem Übertragungswagen missvergnügt. Ich überlegte, ob ich ihnen vorschlagen sollte, hinzurobben, aber dazu war ich zu feige – und zu müde, also murmelte ich nur „Gute Nacht, bis morgen“ und schlich über die Straße.